DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 13.10.2015 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr Blind in einer Welt der Zeichen Ein Analphabet auf Jobsuche Von Dominik Bretsch URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Kay: Ich bin Kay Golz-Schmidt, bin 35 Jahre alt, habe vier Kinder und bin seit 10 Jahren mit meiner Frau verheiratet. Und funktionaler Analphabet. Man kann einige Texte nicht oder gar nicht lesen und schreiben und auch nicht sinnentnehmen. Kurze Texte gehen, aber nicht ganz genau. Es ist schwierig, weil du nach einer Weile das, was du am Anfang gelesen hast, wieder verschwunden ist. Zum Beispiel wenn ich ein Buch lese,…das kann ich ja in kleinen Abschnitten lesen. Aber wenn es alles so zusammengeschrieben ist, weißt du dann im Nachhinein nicht mehr was ich dann gelesen habe. Weil ich dann schon wieder vergessen habe, weil ich mich auf das andere dann konzentriere. Autor: Ich habe Kay beim Verein „Lesen und Schreiben“ in Berlin Neukölln kennengelernt. Zwei Jahre lang hat er dort einen Grundbildungskurs gemacht: Hat seine Lese- und Schreibfähigkeiten verbessert, Mathematik-Unterricht bekommen, gelernt mit einem Computer umzugehen. Jetzt ist der Kurs vorbei und es stellt sich die Frage: Wird es Kay gelingen, mit diesen Voraussetzungen einen Job zu finden? Ein Jahr lang werde ich ihn begleiten. Musik Titelansage Blind in einer Welt der Zeichen Ein Analphabet auf Jobsuche Ein Feature von Dominik Bretsch Atmo: fließender Straßenverkehr Sprecher: Herbst Autor: Kay wohnt mit seiner Familie in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand von Lichtenberg im ehemaligen Ostberlin. Vor der Tür rauscht sechsspurig der Verkehr vorbei, ein Rentnerehepaar sucht nach Pfandflaschen. Im Fahrstuhl riecht es nach Reinigungsmittel. Die Wohnung liegt im sechsten Stock, hat einen Südbalkon und fünf Zimmer. Jedes Kind hat sein eigenes. Kay und seine Frau schlafen im Wohnzimmer auf einer ausgeklappten Couch. Die Einrichtung ist karg: Discounter-Möbel, ein blauer Katzenbaum, ein Sofa mit ausgebleichtem Bezug. An der Wand einige Hochzeits- und Familienbilder. Atmo: Kay und die Kinder Autor: Kay macht die Jüngsten der vier Kinder bettfertig. Michelle und Dominik, sechs und neun Jahre alt, hüpfen auf die Couch und warten darauf, dass Kay ihnen eine gute Nachtgeschichte vorliest. Kay: Darf ich jetzt oder wie sieht das hier aus? (Räuspert sich und beginnt stockend vorzulesen…) Atmo: Vorlesen Kay: Das ist jeden Abend, dass wir den Kindern was vorlesen. Soll auch so weiter bleiben. Dadurch lernen se ja och die Wörter und die Begriffe, was wir dann vorlesen. Atmo: Vorlesen Kay: … Ey, ick les‘ euch was vor, also pscht! Dominik: Also ich finde das schon gut, dass mein Papa und meine Mama auch öfters vorliest. Wie die sieben Zwerge, Schneewittchen… Michelle: Warte mal, ich hol mal die Bücher. Dominik: Und zum Beispiel wie.. Kay: Hänsel und Gretel. Dominik: Hänsel und Gretel. Dann hören wir manchmal die sieben Geistlein… Dominik: Darf ich? (blättern) Michelle: Also ich kann nicht lesen… Dominik: Das wollte ich! (Dominik liest vor: Der Wolf und die sieben jungen Geislein… Autor: Während Dominik liest schaut Kay ihm über die Schulter. Seine Lippen bewegen sich lautlos mit. Dominik: …die sie sehr lieb… Kay (ergänzt): …hatte. Dominik: Ich finde besser, dass ich lese, dann kann ich auch mehr lernen bei lesen. Weil ich bin auch nicht so gut in Deutsch. Manchmal wechseln wir auch ab, wenn meine Schwester und mein kleiner Bruder was vorgelesen haben (wollen), dann fragen die zuerst Papa. Dann liest Papa ein Stück vor. Wenn er nicht mehr kann, dann frag ich, ob ich weiterlesen kann. Kay: So lernt er dann besser in Deutsch klarzukommen. Ich kann ihn unterstützen, wo er Fehler macht… Dominik: Und ich unterstütze ihn. Kay: Ja, wir lernen beide. Wenn wir uns dann gegenseitig unterstützen, wird das schon klappen. Er soll nicht den Mut verlieren. Manchmal kommen irrsinnige Sachen raus, die gar nicht da drin stehen. Die ick auch jut finde, weil da ist ja dann die Fantasie dann anders. Autor: Macht dir das Spaß, das Vorlesen? Dominik: Ja! Kay: Mir macht das auch Spaß. Sonst liest ja die meiste Zeit meine Frau vor und ick versuch das ja ooch nach und nach den Kindern was vorzulesen. Aber meine Frau hat die bessere Betonung drin. Autor: Kays Frau möchte in dieser Sendung nicht in Erscheinung treten. Sie ist Hausfrau, die Familie lebt derzeit von Hartz IV. Atmo: Spielplatz Kay: Ick mach jetzt ne MAE Maßnahme für ein Euro fuffzig. Naja, mal sehen. Sprecher: AGH-MAE - Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung. Kay: Neben der Arbeit hab ick noch knapp 3 Stunden Zeit noch für die Kinder, weil die ja dann ooch um 18 Uhr bettfertig gemacht werden, nach dem Sandmann, und 19 Uhr 25 ist dann endgültig Feierabend. Aber det dauert ja dann auch noch eine Weile bis sie einschlafen. Autor: Seit einer Woche arbeitet Kay für den Berliner Verein „Jahresringe“. Altenbetreuung, fünf Tage in der Woche jeweils für 6 Stunden. Die Maßnahme hat das Jobcenter veranlasst, im Anschluss an den Grundbildungskurs. Kay: Bin froh, dass ich wenigstens was zu tun habe. Ich wollt zwar bei Lidl arbeiten, aber das hat das Arbeitsamt mir ausgeschlagen ausm Kopf. Es ist noch zu früh auf den ersten Arbeitsmarkt zu gehen. Und da hab ick gesagt: ja wieso, ich hab doch davor zwei Jahre in ner Reinigungsfirma gearbeitet, so schwer kanns ja nu nicht sein. Aber eh ick da jetzt noch mehr Ärger krieg, hab ich gesagt na gut, dann mach ich die MAE Maßnahme. Hab dann gesagt, ich würde zwar gerne was im Gartenlandschaftsbau und wenn da nix is, war die zweete Option in der Küche. War auch leider voll, und dann hat se mich gefragt gehabt, ob ich was mit Menschen, die so gehbedürftig sind oder so ein bisschen Hilfe brauchen, was mit anfangen kann. Und dann hab ick gesagt, ja warum nicht, is wat neuet… Musik Autor: Nieselregen, ein grauer Herbsttag. Kay steht am Eingang eines Apartmentblocks in Lichtenberg. Frau Grünberg: (durch die Sprechanlage) Ja bitte? Kay: Jahresringe (Türsummer, Aufzugtür) Wollen wir mal jetzt in die sechste Etage. (Aufzug) Kay: Das is sie ja! Frau Grünberg: Da is er ja! Guten Morgen. Kay: Guten Morgen Frau Grünberg. Frau Grünberg: Immer rein in die gute Stube. Die Tür wollte nich und dat Licht will nich. Wat habt ihr noch für Kummer? Autor: Auf dem Tisch eine Wachsdecke, darauf ein Teller mit Gummibärchen, eine Fernsehzeitschrift, ein Kreuzworträtselheft und eine Flasche Franzbranntwein. An der rechten Wand eine Vitrine mit Nippes, gegenüber, auf dem Sofa, sitzt ein Plüschbär und starrt ins Leere. Unter dem wuchtigen Röhrenfernseher aufgereihte VHS Kassetten: Hongkong, Norwegen, Paris, Wien. Erinnerungen an frühere Reisen. Jetzt parkt der Rollator neben dem Sofa. Frau Grünberg ist 73 Jahre alt. Früher war sie Erzieherin. Mit den eigenen Kindern hat es nicht so geklappt. Sie kommen nie zu Besuch; statt ihrer kommt Kay. Frau Grünberg: Noch geht’s mir gut, aber ich muss ja immer noch an Krankenhaus denken. Kay: Denken se nich daran. Frau Grünberg: Ja, ich weiß, hat mir Heidi och schon gesagt. Kay: Aber Sie müssen ja trotzdem jetzt planen. Am 28.10 ist ihre OP. Frau Grünberg: Ja, da ist meine OP und hier steht auch am 27. um 10 Uhr. Kay: Also ich komme dann nächste Woche am 27. um 9 Uhr hier her und um 9:30 Uhr rufen wir den Krankentransport. Oder nich? Frau Grünberg: Ne, ruf ich schon vorher an. Man muss mir ja auch nicht alles abnehmen. Kay: Ne aber, du dit is ja mein Job, ich muss ja auf Sie aufpassen. Frau Grünberg: Ja, is ja gut, ich mein es ja auch nicht so. Kay (aus dem Off): Ich hab sechs Klienten in der Woche, die ich zwei Stunden betreue. Ausnahme wäre dann, wenn Arztbesuche anstehen, da sind`s dann 4 Stunden wegen der langen Wartezeit. Ich mache zur Zeit Rollstuhlschiebedienst. Wir begleiten die zum Arzt und Jobcenter, Spaziergänge und Einkäufe. Kay: Und ich komm Sie dann besuchen, wie versprochen. Frau Grünberg: Das ist nett, ja. Frau Grünberg: Vielleicht können se dann ne kleene Blume mitbringen. (lacht) Naja, vielleicht sind se so frei, dass ich dann sterbe. Kay: Nein, Sie werden nicht sterben. Frau Grünberg: Sagt Heidi auch immer. (lacht) Heidi ist meine Betreuerin… Autor: Kay sitzt neben seiner Klientin auf dem Stuhl, die Hände im Schoß. Manchmal scheinen ihn Frau Grünbergs Sprüche zu irritieren. Kay (auf Atmo aus Gespräch mit Frau Grünberg): Wir gehen beide offen miteinander um. Manchmal macht se mich auch ein bisschen verlegen, aber ich komm mit ihrer Art klar. Ich darf das jetzt nicht so an mich ranlassen, aber doch die Frau tut mir sehr leid, muss ich sagen. Weil sie ja so viel durchmachen musste. Autor: Wenn es um konkrete Aufgaben geht: Termine festlegen, den Koffer vom Schrank holen, einkaufen gehen – spannt sich Kays Körper. Man merkt: er fühlt sich souverän. Zwei Stunden sind für den Besuch eingeplant und Kay hält sich penibel daran. Von Zeit zu Zeit blickt er verstohlen auf seine Armbanduhr. Frau Grünberg: Er geht für mich ma bei Kaisers einkaufen. Ach so ja, Mensch, Selters bräucht ick. Kay: Hol ich. Frau Grünberg: Ja, mach mal, ick geb dir Geld. Kay: Und Brot auch? Frau Grünberg: Ne, Brot hab ich. Aber Obst kannste mir mal mitbringen, ein paar Birnen oder Pflaumen oder wes ick wat. Oder Weintrauben. Kay: Aber n günstiges Angebot, oder? Frau Grünberg: Na, 50 Mark sollste nicht ausgeben. (Beide lachen) Musik Frau Grünberg (aus dem Off über das Gespräch): Ick hab ja keinen. Außer Heidi, die hat ja nur fünf Minuten. Er war mir gleich sympathisch. Ich guck mir immer die Leute an. Wenn er mir unsympathisch wäre, hätt ick das auch gesagt. Ich bin zwar grob, aber ehrlich. Frau Grünberg: Ja, er hat es mir gleich von Anfang an gesagt, dass er Legastheniker ist. Kay: Analphabet. Frau Grünberg: Ja, Analphabet. Ich kann damit umgehen, nich. Er kann ja fragen. Manchmal diskutieren wir auch ein bisschen. Er is ja noch jünger, er kann ja noch lernen. Kay (auf Atmo aus Gespräch mit Frau Grünberg): Ich lerne hier sehr viel. Die etwas älteren Leute können mir was beibringen und ich kann denen was beibringen, was ich so in meinem Leben erreicht habe. Und das kommt gut an. Ich bin ja hilfsbereit, ich gehe auf die Menschen zu und bin freundlich und natürlich auch pünktlich. Und das schätzen die an mir. Det sind zwar nur 1 Euro 50 die Stunde, aber ich sage mir so, ich gucke nicht auf das Geld, sondern mir macht der Beruf Spaß und det is bei mir an oberster Gebot. Ich würde ooch gerne mehr verdienen, wenn`s die Möglichkeit natürlich gäbe. Aber ich sage mir: Job ist Job. Man sollte immer das Positive raussuchen. Ich wollte schon immer was mit Menschen machen. Und das ist mir jetzt ein bisschen geglückt. Mir macht det Spaß. Musik Autor: Kay hat fast seine ganze Kindheit und Jugend in einem Heim in Ostberlin verbracht. Mit drei Jahren kam er dorthin, mit zwanzig hat er die Einrichtung verlassen. Kay: Ich würde da ein großes rotes Kreuz machen, und dann abhaken, in die Zukunft gucken und die Vergangenheit vergessen Kay: Ich bin 88 eingeschult worden. Ich habe die 1. und 2. Klasse wiederholt. In der 10. war ja die berufsvorbereitende Schule, da hab ich den Hauptschulabschluss und in meiner Ausbildung hab ich den erweiterten Hauptschulabschluss gemacht. Aber nur durch mündliche Zusatzfrage. Autor: Ab der fünften Klasse, sagt Kay, sei er zurückgefallen. Kay: Man konnte die Hausaufgaben ja auch in der Schule machen, aber da wurde mir dann och nicht geholfen, weil ich das alleene machen musste. Und im Heim, kannste vergessen, die sind ja für wat anderes zuständig. Ick hatte von beiden Seiten keine Unterstützung. Von den Erzieherinnen hätte ich mehr Unterstützung erhofft, weil die sind ja eigentlich dafür ausgebildet, dass es nicht so passiert. Und von der Schule hätte ich mir och Unterstützung erhofft, aber die habe ich ja nie bekommen. Autor: Selbst heute noch fällt es Kay schwer, der Institution Schule zu vertrauen. Deshalb wissen zum Beispiel die Lehrer seines Sohnes Dominik nichts von Kays Analphabetismus. Kay: Dafür hab ich noch zuviel Angst, wie die Lehrer darauf reagieren. Das wird auch nicht so schnell vorbeigehen. Das ist so tief eingebrannt, das wird nicht so schnell funktionieren. Ich würde eigentlich davon ausgehen, dass er dann mehr gefördert wird. Autor: Was ja eigentlich gut wäre. Kay: Eigentlich ja. Aber über den Schatten zu springen ist noch schwer. Musik Kay: Da hab ich mich dann so durchgewurschtelt. Musste mich durchkämpfen dann. Und damit bin ich ja auch ganz gut vorangekommen. Hauswirtschaftshelfer hab ich erlernt mit den zusätzlichen mündlichen Fragen. In dem praktischen Bereich war ich sehr gut gewesen, was ich heute auch noch bin. Weil das Praktische mir besser liegt als das Schriftliche. Nach meiner Ausbildung war ich Jobsuche, dann habe ich im Grünflächenamt gearbeitet für sechs Monate. Dann habe ich bei Getränkemarkt als Lagerarbeiter… das hat mir gar nicht gefallen, weil die ständige weite Fahrweg nach Potsdam raus. Und dann habe ich in Reinigungsfirma so vier Jahre lang gearbeitet. Es ist nie einfach nen Job zu finden, auch dann einen Job zu finden, der och für mich dann auch passt, ist sehr schwer. Musik Urda: Mein Name ist Urda Thiessen, ich leite den Verein Lesen und Schreiben in Berlin Neukölln. Den Verein gibt’s seit über 30 Jahren und wir sind ausschließlich mit dem Ziel beschäftigt, die Situation für Menschen zu verbessern, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Wir haben einen ganzheitlichen Ansatz, das heißt wir reduzieren uns nicht auf die Vermittlung von Kenntnissen im Lesen und Schreiben, sondern tatsächlich gehört für uns auch Rechnen dazu, Sozialkunde, PC