Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. November 2013, 11.05 – 12.00 Uhr Die Stadt der Bücher, Bücher der Stadt - Prag und seine Literaten Mit Reportagen von Kilian Kirchgeßner Redaktion und Moderation: Gerwald Herter Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – MUSIK Opener-O-Ton-1: Josef Cermak Natürlich wäre es schön, Kafka hier zu haben. (Für die Forschung sind die Unterlagen ja auch jetzt zugänglich, aber) emotional wäre das schön. Naja, wenn der Zweite Weltkrieg nicht gewesen wäre und der Kommunismus, dann wäre alles anders. Aber dafür müssten wir ja die Geschichte zurückdrehen. Moderation: Irgendetwas fehlte und fehlt den Prager Literaten wohl immer: geschäftlicher Erfolg und Anerkennung – wenigstens noch zu Lebzeiten, außerdem persönliches Glück, vor allem aber Freiheit! Andererseits hatten sie immer interessante Stoffe und sie fanden oft ein Publikum, das sich andere Autoren höchstens erträumen können. Leser, die kurzerhand zu Untergrund-Verlegern wurden: Opener-O-Ton-2: Jiri Gruntorad Hier ist so ein Exemplar, schauen Sie mal: Richtig ausgelesen ist es, wie es sich gehört. Oft stand vorne eine Widmung des Verfassers drin, so wie hier auch: Für sich und seine Freunde abgeschrieben: Vaclav Havel. Das hat eine Hausfrau abgetippt, und Havel hat es anschließend durch seine Unterschrift quasi legitimiert. Moderation: „Die Stadt der Bücher, Bücher der Stadt – Prag und seine Literaten“, Gesichter Europas, heute mit Reportagen von Kilian Kirchgessner und am Mikrophon mit Gerwald Herter, herzlich willkommen! MUSIK Moderation: Sie lebt, die Prager Literatur lebt und so selbstverständlich ist das nun auch wieder nicht! Autoren wie Franz Kafka und Rainer Maria Rilke ist Erstaunliches gelungen. Sie haben den Blick, zumindest Europas, auf unsere Welt verändert. Dichtende Dissidenten wie Vaclav Havel und Pavel Kohout brachten später mit ihren Büchern ein ganzes Regime zu Fall – so etwas scheint einfach nicht mehr erreichbar. Tschechische, deutsche und jüdische Kultur – früher war Prag zudem vielfältiger und die Leser waren geradezu kämpferisch, ihr stiller Kampf galt der Existenz verbotener Bücher. Atmo All‘ das kennen sie, meist sogar sehr gut. Trotzdem erstarren junge Prager Autorinnen und Autoren nicht etwa in ehrfürchtiger Lähmung. Radka Denemarková (Dene-Markova) Katerina Tuckova (Tutschkova) oder Jaroslav Rudis (Rudisch) wissen um ihre literarischen Ahnen und deren Vermächtnis. Wenn Ihnen etwas fehlt, dann höchstens Unbefangenheit. Sie schlagen historische Brücken und in ihrer Arbeit beweisen Sie Mut, manchmal wird Literatur in Prag deshalb zum Happening: ATMO Rep.1 Reportage1: Wenn Jaroslav Rudis einlädt: Prager Literaturabende 2.0 . Einspielung Klavierimprovisation Die Pianistin sitzt allein im Scheinwerferlicht, die Bühne ist mit schwarzem Stoff verhängt und der Zuschauerraum verschwindet in der Dunkelheit. Aufblendung Musik Jetzt geht noch ein anderer Scheinwerfer an und taucht eine junge Frau auf der Bühne in gleißendes Licht; eine junge Autorin, die aus ihren Gedichten vorträgt. Aufblendung Musik, Übergang zur Dichterin In der ersten Reihe des Theaters sitzt Jaroslav Rudis, in der Hand ein Bierglas. Er lächelt zufrieden. Er ist der Gastgeber des Abends, das Programm mit jungen Autoren und Musikern ist seine Idee. Jaroslav Rudis ist der Doyen der jungen Autorenszene in Tschechien, 42 Jahre alt, die eckige Hornbrille und die zur Seite gekämmten Haare hat er zu seinem Markenzeichen ausgebaut. EKG nennt er das Programm, das er zusammen mit seinem Schriftsteller-Kollegen Igor Malijevsky moderiert; der Name EKG soll Assoziationen wecken zur Kardiologie. Einspielung Wir mischen das mit Musik, und es heißt EKG, weil wir immer so dachten: wir gucken uns das Herz der zeitgenössischen tschechischen Literatur an, wo es schlägt, was für ein Rhythmus da entsteht, wie sieht das eigentlich aus? Das war eine sehr schnelle Idee, sind wir dabei geblieben, wir machen das schon seit 7 Jahren. Zweimal pro Monat laden sie in eines der angesagten Prager Theater, Jaroslav Rudis bestimmt für jeden der Abende ein Oberthema, immer hat es etwas mit Liebe zu tun. Bisweilen mutet die Kombination der Schlagworte bizarr an; einen Abend zu Liebe und Kochen etwa gab es schon, Liebe und Tod oder Liebe und Eisenbahn. Einspielung Heute sind es Liebe und Frauen. Wir haben tonnenweise Material gesammelt durch das ganze Leben hindurch, ich und Igor, ich hoffe, wir haben da einiges zu sagen. Es ist schon unterhaltsam, aber nicht nur. Viele Leute kommen wegen des Humors, wegen einer Leichtigkeit des Abends. Aufblendung Applaus Und so stehen Jaroslav Rudis und sein Kompagnon Igor Malijevsky auf der Bühne, sie tragen eigene Werke zum Thema vor, spornen junge Autoren an und halten den Abend zusammen. Links steht Igor, er trägt Vollbart und Locken, die weit vom Kopf abstehen, rechts ist der Platz von Jaroslav mit seinem punkigen Haarschnitt. In der Moderation werfen sich die beiden die Stichworte zu, sie sind ein eingespieltes Team. Einspielung (tschechisch), bleibt ohne Overvoice Und damit die Literatur nicht zu trocken wird, organisiert Jaroslav Rudis jedes Mal eine Band. Einspielung Band Jaroslav Rudis sitzt wieder in der ersten Reihe, trinkt sein Bier und wippt mit den Füßen. Einspielung Wir wissen nie, wie der Abend ausgeht. Haben Drehbuch, ein Szenario, aber wissen nicht, was die zum Thema haben, was sie bringen. Wenn wir das Thema Liebe und Tod, Liebe und Frauen, Liebe und Eisenbahn haben, dann bitten wir sie schon, dass sie was zu dem Thema schreiben oder entdecken. Oft sind die Texte für diese Show geschrieben. Da erlebt das Publikum was Besonderes. Jaroslav Rudis ist in der tschechischen Literaturszene ein Superstar. Er hat geschafft, wovon viele träumen: Seine Bücher werden in etliche Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche; er schreibt Drehbücher und Hörspiele und räumt einen Preis nach dem anderen ab. Mit seiner lebendigen, leichten Erzählweise macht er Themen zu Bestsellern, die ansonsten schwer verkäuflich wären: Über die Nöte der mitteleuropäischen Jugend hat er in seinem Debütwerk „Der Himmel unter Berlin“ geschrieben, und er schreibt über die deutsch-tschechische Vergangenheit. Dabei sagt Jaroslav Rudis, wolle er ein Autor der Gegenwart sein – trotz der Themen, die ihre Wurzeln oft in der Vergangenheit haben. Einspielung Immer im Hintergrund von meinen Geschichten, die zeitgenössisch sind, steckt ein bisschen immer so das Geschichtliche. Irgendwo im Untergrund, was uns im Griff hat, von Mitteleuropa, von dem wir uns nicht befreien können, obwohl das schon heute spielt, teilweise poppig angelegt ist. Aber ich hoffe, nicht zu poppig. Geschichte ist noch präsent. Es sei, sagt Jaroslav Rudis, die mitteleuropäische Erfahrung, die ihn zu einem Prager Autoren mache. Er schreibt meistens auf Tschechisch, bisweilen auch auf Deutsch, und irgendwie kommt allein durch diese Mehrsprachigkeit vieles zusammen, was die Prager Literatur schon in der Vergangenheit ausgemacht hat. Einspielung Ich kann mir gar nicht vorstellen, ohne Kafka, Kundera, Hrabal, Skvorecky, Kohout, Vaculik – mitteleuropäische Autoren, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich ohne die zum Schreiben kommen würde. Was mich interessiert, ist Mitteleuropa. Das reicht mir für das ganze Leben. Was zwischen München und Lemberg oder Kiew liegt, zwischen Gdansk und Triest. Das ist etwas, was mich interessiert. Ich fühle mich als Teil davon, weil auch die tschechische Geschichte ein Teil der mitteleuropäischen Geschichte ist. Man kann das nie so rausnehmen und sagen: Das ist nur die Prager Literatur. Das war immer sehr beeinflusst. Prag als die frühere inoffizielle Hauptstadt Mitteleuropas, als Mittler zwischen slawischer und Habsburger Kultur – diese Tradition hat die Autoren von Franz Kafka bis Vaclav Havel beeinflusst, und sie wirken in der Literatur bis heute nach. Einspielung Musik Auf der Theaterbühne hat sich die Band inzwischen warmgespielt. Gleich wird Jaroslav Rudis etwas vorlesen, es ist eine Erzählung, die er noch nicht veröffentlicht hat. Um Frauen geht es und um die Suche nach der Liebe; zu dieser späten Stunde wählt er lieber ein Thema, das keinen mitteleuropäisch-historischen Tiefgang hat. Der Literaturabend im Theater mit Musik, mit Witzen und Gästen wie in einer Talkshow – für Jaroslav Rudis ist das einfach eine neue Form, um die Literatur interessant zu machen. Einspielung Offenbar ändert sich die Art des Erzählens. Was die Tschechen auch gerne lesen, sind Literaturreportagen. Über die Geschichte, auch über sich selber. Oder die Graphic Novels, das ist etwas, was vor ein paar Jahren noch keinen interessiert hat. Da gibt es die Leserschaft, die ist immer größer. Durch Comic oder Graphic novels kannst du sehr ernsthafte Themen aufmachen. Aber EKG ist was anderes: Wie könnte man eine Geschichte dem Publikum anders erzählen? Das Publikum ist ein kluges Publikum, das liest, sich Bücher kauft, aber auch unterhalten werden möchte. Am Anfang wurde uns vorgeworfen: Was ist das jetzt hier? Literaturkritiker haben uns missverstanden, haben schlechte Besprechungen gekriegt, ein paar: Ob man das braucht, ob Literatur nicht eher was Intimes ist. Kann aber auch unterhaltsam sein. Jaroslav Rudis ist, aller anfänglichen Skepsis zum Trotz, der Brückenschlag gelungen: Er nimmt die Tradition der Prager Literatur auf, die Zwischentöne der Geschichte, und rettet sie hinüber in die zeitgenössische Szene. Klassiker, sagt er, sind schließlich alles andere als staubig. Ausblendung Musik-Schlussakkord, Applaus MUSIK Literatur-Musik Literaturauszug-1: Das Triumvirat Kafka, Weltsch, Brod wurde geschlossen. Es beruhte auf äußerster Wahrhaftigkeit der drei gegeneinander, es war eine seltene, ja einmalige Kristallbildung, zu der drei tiefgehende Zweierfreundschaften zusammengeschlossen waren. Denn jeder mit jedem der drei bildete eine intime, einzigartige, auch noch für sich weiterbestehende Verbindung, ohne Trübung, ohne Snobismus, rückhaltlos wie eine große leidenschaftliche