Deutschlandrundfahrt Die Schatten von Nosferatu Wismar in Mecklenburg-Vorpommern Eine Sendung von Hans-Otto Reintsch Sendung: 14. April 2012, 15:05 Uhr Ton: Herrmann Leppich Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Kennmusik Sprecher: Alles auf Anfang! Ruhe bitte! Filmausschnitt aus "Shadow of the Vampire". Friedrich Wilhelm Murnau spricht. Tonaufnahme die Erste! Tooon ab! Sprecherin: Läuft! Sprecher: Uuuund bitte! Take 01 Filmausschnitt aus "Shadow of the Vampire" ab 13:49 (mit Filmmusik im Hintergrund) (DVD vorhanden) Unsere Schlacht, unser Kampf, besteht darin, Kunst zu erschaffen. Unsere Waffe ist das bewegte Bild. Und da uns der Film zur Verfügung steht, werden unsere Gemälde anwachsen und sich reduzieren. Unsere Poesie wird wie Schatten sein, die länger werden und umhüllen. Unser Licht wird auf lebenden Gesichtern spielen, die lachen oder schmerzverzerrt sind. Und unsere Musik wird verweilen und schließlich überwältigen. Denn sie wird einen Zusammenhang haben, so gewiss, wie das Grab. Wir sind Wissenschaftler, die sich mit der Erschaffung von Erinnerungen befassen. Kennmusik Spr. v. Dienst: Die Schatten von Nosferatu Wismar in Mecklenburg-Vorpommern Eine Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Kennmusik Ton: Meereswelle Sprecher: (wie Regieanmerkung lesen) Introduktion. Gegenwart. Wismar. Mecklenburg Vorpommern. Hafenstadt an der Ostsee. Zwischen Rostock und Lübeck. Seit 1229 urkundlich erwähnt. Gründungsmitglied der Hanse. 44 Tausend Einwohner. Außen. Totale. Sonne. Weichzeichner. Eine Möwe schreit. Ton: Möwe Sprecher: (wie oben) Schnitt. Ricarda Huch, Schriftstellerin, betrachtet 1926 Wismar vom Wasser aus. Heiter, aber nicht euphorisch. Zitat. Sprecherin: Es wird Abend und das Boot nähert sich der Küste. Graue Wolken haben sich gesammelt und die Inseln hinter mir verschlungen, in der Nacht wird es regnen. Die Bootsleute halten inne, lassen das Wasser von den Rudern tropfen und blicken gedankenlos auf die Stadt, die aus dem Meere steigt. Seltsames Bild, wie hingemalt von den Fingern eines Träumenden an den Horizont. Die allzu hohen Türme, die aneinander gedrängten Dächer haben nichts Körperliches, und der kühle Hauch, der von der Erscheinung ausgeht, kündet Geisternähe an. Ist das Vineta? Hat die schaurige Stunde geschlagen, in der einmal vielleicht in hundert Jahren, das Begrabene und Versunkene auftaucht? Autor: Graue Wolken, verschlungene Inseln, Gedrängte Dächer. Geisternähe. - Sprecherin: Ja, aus dem Meere kommt diese Fabelstadt, eingehüllt in die Feuchte der unerforschten Tiefe, die das Glutrot ihrer Steine dämpft. Kein Lärm dringt aus den Gassen oder vom Hafen her. Diese Häuser scheinen von Tränen überströmt zu sein. Ein altes Tor mit hochgerecktem Stufengiebel winkt zum Eintritt. Darf man ihm trauen? Ton: Meereswelle Autor: Diese Dichter. Kaum sind sie am Meer, werden sie schwermütig. Oder werden die Schwermütigen Dichter? Wismar hat etwas. Etwas Geheimnisvolles. Stimmt. Die Proportionen stimmen nicht. Wismar klotzt seine Kirchtürme in den Himmel. Zu hoch für den Rest der Kulisse. Der Turm der Marienkirche. 80 Meter. Klinkerrot. Meißel Gottes. Der Rest duckt sich weg. Der Stein gewordene Geist des Mittelalters. Fürchtet euch. Ist das so? Es ist Wismars größtes Kapital. Die Altstadt strotzt vor Backsteingotik und Schönheit. Seit der Wende vollständig saniert, in die Moderne gebeamt und Unesco-Kulturerbe. Heute. In den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts geschundene, graue Stadt am Meer. Die alten Schwarz Weiß Fotos zeigen wenige Menschen, viel feuchtes Fachwerk, niedrige Traufen und enge Gassen. Oder ein wuchtiges Stadttor mit gotischem Spitzbogen und einem seltsamen Herren. Schwarzer Mantel, kalkweiße Haut, dürr, kahl, dunkle Augenhöhlen, spitze Ohren. Er hat einen somnambulen Blick. Und einen Sarg unterm Arm. Sprecher: Eine Möwe schreit. Ton: Möwe Autor: Nosferatu ist angekommen! Der prominenteste Sohn der Stadt. Nosferatu? Sprecher: Wismar, Hafen. Gegenwart. Zufallsbefragung. Wind. Atmo: 0169: (01:30 Schiffsmotor, Stimmen, -01:47 Schiffshorn-vorbeifahrendes Motorschiff ) - drunter Take 03 Zühlsdorf 1 16:52 Nee. Ist mir als Name bekannt, aber sonst nicht. 0170, 2:08: Irgendwas mit Dracula, oder? 0170, 04:00: Nee, woher soll ich das wissen! 0171, 007: Wann soll das gewesen sein? 0171, 00:22: Keine Ahnung. Dat weiß ich nich. 02:27 Nee. Da ich mich nich so für Vampirfilme interessiere, so wie so net. Nee. 0170, 02:56: (Frau) Nein, das wussten wir nicht.- (zu ihrem Mann) Er spielt die Hauptrolle! (Mann: lacht satanisch) Autor: Nosferatu ist eine Filmgestalt. Ein Vampir. Hauptfigur im ersten Blutsaugerfilm der Welt: Nosferatu, eine Sinfonie des Grauens. Der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau stellte seine Kurbelkamera genau hier auf, hier in dieser Stadt, in Wismar. 