also wirklich ne umfassende Grundbildung. Alle Fragen aus dem Alltag und aus dem beruflichen und familiären Leben gehören dazu, werden hier mit eingebracht. Die Integration in den Arbeitsmarkt steht natürlich auch im Vordergrund, das ist auch unser Auftrag vom Jobcenter. Ist in der Realisierung natürlich immer abhängig davon: Wie ist eigentlich der Arbeitsmarkt. Die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt, die Anforderungen an die Leute, die auch einfache Arbeitsplätze besetzen, werden immer höher. Also sie müssen heute in jedem Reinigungsberuf Listen führen, müssen die Anleitungen lesen, müssen dokumentieren. Das ist genauso in der Pflege. Im Lagerbereich ist es so, es muss alles jetzt über Computer laufen, sie müssen da was eingeben. Das erfordert alles mehr Lese- und Schreibkenntnisse als noch vor 20 Jahren. Autor: Nach seinem Job bei der Reinigungsfirma war Kay ein halbes Jahr arbeitslos. Schließlich versuchte er einen Neuanfang mit einem Grundbildungskurs beim Verein „Lesen und Schreiben“ in Berlin Neukölln. Kay: Ich habe beim Jobcenter nachgefragt, ob es die Möglichkeit gäbe, meine Lese-Rechtschreib zu verbessern, auf Grund deswegen, dass ich meinen Kindern bei den Hausaufgaben helfen kann und auch möchte. Dass ich auch denen was beibringen kann und nicht alles an meiner Frau hängen bleibt. Und daraufhin habe ich gefragt gehabt, ob es die Möglichkeit gäbe, nicht wieder in so eine Bewerbungsmaßnahme reingeschmissen zu werden. Urda: Das Erste was ich über Kay gehört habe von einer Kollegin war: Da fängt nächste Woche jemand an, der ist ganz unsicher. Da müssen wir ein Auge darauf haben. Der traut sich das überhaupt nicht zu und da müssen wir erst mal ganz vorsichtig anfangen. Das war die erste Ansage, die ich gekriegt habe zu Kay. Kay: Vor Lesen und Schreiben hab ich mich immer mehr zurückgezogen, weil ich gedacht habe, ich bin der einzige, der Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben hat. Weil ich mich auch nicht so offenbart habe, wie ich das jetzt in den 2 Jahren bei Lesen und Schreiben gemacht habe. Ich hab Betreuer gehabt, die dann natürlich ooch das mit dem Jobcenter regeln tut und auch die Vertretung über die Behörde usw. Das ist ja dann natürlich auch die Bequemlichkeit, die dann dazu kommt, dass mein Betreuer das dann macht. Heutzutage will ich och versuchen, das auch alleine zu schaffen. Nicht dass ich von Personen abhängig bin. Urda: Und über die Zeit hat es sich meiner Ansicht nach sehr positiv bei Kay entwickelt, dass er sich immer besser getraut hat, auch wirklich seine Meinung zu sagen und Position zu beziehen, auch gegenüber der Gruppe, was sicherlich das Schwerste von allem ist. Aber wenn er lange darüber nachgedacht hat und zu einem Ergebnis gekommen ist, dann hat er sich auch getraut dieses Ergebnis den anderen als seine Meinung kund zu tun und da war er sehr standfest dann nach einer Zeit. Kay: Aber du kannst dann, wenn du 10 Jahre aus der Schule raus bist, nicht innerhalb von 2 Jahren das aufholen. Weil du dann ja natürlich ooch andere Dinge im Kopf dann hast, wie suchst dir ne Arbeit und dann Kinder erziehen und das Lesen und Schreiben fällt dann natürlich wieder nach hinten. Urda: Er hat dazugelernt im Lesen und Schreiben. Aber es ist immer noch: Insgesamt ist Lesen und Schreiben eine Baustelle, die wird ihn sein Leben begleiten. Wichtig für uns ist aber – und insofern ist Kays Besuch bei uns hier erfolgreich – weil er einen Weg gefunden hat damit umzugehen. Atmo: Tag der offenen Tür Autor: Dazu gehört auch Kays ehrenamtliches Engagement für den Verein Lesen und Schreiben. Nach Abschluss seines Grundbildungskurses hat er eine Selbsthilfegruppe gegründet, repräsentiert den Verein in der Öffentlichkeit. Heute ist Tag der offenen Tür. Im Innenhof des Neuköllner Altbaublocks wird gegrillt, es riecht nach Bratwurst und frittierten Quarkbällchen. Im Hinterhaus sind die Schulungsräume. In einem davon steht Kay: Turnschuhe, Umhängetasche, weißes Hemd, schwarze Weste. Autor (im On): Bist du ein bisschen aufgeregt, Kay? Kay: Ja, bin ich! Selbst zu präsentieren ist noch ein bisschen schwer. Aber ich komm rein. Wirste dann merken, wenn ich dit dann erkläre, dann ratterts. Autor: Der Raum sieht aus wie ein Grundschulzimmer: Buchstaben aus Styropor hängen von der Decke, vorne eine grüne Tafel. Die Tische und Stühle erscheinen eine Nummer zu klein für Erwachsene. Frauen mit und ohne Kopftuch kreuzen von Stand zu Stand, Volkshochschullehrer, Lokaljournalisten. Berlins Bildungsstaatssekretär Mark Rackles betritt den Raum. Ein