COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage vom 12.6.2011 Etwas Warmes braucht das Kind Das Kinder- und Jugendhaus "Bolle" in Berlin-Marzahn Eine Reportage von Christina Rubarth A 1a+b Lärm vor dem Mittagessen T 1 In einer Reihe warten sie bis sie dran sind, bis Ronny, der Koch in der weißen gestärkten Baumwoll-Jacke, ihren Teller füllt. 10, 20 Kinder im Grundschulalter drängen sich vor der schmalen Essensausgabe, reichen ihren leeren Teller rüber, das Besteck schon in der Hand. A 2a Geld rein werfen T 2 30 Cent wirft ein Junge in T-Shirt und Jeans, Millimeter kurz geschorene, blonde Haare, in eine Büchse, dann füllt Koch Ronny den Teller mit dampfenden Kartoffeln und Gulasch. Mittagessen. A 2b frei: "Danke schön" T 3 Justin, gerade 7 geworden, trägt seinen Teller vorsichtig zu einem der Tische, stellt ihn ab, lässt sich auf einen orangefarbenen Plastikstuhl fallen und wartet auf das Go. Immer mehr Kinder drängeln sich an die Theke im Kinder- und Jugendhaus Bolle in Marzahn - ganz im Osten Berlins. Ein langgestreckter Flachbau, von außen grau, die Fenster vergittert, wie geduckt neben den Plattenbauten ringsherum. Dahinter ein kleiner Garten, zum Toben, zum Spielen und für frisches Gemüse. A 3a vor dem Essen frei: "Hallo! Gabel runter!" T 4 Endlich: Marina kommt herein, Mitte 20, die Erzieherin mit den wilden blonden Locken und Brille klatscht abwechselnd in die Hände und auf den Tisch. Der Startschuss fürs Essen. frei Marina: "...für dich und für mich ist der Tisch gedeckt..." A 3b essen T 5 Gabel um Gabel schiebt Justin Gulasch in seinen Mund, schnell ist der Teller halb leer. Nicht nur seiner, auch der von Jasmin neben ihm. Ihr dunkler Pony fällt ihr etwas ins Gesicht, fast so wie bei "Hannah Montana" - Jasmins Fernsehheldin, die sie auf ihrem lila-farbenen T-Shirt trägt. Etwas schüchtern schaut sie über ihre Gabel hinweg, sagt kein Wort zuviel. O 1 Jasmin "...und es schmeckt lecker und wie!" A 4 Essensausgabe T 6 Jasmin und Justin, die beiden kommen beide aus dem Viertel, aus den Plattenbauten ringsum. Hier läuft wenig, wie es soll, die meisten Familien haben nicht ein Problem, sondern viele: Alkohol, Drogen, Schulden, keinen Job, keine Hoffnung. Ein warmes, selbst gekochtes Essen - für die Kinder hier: ein Luxus. Ronny füllt weiter Teller auf, einmal Nachschlag für jeden, der will. Die Kinder essen alles, was er kocht. Sogar Spinat und Salat. Große Hände greifen jetzt nach einem Teller - der Bolle-Chef ist dran. Schulterlange glatte dunkle Haare, ein kleines Unterlippenbärtchen, immer lächelnd in Pulli und Jeans: Eckhard Baumann, den alle nur Ecki nennen, setzt sich Jasmin gegenüber. "Viele kennen zu Hause nur Junkfood, wenn sie überhaupt eine warme Mahlzeit bekommen", sagt er. "Hier sind selbst die 30 Cent fürs Essen manchmal noch zu viel." O 2 Ecki "Es gibt auch Kinder, wenn dann zum Essen gerufen wird, die sagen, ich hab keinen Hunger. Aber in Wirklichkeit haben sie Hunger, aber kein Geld. Von 8 bis 8 ohne Mahlzeit, das ist sehr schwierig. Mit nem leeren Magen kann man nichts arbeiten." T 7 Die 30 Cent sind nur symbolisch. Sie sollen dem Essen einen Wert geben. Nach ein paar Wochen können die Kinder selbst entscheiden, was sie mit dem gesammelten Geld machen wollen. Einen Ausflug oder ein neues Spielzeug finanzieren. Eckhard Baumann will den Kindern einen Ort geben, an dem sie sich wohl fühlen. 