COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendereihe: Zeitreisen Datum: 1. August 2012 Zeit: 19:30 Uhr Autor: Ralf Geißler Redaktion: Winfried Sträter Titel: Vorsicht, "Made in Germany" Vom Warnhinweis zum Qualitätssiegel Musik 1 CD: Blüthner records - The Golden Tone Track 09: Mikhail Glinka - Variationen über ein Thema von Mozart für Piano oder Harfe, Thema: Moderato Hänssler Classic LC: 06047 Dauer: 45 Sekunden O-Ton Chinesischer Mann Die Deutsche hat meisten Philosophen. Die Deutsche hat meisten Musiker. Und die Dritte ist "Made in Germany" hat einen goldenen Wert. O-Ton Jutta Günther Dieses Label genießt, glaube ich, in der Welt immer noch sehr hohes Ansehen. Also während meiner Zeit in den USA ist mir immer wieder begegnet: Ja die Produkte aus Deutschland sind hoch qualitativ und hoch attraktiv und langlebig. O-Ton Lothar Schmidt Wenn "Made in Germany" überhaupt nicht mehr drauf geschrieben werden dürfte, das wäre sicher ein riesengroßer Nachteil für die deutsche Wirtschaft. Gerade dieses deutliche Logo nach außen "Made in Germany" signalisiert auf allen Weltmärkten allerhöchste Qualität. O-Ton AFN-Sendung aus Archiv Speaker: Made in Germany. Atmo: Kuckucksuhr Autor "Made in Germany". Das Länderlabel hilft seit Jahrzehnten beim Verkauf deutscher Produkte. Der Aufdruck steht auf Maschinen, Autoteilen oder Medizintechnik. Ein Hinweis, der kostbarer ist als jeder Markenname der Welt. Forscher beziffern den Wert von "Made in Germany" auf 4,6 Billionen Dollar. Der Name Coca Cola wäre für weniger als 100 Milliarden Dollar zu haben. Doch ausgerechnet Deutschlands erfolgreichste Marketingidee wurde im Ausland erfunden, erzählt der Bonner Wirtschaftshistoriker Günther Schulz. O-Ton Günther Schulz Es ist eine britische Erfindung, die daraus resultiert, dass sich die Briten vor Überfremdung durch minderwertige Ware aus dem Ausland schützen wollten und deshalb die Herkunftsbezeichnung, die ja nicht nur "Made in Germany" betraf, sondern auch "Made in France" oder "Made in anderen Staaten", einführte. Atmo Dampflokomotive Autor Die Erfindung von "Made in Germany" hat eine lange Geschichte. Sie beginnt im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine Revolution verändert den Kontinent, fegt alte Zünfte hinweg, setzt Massen in Bewegung, produziert Hitze, Dampf und Stahl. Markus Denzel ist Wirtschaftshistoriker an der Universität Leipzig: O-Ton Markus Denzel Wenn wir heute gern von Industrieller Revolution sprechen, so meinen wir eigentlich mit Revolution einen sehr kurzen, einschneidenden Prozess wie die Friedliche Revolution, die Französische Revolution, die Amerikanische. Die Industrielle Revolution ist da ganz anders. Das ist ein evolutionärer Prozess, der in seinen Ergebnissen dann revolutionär war. Autor In keinem anderen Land beginnt die Industrielle Revolution so früh wie in Großbritannien. Das Land ist im 18. Jahrhundert vergleichsweise liberal sowie reich an Kohle und Erzen. Aus den Kolonien bringen Schiffe Baumwolle ins Land. 1770 gründet der Perückenmacher Richard Arkwright die erste von Wasserkraft angetriebene Spinnerei. Zwölf Jahre später erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie macht die Menschen unabhängiger von den Kräften der Natur. O-Ton Markus Denzel Der andere Bereich ist: England hat einen enorm großen Binnenmarkt. Der Binnenmarkt