1921, als Filme noch ohne Ton, ohne Farbe und ruckelnd wie beim Daumenkino daherkamen. Aus gutem Grund. Hier war alles so schön morbid, so zeitvergessen. Unheimlich, romantisch, unheimlich romantisch. Wismar wurde zu Wisborg. Zu einer fiktiven Stadt des Biedermeier. Sprecher: Erster Akt, erste Szene. Stummfilm ab! Ton: Schnarrender Projektor...drunter Sprecher: Original Soundtrack ab! Musik: Original Soundtrack der restaurierten Fassung. Bleibt drunter. (DVD vorhanden) Sprecher: Insert. Schrifttafel zu Beginn. Drei Grabkreuze. Aufzeichnungen über das große Sterben in Wisborg anno 1843. Sprecherin: Nosferatu. Tönt dies Wort dich nicht an, wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut. Lange habe ich über Beginn und Erlöschen des großen Sterbens in meiner Vaterstadt Wisborg nachgedacht. Hier ist seine Geschichte... Musik: blendet unter Autor aus Autor: Die Story des Films ist schnell erzählt. Häusermakler Knock erhält einen Brief. Graf Orlok aus den Karpaten will ein Haus in Wisborg kaufen. Geselle Hutter soll zum Grafen und ihm ein Angebot machen. Hutter verabschiedet sich von seiner Frau, die kein gutes Gefühl hat. Hutter kommt gut gelaunt im Schloss des Grafen an, trotz einiger Warnungen. Als Hutter den Grafen am Tage schlafend in einem Sarg findet, bekommt er Angst und flieht nach Hause. Da schlafwandelt gerade seine Frau. Der Graf segelt mit ein paar Särgen und Ratten im Gepäck nach Wisborg und bezieht das Haus gegenüber den Hutters. In Wisborg bricht die Pest aus. Aus einem okkulten Buch erfährt Frau Hutter, dass sie sich opfern muss, damit die Seuche vergeht. Sie lässt den Grafen an ihren Hals. Der säuft ihr Blut bis zum Morgen und verdampft bei Sonnenaufgang. Die Frau stirbt. Die Pest ist besiegt. Abspann. Sprecher: Länge eine Stunde 30 Minuten. Ton: Meereswelle Autor: Die Stille nach dem Film. Die Leere danach. Das Werk im Kopf. Das Meisterwerk? Rollende Augen. Zum Himmel gereckte Arme. Verzerrte Gesichter. Wahnsinnige Frauen. Pathosorchester. Irgendwie schwurbelig. Und ein Gespenst wie aus der Puppenkiste. Lächerlich. Was war das denn. Die spinnen doch, diese Filmpioniere. Take 04: Busjan 14:34 Wir stehen da heute so aufgeklärt daneben, ein bisschen cool, und sagen, was spinnen die denn? Aber wir haben auch nicht deren existenziellen Erfahrungen gemacht!...Wo sich Realität als völlig irrational zeigt. Sprecher: Beatrice Busjan. Kunsthistorikerin. Leiterin des stadtgeschichtlichen Museums Wismar. Take 05: Busjan 021 Also die...wollten auch nicht zeigen, was sie sehen, sondern sie wollten so innere Vorstellungen, Erlebnisse sichtbar machen...dass man nicht nur...ein Geschehen zeigt, sondern dass man versucht, auch eine innere Entwicklung sichtbar zu machen. Autor: Beatrice Busjan verehrt Nosferatu, den Kultfilm. Was ist dran an diesem glatzköpfigen Blutsäufer mit Krallenhänden und Mäusezähnen? Gedreht als das Kino seine Bestimmung noch zwischen Operette, bildender Kunst und Laterna Magica suchte. Volksbelustigung war angesagt. Slapstick. Die junge Filmindustrie schuf sich gerade erst einen Markt. Der aber wuchs schnell. "Der Tiger von Eschnapur", "Das Indische Grabmal", "Matrose wider Willen", "Vaterfreuden", - und so heiter und so fort. Filmpremieren 1921. Und Murnau dreht Nosferatu, düster, unheimlich, mystisch. 1921? Da war der letzte Krieg gerade verloren. 17 Mio Tote. Take 06: Collage aus Sprecher, Sprecherin, Autor und historischen Aufnahmen: Archiv CD Take 5: Moissi, Faust zwei, steht frei von Anfang: Die Nacht scheint tiefer herein zu dringen, allein im Innern leuchtet helles Licht!(...u.s.w) (Drunter laufen lassen und gelegentlich kurz hochkommen) Autor: Das Kaiserreich ist zusammengebrochen. Archiv CD: T. 1. Otto Braun-00:00 Meine Damen und Herren, das neue Kabinett geht in schwerer Zeit an seine Arbeit... Sprecherin: Beginn der Inflation. 1 Dollar = 88 Mark. Archiv CD: T. 2. Paul Natorp: 03:20 Warum musste aber uns der Sturz so vernichtend treffen Sprecher: Die deutschen Reparationen sollen 132 Milliarden Goldmark ausmachen. Archiv CD: T. 2. Paul Natorp 5:47: Es ist der uns von Gott auferlegte Beruf, die ewige Tragik des Menschseins bis zum Letzten zu durchkämpfen Autor: Die Habsburger Monarchie zusammengebrochen. Das Russische Reich. Das Osmanische Reich. Sprecher: In der Damenmode wird die Bubikopf-Frisur modern Archiv CD: 3. Gerhart Hauptmann 07:57 Unser Vaterland steht im Zeichen einer Umbildung, deren rapides Tempo an den Ablauf eines Fiebers erinnert.. Sprecherin: Fritz Langs Film "Der müde Tod" hat Premiere. Autor Die Revolution gescheitert. Archiv CD: Hauptmann 10:56 Die Menschheit muss weiter. Weiter empor. Und wir Deutschen müssen weiter empor. Und voran gehen. Sprecher: Der Jazz kommt nach Europa. Archiv CD: Hauptmann 11:53 Eine neue, göttliche Weltinspiration! Sprecherin: Adolf Hitler zum Vorsitzenden der NSDAP gewählt. Sprecher: Armut, Arbeitslosigkeit, Unruhen. Archiv CD: Hauptmann 10:56 Wir haben Lehrer, wir haben Führer in Gegenwart und Vergangenheit, deren Amt erst beginnen muss! Mit den lebendigen Toten in Reih und Glied sehe ich den wahren Ruhmesweg Sprecherin: Die Spanische Grippe fordert weltweit 25 Mio Tote. Autor: Manche sprechen von