KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LESUNG 17.30 Kostenträger : P.6.2.130 Titel der Sendung: Die Kirschen des Alfred Andersch Zwischen Patriotismus, Kommunismus, innerer Emigration Autor : Helmut Böttiger Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 26.04.2011 Besetzung : Autor spricht selbst :Zitator Musik/o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur Literatur Redaktion: Sigried Wesener Die Kirschen des Alfred Andersch Zur Frühzeit des bedeutenden Schriftstellers und Funktionärs Von Helmut Böttiger ---------------------------------------------------------------------------- O-Ton 1: CD 50:21 Ich hab vom Andersch Liberalität, Pluralität gelernt. Autor: Heinz Friedrich. O-Ton 2: CD 59:18 Er hat ja eigentlich Adorno in Frankfurt wieder in den Rundfunk gebracht. (...) Er hat für den Rundfunk Arno Schmidt erfunden. Autor: Helmut Heißenbüttel. O-Ton 3: CD 52:55 Dann kam Russland, dann kam Amerika und dann kam noch einiges andere hinzu (...) Andersch war derjenige, der dies in Gang gesetzt hat. Ich bin Andersch immer sehr dafür dankbar gewesen, dass er mir diese Möglichkeit gegeben hat. Autor: Wolfgang Koeppen. O-Ton 4: CD 56:50 Er war ein gelernter Marxist. Und ich konnte an ihm verschiedene Vorzüge des Marxismus auch konstatieren. (...) Andersch war ein Autor, der sehr an den Produktionsmitteln orientiert war, und er hat mir beigebracht, dass es nicht genügt für einen Schriftsteller, zuhause zu sitzen und seine Manuskripte zu schreiben, sondern er hat mich eigentlich systematisch eingeweiht in den Kampf um die Produktionsmittel, die ein Schriftsteller braucht. Autor: Hans Magnus Enzensberger. Regie: Musik (Luigi Nono) O-Ton 5: Andersch, CD 13:52-14:36 Marxistisch gesehen komme ich aus einer kleinbürgerlichen Familie. Die Entscheidung dann für den Kommunismus war selbstverständlich auch ein Protest gegen das Elternhaus, gegen die Unmöglichkeit des Elternhauses, mir die Verhältnisse zu erklären. Aber sie war auch wirkliche Überzeugung. Ich meine, ich habe damals gelesen! Ich bin nicht einfach aus irgendeinem leeren Protest, aus einem Protestimpuls zu den Kommunisten gelaufen, sondern aus Überzeugung! Autor: Alfred Andersch wird nach dem zweiten Weltkrieg schnell berühmt. Mit 31 Jahren aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen, verschafft er sich einen Namen als Mitherausgeber der Halbmonatszeitung "Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation". Nach einer Zwischenstation bei den linkskatholischen "Frankfurter Heften" wird er 1948 Redakteur bei "Radio Frankfurt". Dort erprobt er verschiedene neue Rundfunkformen und arbeitet gleichzeitig an einer Karriere als Schriftsteller. Mit dem Bericht über seine Desertion von der deutschen Wehrmacht, "Die Kirschen der Freiheit", löst er 1952 eine heftige Pressekampagne aus. Und noch als alter Mann, im Jahr 1973, erregt er mit einem Gedicht über die Praxis der Berufsverbote unter dem Bundeskanzler Willy Brandt öffentlichen Anstoß und entfacht abermals eine hitzige Debatte. O-Ton 6: Andersch, CD Kritik, Track 1, 0:21-0:34 ein Volk von ex-nazis und ihren mitläufern betreibt schon wieder seinen Lieblingssport die hetzjagd auf kommunisten sozialisten humanisten dissidenten linke Autor: Das Gedicht "Artikel 3/3" hängt eine Zeitlang in fast jeder studentischen Wohngemeinschaft. Die Biographie von Alfred Andersch ist jedoch viel zerrissener, als es zunächst scheint. 