100 bis 150 kommen jeden Tag nach der Schule zu Bolle, denn solche Orte sind in Marzahn und überall in Berlin Mangelware. Hier lebt jedes dritte Kind in Armut. In ganz Deutschland sind es 2,5 Millionen. Viel zu wenige Einrichtungen bieten den Kindern nach der Schule eine Alternative zu Fernseher oder Computer, zu Straße oder Drogen. A 5 Toberaum Jason T 8 Mit einer Wrestling-Maske im Gesicht kämpft ein Junge im Toberaum mit sich selbst, wirft sich gegen die bunt gepolsterten Wände, lässt sich fallen. Jason heißt er. Etwas blass ist er, erst 11 Jahre alt - aber spricht wie ein Erwachsener. "Bolle ist wichtig", sagt er und bleibt einen Augenblick nur still sitzen. O 3a Jason "Für Kinder ist es ein nicht so schönes Viertel. Hier wird minderjährig geraucht und so, deswegen ist es besser, dass man hier jetzt ein Kinder- und Jugendhaus hat, das Kindern Unterstützung bietet, weil einige Eltern nicht arbeiten gehen, den ganzen Tag zu Hause sitzen. Und den Kindern bleibt nichts anderes übrig, als runter zu gehen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Kinder sich hier austoben können, hier jemanden zum Reden haben." A 6 Toberaum T 9 Ein Kind nach dem anderen wirft sich neben Jason auf die Matte. Auch Jasmin und Justin stürmen herein. Die beiden sind satt, haben Kraft. Sich nach der Schule alleine zu Hause langweilen, das wollen sie nicht, deshalb kommen sie zu Bolle. O 4 Justin "...weil hier so viele Kinder sind." T 10 ...und weil Ecki und die anderen sich auf sie freuen, sagt Jason und boxt Justin in die Seite. O 3b Jason "Ich meine, meine Eltern sind offen für mich, ham auch Arbeit, trinken auch kein Bier, rauchen auch nicht. Aber man kann trotzdem hier hergehen, auch wenn man kein Problem hat." T 11 Jasmin hangelt sich an der Kletterwand entlang. 70 Prozent aller Kinder in Marzahn sind von Sozialleistungen abhängig. Und die reichen hinten und vorne nicht. - Szenenwechsel - A 7 Zähne putzen T 12 Am nächsten Morgen: kurz vor halb sieben. Noch müde putzt sich Jasmin ihre Zähne. Beeilen muss sie sich nicht, sie lebt allein mit ihrer Mutter Mandy, Geschwister hat sie keine. Alleinerziehende Mütter: in Marzahn der Standard. Junge Frauen wollen es besser machen als ihre Eltern, ihrem Leben einen Sinn geben - mit ihrer eigenen kleinen Familie. Das funktioniert selten: schnell ist der Mann weg, bleiben Mutter und Kind allein. Der Mann in Jasmins Familie steht im Flur der Drei- Raum-Wohnung: eine gelbe Stoffpuppe, kindsgroß: Bart Simpson. A 8a Uhr T 13 Der Rest der Wohnung: ein Mädchentraum in Rosa, Pink und Lila, "Hello Kitty"-Bilder an der Wand. Selbst das Ziffernblatt der Wanduhr zeigt Mickey Mouse. A 8b blättern T 14 Jasmin hat noch etwas Zeit, bevor sie los muss, setzt sich in ihr Zimmer. Voll mit Barbie-Figuren und kleinen pastellfarbenen Plastikpferdchen. Poster bedecken die Wände, "Selena Gomez", "Robert Pattinson". O 5 Jasmin "...und meine "Glee"-Poster mach ich auch noch dran..." T 15 Die 11-Jährige