einer neuen Pest. Sprecher: 1 Dollar = 209 Mark. Sprecher: Hyperinflation im Anmarsch. Ton: Moissi vom Anfang aus Autor: Ein Zeitalter in Trümmern. Ein neues nicht in Sicht. Der Reichskanzler spricht von einem historischen "Sprung ins Dunkle". Ton: Welle Take 06: Busjan 3:58 Dass man echt den Eindruck hatte, wir müssen die Welt neu ansehen, erfinden, gestalten, Welten ändern. Und das kann man...nur verstehen, wenn man versucht, sich wirklich diese unglaublichen Umwälzungen des Krieges...vor Augen zu führen. Also nicht nur die Realität, die die Einzelnen erlebt haben...dass man jahrelang in einem Graben liegt für wenige Meter Landgewinn- also so schmutzige Kriege, das war wirklich neu...Also da ist gesellschaftlich so viel in Bewegung, dass man DANN aber auch mal wirklich die Welt neu denken kann...Und es ist auch ganz viel, dass man so das Böse gespürt hat. Im Krieg z.B. Und dann versucht man auch das Böse darzustellen. Musik: Rio Reiser, Über's Meer Ton: Welle Sprecher: Zweiter Akt. Erste Szene. Wismar, Mecklenburg Vorpommern. Gegenwart. Ein Fremder im Herzen der Stadt. Autor: Das Herz der Stadt Wismar schlägt in seiner Mitte. Der alte Markt. Ein Gesamtkunstwerk. Einhundert mal einhundert Meter. Hektargroßer Handelsplatz. Schweres Pflaster. Die Hanse hatte die Stadt reich gemacht und brauchte Platz für ihre Geschäfte. Die alten Giebelhäuser strahlen. Wie neu. Dreistöckig, nicht hoch, alles sucht Bodenhaftung. Ein wenig Jugendstil neben uriger Backsteingotik. Die Farben der Fassaden sorgsam aufeinander abgestimmt. Ein überdachter Brunnen. Das blütenweiße Rathaus. Klassizistisches Kleinod. Elegant. Gedenktafel. Störtebecker, der alte Seeräuber, war 1380 hier. Ein Film über die Kunst, mittelalterliche Stadtkerne vorbildlich zu sanieren, müsste genau hier beginnen. Eine Sinfonie des Aufschwungs. Die Kamera schwenkt von den Giebeln herunter auf den Platz. Früher Nachmittag. Es ist Markttag. Fahrende Händler haben ihre Wagen aufgestellt. Reih und Glied. Ladenklappen hoch, Vordach, die Theke ist geöffnet. Der Fleischer hat einen Ford, der Bäcker einen Mercedes Transporter. Der Haushaltwarenbus ist von VW. Es gibt Bratwurst aus Thüringen, der Verkäufer kommt aus Pakistan. Der Fisch ist geräuchert und kommt aus dem Pazifik. Eine Frau hat eine Leine gespannt und verkauft Damenunterwäsche. Büstenhalter in beachtlichen Größen flattern im Seewind. Jemand spielt eine CD von Gunther Gabriel. Hey Boss, ich brauch mehr Geld. Wenige Kunden. Wismar ist eine Stadt am Meer, Saisonstadt. Und der Sommer kommt erst noch. Wismar ist unter sich. In der Totalen fängt die Kamera das Gesamtensemble ein. Das Unesco-Weltkulturerbe der Fassaden und die schlichte Gegenwart. Irgendetwas stimmt nicht. Kunst und Realität passen nicht zusammen. Die Kamera schließt langsam die Blende, bis das Bild an Schärfe verliert und die Farben verblassen. Jetzt wird ahnbar, warum Murnau 1921 gerade in Wismar seine Kamera aufstellte. Beatrice Busjan: Take 07: Busjan...20:22 Der hatte ja draußen gleichzeitig die beiden Pole, die er brauchte. Biedermeierliche Außenansichten für die braven Bürger, das ist wenn der Film losgeht, da sieht man doch diese Totale auf den Markt. Mit der Wasserkunst, und dem Kirchturm und dem Markt. Das ist so schön friedlich. Und dann findet er in den monumentalen, gotischen Bauten das, was er für seine expressionistische Bildwelt schafft. Das findet er an EINEM Außenort...Also Wismar in den 20er Jahren war jetzt nicht das blühende wirtschaftliche Leben, er hat ja auch hier im Hafen, wo ja auch nicht so viel los war, dass die Filmcrew nicht gestört hat. Die konnten ja vielleicht ganz ungestört drehen. Auch das ist ja, wenn man einen Drehort sucht, nicht unwichtig. Der kann nicht in den Hamburger Hafen gehen, wo ständig irgendwie ein Dampfschiff durchtutet. Autor: Friedrich Wilhelm Murnau, Jahrgang 1888. Im Geist des Kaiserreichs erzogen. Mit Musik, Theater und Wohlstand in Westfalen aufgewachsen. Das frühe Genie des Kinos kam aus gutbürgerlichem Hause und ließ schon als Kind die Puppen tanzen. Schreibt Stücke, probt mit den Geschwistern, baut Bühnenbilder, Liest wie besessen. Nietzsche mit 13. Studiert, wie alle verwöhnten Bürgersöhne, folgerichtig und standesgemäß Kunstgeschichte. Zieht in den Krieg und liegt 8 Monate im Schützengraben fest. Lungenkrank. Als die alte Welt am Boden liegt ist er am Leben, dreißig und kennt die Extreme. Die Kunst und das Grauen. Künstler sind Seismografen. Einige werden zynisch. Wie Gottfried Benn. Oder depressiv, wie Herrmann Hesse. Einige nehmen sich das Leben. Wie Georg Trakl. Sprecher: Schlaf und Tod, die düstern Adler Umrauschen nachtlang dieses Haupt: Des Menschen goldnes Bildnis Verschlänge die eisige Woge Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen Zerschellt der purpurne Leib Und es klagt die dunkle Stimme Über dem Meer. Autor: Feingeist Murnau erfindet sich und die Welt neu und geht in ein völlig neues Metier. Dahin, wo bis dato meist hemdsärmelige Abenteurer, Handwerker, Aussteiger und Jahrmarktstypen fröhlich herumexperimentieren. Er geht zum Film. Take 08: Busjan 9:33 Worüber wir jetzt reden sind die WILDEN 20er, wo sich ja wirklich ganz viele junge Leute ja einfach neue Rechte nehmen. Also diese ganzen Literaten, die da in den Berliner Kaffees sitzen... Sprecher: Dritter Akt. Expressionismus wird Film. Autor: Berlin. Der Hexenkessel. Hauptstadt der Widersprüche. Und des Expressionismus! 