Liebe. Und alle drei Bünde wuchsen zu einer gemeinsamen Einheit zusammen. (…) Dem engeren Prager Kreis vorangegangen war die Wirksamkeit jener Gruppe, die sich „Jung-Prag“ oder auch „neoromantisch“ nannte. (…)Tiefer ins Dunkel der Zeiten verlieren sich Namen aus einer noch früheren Generation der „Concordia“. Moderation: In Israel hatte Max Brod in den 60er Jahren seine Erinnerungen an den „Prager Kreis“ festgehalten - ein Vermächtnis! Er dokumentierte mit diesem Buch, noch kurz vor seinem Tod, das Wirken anderer, oft vergessener Schriftsteller-Kollegen. Viele wurden von den Nationalsozialisten ermordet, darunter Max Brods Bruder Otto, der in Auschwitz starb. Anderen gelang es zu fliehen, ins Exil zu gehen, wo sich ihre Spur aber oft verlor. Das Einzigartige, die alles überdauernde Kraft der Prager Literatur war jedoch so stark, dass Jürgen Serke ihr noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs verfallen sollte. Ein deutscher Reporter, dem keine literarisch-investigative Recherche zu mühsam war, um Überlebende zu finden und Manuskripte zu sichern – fast schon wie ein Besessener. Jürgen Serke bekennt, ihm sei kaum eine andere Wahl geblieben. Obwohl er längst nicht mehr in Prag sondern wieder in Deutschland lebt, hat er sein Schicksal dorthin mitgenommen: Reportage 2: Graben im Mutterboden der Moderne – Jürgen Serke macht die Geschichte der Prager Literatur zu seiner Gegenwart . U-Bahn-Atmo Seit einer halben Stunde schon rumpelt die U-Bahn durch Hamburg, vor dem Fenster werden die Häuser weniger und die grünen Gürtel immer breiter. Nach hier draußen, bis zur Endstation, führt der Weg zu einem Mann, der große Teile der Prager Literatur noch im letzten Moment vor dem Vergessen bewahrt hat. Aufblendung „Endstation“, Schritte, Türöffnen in der Bahn. Ein Haus im Grünen, die Tür öffnet Jürgen Serke. Er ist 75 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit langen grauen Haaren. Auf dem Weg ins Wohnzimmer reihen sich Antiquitäten aneinander, Bücherstapel stehen neben Bücherstapeln. Einspielung (alle Töne in diesem Stück auf Deutsch) Oben ist alles voll und unten habe ich zwei Kellerräume. Ich habe an die 30.000 Bücher hier im Haus. Einspielung Schritte auf Treppenstufen Jürgen Serke geht voran in den ersten Stock, hier hat er sein Arbeitszimmer. Auf einer Seite ein Fenster, an den anderen Wänden raum-hohe Bücherregale und überall Fotos, die meisten in Schwarz-Weiß. Sie zeigen ihn mit tschechischen Literaten. Einspielung Das ist hier mein Reich. Hier ist Jaroslav Seifert, hier sind Grusa und ich in einer Fernsehsendung. Ja, so ist das. Und hier bin ich auf dem Balkon am Wenzelsplatz mit Havel. Alles hat irgendwie einen Bezug, der häufig in Prag endet. Die Geschichte von Jürgen Serke und Prag beginnt im Jahr 1967, damals herrschte Aufbruchstimmung in der kommunistischen Tschechoslowakei. Serke war Korrespondent für eine Nachrichtenagentur, später arbeitete er für den Stern. Und Jürgen Serke ist ein Literatur-Enthusiast. Er begegnete bei seiner Arbeit dem Nobelpreisträger Jaroslav Seifert, freundete sich mit Jiri Grusa an, mit Vaclav Havel, mit Ludvik Vaculik – und tauchte so tief in die Welt der tschechischen Literatur ein. Einspielung Bis ich dann später kapiert habe, dass Prag eine völlig andere Literatur hat als im Rest Europas, wo man an die Schaffung eines neuen Menschen glaubte und der Sozialismus eine gutgeheißene Vision war. Während die Prager: Die sind ja immer im Bereich der Soziologie des alten Testaments geblieben. Man kann soziale Bedingungen verändern, aber nicht das Wesen des Menschen. Daraus entsteht große Literatur, weil eben der Charakter des Menschen nicht zu verändern ist, nicht einmal mit Gewalt – dann wird das Schlimmste daraus. Das hat diese deutschsprachige Literatur von derjenigen überall sonst in Europa unterschieden. Im Prag der 70er Jahre spürte er, dass das Weltbild der Autoren der Wirklichkeit entsprach: Es war eine finstere, von Repressionen bestimmte Zeit. Auf seinen Reisen durch das abgeriegelte Land stolperte Jürgen Serke immer wieder über die Spuren von deutschsprachigen Autoren, die meistens Juden waren. Nicht Franz Kafka, Egon Erwin Kisch oder Franz Werfel, die ohnehin bekannt waren – nein, er suchte gezielt nach jenen, die schon das Nazi-Regime in Vergessenheit geraten lassen wollte. Autoren, die längst nicht mehr in Prag waren, sondern im Exil lebten. Die Suche wurde für ihn zur Obsession. Einspielung Erstmal tauchen viele bei Max Brod in seinen Memoirenbänden auf. Und dann, wenn du die Sachen liest, dann findest du weitere Querverweise. Dann bist du diese Geschichte weitergegangen. Habe das von mir aus alles bewältigt, soweit es ging. Und dann bin ich losgefahren und habe Leute gesucht: Wer lebt noch, wo lebt Tochter etc. Wenn du nach London gekommen bist, das war Nest von Exilanten. Und da kamst du an Querverweise. Und so bist du von einem Ort zum anderen. Jahrelang ist Jürgen Serke auf Weltreise, um die letzten lebenden Autoren in ihrem Exil zu besuchen oder ihre Witwen und