ist ein entscheidendes Stimulanzium für Wirtschaftswachstum. Dieser Binnenmarkt wird gefördert durch eine Bevölkerungszunahme im 18. Jahrhundert, die einhergeht mit einer sogenannten Agrarrevolution. Das heißt: Die Menschen sind besser ernährt. Mengenmäßig, aber auch qualitativ besser ernährt. Sodass die Bevölkerungszahl steigt. Autor Mehr Menschen benötigen mehr Kleidung, mehr Möbel, mehr Geschirr, mehr Besteck. Musik 2 CD: Blüthner records - The Golden Tone Track 06: Sergej Rachmaninow - Moments musicaux op. 16 No 4 Hänssler Classic LC: 06047 Dauer: 52 Sekunden Atmo Dampfmaschine / Fabrik Autor Fabriken entstehen, in denen Männer, Frauen und Kinder für wenig Lohn die ersten Serienprodukte herstellen. Sie bedienen Spinnmaschinen, kochen Stahl, bauen Lokomotiven und Schiffe. Bis zu 16 Stunden schuftet mancher Lohnarbeiter, sechs Tage die Woche. Eine neue Klasse entsteht: das Proletariat. O-Ton Markus Denzel Die Menschen zieht es vom Land in die Stadt aus verschiedenen Gründen, so dass auch ein Arbeitskräftepotenzial zur Verfügung steht. Industrialisierung ist nur dort möglich, wo es viele Arbeitskräfte gibt, wo es viele Menschen gibt, die in so einem Prozess anpacken können. Die dabei auch noch einigermaßen ordentlich ausgebildet sind. Das war man in England. Und die auch frei sind. Autor Wer über Kapital verfügt, über Erfindergeist und Wagemut kann in diesen Jahren reich werden. Manch Adliger wird in seinem Wohlstand bald von britischen Unternehmern überholt. Deren Erfolge und die Qualität ihrer Erzeugnisse machen neugierig. Allen voran: die Deutschen, deren wirtschaftliche Entwicklung lange durch die Kleinstaaterei gehemmt ist. Aber es gibt Unternehmer in den deutschen Landen, die aufmerksam studieren, was sich im Mutterland des Fortschritts, in Großbritannien, tut. Der Bonner Historiker Günther Schulz: O-Ton Günther Schulz Es haben viele Fabrikanten ihre Söhne nach England geschickt, sie haben ihre Meister nach England geschickt. Sie haben den Briten Arbeitskräfte abgeworben, obwohl das verboten war. Sie haben sich durch Bestechung Baupläne von Dampfmaschinen verschafft, durch Bestechung Pläne von Maschinen beschafft. Autor Die Deutschen betreiben Werksspionage. Ungeniert gucken sie bei den Briten ab. Sie sehen sich in Sheffield um, wo Stahl gehärtet wird, Messer geschmiedet und Klingen geschliffen werden. Alles in höchster Qualität und nicht zu vergleichen mit den deutschen Schneidewaren aus Solingen. Nach ausgiebigem Studium des Originals ahmen die Deutschen die Produktion nach und lassen "Sheffield-Made" auf ihre Messer prägen. Die Engländer sind empört und fordern einen Handelsboykott für die Fälschungen. Wie kann sich ein entwickeltes Industrieland vor den Raubkopien unterentwickelter Länder schützen? Vor dieser Frage steht die britische Wirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts. O-Ton Günther Schulz Es hat eine lange Diskussion gegeben. Über zehn Jahre. Und im Ergebnis hat man dann gesagt: Wir halten an der Liberalisierung im Handel fest, aber wir führen einen Schutz ein. Und diesen Schutz der Kennzeichnung, den führen wir in der Form einer zusätzlichen Bezeichnung ein: "Made in Germany" oder anderen Staaten. Damit der Konsument die Souveränität hat zu entscheiden: Greift er zu "Made in British" oder greift er zu "Made in anderen Staaten." Autor Eine Warnung vor minderwertiger Ware aus dem Ausland - das soll der Aufdruck "Made in Germany" sein. Ein Schandmal für die Deutschen, die das Pariser Abkommen zum Patent- und Markenrecht 1883 boykottiert hatten. 