1948, auf der zweiten Tagung der Gruppe 47, hält er einen Vortrag über "Deutsche Literatur in der Entscheidung". Er spricht für die vergleichsweise junge, in den Schützengräben des Zweiten Weltkriegs verheizte Generation. Und es ist keineswegs eine kommunistische Kampfansage. Im Gegenteil, proletarische Schriftsteller wie Oskar Maria Graf, Willi Bredel oder Anna Seghers lehnt er rigoros ab. Große Exilschriftsteller wie Heinrich Mann, Arnold Zweig oder Alfred Döblin greift er wegen ihrer "realistischen Tendenzkunst" an, die zu oberflächlich sei. Als großen Stilisten sieht Andersch aber ausgerechnet den völkisch-nationalen Schriftsteller Ernst Jünger: Zitator: Er baute die symbolistische Technizität seiner Sprache mit der Konsequenz des geborenen Soldaten zum Mittel des Angriffes aus. Die Präzision dieses Angriffes, exekutiert in den Aphorismen des Essaybandes "Blätter und Steine", im Frankreich- Tagebuch, vor allem aber in den "Marmorklippen", war atemberaubend. In der düsteren Schönheit dieses einzigartigen Kunstwerkes, das zum Anlass der Selbstbesinnung für große Teile der militärischen Jugend Deutschlands wurde, hat der Schriftsteller Ernst Jünger seine Selbstreinigung vollzogen, eine Rehabilitierung, die endlich anerkannt werden sollte. Autor: Dies ist für einen, der im Krieg lange Zeit nur in einer Baukompanie eingesetzt wurde und 1944 desertierte, ein erstaunlich soldatischer Ton. Überhaupt verblüfft dieser frühe, erste programmatische Text von Andersch dadurch, wie gut die sogenannte "innere Emigration" wegkommt. "Eine Art subjektiver Ehrlichkeit" gesteht er selbst Autoren wie Hans Grimm, Emil Strauß oder Erwin Guido Kolbenheyer zu, die sich eng an die nationalsozialistische Ideologie angedockt hatten. Bei jemandem, der gegen Ende der Weimarer Republik Funktionär im Kommunistischen Jugendverband gewesen war, wirkt das merkwürdig. Schon hier zeigt sich, was Hans Magnus Enzensberger später als charakteristisch für Andersch definiert, und zwar für alle biografischen Stationen: O-Ton 7: Enzensberger, CD 67:38-67:54 Mir scheint überhaupt, dass Andersch ein Autor und auch ein Mensch ist, der immer asynchron war. Der immer gegen den Strich, der nie das getan hat, was die anderen zu einem bestimmten Zeitpunkt taten, er hat auch nie das gedacht, was die anderen taten. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Dass Andersch offensiv Sympathien für eine "innere Emigration" zeigt, liegt wohl an seiner eigenen Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus. Als junger Kommunist wird er nach Hitlers Machtergreifung 1933 ins KZ Dachau gebracht, und die dortigen Erfahrungen prägen ihn tief. Er verzweifelt an den Positionen der KPD, und er verzweifelt angesichts der Gewalt im Konzentrationslager. Als er mit Glück - sein Vater ist ein Parteigänger Hitlers gewesen - aus dem KZ entlassen wird, wendet er sich von der politischen Tätigkeit ab. O-Ton 8: Andersch, CD 30:11-31:02 Dann habe ich während dieser Zeit angefangen zu schreiben, und habe Erzählerisches, Beschreibendes geschrieben, typische spätpubertäre und rein ästhetische Versuche, sich der Literatur zu nähern, die einfach ausgelöst waren dadurch, dass man sich der eigentlichen Realität des Staates und der Gesellschaft, in der man lebte, nicht nähern wollte. Autor: Andersch entwickelt eine Vorliebe für unpolitische Themen und knüpft an eine deutsche geistige Tradition an, mit der er sich als Jugendlicher kaum beschäftigt hat. Doch er ist keineswegs ein Träumer und entwickelt auch sehr pragmatische Fähigkeiten. Er wird in der Werbebranche tätig und leitet vor seiner Einberufung zur Wehrmacht eine Abteilung in der Frankfurter Mouson-Fabrik. Für die "Creme Mouson" kreiert er den Spruch: Zitator: Rauhe, rissige Haut in Minuten gebessert! Autor: Der Realität des Krieges versucht Andersch, so weit wie möglich auszuweichen. Als er an die Front in Italien versetzt wird, desertiert er und erklärt dies später als einen individuellen, existenziellen Akt im Sinne Sartres. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: In der amerikanischen Kriegsgefangenschaft macht er dann ganz neue, prägende Erfahrungen. Er bekennt sich von Anfang an als Hitlergegner, was damals bei gefangengenommenen deutschen Soldaten eine große Seltenheit ist. Die letzten acht Wochen seiner Gefangenschaft verbringt er in Fort Getty, einem speziellen Ausbildungslager an der Ostküste. Dort werden deutsche Gefangene für künftige Verwaltungsaufgaben in einem neuen Deutschland vorbereitet. Die außergewöhnlichen Lernmöglichkeiten begeistern Andersch. Es ist eine Eliteschulung in einer Enklave, amerikanisch cool vermittelt, in selbstverständlicher Weise, ohne steife äußere Formen. Besonders fasziniert ihn, dass man morgens mit Duke Ellingtons "Lady Be Good" geweckt wird. Hier wird ein erster Keim gelegt für Anderschs begierige Rezeption der westlichen Moderne, westlicher Kunst überhaupt. In seinen Aufsätzen für den "Ruf", der zu dieser Zeit noch eine Zeitschrift für Kriegsgefangene in den USA ist, zeigt er sich als gelehriger Schüler des Demokratieverständnisses Amerikas: Zitator: Steinbeck gehört zu jenen großen kritischen Autoren, welche die heutige Literatur Amerikas zu einer zugleich sehr amerikanischen und sehr überzeitlichen Kunstäußerung gestalten, einer Literatur, die keine billigen Lösungen für brennende Zeitfragen präsentiert, sondern die Schwere und Vielfältigkeit modernen Lebens bestehen lässt. In ihren besten Stücken ist sie bloße Darstellung, reines "So sind wir". Doch gerade darin liegt ihre reinigende Kraft. Unnötig zu sagen, dass die Stärke zu solcher kritischen Verantwortung aus einem Leben in Freiheit herrührt. Autor: Kritische Verantwortung, Leben in Freiheit: dies werden Schlüsselbegriffe für Andersch. Als er sich in der Besatzungszeit journalistisch zu betätigen beginnt, ergibt sich mit früheren Einflüssen jedoch eine zeittypische Mischung. Sein Essay "Deutsche Literatur in der Entscheidung" zeigt deutliche Spuren der Selbstverteidigung, als Deutscher in Deutschland geblieben zu sein. Der programmatische Blick nach vorne, die Sehnsucht nach einer "Stunde Null", nach einem unbedingten Neubeginn ist deshalb umso stärker. Er fragt nicht lange, welche konkrete Vergangenheit einer hat. Wichtig wird das gemeinsame Erlebnis, seine besten Jahre im Krieg verbracht zu haben. Andersch beschwört in den Anfangstagen der Gruppe 47 das Fronterlebnis. In einem seiner ersten Rundfunkfeatures, in dem er allerdings nicht selbst spricht, behandelt er 1949 die Gruppe 47: O-Ton 9: Andersch 1949, 13:02-13:37 Bei all diesen sehr verschiedenen Charakteren und Geistern wirkt jedoch das positive Ferment der Gruppe als Bindemittel. Man kann es als menschliche und künstlerische Kameradschaft bezeichnen. Das Wort ist sehr ungenau und überdies historisch belastet. Die letzten Kameraden sind bei Stalingrad gefallen, hieß ein berühmtes Landserwort. Dennoch: Die Gruppe 47 wird zusammengehalten durch das Bewusstsein eines gemeinsamen Erlebniskerns. Dieses Erlebnis schließt nicht nur das äußere historische Geschehen ein, sondern auch die Art, wie man durch es hindurchging. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Andersch verfolgt Vorstellungen eines utopischen Sozialismus, eines neutralen Deutschlands und gerät dadurch auch mit der Besatzungsmacht aneinander. Bis zu seinem Tod 1980 wird er sich als Einzelkämpfer definieren, als "heimatlosen Linken", als künstlerischen Außenseiter. O-Ton 10: Andersch CD 70:10-70:28 Ausgeschlossen, sagen viele, Moral und Vergnügen schließen sich aus. Ich aber schreib's in eine Zeile: Empört euch, der Himmel ist blau. Autor: In seinen Tätigkeiten als Rundfunkredakteur wirkt vor allem seine Zeit im amerikanischen Kriegsgefangenenlager nach. Andersch zeichnet sich dadurch aus, dass er das Streitgespräch einführt. Er legt Wert darauf, verschiedene Meinungen abzubilden und wirbt immer wieder für die Fähigkeit zum "Kompromiss" als entscheidendes Kennzeichen demokratischer Auseinandersetzung. Sein Assistent Heinz Friedrich blickt auf diese Pionierzeit des bundesdeutschen Rundfunk zurück: O-Ton 11: Heinz Friedrich CD 46:00-47:20 Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung und Liberalität. Man konnte in einem Sender damals so gut wie alles realisieren. Nun gut, Sie konnten nicht aus "Mein Kampf" vorlesen lassen (...). Aber ansonsten konnten Sie das ganze breite Spektrum der geistigen Auseinandersetzung im Nachtprogramm eines Senders, und das hat Andersch in Frankfurt ja verwaltet, ausbreiten. Und in der Öffentlichkeit zur Debatte stellen und die Öffentlichkeit mit einem solchen Programm herausfordern. Die Spannweite, die Andersch damals vorzeigte, ging von links außen wenn Sie so wollen bis nach rechts - will nicht sagen außen aber doch konservativ rechts. Wir hatten auf der einen Seite Karl Marx und Brecht und Sartre und Aragon gehabt und auf der anderen Seite hatten wir Ernst Jünger und hatten wir auch Carl Schmitt. Autor: Andersch bezeichnet sich einerseits als Sozialist, andererseits ist er vom "New Deal" Präsident Roosevelts geprägt und lehnt jede dogmatische Verhärtung ab, besonders die Pervertierung der sozialistischen Utopie in der Sowjetunion. Auch persönlich ist er von der Kommunistischen Partei Deutschland enttäuscht. Er benennt des öfteren als traumatische Erfahrung, dass sich die KPD so kampflos Hitlers Machtergreifung gefügt habe: O-Ton 12: Andersch, CD 25:56-27:36 Eine an sich militante Partei, die eine unterirdische Militärorganisation sogar hatte, den Roten Frontkämpferbund, diese Partei, von der wir Jungen natürlich annehmen, sie würde nun gegenüber einem faschistischen Putsch, einer faschistischen Machtergreifung zu den Waffen greifen - tat dies keineswegs, sondern ließ sich geschlossen in die Konzentrationslager abführen. Ich muss ein bisschen das, was ich eben gesagt habe, aber einschränken: "geschlossen" ist nicht ganz richtig. Sie war in der Lage, sogar relativ schnell kleine Untergrundzellen in Deutschland und ein gewisses Wirkungsnetz von der Emigration her aufzubauen. Das hat sie getan, und sie hat ja - sie war die einzige Kraft, die im Jahre 1933 sofort damit begann, einen Widerstand der ersten Stunde aufzubauen. Aber mir genügt das nachträglich gesehen nicht. Ich meine, sie hätte 1933 den Bürgerkrieg auslösen sollen. Ein deutscher Bürgerkrieg hätte der Welt wahrscheinlich den Zweiten Weltkrieg erspart. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Andersch entwickelt sich zu einem der wichtigsten Radiofeature-Autoren überhaupt. Und 1952 landet er auch einen verlegerischen Coup. Bei der "Frankfurter Verlagsanstalt" lanciert er die Reihe "studio frankfurt". Sie ist der erste Vorbote einer kommenden jungen bundesdeutschen Literatur. Der Charakter des Experimentellen wird durch die Aufmachung der Reihe noch verstärkt. Sie ist graphisch gestaltet von Anderschs Frau Gisela, die sich als Bildende Künstlerin immer konsequenter den abstrakten Gegebenheiten der fünfziger Jahre annähert. Hier erscheinen Heinrich Bölls glänzende