1921 der künstlerische Gegenkommentar zu aller Beschaulichkeit, Romantik und bürgerlicher Welt. Zu spüren in Musik, Werbung, Mode, Theater, Design, Vernissagen, im Film. Überall. Nicht um idealisierende Abbildungen des Lebens ging es mehr, subjektive Empfindungen werden zum radikalen Stilmittel. Innere Bilder. Das Unbewusste. Freud war schwer in Mode. Der Wahnsinn die natürlichste Ausdrucksform. Am 31.01.1921 gründet sich in der Berliner Kurfürstenstraße die PRANA Film GmbH. Ihr erstes Projekt: Der Großfilm "Nosferatu". Adaption des 1897 erschienen Romans "Dracula" von Bram Stoker, einem Irischen Schauerromancier. Firmengründer und Ausstatter Albin Grau hat sein Drehbuch längst fertig. Alles bis ins Kleinste notiert. Friedrich Wilhelm Plumpe, genannt Murnau, hat mit seinen ersten Filmexperimenten bereits einen Namen als Regisseur. Er springt auf das fahrende Boot und übernimmt die Regie. Der Geniestreich: Er geht raus aus dem Studio. Raus in die Natur. Dreht an Originalschauplätzen. Das war neu, revolutionär, anstrengend. Das Drama der Wirklichkeit. Auf nach Wismar. Ton: Schnarrender Projektor, drunter Sprecher: 4. Akt. Drehbuch Seite 120: 110. Bild, Blick von See auf Hafen. Segelschiff läuft mit vollen Segeln ein. Gegenlicht. Wisborg. Unterstrichen: Triste. Musik: Originalsoundtrack der restaurierten Fassung, bleibt drunter (ab 1:02:40) Autor: Das Schiff mit Nosferatu ist im Anmarsch. Die Besatzung ist längst tot. An der Pest gestorben. Führerlos treibt das Schiff mit geblähten Segeln auf dem tosenden Meer. Nur Ratten und Nosferatu sind noch an Bord. Die Musik verkündet Unheil. In Wisborg schwebt zeitgleich Hutters Frau mit weißem Nachthemd und offenem Haar auf Zehenspitzen zur Veranda. Fast wie im Ballett. Murnau gab beim Drehen den Schauspielern per Metronom einen Rhythmus vor. Das gab den Szenen spürbar Spannung und Strenge. Frau Hutter hebt an der Brüstung traumwandlerisch die Arme zum Horizont und weissagt mit entrücktem Blick, Schrifttafel: Sprecherin: Ich muss zu ihm! Er kommt !!! Autor: Der Zuschauer weiß nicht genau, wen Frau Hutter meint. Ihren Mann oder den Geist. Die Ambivalenz ist beabsichtigt. Auch Knock, der Häusermakler, inzwischen wegen Unzurechnungsfähigkeit in der Zelle, wird unruhig und starrt aus seinem vergitterten Fenster. Sprecher: Schnitt. Musik: Originalsoundtrack ab 1:03:56, drunter... Autor: Das Hafenbecken von Wisborg. Das Wasser liegt still, spiegelt den verhangenen Himmel. Die Bildmitte wird von der Uferzeile der Stadt geteilt. Dreistöckige Bürgerhäuser, schmale Giebel, Speicher. Ein paar Fischerboote. Heile Welt. Zeitlos. Beklemmend schön. Kein Mensch. Totenruhe. Die Silhouette wird überragt von der Marienkirche. Übermächtig. Von rechts im Vordergrund, bedrohlich nah, gleitet in voller Takelage langsam der unheimliche Segler ins Bild. Sehr langsam. Schiebt sich wie von Geisterhand vor das Bild der Stadt. Und nimmt alles ein. Ein Schiff wird kommen. Musik: aus Take 09 Steinberg1 10:53 Wenn der Segler mit Nosferatu im Hafen einläuft. Das ist so spannend, da gehen mir jetzt eigentlich schon die Haare an den Armen hoch. Da ist eine völlige Ruhe im Wasser, kann also auch gar kein Segel da sein. Und trotzdem läuft dieses Schiff ein. In einer Zeit, wo es keine Motoren gab...Und dann geht die Sequenz über die Stadt hinweg, man sieht die heile Stadt noch, mit allen Kirchen, als Silhouette fast... Sprecher: Klaus Dieter Steinberg. Jahrgang 1946. Grafiker, Maler. Wismar. Take 10 Steinberg 9:10...Und er ist für mich der Prototyp, wie Film gemacht wird eigentlich auch...Durch den (fehlenden) Ton war ja eine Überhöhung der Aktionen notwendig - das ist ja alles da gewesen, nä? Und das muss man erstmal wieder zurückholen, ohne unbedingt in die Vergangenheit abzurutschen und nostalgisch zu werden. Und da ist auch gutes Gut drin, Kulturgut drin. Und ich finde das schon spannend...Ich finde das ist so eine Ästhetik, dieses Schwarz-Weiß auch, ohne diesen ganzen Ballast...der ist weggenommen. Die Sequenzen, die ich gesehen habe, die sind für mich so klar formuliert, das könnten auch Illustrationen sein, nä? Das finde ich toll, aber vielleicht sind es eine Handvoll, die das so sehen, nä? Autor Klaus Dieter Steinberg hat eine Erscheinung, eine Mission. Er möchte Nosferatu in seiner Heimatstadt ein Denkmal setzen. Bisher ist der 90 Jahre alte Horrorfilm den Sterblichen in Wismar nahezu unbekannt. Das soll sich ändern. Der alte Widergänger soll Erbe werden. Steinberg ist Illustrator, Grafiker. Jetzt sucht er eine Idee, eine Form, das passende Bild. Wismar ist eine Touristenstadt. Platzt im Sommer aus allen Nähten. Da rollen die Touristen an und ziehen durch das Kulturerbe. Jetzt soll der Vampir ins Stadtbild. Irgendwie. Gerade haben er und seine Mitstreiter aus Rathaus und Museum begonnen, sich gegenseitig mit der Idee zu infizieren. Die Seuche scheint sich auszubreiten. Take 11 Steinberg (telefoniert...) 