1887 erneuert das britische Parlament das Handelsgesetz, den Merchandise Marks Act. Hersteller, die ihre Produkte nicht mit dem Herkunftsland kennzeichnen, dürfen diese nicht mehr nach Großbritannien einführen. Auf deutschen Messern muss nun "Made in Germany" stehen, was für die Briten zunächst nichts anderes bedeutet wie: ausländischer Schund. Die Unternehmer wähnen sich hinreichend geschützt. Atmo Kuckucksuhr Atmo Vorgarn-Verarbeitungsmaschine Autor Im Industriemuseum Chemnitz kann man sehen, wie erfolgreich die Deutschen im 19. Jahrhundert von den Briten kopiert haben. Museumsführer Frank Schröder zeigt eine Maschine, mit der man Garn herstellen kann. O-Ton Frank Schröder Das ist dieses sogenannte Vorgarn. Sieht aus wie ein Faden für den Laien. Ist es aber nicht. Das ist noch nicht versponnen. Das heißt, diese Fasern, aus denen das besteht, werden nochmal ausgedünnt. Nennt man verziehen. Dann werden sie verdreht und dann sind sie fest. Autor Der Prototyp der Maschine mit 152 Spindeln stammt aus England. Das Museumsmodell ist bereits "Made in Germany". Um 1800 hatte der Unternehmer Carl Friedrich Bernhardt eine Spinnmühle in Harthau bei Chemnitz gegründet und damit den Grundstein für die Industrielle Revolution in Sachsen gelegt. Seinen wichtigsten Mitarbeiter warb er in Großbritannien ab. O-Ton Frank Schröder Also in der Regel ist es ja so gewesen, dass die ersten Maschinen aus England kamen und dann gab es eigentlich nur Weiterentwicklungen, Verbesserungen. Wenn das Grundmodell einmal entwickelt ist, wird keiner was Neues erfinden. Atmo Wirkmaschine Autor So war es auch bei dieser Wirkmaschine für die Produktion von Handschuhen. Ein raumfüllendes Monstrum, mit scheinbar unendlich vielen Spulen und feinen Nadeln. Das Grundmodell stammt aus England, verbessert und gebaut wurde es in der Chemnitzer Region. Claus Beier ist Museumsreferent für Textiltechnik. O-Ton Claus Beier Das setzt immer wieder in Erstaunen, weil ja keine Elektronik dran ist. Die Befehle werden alle mechanisch erteilt. Über Kurvenscheiben oder Hebel. Autor Gestaunt haben darüber auch die Zeitgenossen. Die deutsche Weiterentwicklung wirkte auf sie solider und durchdachter als das englische Original. O-Ton Claus Beier Der Typ wurde 1900 auf der Weltausstellung in Paris mit einer besonderen Auszeichnung geehrt, wegen der Möglichkeiten der Musterung und der guten Qualität. Autor Immer öfter können im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deutsche Produkte auf internationalen Messen punkten. Nach der Reichseinigung 1871 holt die deutsche Wirtschaft in rasendem Tempo auf. Schon bald exportieren die Deutschen mehr als sie importieren. Und die Briten? Dank des Zwangsaufdrucks "Made in Germany" wird ihnen klar, wie viele ihrer Alltagsgegenstände aus Deutschland stammen: Werkzeuge, Kleider, Spielwaren, Geschirr. Es sind, dank der noch niedrigen deutschen Löhne, meistens preiswerte Produkte. O-Ton Markus Denzel Das Label "Made in Germany" wurde zu dem Qualitätsausweis schlechthin. Autor Markus Denzel O-Ton Markus Denzel Und das ist natürlich für die Briten, die Erfolg gewohnt waren in diesen ökonomischen