Satire "Nicht nur zur Weihnachtszeit", zwei Kurzerzählungen Arno Schmidts sowie das Debüt Ingeborg Bachmanns, "Die gestundete Zeit". Andersch schreibt außerdem selbst an den "Kirschen der Freiheit", dem Bericht seiner Desertion aus der Wehrmacht. Das bekommt zusätzliche Aktualität dadurch, dass die Bundesrepublik zur Wiederbewaffnung schreitet und die "Dienststelle Blank" unter dem ehemaligen Panzeroffizier Theodor Blank einrichtet - den Vorläufer des künftigen Verteidigungsministeriums. Als Anderschs Buch im Herbst 1952 erscheint, wird es von Heinrich Böll in der Gewerkschaftszeitung "Welt der Arbeit" begeistert begrüßt: Zitator: Angesichts der dräuenden Remilitarisierung ist eine schwüle Stille entstanden um jene Bücher der seit 1945 Schreibenden, die sich eindeutig gegen den Krieg entschieden haben, während die milde Kriegsliteratur der Romantiker, die Memoiren der Generäle heftig begehrt werden und der Wüstenfuchs im Sturm "die Herzen erobert". Autor: Daneben gibt es furchtbare Verisse. Der einflussreiche Hans Egon Holthusen schreibt im "Merkur", dass für Andersch das Militär irrtümlicherweise ein "freiheitsfeindliches Phänomen" schlechthin sei. Und in der "Deutschen Soldatenzeitung", einer damals sehr einflussreichen Gazette, heißt es: Zitator: Die Gesellschaft, jeder, der jemals Kameraden hatte, ob in der Schule, in seinem Betrieb oder an der Front, das ist doch angesichts dieser kleinen Wühlmaus ganz einerlei - kann nichts Besseres tun, als die Tür hinter sich zuschlagen und dieses asoziale Gesindel, Denunzianten und Emigranten draußen zu lassen. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Andersch findet für seine Desertion in "Die Kirschen der Freiheit" eine einprägsame Formel: Zitator: Ich hatte nur die Ästhetik der Kunst und mein Privatleben, und das zerstörten sie durch Gestellungsbefehle. Für sie die Waffen erheben? Für sie ein Gewehr gegen die Soldaten von Armeen abfeuern, die vielleicht - eine schwache Hoffnung belebte mich bei diesem Gedanken - in der Lage waren, mein Leben zu ändern? Schon die bloße Erwägung war eine Absurdität. Ich zog also aus meiner politischen Situation die Konsequenzen. Ich hatte keine Ahnung, dass sechs Wochen später eine Bombe in der Nähe Hitlers explodieren würde. Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt. Autor: An diesem Tag entfernt er sich von seiner Truppe und stellt sich den Amerikanern. Die Desertion als Haltung bezieht sich allerdings nicht nur auf die deutsche Wehrmacht. Der erste, größere Teil der "Kirschen der Freiheit" handelt von einer ganz anderen Desertion: nämlich von Anderschs Abwendung von der Kommunistischen Partei. Beide Desertionen sind dadurch verbunden, dass sich der Autor danach in einem Niemandsland befindet, und in diesem Niemandsland, in dieser Heimatlosigkeit sieht er seine Bestimmung als Künstler. Andersch beschreibt den geographischen Ort seiner militärischen Desertion zwischen den Fronten, 60 km nördlich von Rom, als Wüste - "le desert" oder lateinisch "desertum". In diesem Sinn ist auch sein ideologischer Standort zu verstehen - Andersch grenzt sich von der Nachkriegsrestauration genauso ab wie von einer kommunistischen Alternative. Der Germanist Rhys W. Williams interpretiert vor diesem Hintergrund Anderschs Faszination durch die künstlerische Moderne: Zitator: Die Gleichsetzung von Desertion und moderner Kunst kennzeichnet Anderschs ästhetische Position in den frühen fünfziger Jahren. Moderne Kunst wurde in den fünfziger Jahren auf beiden Seiten des ideologischen Grabens als verdächtig angesehen, deshalb konnte sie als Entsprechung zur Position im Niemandsland erscheinen. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Andersch propagiert die aktuelle westliche Moderne wie kein anderer in der Frühgeschichte der Bundesrepublik. Gleichzeitig aber hält er über alle ideologischen Gräben hinweg als Einzelgänger eine Affinität zu Ernst Jünger aufrecht. Der Lobpreis des Einsamen, des alleinstehenden Ästheten meint auch ihn. In einem Brief an Jünger setzt Andersch Jüngers "Waldgang" sogar mit Adornos "Minima Moralia" und Thomas Manns Humanismus gleich: Zitator: Da ich also lesen kann, kann ich nur feststellen, dass für mich die letzten Konsequenzen des ,Waldgangs' und der ,Minima Moralia' in einer Linie liegen; und wenn Thomas Mann nach Europa zurückkehrt und Jünger den Nationalismus aufgibt, dann beweist das für mich, dass sehr verschiedene Wege auf einen Punkt zusammenlaufen, der Aufstand heißt. Aufstand alles dessen, was Geist oder Kunst oder ,Sein' heißt, (Sie sehen, ich konzediere im Formalen, was Sie wollen!) gegen den ideologischen Wahnwitz der totalitären Systeme, die den Vordergrund der Epoche beherrschen. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Die ins Symbol erhöhte Wüste als konkreter Ort der Desertion in Italien - das versteht er auch als eine Huldigung an Jüngers symbolisierenden Stil. Er schickt die "Kirschen" sofort an Jünger. Dessen Sekretär Armin Mohler antwortet ihm: Zitator: Ernst Jünger hat sich das Buch auch gleich vorgenommen, um nachzuprüfen, ob man mit Ihnen auf Waldgang gehen kann oder nicht. Autor: Auf Parallelen zwischen dem "Wüstengang" von Andersch und dem "Waldgang" Ernst Jüngers wird in der zeitgenössischen Rezeption tatsächlich des öfteren hingewiesen. Jünger schreibt nach der Lektüre des Buches an Andersch: Zitator: Sie rühren da ein zentrales Thema an, das mich seit meiner Kindheit beschäftigt hat. Ich glaube es auch praktiziert zu haben, bereits in Afrika, und dann im ersten Weltkriege. Das Gefecht führt ja auch ganz einsamen Punkten zu. Autor: Jünger ist allerdings nie desertiert, so dass die Gemeinsamkeit doch sehr abstrakt bleibt. Am Schluss seines Briefes schreibt Jünger, dass sich insgesamt das Klima verändert habe: Zitator: Der Einzelne kann es nicht bessern; wenn er aber, wie Sie, sich von den Theorien ab- und seiner ihm auferlegten Wirklichkeit zuwendet, so kann man das nicht ohne weiteres als einen anarchistischen Akt beurteilen. Es wird auch die Zahl der von der Bewegung unabhängigen Punkte vermehrt. Werden sie aber auch unabhängig bleiben, oder sogleich einer neuen Bewegung sich ausliefern? Das ist die Frage, die die Lektüre in mir anregte. Regie: Musik (Luigi Nono) Autor: Fast scheint Jünger hier schon die weitere Entwicklung von Andersch zu ahnen, der sich in den sechziger und siebziger Jahren politisch radikalisiert und sich in das gesellschaftliche Geschehen einmischt. Jünger reagiert natürlich auch nicht auf Anderschs recht verwegenen Wunsch, er solle ihn bei der "Deutschen Soldatenzeitung" verteidigen. Anderschs Bestreben, Ernst Jünger "nicht den Rechten zu überlassen", erweist sich als ziemlich erfolglos. Aber er ist dadurch gekennzeichnet, dass er verschiedenste Prägungen zu verbinden scheint: innere Emigration, Amerika, den Existenzialismus Sartres, die entgrenzenden Formen der Moderne. Sowie gleichzeitig Patriotismus und Sozialismus. O-Ton 13: Andersch CD 70:32-71:03 Ich liebe es als Land, als Landschaft, ich mag vieles am Volkscharakter der Deutschen sehr gern. Ich liebe selbstverständlich seine Literatur, seine Kunst, seine Musik - und ich hasse es, dass die deutsche politische und historische Entwicklung immer wieder