0:00...dann könnte man das doch zusätzlich ausschlachten, das Wismar nun ein Gruselthema zusätzlich hat...(Telefonatspause) 1:22 Das war schon verrückt, nä? Die ganze Stadt war plötzlich schon Nosferatu. (lacht)...na denn drücke ich ihnen die Daumen. Bis denn. Ton: Projektor, drunter Sprecher: 5. Akt. Drehbuch Seite 178. Bild 165. Im Haus der Hutters. Schlafzimmer. Nacht. Musik: Soundtrack der restaurierten Fassung (ab 1:27:00-1:29:00) , drunter Autor: Rückenansicht. Frau Hutter steht ahnungsvoll im weißen Nachthemd am weit geöffneten Fenster. Sie hatte in der Einstellung zuvor den unheimlichen, bezwingenden, abstoßenden Nosferatu gegenüber am Fenster gesehen. Und seinen starren Blick als Aufforderung gedeutet. Unglücklich verliebt? Was genau in ihr vorgeht, wird nie jemand erfahren. Schnitt. Frau Hutters Treppenhaus. Nur angedeutet durch den Schatten eines Treppengeländers auf der grauen Wand. Oben rechts im Bild die Tür. Standkamera. Nichts regt sich. Dann doch. Der riesige Schatten eines Monsters gleitet von links ins Bild. Nosferatu! Wie zum Sprung gekrümmt, der eingezogene Schädel ragt aus dem aufgestellten Mantelkragen. Riesige, krumme Krallenhände gieren nach dem nächsten Opfer. Nichts als Nosferatus Schatten gleitet, immer größer werdend, nach oben zur Tür. Der Bildgewordene Alptraum. Der längste Schatten der Welt. Expressionistisch radikal, kantig, überzeichnet. Wer den Film nicht kennt, hat schon davon geträumt. Nach dieser Szene wird sich nie wieder jemand ohne Taschenlampe in ein dunkles Treppenhaus wagen. Musik: Rammstein. "Komm in mein Boot". Ton: Meereswelle Take 12: Steinberg 13:42 Es ist auch gar nicht so weit weg von der Malerei! Nehmen wir einen Heckel oder so. Sprecherin: Erich Heckel. Expressionistischer Maler. Kantiger, holzschnittartiger Stil. Figuren werden eckig überhöht. Take 13: Steinberg 13:42 Diese spirrlichen Figuren der Damen, die in Dresden auf der Prager Straße spazieren gehen...Die sind nicht anders!! Er hat das nur umgesetzt. Und er musste ja auch eins drauf packen in seiner Kunst - er hatte nur Schwarz-Weiß zur Verfügung! Autor: Murnaus Nosferatu. Hakennase, schlank und sperrig, unwirklich, verfremdet. Eine Kunstrevolution leitete am Anfang des 20. Jahrhunderts die Moderne ein. Ihr Einfluss wirkt bis heute. Der Vampir von Wisborg ist ein bewegtes Bild des Expressionismus. Grafiker Klaus Dieter Steinberg erkennt seinen Heckel in Nosferatu wieder. Murnau zitiert ihn. Ganz klar. Wie bringt Steinberg Nosferatu in die Stadt? Er schaut aus dem Fenster, überlegt. Take 14: Steinberg 15:08 Na ja, ich dachte ja auch, dass wir weiter gehen...Schattenbilder...die sich bewegen...oder Schwarzlicht, dass...Motive irgendwo in Wismar verstreut sind, die Abends in Wismar erscheinen, nä? Das kann man alles inszenieren, nä? Autor: Zehn Schilfkaten, Strand und Schluss. Stehengebliebenes 19. Jahrhundert vor den Toren von Wismar. Steinberg wohnt in einem uralten Fischerhaus. Weiß, Reet gedeckt, Blick aufs Meer - wie es sich gehört für einen bildenden Künstler. Einsam. Horizont. Nicht ein Schiff da draußen. Kommt Nosferatu? Nein. Stille. Das Licht wechselt. Jeder Wolkenwind schafft neue Bilder. Sprecher: Eine Möwe schreit. Ton: Möwe Autor: Küstenstädte. Mit dem Blick in die Unendlichkeit und mit dem Rücken zum Festland. Da, wo das Meer zu Ende ist und die Wirklichkeit noch nicht richtig angefangen hat. Zwischenraum. Grenzgebiet. Zonenrand. Diese seltsame Spannung, diese Unentschiedenheit muss es sein, die Wismar prägt. Und über Jahrhunderte Dichter, Maler, Komponisten inspiriert. Und Cineasten. Antreibt zu immer neuen Ausdrucksformen der Melancholie. Melancholie, Tremolo aller Kunst. Steinbergs Haus ist gefüllt mit Bildern voller Horizont. Weite. - Meer. Die große Metapher für Aufbruch und Untergang. Für Fernweh und Heimkehr. Für Gefahr und unsterblichen Frieden. Vielleicht die größte Metapher überhaupt. Ewige Inspiration. Der Grund, warum in jedem zweiten Film dieser Welt die Liebe am Meer beginnt. Oder endet. Es ist der Grund, warum Caspar David Friedrich, der Mecklenburger, nie aufhörte, das Meer zu malen. Riesige Himmel, winzige Figuren am gewaltigen Meer. Und Wagners Fliegender Holländer ist verdonnert, sein ganzes Leben unerlöst auf dem Meer zu verbringen. Das Meer funktioniert wie eine Chiffre, die ins Unbewusste reicht. Und deshalb kommt auch Nosferatu von den Karpaten mit dem Schiff nach Wismar, sorry, Wisborg, und nicht mit der Kutsche über Land. Klaus Dieter Steinberg braucht eine Idee, einen Filmvampir ins Gedächtnis einer Stadt zu transformieren. Take 15: Steinberg 9:10 Der murnausche Nosferatu ist ja kaum bekannt in der Öffentlichkeit. Wir paar Insider wissen das,...das wäre