Fragen, ein Fanal gewesen. Jetzt kommen die mit ihren relativ preisgünstigen Produkten, mit einer sehr guten Qualität. Und diese Produkte werden gekauft. Unabhängig davon, wo die Produkte hergestellt sind. Nationalismus hört beim Geldbeutel auf. Die Qualität entscheidet. Autor Die Solinger Messer schneiden jetzt ebenso gut wie die aus Sheffield, die deutschen Dampfmaschinen gelten als besonders effizient. Der britische Kolonialminister lobt deutsches Bier und deutsche Uhren. Sie seien billiger, attraktiver und kunstvoller als die einheimischen. Die Möbel leichter, preiswerter und schneller lieferbar. Atmo Kuckucksuhr einblenden und in die Uhr hinein der historische O-Ton: O-Ton Kaiser Wilhelm II. An das deutsche Volk! Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre meines und meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern. Aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit. Autor August 1914. Kaiser Wilhelm II. ruft auf zum Krieg. O-Ton Kaiser Wilhelm II. Forts. Kriegsaufruf Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Autor Der rasante wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands hat auch die politischen Gewichte in Europa verändert. Die Konkurrenz der Mächte verschärft sich, das Deutsche Kaiserreich will Großmacht werden und nutzt seine industriellen Fortschritte zu einer hemmungslosen militärischen Aufrüstung. Die wachsenden Spannungen entladen sich im Sommer 1914. Für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutet der Erste Weltkrieg eine Zäsur - namentlich für Deutschland. Der Krieg zerstört die Dynamik des Handels, der ersten Welle der wirtschaftlich-technischen Globalisierung. O-Ton Markus Denzel Die Märkte waren verschlossen allein durch die verschiedenen Wirtschaftsblockaden. Da hatten also die deutschen Exporteure nur noch Glück bei den Neutralen, den Schweden etc. Aber die Märkte brachen zusammen. Und es dauerte bis weit in die Zwanziger Jahre, bis man an die Tradition vor 1913 wieder anschließen konnte. Der Erste Weltkrieg war hier durchaus ein Moment der Desintegration weltwirtschaftlicher Verflechtungen, die man vorher über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte. Autor Am 11. November 1918 endet der Krieg, aber die Nachwirkungen sind gravierend. Inflation, Depression - und am Ende folgt dem Ersten der Zweite Weltkrieg mit Zerstörungen, die alles bekannte Maß übersteigen. "Made in Germany" - 1945 ist es unvorstellbar, dass dieses Label noch einmal die Welt beeindrucken könnte, zumal Deutschland geteilt wird. Dass wenige Jahre später "Made in Germany" wie Phönix aus der Asche emporsteigt, ist zu Recht als Wunder bezeichnet worden. Die politischen Umstände des Kalten Krieges haben es begünstigt - und ein anderer wichtiger Faktor: politisch hat Deutschland nichts mehr zu sagen. Es gibt keinen Kaiser und keinen Kanzler mehr, der durch den Griff nach der Weltmacht die wirtschaftliche Entwicklung zerstören könnte. Die Deutschen - in Klammern: die Westdeutschen - haben nur noch eine Chance, sich international zu beweisen: mit wirtschaftlicher Leistung. Marken wie Grundig, Telefunken oder AEG stehen für solide, langlebige Produkte. Und dann passiert es: die Geschichte des 19. Jahrhunderts wiederholt sich. Der Erfolg der deutschen Hersteller weckt die Neugier jener, jetzt auf den Weltmarkt drängen. Musik 