schiefgeht. Autor: Aus diesem Amalgam entsteht eine Haltung, die in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Neuland eröffnet. Anderschs widersprüchliche Prägungen und ihre Folgen sind eines der spannendsten Kapitel jener Zeit. Die aktuelle Literaturwissenschaft allerdings widmet sich in den letzten Jahren verstärkt biografischen Unklarheiten bei Andersch. Das geht von einer moralischen Invektive aus, die W.G. Sebald im Jahr 1993 veröffentlichte. Kernpunkt dabei ist, dass Andersch 1943 auf die Scheidung von seiner "halbjüdischen" Ehefrau gedrängt habe - als Voraussetzung dafür, im NS-Regime die offizielle Schreiberlaubnis zu bekommen. In amerikanischer Kriegsgefangenschaft ein Jahr später wollte sich Andersch hingegen die Ehe mit einer halbjüdischen Frau als Verdienst anrechnen lassen. Sebald brandmarkt dies als Zitator: strategische Instrumentalisierung des jüdischen Hintergrunds seiner Frau. Autor: Zwei Germanisten aus Siegen treten dann 2008, im Sog der fulminant angewachsenen Bedeutung Sebalds, mit einem anderen Fund an die Öffentlichkeit. Bereits 1941 habe Andersch seine vorübergehende Entlassung aus der Wehrmacht nicht, wie man bisher annahm, unter Berufung auf seinen KZ-Aufenthalt erwirkt, sondern durch den Hinweis auf seine "jüdische Versippung". Die Siegener stellen fest: Zitator: also auch hier schon der strategische Umgang mit der jüdischen Herkunft seiner Frau! Autor: Anderschs Ehe war allerdings bereits 1940 gescheitert. Seitdem lebte er zumindest zeitweise mit seiner zweiten Frau Gisela zusammen. Natürlich bleibt im Nachhinein der Makel, dass Andersch sich ausgerechnet 1943 von seiner "halbjüdischen" Frau lossagte. Experten fügen aber hinzu: es sei müßig, darüber zu spekulieren, was Andersch zu diesem Zeitpunkt über eine konkrete Bedrohung seiner ersten Frau wissen konnte. Immerhin überlebte sie die Nazizeit unbehelligt. Die Suggestionen Sebalds, die im Moment eine ganze Germanistenklasse befeuern, haben auf jeden Fall einen merkwürdigen Beigeschmack. Eindeutig ist, dass sich Andersch schon früh und sehr entschieden gegen weiterwirkende antisemitische Tendenzen ausspricht: in seinem Hörspiel "Biologie und Tennis" von 1950, vor allem aber in seinem Feature von 1952: "Aus der Klamottenkiste. Leiser Aufruf zu einer Verschwörung der Vernünftigen." Im Vergleich zu dem Großteil derer, die sich nach 1945 als "innere Emigranten" rühmen, bietet Andersch kaum Anlass, ihn moralisch zu diskreditieren. Vermutlich war der Hauptantrieb bei Sebalds Angriff, Anderschs spätere literarische und politische Rolle in der Bundesrepublik zu diskreditieren. Das allerdings steht auf einem anderen Blatt. Ein Blatt, das in einem späten Brief Wolfgang Koeppens an Andersch deutliche Konturen bekommt: Regie: Musik (Luigi Nono) Zitator: Sie fingen mich in Hamburg auf der Straße ein. Es veränderte mein Leben. Das sollte berichtet werden. Wie Sie stets ein Kamerad waren, ein Kollege, ein Genosse, Texte und Zeichen machten, das Radio in Stuttgart, für uns, Sie gaben uns Erwerb und Reisen, offene Horizonte. Ihr Haus in Hamburg. In meinem Gedächtnis eine feine Bauhütte. Holzbau. Ebenerdig. Ein weiter Raum. Arbeit und vielleicht Pfeifenrauch. Klarheit auch von Gisela bestimmt. Ingeborg Bachmann war da. Von Ihnen gefördert. Ich lernte sie kennen. Wir tranken viel. An einem Vormittag. Es war schön! Wartesaal im Bahnhof Stuttgart, Abendbrot mit Arno Schmidt. Sie hatten ihn ermuntert, im Radio-Essay seine imaginäre Bibliothek zu entdecken. Er sagte, seine Hoffnung sei eine Portierstelle in einem mittleren Betrieb. Wir waren sehr ernst. Regie: Musik (Luigi Nono) 15