schlanker, hochgewachsener Mann, der selbst den großen Kay noch um eine halbe Kopfeslänge überragt. Staatssekretär: Erst mal Hallo. Ne tolle Initiative, muss ich mal sagen. Das ist von unten gewachsen. Kay: Ja…wie, ich hab die Frage nicht ganz verstanden. Staatssekretär: Das ist nicht von oben gegründet worden, sondern von unten, von den Lernern selber, die gesagt haben: Was brauchen wir jetzt. Kay: Ja, genau. Wir wollten auch schon mal Öffentlichkeitsarbeit machen und daraufhin ist die Selbsthilfegruppe entstanden. (Frau spricht rein: … ist der erste Flyer entstanden, wenn Sie mal gucken möchten.) Staatssekretär: Echt toll, weil es auch noch mal der Öffentlichkeit zeigt, dass Sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ist toll. Sehr schön, alles Gute. Urda: Viele finden das Thema sehr wichtig in der Politik, aber im Moment ist noch keiner so richtig bereit dafür auch Geld rauszutun. Sprecher: Urda Thiessen, Leiterin des Vereins Lesen und Schreiben. Urda: Im Moment rennt man mit der Problematik fast überall offene Türen ein. Alle sagen: „Ja wichtiges Thema, aber finanzieren kann ich`s nicht.“ Das ist ein Problem und wird auch, glaub ich, noch ne ganze Weile dauern. Die Jobcenter, die eigentlich diese Maßnahme hier finanzieren, da ist die Bewilligungspraxis nicht ganz eindeutig von den 12 Berliner Jobcentern. Einige bewilligen es, andere bewilligen es nicht. Im Moment haben wir 25 ungefähr, wir haben aber die Kapazität eigentlich für 50. Musik Sprecher: Winter Autor: Seit drei Monaten ist Kay nun schon in den Altenbetreuung tätig. Der Job gibt dem Tag Struktur, gliedert Pflicht und Freizeit. Muss Kay nicht arbeiten, ist er die meiste Zeit mit seinen Kindern zusammen: Leon, Michelle, Dominik und Christian. Sie sind 5,6, 9 und 14 Jahre alt. Kay: Wenn ich meine Kinder nicht hätte, weiß ich nicht was mit mir dann so ist. Weil, sonst komm ich im Leben ja nicht weiter. Manchmal ist es ooch ein wenig stressig. Aber damit kann ich ja umgehen. Autor (im On): Fällt dir das jetzt leichter, mit solchen Situationen umzugehen als vor zwei Jahren? Kay: Ja, dat fällt mir jetzt leichter. Autor (im On): Kannst Du das noch irgendwie beschreiben, also was dir leichter fällt? Kay: (überlegt) Ruhig bleiben und zuhören. Atmo: Eishockey Autor: Eishockey-Training der Kindergruppe bei den Berliner Eisbären. Eine riesige Eishalle mit Platz für viereinhalbtausend Besucher in Berlin Hohenschönhausen. Kay: An erster Position steht Familienzusammenhalt und dann kommt Eishockey und danach wäre dann Arbeit an dritter Position. Autor: Kay und seine jüngsten beiden Kinder Michelle und Leon sitzen in den oberen Rängen, um dem 9-jährigen Dominik beim Training zuzuschauen. Atmo Kay unterhält sich mit den Kindern Kay: Meine Frau hat ihn mit 3 Jahren angemeldet beim Eishockey. Drei Mal in der Woche hat er Training, das ist Montag, Donnerstag und Samstag. Wir versuchen so gut wie möglich, wenn wir das finanziell noch hinkriegen, ihn in seinem Sport, was er auch gerne macht, zu unterstützen. Autor: Die kleinen Spieler können es gar nicht erwarten aufs Eis zu stürmen. Sie klettern über die Bande, plumpsen auf der anderen Seite herunter, jagen auf die Pucks in der Spielfeldmitte zu, üben waghalsige Ausweichmanöver. Ein schriller Pfiff aus der Trillerpfeife des Trainers beendet die Toberei. Sofort sammelt sich die Rasselbande um ihn. Atmo: … Kay: Dominik ist im Tor und er ist einer der besten Verteidiger, den es gibt. Und auch guter Vorbereiter. Er kann aus der Mittellinie sehr gut abpassen nach vorne. Ist fast so ähnlich wie Fußball. Nur das Eishockey auf Schlittschuhen ist. Autor: Die Schläger krachen aufeinander. Dominik fällt bäuchlings hin, rappelt sich sofort wieder auf. Zwei Mittelfeldstürmer prallen aufeinander, die Schläger verhaken sich. Einer kann sich lösen, zieht ab. Tor! Atmo:… Kay: Mein Eindruck ist, dass er ganz gut klarkommt und sehr gut aufpassen tut. Dass er die Spielweise, die er hat, schnell umsetzt und auch den Puck anderen Spielern zuspielt. Ich bin sehr stolz auf Dominik. Muss ich ehrlich zugeben. Weil ich finde er hat eine Beschäftigung und dann langweilt er sich nicht. So wie er spielt ist seine Leidenschaft für Eishockey sehr groß. Kay: (zu Michelle) Du musst schon wieder pullern? Leon: Ich auch. Kay: Nee! Das ist bei euch nur Langeweile. Bei dir weiß ichs. Ja geh, du bleibst hier. Aber hört auf rumzutoben! Kay: Ich muss nur noch ne Möglichkeit finden, dass ich die beiden auch beschäftigen kann. Mein Gefühl ist, dass sie so ein bisschen ungeduldig sind, bis das Training