3 CD: Blüthner records - The Golden Tone Track 07: F. Schubert - F. Liszt - Aufenthalt Interpret: Tinur Sergeyenia Hänssler Classic LC: 06047 Dauer: 48 Sekunden O-Ton Wolfgang Clement Made in Germany ist nicht ersetzbar. Das kann man versuchen zu kopieren, aber Kopien gelingen meistens nicht so gut wie die Originale, wie Sie wissen. O-Ton Grundig-Vorstand Wir liefern deutsche Qualität. Und eine Mogelpackung, wo Grundig draufsteht und "Made in ...." ob es jetzt Ungarn oder Korea ist und das für deutsche Qualität zu verkaufen - das wird nicht gehen. O-Ton Michael Sommer Deutschland ist kein Billiglohnland und Deutschland darf niemals unter der Billigflagge segeln. Denn das gute "Made in Germany" hat auch seinen Preis. Autor Der frühere Bundeswirtschaftminister Wolfgang Clement, ein Grundig-Vorstand und DGB-Chef Michael Sommer. Sie alle treibt die Sorge vor der billigen Kopie - aus Fernost. Ein Land, wirtschaftlich im Rückstand, will aufholen. Und dafür kopiert es erst einmal, was sich andere ausgedacht haben, produziert billiger, effizienter, schneller. Heute ist China dieses Land, ahmt statt Messern und Dampfmaschinen deutsche Solaranlagen und Autos nach. Jutta Günther vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle ist Innovationsforscherin. Sie sagt, Industrialisierungsprozesse verlaufen immer ähnlich. O-Ton Jutta Günther Also Aufholprozesse sind immer dadurch gekennzeichnet, dass Dinge, die schon vorhanden sind, Technologien beispielsweise, die schon vorhanden sind, nachgeahmt werden und aufgenommen werden. Dass man sozusagen erst mal an den Stand des technischen Fortschritts heranführt und dann kann es weitergehen mit eigenen originären technischen Entwicklungen. Autor Nachahmung, sagt Günther, ist die erste Stufe von Innovation. Das war so im Deutschland des 19. Jahrhunderts und das ist so im heutigen China. Auf Nachahmung folgt die Weiterentwicklung von Produkten. O-Ton Jutta Günther Und die dritte Stufe und die anspruchsvollste ist die Erfindung von etwas komplett Neuem, also etwas, was es noch gar nicht am Markt gab. Eines der interessantesten Beispiele, das auch in der Innovationsliteratur häufig genannt wird, ist der Walkman. Das war eine Erfindung, die für uns schon wieder outdated ist, aber das war eine Durchbruch-Innovation, eine richtig originäre. Autor Mit dem Walkman beginnt Ende des 20. Jahrhunderts der Siegeszug der Unterhaltungselektronik aus Asien. Heute kauft man nicht mehr Radios oder Fernseher aus Deutschland. In so ziemlich jedem anderen Land lassen sich elektronische Produkte billiger herstellen - selbst solche, die in Deutschland erfunden wurden. Die Arbeiter von Betrieben, die ins Wanken geraten, sind sauer. O-Ton Beschäftigte AEG aus Archiv Also ich find das net gerecht, dass die im Ausland aufbauen auf unsere Kosten. Und wir uns selber unser Grab noch schaufeln. Momentan, man sieht es ja im Falle AEG, Polen. Produziert kräftig und wir sind am Sterben. Autor 2006 streiken die Beschäftigten von AEG Nürnberg. Die Allgemeine Electricitäts Gesellschaft - gegründet 1887 - war ein Kind der Industriellen Revolution. Einer der bedeutendsten deutschen Hersteller für Waschmaschinen, Küchengeräte und Unterhaltungselektronik. O-Ton Werbung AEG Einfach fantastisch. Auch zum Einbau. Die neue AEG Küchenmaschine mit dem aromasicheren Mixer. Er allein