Kinder zu treffen. Er treibt ihre Bücher auf, die in der Zwischenkriegszeit oft nur in einer Auflage von zwei-, dreitausend Exemplaren gedruckt worden waren. Er findet in Nachlässen unveröffentlichte Manuskripte, er zeichnet die Lebensgeschichten nach, die alle um Prag kreisen und meistens im Exil enden oder im KZ. Seinen Posten beim Stern hatte Jürgen Serke zu dieser Zeit nicht mehr, er wollte sich ganz um seine Prager Dichter kümmern – mit der Akribie, die er sich im Beruf angewöhnt hatte. Einspielung Das ist das alte Rechercheprinzip beim Stern: Präsenz. Du musst vor Ort sein, du musst da hin. Und dann hat mich natürlich das Schicksal interessiert, in der Verbindung mit der Literatur. Warum zum Beispiel schreiben die Frauen so wunderbare Liebesgedichte, und dann stellst du fest, dass sie eigentlich nur Kathedralen über ihre eigene Unfähigkeit schreiben, ganz einfach. Die Liebe, die du da erlebst in den Gedichten, kommt in ihrem Leben nicht vor. Es sind Sehnsüchte, Träume. Manche schreiben auch aus der Fülle, aber die Regel ist: Man schreibt aus einem Mangel hervor. Das hat mich immer interessiert, auch bei den Autoren, die verfolgt worden sind. Monatelang ist er unterwegs, er treibt Autoren in Arizona auf, in New York, in London, er reist ihnen nach Kanada hinterher und nach Mexiko. Oskar Baum, Hugo Sonnenschein, H.G. Adler und Josef Mühlberger heißen seine Autoren, mehr als 50 von ihnen spürt er nach. Oft war es eine mühsame Schnitzeljagd; eine Recherche mit ungewissem Ausgang. Zum Beispiel bei Hans Natonek, einem der großen Prager Autoren aus der Zwischenkriegszeit. Jürgen Serke hatte gehört, dass seine Ex-Frau in New York leben soll. Einspielung Das war sehr schwierig, ich hatte einen Namen und sonst nichts. Ich bin nach NY geflogen und habe mir ein Telefonbuch genommen. Wie hieß sie? Schmidt hieß sie. Such mal nur die Schmidts! Ich bin dann nur die Schmidts durchgegangen. Die meisten legen sofort auf. Bis ich die dann hatte. Und dann wurde das eine dieser wunderbaren Geschichten, auch in dieser ganzen Tragik. 1987 beendet Jürgen Serke seine Recherche, und er beendet sie mit einem Paukenschlag: Ein Buch bringt er heraus vom Umfang eines Lexikons, „Böhmische Dörfer“ heißt es – „Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft.“ Darin setzt er denen ein Denkmal, die alle aus Prag stammen und die er an sämtlichen Enden der Welt aufgespürt hat. Parallel erscheint eine Buchreihe mit den seltensten Titeln jener Autoren, die nur noch in ein paar Exemplaren existierten. Es sind Bücher, die für Jürgen Serke Meisterwerke der europäischen Literatur sind – Bücher, denen er die Prager Prägung anmerkt. Einspielung Weil man weiß, dass der Mensch nicht nur gut ist oder nur schlecht. Dass das ein Kampf ist, der in jeder Seele ausgetragen wird. Wie erkämpfst du dir deine Menschlichkeit? Die erweist sich erst unter Druck, unter Verfolgung, unter Schwierigkeiten. Das musst du in dir selbst austragen. Da stellt man fest, dass dieses Prag eine menschenbildende Kraft hatte. Menschen, die ihre Menschlichkeit erweisen – das ist das großartige der Literatur, die unter dem Namen Prag geschrieben worden ist. Warum gerade Prag eine solche Kraft ausübt, das kann sich Jürgen Serke selbst nach all der Recherche nicht erklären. In das wundersame Magnetfeld von Prag allerdings ist er selbst geraten, genauso wie einst jene Schriftsteller, die er vor dem Vergessen rettete. Einspielung Das ist eine verrückte Melange, die mich an das Land gefesselt hat, und das wird sich bis zum Ende des Lebens nicht ändern. Musik Literatur-Musik Literaturauszug-2: Franz Kafka starb in jungen Jahren und sein Lebenswerk blieb unvollendet. Er lebte ein Leben, das von ständigem Suchen erfüllt war. Was war es, was er eigentlich suchte? Meiner Meinung nach suchte er sein ganzes Leben lang eine einzige Sache: die Reinheit der Seele. Die absolute, bedingungslose unegoistische Reinheit. Reinheit – das bedeutet: Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit dem Nächsten gegenüber, jedem Menschen gegenüber (…). Als wahrer Sohn der Stadt Prag wurzelte Kafka stark im Prager Boden. Seine dichterische Seele war vom Zauber des alten Prag und der Mannigfaltigkeit seiner Einwohner bestrickt. Als wahrer Sohn Prags hatte er seine Wurzeln in der tschechischen und deutschen Kultur, hatte seine Wurzeln gleichfalls in der uralten jüdischen Kultur. Moderation 3: Der Autor Max Brod wurde zwar noch zu Lebzeiten gefeiert, sein Ruhm sollte jedoch später verblassen. Ausgerechnet seinem, von ihm geförderten Freund Franz Kafka widerfuhr genau das Gegenteil und ausgerechnet in Prag dann wieder doch nicht. Dem Vermächtnis des „wahren Sohns der Stadt“ begegnen unbedarfte Besucher heutzutage vor allem in Souvenirläden, ähnlich wird dort wohl nur noch Gustav Meyrinks „Golem“ ausgeschlachtet. Kafka und Prag – ein ziemlich schwieriges Verhältnis, das hat seine Gründe. Nach dem Ende des nationalsozialistischen „Protektorats“ kam der Kommunismus. Ausgerechnet Kafka, der viele der Missstände in