vorbei ist. Kay: So, Dominik hat gerade ein Tor geschossen! Das ist jetzt so Übungsphase wegen, Samstag weil se ein Spiel haben. Da wird dann geguckt, wer so am besten spielt und der kann dann aufgestellt werden. Kay: Was ich empfinde? Ich würde gerne mitspielen. (lacht) Ist wirklich so! Weil ich auch mal die Erfahrung haben will, wie man spielt. Weil ich ja so eine Chance nicht bekommen habe. Weil ich ja im Heim großgeworden bin, vermisse ich es sehr, dass ich irgendwelche Sportaktivitäten machen konnte. Vielleicht würde ich dann mehr Kontakte haben. Kay: Ich war nicht so groß befreundet gewesen. Ich war lieber eher alleine. Jetzt habe ich ja meine Arbeitskollegen, damit komme ich ja ganz gut zurecht. // Ich hab dafür gar keine Zeit mehr, für Freunde. Die Familie geht dann vor und da ist es dann so. Musik Autor: Es ist ein sonniger Tag im Januar. Kay ist zu Hause und sitzt an einem alten PC mit flackerndem Röhrenbildschirm. Kay: Meine Maßnahme wäre jetzt am Einunddreißigsten abgelaufen, aber ich habe noch eine Verlängerung bekommen vom Jobcenter, und das find ich gut, weil ja auch einige Klienten hier gesagt haben, dass sie mich gerne noch hier behalten wollen. Autor: Manchmal, wenn die Kinder aus dem Haus sind und Kay alleine ist, sucht er im Internet nach Jobangeboten. Kay: Ich mach das hier zu Hause, damit ich ein ruhigen Zeitpunkt hab. Meistens hab ich den ruhigen Zeitpunkt am Sonnabendvormittag. Autor: Kays Gesicht ist ganz nah am Bildschirm. Text in Standardschriftgröße ist für ihn schwer zu entziffern. Kay: Ich kann auch direkt hier oben eingeben was ich dann suche. Zum Beispiel sagen wir mal jetzt „Reinigung“ … Falsch geschrieben. (lacht) Siehste so kommt das dann, wenn man nicht weiß wie das richtig geschrieben wird. So, jetzt muss ich kurz überlegen. Also ich geh ich dann auf Google. Und dann kann ich jetzt eingeben: Jobcoach oder Stellenangebote. Autor: Google gleicht Kays Schwäche aus. Er tippt „Sellenangebote“, der Algorithmus erkennt Kays Absicht und schlägt „Stellenangebote“ vor. Kay: So hilft uns allen der Computer ein bisschen voran zu kommen. Dann natürlich zu sortieren, was am Besten ist, ist noch einmal eine ganz andere Sache. Autor: Stichwörter kann Kay inzwischen schnell erfassen. Schwierigkeiten bereitet es ihm, längere Sinnzusammenhänge zu verstehen. Auf Webseiten verliert Kay schnell den Überblick. Dann weiß er nicht mehr, wo er klicken soll, um die Informationen zu bekommen, die er sucht. Landet er in Textwüsten wie auf Wikipedia, ist er verloren. Kay: Ich geh meistens auf meinestadt.de, weil`s in Berlin dann ist. So Personalwesen muss ich draufgehen. Personalwesen ist dann mit Reinigungskräften oder Pflegepersonal, wenn ich mich nicht täusche. So wie ich`s grad seh ist nur … ein Angebot da. Büroreinigung ab 15€ steht hier. Da guck ich, ob das was für mich ist. Aufgaben. Reinigungsplätze mit System, regelmäßige Kontroll mit Checkliste, spezielle Ge… geschulte Mitarbeiter, also die Qualifizierung brauchen wir dann schon. Ist ja dann ein Kriterium, was ich nicht hab, weil ich nur so halbwegs Reinigungerfahrung habe. …. Komm ich grad nicht weiter, was ich noch machen kann. Autor (im On): Und wie würdest du dann weiter vorgehen? Wenn so eine Stelle für dich interessant ist? Kay: Ich kann ja eventuell anrufen, oder dann eine direkte Bewerbung… da hab ich ja dann hier schon die Adresse, wo ich das hinschicke, aber ich hab keinen Ansprechpartner. Doch hier oben. „Sehr geehrte Damen und Herren“ muss ich dann schreiben. Musik Sprecher: Frühjahr. Autor: Kay hat einen Termin beim Jobcenter Lichtenberg. Es ist der erste seit Beginn der MAE Maßnahme vor einem halben Jahr. Das Jobcenter ist ein Ensemble aus drei Plattenbauten, gewaltige Klötze mitten in einem Wohngebiet, zehn Stockwerke hoch. Früher war hier die Stasi. Es ist morgens um acht. Ein Dutzend Menschen warten vor dem Eingang, halten Kaffeebecher in den Händen, rauchen Zigaretten. Ihr Atem kondensiert in der Morgenkälte. Kay: Heute geht es um die Eingliederungsvereinbarung und um die derzeitige Maßnahme, die ich jetzt mache bei Jahresringe. Um zu sehen, wie`s jetzt zur Zeit läuft. Weiß nicht was auf mich zukommt. Lass ich mich jetzt überraschen. Autor: Am Eingang muss Kay sich mit Ausweis anmelden. Die Pförtner sitzen hinter dicken Glasscheiben. In den Fluren riecht es frisch gestrichen, als wäre die allgegenwärtige Pastellfarbe noch nicht ganz trocken. Kays Sachbearbeiterin heißt Frau Ringmann. Eine Dame mittleren Alters mit Brille und blonder Dauerwelle. Kay: (Klopfen) Guten Morgen. Soll ich