püriert Früchte und Gemüse im eigenen Saft. Fantastisch einfach. Autor Aromasichere Mixer "Made in Germany" sind 2006 kein Verkaufsschlager mehr. AEG Nürnberg soll geschlossen werden, das Management will billiger in Osteuropa produzieren. Die Beschäftigten wehren sich. Und sie erhalten Unterstützung aus der Politik. Der damalige Arbeitsminister Franz Müntefering besucht die Streikenden. O-Ton Franz Müntefering Wer als Arbeitnehmer zur Nummer wird, der fühlt sich in seiner Würde getroffen. Mit Recht. Der Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Artikel 1 heißt nicht: Die kurzfristige Gewinnmaximierung ist unantastbar. Das ist etwas anderes, um das wir da zu kämpfen haben. Autor Müntefering erntet stehende Ovationen. Er hört sich die Solidaritätsadressen der Gewerkschafter an, Reporter umringen ihn. Doch er kann das Werk nicht retten. Denn die Fakten stellen sich für den Europa-Manager Horst Winkler so dar: O-Ton Europa-Manager Horst Winkler Dieses Werk hat keine Möglichkeit, in eine langfristige profitable Größenordnung hineinzukommen. Autor Und was unprofitabel ist, wird abgewickelt. "Made in Germany" - erst Warnhinweis, dann Qualitätssiegel, nun ein Auslaufmodell? Atmo Klavierstimmen Autor Christian Blüthner-Haessler leitet die Julius Blüthner Pianofortefabrik am Stadtrand von Leipzig. O-Ton Christian Blüthner-Haessler 1853 wurde von meinem Ur-Ur-Großvater das Unternehmen gegründet, der als Sohn eines Schreinermeisters nach abgeschlossener Lehre durch Deutschland gereist ist, seine Wanderjahre durchlebt hat und in dieser Zeit mit Instrumenten in Verbindung gekommen ist, die er reparieren sollte, Service machen sollte, die er sehr fehlerhaft, mangelhaft, rudimentär entwickelt fand. Autor 1854 verkauft Julius Blüthner sein erstes selbst gebautes Klavier an einen Landgrafen. Blüthner setzt auf Präzision bei seinen Instrumenten, verwendet feinste Hölzer und edle Furniere. Musik 4 CD: Blüthner records - The Golden Tone Track 10: Mikhail Glinka - Variationen über ein Thema von Mozart für Piano o. Harfe, Variation 1 Interpret: Petronel Malan Hänssler Classic LC: 06047 Dauer: 45 Sekunden Autor Vor allem im aufstrebenden Bürgertum kommen seine Musikinstrumente gut an. 1874 ist Blüthner bereits ein großer Arbeitgeber in Leipzig, mit eigenem Sägewerk und Dampfantrieb. Atmo Dampmaschine O-Ton Christian Blüthner-Haessler Es war ein ganzes Dampfkraftwerk, was Dampfkraft herstellte, um die Maschinen anzutreiben. Drechselmaschinen, Poliermaschinen. Das war damals schon für einen Klavierbauer etwas Außerordentliches. Blüthner hatte zu dieser Zeit 1.700 Mitarbeiter in Leipzig und hat auf 180.000 Quadratmetern Produktionsfläche produziert. Das war schon ein gigantisches Werk. Autor Wenig beachtet wächst die Zunft der Musikinstrumentenbauer im 19. Jahrhundert. Julius Blüthner eröffnet eine Außenstelle in London und reist mit dem Schiff bis nach Südamerika, um seine Flügel vorzustellen. Vor dem Ersten Weltkrieg gehören Klaviere zu den größten Exportposten des Deutschen Kaiserreichs. 