nutzt die Ruhe am Morgen und blättert noch ein paar Seiten durch die Bravo, träumt von den Teeniestars auf den Fotos. A 9 Brot machen T 16 Ihre Mutter Mandy steht in der Küche, belegt das Pausenbrot mit Käse, schneidet einen Apfel klein, schaut raus aus dem 6. Stock. Die Häuser vor ihr sehen aus wie geklont. Über mehrere Kilometer zieht sich der Blumberger Damm, ein Plattenbau reiht sich an den nächsten. O 6 Mandy "Frauen sind ja stark, die kommen allene klar, sag ick mir immer." T 17 Mandy nippt an ihrem Pfefferminztee, ihr Pferdeschwanz wippt mit. Mutter und Tochter, die beiden könnten Schwestern sein. Mandy ist 29. Seit zwei Jahren hat sie einen Job, arbeitet in einem Pflegeheim. Jasmins Vater hat sich aus dem Staub gemacht. Ohne Unterstützung reicht ihr Gehalt nicht für beide: gut 900 Euro netto. Die Miete zahlt das Amt. Sparen ist ihr Alltag. O 7 Mandy "Also, ick bin ja sowieso so´n Mensch, ick investier sowieso lieber bei Jasmin allet, sag ick mal, statt bei mir oder so, ich sag immer, man hat ja nur eenmal im Leben n Kind sag ick mal." A 10 Reißverschluss T 18 Mandy will alles richtig machen, nur das Beste für ihr Kind. Die Saftflasche schiebt sie in Jasmins Rucksack. Gut geht es den beiden - aber nur, weil sie seit einem Jahr das Kinder- und Jugendhaus Bolle haben. Jasmin ist dann nicht allein, wenn ihre Mutter arbeitet. "Sie kann da sogar Gitarre lernen", sagt Mandy. Musikunterricht - den könnte sie niemals selbst finanzieren. Sich selbst gönnt sie kaum etwas. Nur auf eine Sache, sagt sie, will sich nicht verzichten. O 8 Mandy "Also mein Luxus ist Solarium, das hab ich immer, da geh ich immer hin, aber ich hab ja sonst eigentlich alles, wat ich brauch." A 11 Verabschiedung "Pass schön auf die Straße auf...du kennst ja Mama - ja, ich kenn dich..." T 19 Kurz nach sieben, Jasmin muss los. A 12 Verabschiedung "Küsschen! Mama hat dich ganz doll lieb und nicht vergessen, du meldest dich, wenn du bei Bolle bist...und auf die Straße gucken, Mama holt dich ab!" - Szenenwechsel - A 13a einsteigen "Los geht's! Bis später!" T 20 Niklas, 22 Jahre, dunkelblond, geht mit schnellen Schritten auf einen weißen Bulli zu. Er ist der jüngste im 14-köpfigen Bolle-Team, macht hier sein Freiwilliges Soziales Jahr. Seine Aufgabe heute: Er holt Justin ab und auch die anderen Kinder, die nicht - wie Jasmin - schon alleine von der Schule zu Bolle gehen können. A 13b ankommen, Fenster T 21 Er parkt den Bulli vor der Grundschule ein paar Kilometer weiter: ein unscheinbarer Bau aus grauem Beton, davor viele Jugendliche in Bomberjacken. Niklas lässt das Fenster herunter. A 14 Niklas Auto "Willste einsteigen, he?" T 22 Der Kofferraum geht auf, Vadim und Justin werfen ihre Rucksäcke hinein, klettern auf die Rückbank, buhlen um Niklas` Aufmerksamkeit. A 15 Justin "Der Jamie kommt auch noch..." (Nase hochziehen) T 23 Erst seit Januar ist er dabei, aber für die Bolle-Kinder gehört Niklas längst zum Inventar. O 9 Niklas "Viele Kinder haben keinen Vater zu Hause und kommen dann bei Bolle in Kontakt mit Männern als Bezugsperson. Das merkt man schon, dass einige damit nicht ganz umgehen können und entweder mit Abstand zeigen oder einem