noch draußen warten? Frau Ringmann: Nee, Sie können ruhig jetzt schon rein. Frau Ringmann: Sie waren jetzt lange nicht mehr hier. Nun ist das ja Seniorenbetreuung. Und, kommen Sie klar mit den mit den älteren Leuten, son bisschen kommen Sie auch ins Gespräch, helfen Sie beim Einkaufen gehen: Ja, wir kaufen lieber das, oder eher was anderes, oder geben Sie das dann immer alles vor? Kay: Nee, die Klienten geben vor, was se kaufen möchten. Ich geb nur nen Tipp, dass das günstiger ist und so weiter und sonst misch ich mich da nicht ein. Bei manchen Sachen würde ich da günstiger einkaufen, wo`s für mich angemessen ist. Aber das kann ich ja nu nicht sagen, ich geb nur Tipp. Frau Ringmann: Also, die Arbeit mit Senioren, das interessiert Sie anscheinend. Und wie ist das nochmal, weil, wir wissen ja, dass Sie eben diese Lese-Schreibschwäche haben. Gibt’s da irgendwie Probleme, wenn Sie einen Bericht schreiben müssen, was Sie bei dem Klienten gemacht haben. Oder verlangt man das von Ihnen gar nicht? Autor: Während Frau Ringmann mit Kay spricht, blickt sie immer wieder auf ihren Bildschirm. Sie betreut derzeit 270 Menschen. „Kunden“ im Jobcenter-Jargon. Kay: Ich muss ja jeden Tag immer ausfüllen was ich mache. Kann ich Ihnen kurz mal zeigen (raschelt mit Papier) Hier schreib ich immer rein den Namen der Klientin und dann die Zeit und was ich gemacht hab. Das ist noch das leichteste von der Übung. Das schwerste von der Übung ist diesen Endprotokoll auszufüllen, also diese Monatsabrechnung, die Sie ja dann bekommen. Da hab ich manchmal Fehler drinne. Zum Beispiel hier Klientenversorgung ist ja n ganz schön schweres Wort und das darf ich einmal abkürzen und dann muss ich dann hier unten neu hinschreiben für denjenigen, der das weiß. Frau Ringmann: Ja (seufzt) nun haben Sie jetzt aber mal ein interessantes Gebiet gefunden. Also was Ihnen anscheinend wirklich Spaß macht. Und Lesen und Schreiben auch so`n bisschen nebensächlich bei dieser Sache. Gut, die Arbeitsgelegenheit ist eines Tages zu Ende. Jetzt müssten wir uns Gedanken machen, was passiert nach der Arbeitsgelegenheit. Haben Sie selber ne Vorstellung? Wie soll`s weitergehen aus Ihrer Sicht? Kay: Ja, hab ich, aber ich weiß nicht, ob das so funktioniert, wie ich mir das vorstelle. Ich würd gern dahingehend eine Umschulung… als wie soll ich das jetzt sagen, also den Pflegebasiskurs hätt ich gern dann. Frau Ringmann (aus dem Off): Umschulung kommt in seinem Fall nicht in Frage. Umschulung das sind zwei Jahre, das ist dann mehr Unterrichtsstoff, das sind Unterlagen, Lehrer vor der Klasse, von der Tafel abschreiben, wie man das von der Schule hat. Das packt er nicht, das würden wir auch nicht durchgehen lassen. Aber nen Basiskurs würden wir durchkriegen. Frau Ringmann: Ja, ich gebe Ihnen dann ein paar Adressen, über Kursnet kann man die raussuchen, dass Sie sich dann bei ein, zwei, drei Bildungsträgern vorstellen und gucken, welcher Bildungsträger für Sie das Richtige ist. Und dann gucken wir, dass wir dann Ihnen einen Bildungsgutschein ausstellen. Also im Sommer werden wir uns dann sehen und besprechen das nochmal. Autor: Ob Analphabetismus ein Problem ist, mit dem Frau Ringmann öfter zu tun hat, möchte ich wissen. Frau Ringmann: Vielleicht ist das Problem sogar mehr verbreitet und es kann durchaus sein, dass manche das verbergen. Es gibt sicherlich auch Leute, die sich nicht trauen. Wo ich bis heute vielleicht nicht weiß, weil die immer sagen: ich hab ne Brille vergessen oder ich nehm die Eingliederungsvereinbarung mit nach Hause, unterschreibe und lese das da nochmal durch und schicke ihn zurück. Musik Hamilton: Wir haben jetzt viele Jobcoaches hier gehabt, wir haben auch mit den Familienzentren eine gute Zusammenarbeit, auch mit der AWO zum Beispiel. Autor: Im Berliner Grundbildungszentrum gibt es Sensibilisierungsschulungen für die Mitarbeiter von Jobcentern, Behörden oder sozialen Beratungsstellen. Hamilton: Also uns ist die Zusammenarbeit (…) mit vielen Einrichtungen sehr wichtig, vor allem weil die ja in ihrer täglichen Arbeit sowieso in Kontakt kommen mit Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können. Und häufig nicht wissen, dass diejenigen eben diese Schwierigkeiten haben. Und da ist es wichtig dafür zu sensibilisieren und darauf aufmerksam zu machen, dass für eine ganzheitliche Beratung auch dieses Spektrum mit in den Blick genommen werden sollte. Atmo: Sensibilisierungsschulung Autor: Theresa Hamilton - lange rote Haare, graues Jackett - hat das Grundbildungszentrum mit aufgebaut. Jetzt steht sie in einer