1914 gibt es 2.000 deutsche Fabriken, die jährlich 100.000 Tasteninstrumente produzieren. Nur wenige dieser Firmen haben überlebt. Atmo Saiten aufziehen O-Ton Christian Blüthner-Haessler Hier werden gerade die Saiten aufgezogen. Das heißt: Jede Saite wird mit einem Stimmnagel in der Gussplatte verankert. In diesem Stimmnagel wird diese Saite dann auf Tonhöhe gestimmt. Autor Blüthner produziert heute jährlich 3.000 Klaviere und Flügel. Die Firma ist nicht mehr so groß wie zu Zeiten der Industrialisierung. Doch es gilt noch das Motto des Firmengründers: "Es kommt immer darauf an, dass ein Werk durch und durch tüchtig sei." Atmo Klavier stimmen O-Ton Christian Blüthner-Haessler Bevor die Klaviere bei uns hier rausgehen, werden sie mindestens fünf Mal, viele sogar sechs oder sieben Mal gestimmt. Um einfach das akustische System zu stabilisieren. Autor Die Geschäfte laufen gut für den Ur-Ur-Enkel des Firmengründers. Fürchtet er die Billig-Konkurrenz aus Fernost? Blüthner-Haessler schmunzelt bei dieser Frage. Er lässt vereinzelt selbst in China bauen. Zum Unternehmen gehört auch die Klaviermarke Irmler. Teile für diese Instrumente kommen aus einer chinesischen Fabrik. In Leipzig findet nur die Endmontage statt. Die Marke Blüthner aber ist bis heute komplett "Made in Germany". Und auf die Frage, wer sich die hochpreisigen Instrumente leistet, lächelt Blüthner-Haessler noch einmal. O-Ton Christian Blüthner-Haessler Wir verkaufen heute etwa 40 Prozent unserer deutschen Produktion in China. Das ist ein gigantischer Wert. Das zeigt, wie dynamisch sich dieses Land entwickelt hat. Die Stückzahlen waren vor zehn Jahren noch Null. Und in nur 10 Jahren hat sich das Land zu einem Schwamm entwickelt, der alles aufsaugt, was wir irgendwie produzieren. O-Ton Chinesischer Mann "Made in Germany" hat einen goldenen Wert. Atmo Kuckucksuhr Autor In Großbritannien hat der Prozess, den wir heute Industrialisierung nennen, reichlich 150 Jahre gedauert. Deutschland holte in 100 Jahren auf. Und in China wird die Industrialisierung noch schneller abgeschlossen sein, prognostiziert der Wirtschaftshistoriker Markus Denzel: O-Ton Markus Denzel Wir haben natürlich heutzutage eine wesentliche schnellere Art der Kommunikation. Schneller und intensiver, wie wir es im 18. Jahrhundert oder auch im 19. Jahrhundert trotz Eisenbahn, trotz Telegraph noch nicht hatten. Heute: Ein Mausklick und Informationen von ungeahnter Größe sind am anderen Ende der Welt. Das ist natürlich etwas, das den Industrialisierungsprozess, in den sich jetzt industrialisierenden Ländern enorm beschleunigt. Autor Was bedeutet das am Ende? Macht "Made in China" Karriere wie früher "Made in Germany"? Und wer kopiert dann die Chinesen? Jutta Günther vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle: O-Ton Jutta Günther Also in unseren Köpfen ist sicher die Vorstellung, "Made in China" ist nicht so anspruchsvoll, nicht so langlebig, nicht so solide als Produkt. Ich denke, das verändert sich. Man verbindet sicher schon nicht mehr nur Billigspielzeug und Billighaushaltswaren mit dem Label. Ob es mit "Made in China" eine ähnliche Geschichte geben wird wie mit dem Label "Made in Germany", wage ich allerdings zu bezweifeln, weil wir jetzt wirtschaftlich ganz andere Bedingungen haben als damals, als sich das Label "Made in Germany" durchsetzte. Autor Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Produkte vollständig in einem Land hergestellt. In Zeiten der Globalisierung verteilt sich die Produktion auf verschiedene Länder. O-Ton Kabarett aus Archiv Sie: Katalysator, Alu, Stahlteile, Kühler, Dämpfer, Gummischläuche aus Großbritannien. Er: Aus