jetzt zu kultivieren...dass Nosferatu einen Platz kriegen sollte, wie bei Stadtführungen der ein Thema werden kann. Dann sollten wir über den Punkt der Bebilderung wirklich hinausgehen! Wir müssen also auch eine Ästhetik verkaufen. Und der bringt sie nun mal, nä? 15:51...Ich habe ja schon gedacht, so kleine Anstecknadeln produzieren zu lassen, die dann selbst leuchten...Halloween kann für Wismar thematisiert werden!...Ja also, China wird bestimmt dabei sein, die Produkte für Emerging-Design zu liefern!...16:35...Harry Potter, nä?...Diese Konsequenz, nä?...Vielleicht kriegen wir so was in klein hier hin. Ton: Meereswelle Autor: Der Geist von Wisborg soll Ehrenbürger von Wismar werden. Bildlich gesprochen. Schattenbildlich. Er wird keine Dankesrede halten. Nosferatu ist Film. Stummfilm. Atmo: 0169 Wismar : 01:47 Schiffshorn-vorbeifahrendes Motorschiff, (blendet unter Autor langsam aus) Autor: Der moderne Geist von Wismar spricht. Der gegenwärtige, der lebendige Geist der Stadt Wismar in Mecklenburg. Er spricht für den, der aufhört, die Stadt zu besuchen, und anfängt, sie zu suchen. Zu suchen in den Gesichtern, den Blicken, den vorbei murmelnden Halbsätze im Gehen. Besorgen müssen wir noch. Lidl gabs das billiger als. Termin bei der Physio wird. Was willst du machen wenn. - Keiner erregt sich. Alles im Fluss. Der Geräuschefluss der Stadt ist ein Bach, der niemanden mitreißt. Warum auch. Take 16 Zühlsdorf 1h:03 Na ja, der Mecklenburger ist ja ein allgemein Ruhiger, und die, die hier zugezogen sind, die werden ruhiger. Ja, also...hier in Wismar Umgebung, wir machen nicht viele Worte, nich? Sprecher: Karl Zühlsdorf, Jahrgang 1926. Hier geboren und immer hier, wenn nicht Krieg war. Autor: Ein echter Mecklenburger, der Karl. Karl ist wie Wismar. Und Wismar wie Karl Zühlsdorf. Uralt, bodenständig, freundlich, unaufgeregt, bescheiden. Take 17 Zühlsdorf 3:22 Ruhig und verträumt kann man sagen. Autor: Sohn einfacher Leute. Wollte nie aufs Meer. Schätzt das sichere Ufer. Familienmensch. Jetzt ist niemand mehr da. Nur die Erinnerung. Ab wann tritt eigentlich das Wort "damals" ins eigene Leben. Sprecher: Wismar 1934. Take 18 Zühlsdorf 5:24 Also für uns Jugendliche war hier weiter nichts damals...Also Langeweile habe ich nie gehabt...Unsere Eltern sind im Sommer mit uns um sechs von der Stadt zu Fuß hier unten links nach Seebad Wenndorf. Dann haben wir dort gebadet - um sieben waren wir da. Um 11 sind wir dann mit dem Schiff zurückgefahren, und das war unser Sonntagvormittag, nä? Autor: Sonntag um sechs zu Fuß zum Baden. Und einmal in der Woche Fleisch. Take 19 Zühlsdorf 19:41 Eintöpfe und so weiter, nich?...so stark mit Fleisch behaftet war es nich, nee, nee. Das ging dann eher zu diesen billigeren Sachen, also Ohren, Schweineschwanz, Haxen und so weiter, nich?...Und das war auch meines Vaters Fall, da kratzte der die Haxen mit dem Messer aus, nach dem Essen, nich?...Fisch gabs. Also mindestens einmal in der Woche, wenn nicht zwei. Autor: 1926 geboren. Vier Jahre nach Nosferatu. Als Schriftstellerin Ricarda Huch hier war und noch "Meerweiber die Irdischen in die tote Stadt" lockten. Nach Wismar. Wie fühlte sich das an, wie sah es aus, damals, als Karl z.B. noch mal abends los musste, zum Schuhmacher. Take 20 Zühlsdorf 2 16:37 Im Herbst und Winter hin wars dunkel, richtig. 19:08 Und wenn sie sich das vorstellen - wenn sie jetzt in den Hausflur kamen, da war erstmal dunkel. Die Lampe war weiter hinten, weil da die Treppe hochging. Dann ging man links in seine Schusterstube und da brannte auch nur eine kleine Funzel, denn er kriegte ja sein Licht durch eine Glaskugel...und dann direkt auf seinen Schoß so...das war ja nu ein dicker strahl. Mehr war nicht an Licht dort drin! Und wenn man denn hoch ging in den Wohnbereich...da brannte EINE Petroleumlampe!...Wer das Geld nicht hatte, um Gas zu verlegen, der hat Petroleum gehabt, nä? Autor: Flackernde Lichter. Schwarze Schemen. Nosferatuzeit. Damals. Karl Zühlsdorf ist noch dabei gewesen. Sitzt da mit seiner Zigarette. Immer. Und sieht neue Schatten über der Stadt. Take 21 Zühlsdorf 56:06...Auch jetzt die Fischerei. Wo die so viele Unannehmlichkeiten haben, die Fischer...Wir hatten mal über 20 Fischerboote...nach der Wende, und jetzt habe ich in der Zeitung gelesen, sind nur noch drei Fischer. 57:02...die nehmen es zwar nicht hin, wie es ist, sie machen das Beste draus, ja?... aber es sind keine Menschen, die sich da nun groß erregen oder was...jeder nach seiner Art, nä? Also ein Fischer, der könnte dann eventuell zur See noch fahren, aber es gibt ja keine Reedereien, wo diese Leute noch hin könnten, nä? Autor: Das ewige Gespenst. Arbeitslosigkeit. 