hellen Ladenwohnung in Berlin Wilmersdorf. Draußen großbürgerliche Häuser, breite Straßen. Drinnen ein Wägelchen mit Kaffee und Keksen, Tische formen ein U. Auf der Leinwand vorne stehen Themen wie der „Ursachenkomplex“. Grüne Kästen und rote Pfeile. Kausalitätszusammenhänge. Theresa Hamilton leitet den Kurs. Atmo Hamilton: Wir haben ne Anfrage bekommen konkret von einem Jobcenter, das gesagt hat: wir möchten die Mitarbeiter schulen dazu. Wir freuen uns natürlich sehr, weil das Jobcenter natürlich sehr, sehr wichtig ist in dem Bereich. Autor: Elf Jobcoaches sind gekommen, neun Frauen und zwei Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 50. Lesebrillen, Batik-Schals, Kapuzenpullis. Vorne, neben Theresa Hamilton, sitzt Kay gedankenverloren hinter einem Stapel Broschüren. Seine Aufgabe bei diesem Kurs ist es, den Jobcoaches die Sicht der Betroffenen zu vermitteln. Theresa Hamilton: Kay, hast du das immer gesagt, von Anfang an? – Kay: Was? Theresa Hamilton: Dass du Schwierigkeiten hättest, hier jetzt das Formular auszufüllen. Kay: Ne. Theresa Hamilton: Und was hast du dann gemacht? Kay: Ich bin erst gar nicht reingegangen. (Gelächter) Weil ich die Erfahrung schon hatte: Füllen Sie dieses Formular aus und dann wurde in den Raum geschmissen „Warum dauert es denn bei Ihnen so lange?“ Dann det Ding nach vorne genommen und bin wieder gegangen. Kay (aus dem Off): Kay: Manchmal hab ich dann so das Gefühl, ich will es gar nicht wo weit raustragen. Zum Beispiel ist es so, wenn ne Frage kommt “Wie schaffst du das alles?“ Das ist dann unangenehm. Warum ich mich engagiere? Ohne die Lerner würde es dann nicht so gut rüberjebracht werden. … Und man hat bis jetzt immer gute Resonanz bekommen. Musik Sprecher: Sommer Autor: Fast ein Jahr ist vergangen, seit Kay den Grundbildungskurs beim Verein Lesen und Schreiben beendet hat. Einen richtigen Job hat er noch nicht. Kay: Mein Ziel war, nach Lesen und Schreiben nen Job zu finden. Ich hätte gedacht, das geht schneller. Autor: Allerdings hat Kay auch keine Bewerbungen abgeschickt. Kay: Ich muss auch dann dazu sagen, ich muss mal meinen Hintern hochbewegen. Vielleicht liegt`s auch daran. Aber vor allem ist es so wie ick es gesagt habe zur Zeit sehr schwer ranzukommen an die Sachen, die ich brauche, weil ich ja nicht qualifiziert bin. Autor: Auch vom Jobcenter hat Kay keine Stellenangebote mehr bekommen, seit er in der MAE Maßnahme ist und im Auftrag eines Berliner Vereins alte Menschen betreut. Die Maßnahme wird noch ein halbes Jahr weiterlaufen. Urda: Also diese MAE Maßnahmen ist ein zweifelhaftes Feld. Weil auch das ist nur ein begrenztes Parken und je nachdem wie die Maßnahmeträger sind, wird das mehr oder weniger gut gehandhabt und ist mehr oder weniger förderlich für die Personen. Sprecher: Urda Thiessen, Leiterin des Vereins Lesen und Schreiben. Urda: Ich denke Kay ist jemand, der das alles als Lernfeld sieht, und der braucht auch ne Beschäftigung, braucht, dass er was zu tun hat. Und das wäre auch ganz schön, weil Kay ist auch jemand, der ganz schön was leisten kann, wenn er auch dafür ne reelle Bezahlung bekomme würde. Kay: Auf Grund wo ich jetzt arbeite werde ich versuchen die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, für den Pflegebasiskurs, den ich gerne machen würde. Dieses große Geld mache ich dann damit auch nicht. Generell würde das dann schlecht bezahlt sein. Es würde dann vom Arbeitsamt aufgestockt werden. Es wird heutzutage ja alles teurer und man muss über`s Überleben kämpfen. Urda: Die Idee find ich gut: Pflegebasiskurs. Ich denke, den Schein wird er je nach Bedingungen, je nach Träger, schaffen. Er kann das auch. Die Frage ist natürlich, welche beruflichen Aussichten er dann damit hat. Es gibt ja mittlerweile sehr viele, die diesen Schein haben. Und ob man davon ein selbständiges Leben führen kann, ist eben die andere Frage. Kay: Ganz vom Jobcenter weg zu kommen, das werde ich nicht schaffen, weil ich ja ne Lese-Rechtschreibschwäche habe. Es ist schwer damit klarzukommen. Ich würde gerne arbeiten, aber die Möglichkeiten fehlen mir. Und es kann auch sein, dass ich dann nicht weiß, wo ich mich hinwenden kann. Ich will ja nicht immer von Lesen und Schreiben abhängig sein. Ich will es ja auch alleine dann packen. Musik Absage Blind in einer Welt der Zeichen Ein Analphabet auf Jobsuche Ein Feature von Dominik Bretsch Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2015. Es sprach: der Autor Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Hanna Steger Regie: Anna Panknin Redaktion: Hermann Theißen 1