Großbritannien? Naja, lass die Engländer was mitverdienen. Sie: Schrauben und Gussteile aus Holland. Er: So ein Käse. Sie: Klimaanlage, Motorenteile und Radio aus Japan. Er: Ja bleibt da eigentlich noch was übrig für hier? Sie: Die Lenkungsteile und Schläuche kommen aus den USA. Die Verbundprodukte, Motorenteile und Blechteile aus Brasilien, Mexiko und Südafrika. Er: Da bin ich aber platt. Was sagt man denn zu so was? Sie: Made in Germany. Autor Arbeitsteilung bei Volkswagen aus Sicht der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Was im Kabarett für Lacher sorgt, bereitet Marketingexperten Kopfzerbrechen. Darf man noch mit "Made in Germany" werben, wenn außer der Idee nichts mehr aus Deutschland stammt? Ein Spielzeughersteller bekam rechtliche Probleme. Er bot ein Holzspielzeug an. Eine Eisenbahnlandschaft. Schienen, Häuser, Bäume waren aus deutschem Holz geschnitzt. Die Lokomotive kam aus China. Trotzdem ließ der Vertreiber "Made in Germany" auf das Produkt drucken. Zu Unrecht, wie Rechtsanwalt Andreas Ottofülling von der Wettbewerbszentrale München meint. O-Ton Andreas Ottofülling Entscheidend ist ja, was verbinde ich als Verbraucher mit diesem "Made in Germany". Und gerade jetzt bei diesen Spielwaren gehe ich davon aus, dass das wesentliche Teil, nämlich die Lok, in Deutschland hergestellt wurde. Die Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre herausgearbeitet, dass auch bei einem bestimmten Teil die wesentlichen Teilschritte, die wesentlichen Tätigkeiten, in Deutschland erfolgt sein müssen, damit zu Recht ein "Made in Germany" auf dieses Produkt oder auf die Produkt-Umverpackung aufgebracht wird. Autor "Made in Germany" ist rechtlich nicht geschützt. Keine Behörde kontrolliert, ob Firmen, die für ihre Produkte mit dem Label werben, wirklich in Deutschland produzieren. Über die Verwendung des Aufdrucks müssen immer wieder Gerichte entscheiden, weil Konkurrenten oder Verbraucherschützer geklagt haben. Und so endet diese Geschichte mit einer Anekdote über ein Besteckset. Nein, es stammt nicht aus Sheffield, sondern aus Deutschland. Zumindest gilt das für die Gabeln und Löffel. Die Messer wurden in China geschmiedet - auf deutschen Maschinen, wie der Hersteller beteuert. Ein Gericht untersagte den Aufdruck "Made in Germany" trotzdem. Tenor des Urteils: Steht eine deutsche Maschine in China, produziert sie keine deutsche Ware. Musik 5 unterlegen CD: Blüthner records - The Golden Tone Track 11: Mikhail Glinka - Variationen über ein Thema von Mozart für Piano o. Harfe, Variation 2 Interpret: Petronel Malan / Hänssler Classic / LC: 06047 / Dauer: 68 Sekunden O-Ton Christian Blüthner-Haessler Heute ist "Made in Germany" sicher ein Qualitätssiegel, was man aber jeden Tag wieder neu erobern muss. Und ich habe so ein bisschen das Gefühl, dass man sich heute etwas sehr auf dieser "Made in Germany"-Geschichte ausruht und hier muss man aufpassen, dass ein Ruf, der über hundert Jahre erarbeitet wurde, nicht allzu schnell in Mitleidenschaft gerät. Autor Resümiert der Leipziger Klavierbauer Christian Blüthner-Haessler. Und der Wirtschaftshistoriker Markus Denzel will einfach nochmal Danke sagen ... O-Ton Markus Denzel Das Label zieht immer noch. Wir können den Briten hoch dankbar sein: Für Deutschland war das durchaus eine werbewirksame Maßnahme. Atmo Kuckucksuhr und Musik 1