den Fabriken kannte, der die „Entfremdung“ so treffend beschrieben hat, wurde zum unerwünschten Autoren erklärt. Eine Ehre – zweifellos, aber auch eine lang anhaltende Strafe. Reportage 3: Nicht mehr ganz so, wie der Prophet im eigenen Land: Franz Kafka, ein wahrer Sohn Prags Atmo düstere Musik, Schritte, Schreibmaschinen Die Räume sind düster, Wände und Böden schwarz, nur einzelne Lichtkegel durchdringen die Dunkelheit. „Die Welt von Franz Kafka“, so verspricht es die Ausstellung, und der Besucher taucht ein in ein beklemmendes Gewirr von Räumen. Es ist das einzige Museum, das Kafka in seiner Geburtsstadt gewidmet ist, betrieben wird es von einem Geschäftsmann. Fast alle Besucher sind Ausländer. Josef Cermak schmunzelt, wenn er daran denkt: Einspielung Es sind Verkäufer und Geschäftemacher, die Kafkas Bedeutung für Prag als erstes erkannt haben, Souvenirverkäufer aller Art. Kafka ist Teil des Kulturtourismus geworden. Da klingt leichter Sarkasmus durch. Josef Cermak ist einer der wichtigsten Kafka-Experten in Tschechien. Lange bevor das Museum eröffnet wurde, hatte er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Autor in seiner eigenen Heimat vor dem Vergessen zu bewahren. Als Josef Cermak auf die Welt kam, war Franz Kafka gerade einmal vier Jahre tot, heute ist Cermak selbst schon 85 Jahre alt. Er ist ein stattlicher Mann, das Haar immer noch voll, die Augen ständig in Bewegung. Jetzt sitzt er in einem Kulturforum in der Prager Altstadt und erzählt von seinem Kampf für Kafka. Einspielung Es herrschte hier immer die Meinung, dass Kafka den Tschechen aus irgendeinem Grund fremd sei; er schreibe für uns unverständlich und so. Aber damit jemand geschätzt wird, ist es gar nicht nötig, dass er für alle Bürger verständlich ist. Einstein verstehen wir ja auch nicht, aber sind stolz darauf, dass er ein paar Semester an der Prager Universität gearbeitet hatte. Als Kafka im Ausland schon ein gefeierter Autor war, kannte ihn hier nur ein recht enger Kreis von Leuten. Es ist ein eigentümliches Schicksal, das Kafka in seiner eigenen Heimat erlitten hat: Erst nicht beachtet, dann strikt verboten. Josef Cermak hat Franz Kafka in den 50er Jahren für sich entdeckt, und das auch eher durch Zufall: Damals war er Redakteur eines literarischen Verlags – und lernte so Kafkas Nichte kennen, die mit einem der gefragtesten Übersetzer des Landes verheiratet war. Einspielung Wir saßen an Kafkas Tisch und haben redigiert und übersetzt, ganze Tage und Nächte lang. Das war phantastisch, eine gewaltige Schule für mich. Seit der Zeit hat Kafka ihn nicht mehr losgelassen: Literaturprofessor wurde Josef Cermak, er lernte Max Brod kennen, der Kafka erst bekannt gemacht hat – und er kämpfte dafür, dass die Kommunisten Kafka endlich zugänglich machen. Sie sahen den Autor als Staatsfeind, als bourgeoisen Intellektuellen. In den 60er Jahren gab es zwar zwei Kafka-Konferenzen, die der Germanist Eduard Goldstücker organisierte und die später legendär geworden sind. Dabei aber prallten verschiedene politische Strömungen und damit kontroverse Kafka-Interpretationen so scharf aufeinander, dass Franz Kafka nach der Niederschlagung des Prager Frühlings endgültig im Giftschrank verschwand. In der Wissenschaft, erinnert sich Cermak, durfte man ihn zwar zitieren – aber nur negativ und mit einordnenden Kommentaren. Einspielung Noch in den 80er Jahren durfte hier keine Zeile Kafka erscheinen. Vor seinem 100. Geburtstag im Jahr 1983 habe ich einen Brief an den Minister geschrieben: Die Hotels, habe ich geschrieben, sind ausgebucht von Kafka-Touristen aus dem Ausland, und in den Auslagen wird kein einziges Buch von ihm liegen. Ich habe vorgeschlagen, dass man den „Prozess“ herausgeben sollte. Und wenn man keinen besseren Verfasser findet, wäre ich bereit, eine Einleitung zu schreiben. Nach einem Monat kam ein Brief: Der Genosse Minister habe sich die Sache überlegt, man werde Kafkas „Erzählungen“ herausbringen. Das Vorwort sollte eine marxistische Wissenschaftlerin schreiben. Ich habe gesagt: Hervorragend, denn wenn ich das hätte schreiben sollen, wäre es ja doch nicht veröffentlich worden, weil es nicht marxistisch ist – ich hatte diese Ingredienzen nie im Blut. Und Kafka heute? Es gibt die Prager Franz-Kafka-Gesellschaft, die Josef Cermak gleich nach der Wende mitbegründet hat, aber vom Autor selbst ist in seiner Geburtsstadt so gut wie nichts mehr zu finden: Die meisten Manuskripte und Handschriften sind in Israel und in Deutschland, und das meiste von dem, was ursprünglich in Prag zurückgeblieben war, schredderten die Kommunisten. Einspielung Natürlich wäre es schön, Kafka hier zu haben. Für die Forschung sind die Unterlagen ja auch jetzt zugänglich, aber emotional wäre das schön. Naja, wenn der zweite Weltkrieg nicht gewesen wäre und der Kommunismus, dann wäre alles anders. Aber dafür müssten wir ja die Geschichte zurückdrehen! Immerhin ist inzwischen eine Kafka-Gesamtausgabe auf Tschechisch erschienen. Ein Erfolg, für den Josef Cermak sein ganzes Leben lang