25 % sagen die einen, 30 die anderen. Phantomschmerz der Stadt Wismar. Karl sitzt da und raucht. Stoisch. Karl raucht immer. Ein 86 jähriger Kettenraucher. Wie Nosferatu: Nicht tot zu kriegen. Musik: Element of Crime, "Schwere See". Ton: Welle Take 22 Prof. Dr. Strauss 3:05 Ich glaube alle Intellektuellen der Zwanziger, vor allem der Filmwirtschaft, waren dem Okkulten nahe. Vor allem aufgrund der lokalen Überschneidungen, Berlin war das Zentrum des Okkulten. Und der okkulte Stoff als Nachwehe des sick fin de siecle 1880, 1890, victorianisches Zeitalter, die Romane, die Novellen kamen ja raus, Frankenstein, Dracula, wie sie alle heißen. Und der erste Weltkrieg zerriss die Menschen - dieser eins-zu-eins-Krieg...die haben die Menschen natürlich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Eine logische, evolutionäre Erklärung war, dass der Expressionismus nach dem Ende des ersten Weltkriegs so einen Zuspruch genoss. Und ich glaube, dass alle die sich mit Kunst, mit Psychologie, mit Philosophie auseinandergesetzt haben, am Okkulten in den Zwanzigern nicht vorbei kamen. Das war ein Massenphänomen. Sprecher: Prof. Dr. Stefan Strauss. Mitte 30. Stummfilmsüchtig seit seiner Kindheit. Kunstwissenschaftler. Medienunternehmer. Hat sechs Jahre rund um das Phänomen der Produktionsfirma Prana Film GmbH geforscht. Ihr einziger Film: Nosferatu. Take 23 Prof. Dr. Strauss (liest vor...) 6:24 Filmkurier Nr. 289, 12. Dezember 1921...abschließend der letzte Absatz: "Die Neigung, sich mit okkulten Problemen zu befassen, ist gerade in jüngster Zeit wieder stärker, als je, vorhanden. Und dies mit sehr begreiflichen Gründen. Zwingt doch eine ebenso unerquickliche als reale Gegenwart mehr als je, sich vom grauen Alltag abzuwenden und mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen." Autor Dr. Strauss bekommt ihn einfach nicht mehr los. Den Film. Nosferatu. Die pure Magie. Geforscht wie ein Wahnsinniger, sagt er. Ewig. Promoviert. Jetzt gehört der Streifen fest zu seinem Leben, bis in die Träume. Es ist wie ein Fluch. Je tiefer er in die Geschichte des Films eindrang, desto tiefer der Abgrund. Albin Grau, der Produzent und sein Partner Enrico Dieckmann waren feste Größen der okkulten Szene und Mitglied der Sekte der "Lichtsuchenden Brüder der Thelema". Ebenso Drehbuchautor Henrik Galeen. Auch Regisseur Murnau war Anhänger des Okkultismus. Ein millionenschwerer Sponsor des Films, Baron Grünberg, ebenso. Albin Grau wird bis heute von Okkultisten weltweit verehrt. Er war eine Führungsfigur der Thelema. Eine Art Religionsstifter, Priester. Verfasste tausendseitige Traktate und Vorschriften. Ton: Metronom, drunter Musik: Soundtrack, drunter Sprecher: Das Ende naht! Die unsichtbare Flamme bricht hervor! Die alte Welt wird bedroht. Aus den Urwassern trinkt die neue Erde erste Kraft. Wir verkünden die frohe Botschaft vom Ende der Menschheit! Wir verkünden die Zerstörung wartender Entschlusslosigkeit und Behaglichkeit. Thelema sei eine Leuchte in der schreckhaften Finsternis am Anfang einer seraphischen Wanderung durch die Räume der unteren Mutter. Ton und Musik: aus Autor: Und so weiter und so fort über schlappe 1500 Seiten. Ton: Welle Ton: Metronom, drunter Musik: Soundtrack, drunter Sprecher: Du musst über all deine Handlungen Rechenschaft ablegen, wenn Deine Zeit gekommen ist. Hast du diese Lektion nicht gelernt, so kann es sein, dass du ohne Rücksicht auf deine Person, das Karma des ungelösten Exempels mit dir zu tragen hast, wie eine Last für den Rest deiner Inkarnation. - Albin Grau, Produzent von Nosferatu. Ton: aus Autor: Scientology lässt grüßen. Ist Nosferatu, alias Graf Orlok, womöglich die Missgeburt verquaster Sektenideologen? Take 24 Prof. Dr. Strauss 19:23 Also aus meiner Sicht...wenn man sich den Originalplot anguckt, Bram Stoker 1888... auf die Feinheiten achtet, wird Dracula da als Liebesgetriebener, als enttäuschter, kultivierter Dandy beschrieben, der in seiner Zeit durchaus kriegstechnisch gut unterwegs war. Aber der getrieben ist von der Liebe zu seiner Frau. Orlok, in der Inszenierung von Galeen und Grau und Dieckmann...spricht auf das Bild von der Frau an. Aber er ist weder galant, noch ist er besonders sympathisch eloquent, er ist nicht von Liebe getrieben sondern eher von Lust, von Gier. Und das Töten auf dem Weg hin zu seinem Ziel ist für ihn nicht notwendiges Übel, sondern man interpretiert es sogar als Spaß, man interpretiert es sogar als Massenmord in dieser Stadt...Insofern würde ich nicht sagen, dass er eine Missgeburt ist, sondern dass er eingeführt wird als Fakt. Als unumstößlicher Fakt. Und das geht ja in meine Richtung, dass der Film einen missionarischen Anspruch in Richtung Okkultismus hat. Eine Authentifizierung des Bösen. Eine Authentifizierung dieser Lebensart. Eine Lust am Bösen. Das ist vielleicht der treffendste Begriff. Lust am Bösen. Musik: Stefan Hiss, Schlecht. Sprecher: Letzter Akt. Schlafzimmer. Frau Hutter. Nacht. Ton: Projektor Musik: Soundtrack ab 1:27:30 bis ca. 1:28:17 Autor: Frau Hutter entsetzt am Fenster. Fasziniert? Schaut zur Tür. Nosferatu ist im Raum! Sie greift sich ans Herz. Taumelt aufs Bett. Nosferatus Handschatten legt sich auf ihr weißes Nachthemd. Langsam. Sie schaut gespannt, wie der Schatten auf ihrem Busen innehält - und zugreift. Frau Hutter stirbt. Hingebungsvoll. Hypnotischer Terror. Musik: Blendet unter Take langsam aus Take 25: Prof. Dr. Strauss 22:12 Diese Person Orlok ist das Einzige, was im Film überzeichnet künstlerisch dargestellt wird. Also überzeichnet expressionistisch. In dieser naturalistischen Umgebung, in dieser Biedermeierumgebung. In diesen Naturaufnahmen wirkt er wie so ein Fremdkörper. Und das geht in meine Richtung, meine Theorie, ich glaube es ist ein missionarisch okkulter Film. Ton: Welle Sprecherin: Die Liebe überfällt uns. - Aber in wessen Gestalt? Ton: Welle Sprecher: Schnitt. Wismar. Büchereck Pusch. Bücher aus der alten, Weine aus der neuen Welt. Eine Institution im Ort. Partytreff für die, die schon immer hier waren. Gegenwart. Take 26: Bücherstube, Kneipenatmosphäre. Inhaber: 7:48...Ich könnte gar nicht woanders leben. Ich könnte noch in Lübeck leben. Wismar mit unserer Altstadt...das kennen sie! Das hat sich ja seit meiner Kindheit nicht geändert! Die Straßennamen haben sich geändert. Ton: Möwe Autor: Straßennamen sind Inschriften. Kurzinformationen einer Stadt. Wer will, kann Straßennamen wie Twitternachrichten lesen. In Wismar gibt es Straßen, die Fuchsgang und Igelstieg heißen. Oder Hasenwinkel. Biberbau. Pfauenwiese. Wer taufte einen schmalen Weg "Tittentastergasse". Matrosenhumor. Sargmacherstraße! Alles klar. War zu Nosferatus Zeiten wahrscheinlich viel los. Und wer die Johannes R. Becher Straße, die Friedrich Wolf-, Willi Bredel- und Erich-Weinert-Straße abläuft, weiß spätestens jetzt, dass er sich im Osten der Republik befindet. Unauslöschbar. Solche und ähnliche Themen füllen den alten Verkaufsraum von "Büchereck Pusch" in der Dankwartstraße. Herr Krämer hatte ihn von seinem Großvater geerbt und über die DDR gerettet. Liest und trinkt gern. Mal Kultursenator gewesen, eigentlich schon in Rente, kann aber nicht aufhören. Der Laden ist sein Leben, abschließen wie sterben. Jetzt lädt er ab und zu alte Kunden ein, die schon damals, sie wissen schon, bei ihm ein und aus gingen. Die unterm Ladentisch bedient wurden. Den Freud, den Benn, Heiner Müller oder Volker Braun zugesteckt bekamen. Nischen schaffen ohne Waffen. Das verbindet. Jetzt sitzen sie zwischen den alten Schwarten um das Lagerfeuer des Alkohols und wärmen Erinnerungen auf. Atmo: 24:09 (Glas, zum Wohl ! + Kneipe mit Tatütata vor der Tür...) Ton: Metronom, drunter Take 27: 5:54 (Krämer) Die Abwanderungen sind natürlich enorm. Und wir haben ja auch von der Werft einen Einschnitt gehabt, von 6000 auf 750 Leute, glaube ich, nä? Und vom Seehafen, da waren so 2000 Leute, ist jetzt noch 120 oder so was. 43:06 (Schütti) Na, reich bin ich nicht geworden. Aber ich habe eine warme Bude. Verstehst du? Und Fröhlichkeit im Herzen behalten. 33:15 (Krä) Das war hier schon Grenzgebiet und demzufolge war es natürlich auch so, dass du am Strand beobachtet wurdest. 50:20 (Hauff) Eine Hafenstadt wie Wismar hat uns wahrscheinlich den gedanklichen Vorsprung gebracht, dass wir in jungen Jahren schon eine Fahne gesehen haben im Hafen, die wir nicht kannten 51:46 (Krä) und das Fallreep runter und davor stand ein Polizist (Hauff) Diese verbotene Geschichte, dass man das Schiff...ja nicht von der Nähe sehen durfte...und wenn es so etwas gibt,- was macht der Mensch? Dann ist er neugierig. Ton: Möwe Autor: Diese Neugier. Die fremden Fahnen am Mast. Der verdammte Horizont. Da hinterm Dunst liegt es, das gelobte Irgendwas. Die Erfüllung. Die Weite. Wie Blei. Und das Schiff mit acht Segeln wird nicht kommen. Oder fährt weit draußen vorbei. Wismar. Hafenstadt. Hier hockt, wenn alles still ist, ein Geist, eine Sehnsucht. Ganz egal, wonach. Ton: Welle Sprecher: Schlussszene. Wisborg, innen. Schlafgemach. Sonnenaufgang. Ton: Projektor, kurz frei, drunter Musik: Originalsoundtrack ab 1:29:00, drunter Autor: Nosferatu erhebt sich vom Bett. Frau Hutter ist tot. Der Vampir sieht das Morgengrauen, greift sich machtvoll an die Brust, geht ins Hohlkreuz, reckt den freien Arm zum Himmel - und ist weg. Ein Häufchen Asche dampft am Boden. Schrifttafel: Sprecher: Und das Wunder sei der Wahrheit noch bezeugt: Zur selben Stunde hörte das große Sterben auf und wie vor den siegreichen Strahlen der lebendigen Sonne war der Schatten des Totenvogels verweht. Autor: Friedrich Wilhelm Murnau, der frühe Kinoregisseur, war ein Revolutionär. Und Poet. Filme, Bilder aus Licht. Und Schatten. Kaum einer spielte damit so gekonnt wie Murnau. Lichtspieltheater. Er erfand nicht nur das inzwischen fest etablierte Genre des Horrorfilms, er wandelte auch für alle Zeiten einen Mythos. Seit Murnau sterben alle Vampire dieser Welt bei Sonnenaufgang. Möve Sprecher: Schluss. Musik "Ein-Schiff-wird-kommen-und-es-bringt-mir-den-Einen-den-ich-so lieb-wie-keinen" fällt weg. Abspann. Kennmusik Deutschlandrundfahrt Sprecher von Dienst: Die Schatten von Nosferatu Wismar in Mecklenburg-Vorpommern Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Es sprachen: Hans-Otto Reintsch, Markus Hoffmann und Yvonne Hornack Ton: Herrmann Leppich Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 2