gearbeitet hat. MUSIK Moderation 4: „Im Giftschrank verschwinden“ oder gar nicht erst erscheinen, zumindest nicht offiziell. In der Nachkriegszeit geriet das Werk Franz Kafkas in allerbeste Prager Gesellschaft. Die Kommunisten hatten dafür gesorgt. So ganz geheuer ist Kafka den Tschechen aber immer noch nicht. Den Dissidenten war es da zumindest ein bisschen besser ergangen. Im Kommunismus hatten sie einen harten Kern von Anhängern - Leser, die diese Werke sogar selbst abschrieben, um ihr Leseerlebnis mit anderen zu teilen, auch wenn das Risiko noch so hoch war: Reportage 4: Fliehen, ohne Wegzugehen und ohne zurückzukommen: Jiri Gruntorad – Verleger verbotener Bücher . Atmo manuelle Kopiermaschine, monotones Ratsch-Ratsch-Ratsch Er funktioniert noch, der alte Kopierer mit seiner Handkurbel. So groß wie eine Nähmaschine ist er, eine Trommel drückt eine eingefärbte Wachsvorlage auf das Papier; mit jeder Umdrehung der Kurbel kommt ein bedrucktes Blatt aus dem Apparat. Aufblendung Geräusch Für Jiri Gruntorad ist das Kurbeln eine vertraute Bewegung, auch heute noch. Ein paar Momente nur hat er gebraucht, um den Apparat wieder in Gang zu setzen - mehr als 20 Jahre, nachdem er ihn zum letzten Mal in Betrieb hatte. Einspielung Er ist leiser als eine Schreibmaschine. Das ist von Vorteil, wenn man nicht gehört werden will. Und hier sind noch alte Vorräte von Papier. In den Geschäften gab es das nicht immer, so wie das Klopapier, auch da musste man manchmal darauf warten – man musste eben Vorräte bilden. Jiri Gruntorad trägt einen Vollbart, der inzwischen grau geworden ist; 61 Jahre ist er alt. Er gehörte zu den jüngsten in der Szene und ist zu einer zentralen Figur in der Prager Untergrundliteratur aufgestiegen. Er war – streng geheim, versteht sich – einer der Verleger der Dissidenten. Vaclav Havel, Pavel Kohout oder Ludvik Vaculik, die oppositionellen Autoren jener Jahre, waren in den offiziellen Verlagen verpönt. Also nahm Jiri Gruntorad die Sache selbst in die Hand. Samizdat heißt diese Art der Literatur, übersetzt: Selbst herausgegeben. Einspielung Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder habe ich einen Band selbst mit der Schreibmaschine und ein paar Durchschlägen abgeschrieben – oder ich habe es Freunden zum Abtippen gegeben. Man bewegte sich in einem bestimmen Kreis von Leuten, da wusste man, wem man trauen konnte und wer zum Beispiel eine Schreibmaschine hat. Samizdat, das bedeutet Sysiphos-Arbeit: Ganze Romane von etlichen hundert Seiten sind so in Wohnzimmern abgeschrieben worden, mal mit zwölf, mal mit dreizehn Durschlägen, dann wurden sie in Handarbeit sortiert und zu einem eingeweihten Buchbinder gebracht. Eine lächerlich niedrige Auflage, sagt Jiri Gruntorad selbst – aber für eine ganze Heerschaar von verbotenen Autoren war das die einzige Möglichkeit, überhaupt gelesen zu werden. Zeitgenössische Schriftsteller erschienen so und längst verstorbene Autoren, die den Machthabern ein Dorn im Auge waren. Für sie und ihre Bücher führte Jiri Gruntorad ein Doppelleben: Tagsüber setzten ihn die Kommunisten als Maurer und als Heizer ein, abends wurde er zum Verleger. Einspielung Schritte Heute hütet Jiri Gruntorad mitten in Prag einen literarischen Schatz. Er residiert in einer umfunktionierten Altbauwohnung, fast vier Meter hoch sind die Decken, die Dielen knarzen und vor den Fenstern rumpelt die Straßenbahn. Libri prohibiti heißt das Archiv, das er leitet – verbotene Bücher. Gruntorad geht voran in einen dunklen Raum, in dem – dicht an dicht - Regale bis zur Decke reichen. Einspielung Hier steht die weltweit größte Sammlung von tschechischem Samizdat. Das ist immer weiter gewachsen: Gleich nach der Wende hatten wir 1.000 Bände, das waren meine privaten Exemplare. Heute sind es ungefähr 13.000 Exemplare. Und schauen Sie: Das da vorne sind die Bücher aus meiner eigenen Edition, diese Reihe, diese und diese auch. Es gab etliche Editionen, die Enthusiasten aufgelegt hatten, alle natürlich streng geheim. Ganze Heerscharen von Hausfrauen, von Studenten und Oppositionellen haben sich Abend für Abend vor die Schreibmaschine gesetzt, um die Bücher abzutippen. Bis 1989 blieben die Durchschläge die wichtigste Form der Vervielfältigung – kleine Kopiermaschinen wie jene von Jiri Gruntorad sind kaum ins Land gekommen. Die Einbände sind fest, das Papier im Innern ist aber hauchdünn und nur einseitig beschrieben. Einspielung Hier ist so ein Exemplar, schauen Sie mal: Richtig ausgelesen ist es, wie es sich gehört. Oft stand vorne eine Widmung des Verfassers drin, so wie hier auch: Für sich und seine Freunde abgeschrieben: Vaclav Havel. Das hat eine Hausfrau abgetippt, und Havel hat es anschließend durch seine Unterschrift quasi legitimiert. Und hier steht auch noch mit Bleistift der ursprüngliche Preis: 130 Kronen mussten Sie dafür bezahlen – das war richtig viel Geld, ein Bier zum Beispiel hat damals eine Krone 60 gekostet. Die Käufer waren Freunde, Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft, die sich mal abends in Kneipen traf und mal bei einem der Dissidenten im Wohnzimmer. Sie pflegten regelrechte Lesezirkel: Wer eines der seltenen Exemplare besaß, verlieh es an einen Freund, meistens nur für einen Tag, und dann an den nächsten Interessenten. Und Außenstehende? Jiri Gruntorad winkt ab: Die meisten hatten keine Ahnung von diesem regen Leben, vom Wesen der Untergrundliteratur. Einspielung Damals gab es eine Million Prager; unter ihnen wussten ein paar Dutzend vom Samizdat. Das wäre schon viel Glück gewesen, davon zu erfahren. Da hätten Sie zur richtigen Zeit in die richtige Kneipe gehen und dort den richtigen Menschen treffen müssen. Und ob Ihnen das weitergeholfen hätte, hing dann davon ab, ob Sie das Vertrauen dieses Menschen gewinnen konnten. Wenn ja, dann wären Sie wohl in den Kreis gekommen. Aber wir waren natürlich vorsichtig: Für das Verleihen von solchen Büchern kam man damals ins Gefängnis. Das Verleihen allein hat schon gereicht. Wie gefährlich die Sache war, hatte Jiri Gruntorad selbst erfahren: Vier Jahre lang saß er wegen seiner Bücher im kommunistischen Gefängnis. Die Repression aber hat ihr Ziel nicht erreicht: Die Prager Literatur ließ sich nicht unterdrücken, die Autoren schrieben weiter und die Bücher gingen nach wie vor von Hand zu Hand. Einspielung Ich zeige Ihnen noch ein paar Schätze. Hier zum Beispiel, dieses Buch trägt eine Widmung von der Frau, die es abgeschrieben hat. Hören Sie: (liest) Meiner geliebten zweijährigen Kristina. Für ihre Zukunft machen wir solche Bücher. Dieses habe ich für die Edition Petlice abgeschrieben. Deine Mama. Mirka Filipova im Jahr 1975. Wohl nie war die Prager Literatur für viele Menschen solch eine Herzensangelegenheit wie in den Jahren des Kommunismus. Im Samizdat ist auch ein Lexikon jener tschechischen Autoren erschienen, die Publikationsverbot hatten – es umfasst mehr als 400 Namen. Der Kahlschlag in der Literatur war erdrückend. Einspielung Ich lese gern und hatte deshalb natürlich eine literarische Motivation: Wenn ich ein gutes Buch haben wollte, musste ich es mir abschreiben. Natürlich kam auch eine politische Motivation dazu: Man macht gute Literatur und schadet gleichzeitig dem Feind. Vom Samizdat, den illegalen Büchern, ist Jiri Gruntorad nie weggekommen. Noch heute blättert er täglich in den Bänden, die inzwischen 40, manchmal 50 Jahre alt sind. Eine vollständige Bibliographie des Samizdat, das ist jetzt sein Ziel: Alle Titel, auch jene, die nur in einer Auflage von ein paar Exemplaren erschienen ist, will er erfassen. Oft stößt Jiri Gruntorad dabei auf Bücher, die er schon vor der Wende einmal in der Hand gehalten hatte. Das sind die Momente, in denen er ungläubig seinen Kopf schüttelt: Einspielung Manchmal kommt es mir vor wie ein anderes Leben, das ich einmal geführt habe. Das war tatsächlich eine ganz eigene Welt. Und wissen Sie was? Der Samizdat hat uns eine gewaltige Freiheit eröffnet: Man konnte sich frei entscheiden, was man macht und was nicht. Die Prager Literatur war damals, im repressiven System, eine Chance zur Flucht. Jiri Gruntorad hat sie genutzt. Musik Literatur-Musik Literaturauszug-3: „Oscar Baum war blind. Das eine Auge war von Geburt an schwach, später ganz unbrauchbar gewesen. Ein tückischer Zufall wollte es, dass dem elfjährigen Burschen in Pilsen bei einer Rauferei unter Schulkindern das zweite Auge verletzt wurde, so daß es nach kurzer Krankheit völlig erblindete. Nun sah er überhaupt nichts mehr. – Allerdings ist die Tatsache, dass er bis zu seinem elften Jahr gesehen hat, ungeheuer wichtig. Sie ermöglichte es ihm, die Welt der Sehenden aus der Erinnerung, kraft eines Gedächtnisses, dessen Genauigkeit ans Wunderbare grenzte, so zu malen, dass niemand, der es nicht wußte, gesagt hätte, dies seien Schilderungen, die ein Blinder schreibt.“ Moderation 5: Der deutsche Reporter Jürgen Serke hat auch die Spur zu seiner Familie noch aufgenommen, er traf die Schwiegertocher den blinden Oscar Baum, der wie ein Sehender schreiben konnte. Baum starb 1941 und war einer der Literaten, die für Max Brod, wie Franz Kafka und Felix Weltsch ebenfalls zum „Prager Kreis“ gehörten. Freundschaften und Netzwerke gibt es auch heute noch in der Prager Literaturszene. Wie damals werden sie von Begeisterung und Begeisterten getragen. Es sind junge Autorinnen und Autoren aber auch Verleger. Selbst in dieser digitalen Zeit gelingt es ihnen, Leser zu finden, sie zu bewegen und zu berühren und so ein modernes Prager Literaten-Leben zu führen. Reportage 5: Optimistische Naivität im Geschäftlichen: Der Prager Kleinverlag Labyrint . Atmo Stimmen, Lounge-Musik vom DJ Es ist gedrängt voll im großen Festzelt: Menschentrauben stehen um Tapeziertische herum, auf denen stapelweise Bücher liegen, am Eingang hat ein DJ Musik aufgelegt. Es ist das Festival der kleinen Verlage im südböhmischen Ort Tabor; eine Art Buchmesse, auf der dutzende engagierte Verleger ihre aktuellen Ausgaben vorstellen, dazu gibt es jede Menge Lesungen und Diskussionen. Aufblendung Stimme eines Ansagers über Mikrofon Der Markt, den die Verlage bedienen, ist nicht allzu groß: Nur zehn Millionen Menschen sprechen tschechisch. Wer anspruchsvolle Belletristik schreibt, sagt Joachim Dvorak und seufzt, der arbeite für ein sehr überschaubares Publikum. Dvorak ist einer der kleinen Verleger, die auf der Messe ausstellen. Einspielung Man sagt hier bei uns in Tschechien, dass man mit 10.000 verkauften Exemplaren einen Bestseller hat. Von den meisten Büchern verkaufen wir 1.000, vielleicht auch mal 2.000 Stück. Wer in Ruhe mit Joachim Dvorak reden will, fernab des Messetrubels, der muss ihn in seinem Prager Verlag besuchen, den er Labyrint genannt hat. Er siedelt bescheiden im Parterre eines Gründerzeit-Wohnhauses, ein paar Schritte nur entfernt von der Moldau. Joachim Dvorak ist Mitte vierzig, in seinem Drei-Tage-Bart sind die ersten grauen Stoppel zu erkennen. Er lehnt sich in einem durchgesessenen Sessel zurück, der am Fenster steht. Von hier aus hat Dvorak den ganzen Verlag im Blick: Die beiden Schreibtische der Buchhalterinnen, die Eingangstür und den schmalen Durchgang zum hinteren Zimmer. Wenn der Verleger Besucher empfängt, sitzt er hier, wo im Hintergrund seine Mitarbeiterinnen Bestellungen durchgehen. Einspielung Sie müssen sich um einen Autoren kümmern. (ruft in den Raum): Könnt Ihr mal leiser sein? Oft treten Verleger auf wie jemand, der einem Autor eine Genehmigung zum Schreiben erteilt und Dankbarkeit verdient. Dabei sollen sie doch eigentlich den Autoren dienen. Das ist seine Philosophie, und er hält an ihr fest, auch wenn sie nicht sonderlich gewinnträchtig ist. Kochbücher oder Fußballer-Biographien jedenfalls, sagt Joachim Dvorak, werde er niemals herausgeben. Einspielung Viele Verleger wollen nicht mehr in die Suche nach neuen Namen investieren, das lohnt sich nicht. Wir hatten hier bei uns bis vor kurzem eine ganze Reihe mit neuen Autoren, die noch nicht veröffentlicht hatten. Das erschien vielleicht so vier Jahre lang. Jetzt würde ich damit gar nicht mehr anfangen: Außer zwei Bänden haben alle leichte Verluste gemacht. Aber ich wollte nun einmal neue Stimmen finden. Seit Joachim Dvorak den Verlag gegründet hat, kurz nach der Wende war das, sind ihm einige Entdeckungen geglückt – junge Autoren, deren Werke sich gut verkaufen und heute den Verlag über Wasser halten. Diese junge Prager Literatur, was zeichnet sie aus? Dvorak überlegt kurz, dann schüttelt er den Kopf. Einspielung Ich weiß nicht, ob sich ein 30-jähriger Autor, der in Berlin lebt und in Dresden geboren wurde, von einem Altersgenossen unterscheidet, der in Berlin lebt und in Hamburg geboren wurde. Wahrscheinlich nicht – obwohl er in Dresden andere Erfahrungen gesammelt hat. So ist das auch mit der jungen tschechischen Prosa. Irgendein Theoretiker wird wahrscheinlich Gemeinsamkeiten finden, wenn er lange genug sucht. Aber meine Beobachtung ist: Die Autoren haben kein Bedürfnis, sich zu einer Prager Zelle oder so etwas zusammenzuschließen. Im Verlag öffnet sich die Tür, ein kleines Mädchen stürzt herein, begleitet von seiner Mutter, und rennt auf Joachim Dvorak zu. Der nimmt es kurz in den Arm. Einspielung Das ist meine Tochter. Geh noch kurz zur Mama! - Ich muss mich entschuldigen, hier herrscht etwas Chaos. Es sind solche Momente, in denen der Labyrint-Verlag noch ein wenig an die Zeit nach der Wende erinnert, als er gegründet worden ist: Eine Mischung aus unkonventionellen Ideen und Begeisterung für die Sache herrschte damals, gepaart mit einer optimistischen Naivität in geschäftlichen Dingen. Einspielung Wir Studenten hatten damals das Gefühl, wir könnten alles machen, nichts war unmöglich. Also habe ich Bücher verkauft, auf dem Wenzelsplatz und in der Fußgängerzone. Ich habe das als eine Art Wiedergutmachung gesehen an den Autoren, die nicht erscheinen durften. Das waren damals billige Paperbacks von Josef Skvorecky, Milan Kundera oder Arnost Lustig. (schmunzelt) Das war eine gute Schule damals für mich als späteren Verleger: Manche haben die Bücher danach gekauft, was sie interessiert, andere nach dem Preis. Aufblendung Buchmesse Joachim Dvorak hat sich von Anfang an für die Leser interessiert, denen Inhalte und nicht Preise wichtig waren. Sie sind es, die auf dem Festival der kleinen Verlage in Tabor durch die Neuerscheinungen stöbern – und die Dvorak darin bestätigen, dass es sich lohnt, nach neuen Autoren zu suchen; auch, wenn es wirtschaftlich wohl immer ein Abenteuer bleiben wird. lange Schluss-Atmo Musik Schlussmoderation: „Die Stadt der Bücher, Bücher der Stadt – Prag und seine Literaten“ - das waren Gesichter Europas. Sie hörten Reportagen von Kilian Kirchgessner. Babette Michel hat die Musik zusammengestellt und führte Regie. Die Endproduktion übernahmen …. und …. . Die Literaturpassagen stammen von Max Brod - aus seinem Werk „Der Prager Kreis“, erschienen 1966 im Stuttgarter Kohlhammer-Verlag. Bruno Winzen hat die Auszüge aus diesem Buch vorgetragen. Im Namen aller Beteiligten darf ich mich für Ihr Interesse bedanken, am Mikrofon war Gerwald Herter. 2