nicht mögen, andere die Grenzen nicht finden und einem sofort um den Hals fallen!" A 16 Justin und Jafar "Gibt's schon Essen? Niklas gibt´s schon Essen? Was gibt's denn?" T 24 Vadim und Justin stürmen rein, Soljanka steht heute auf dem Speiseplan. Wieder stellen sich die Kinder an, warten auf ihr Essen. Jasmin ist schon da, hockt mit ein paar anderen Mädchen in der Ecke nah am Fenster, wieder die Bravo vor der Nase, kichert leise. A 17 Ecki "Hmm, ok..." T 24 Projektleiter Eckhard Baumann hat noch keine Zeit für seine Suppe, sitzt ein paar Meter abseits im Bolle-Büro, vorm Rechner, am Telefon. A 18 Ecki "...und dann gibt's lecker Essen, nich?" T 25 Bolle finanziert sich zu 100 Prozent aus Stiftungsgeldern und Spenden. Doch die zu bekommen ist harte Arbeit. Allein drei Leute kümmern sich darum, dass Bolle nicht ins Minus rutscht. Wochenarbeitszeiten von 50, 60 Stunden - hier ganz normal. Gut 400.000 Euro braucht das Haus im Jahr zum Überleben, um alle laufenden Kosten decken zu können, auch die schmalen Gehälter. Klinkenputzen ist Teil des Jobs. A 19 Ecki "...und wann gibt's die Spenden, nach dem Essen? Sonst spenden die Leute nicht, mit vollem Magen spendet sich es leichter, na das hoffe ich doch (lacht) gut, ja, ok, schönen Tag noch..." A 20a + b Büro T 26 Baumann legt auf. Über seinem Schreibtisch lächelt Ursula von der Leyen breit, überreicht ihm das Bundesverdienstkreuz. Letztes Jahr im Dezember: die symbolische Anerkennung seiner Arbeit. Ein bisschen stolz ist er darauf, sagt er, aber er wünscht sich mehr, vor allem bessere Ideen. Dem am 1. April eingeführten Bildungsgutschein der Arbeitsministerin kann er nicht viel abgewinnen. O 10 Ecki "Ich hätte mir gewünscht, dass man, bevor man über Geld spricht, erstmal über ein Konzept redet, was ist die beste Lösung? Ich befürchte, dass viele Eltern die Gutscheine gar nicht erreichen, ich hätte in sozialen Brennpunkten investiert." T 27 Vor ihm liegt ein Konzept, von ihm selbst geschrieben. "Bildungstankstellen" steht darauf, eine "Tankstelle" - ein Haus mit Nachmittagsbetreuung in jedem sozialen Brennpunkt - das ist seine Vision. Dort sollen die Kinder nicht nur essen und spielen, sondern vor allem auch lernen. Und zwar mit Spaß. Baumann zeigt auf einen Zettel an der Tür: die Namen der Kinder, dahinter Punkte für ihren Fleiß. "Jedes Kind braucht Anerkennung", sagt Baumann. Noch wenige Punkte stehen hinter Jasmins Namen, aber Justin macht Riesenfortschritte. Ein Geschenk bekommen die Kinder, wenn sie dranbleiben: ein Buch, ein Puzzle. A 21 Büro "Bella, mit Puma, rufst du noch an? Könnten wieder was brauchen, auch kleine Geschenke als Anreiz, wäre schön..." T 28 Der gebürtige Schwabe war mal Konstruktionsleiter, den Job hat er für die Berliner Kinder aufgegeben. Das kaufmännische Geschick hat er immer noch. A 22 Küche T 29 Zeit für Baumanns Soljanka, die holt er sich direkt bei Ronny in der Küche ab. Etwas säuerlich riecht es, frische Zitrone ist drin - und ein paar Würstchen. Ronny kocht heute doppelt, denn heute werden auch die Straßenkinder auf dem Alexanderplatz versorgt. Baumann lupft den Deckel vom großen Kochtopf, rührt einmal um. A 23 Tür auf + fahren "So, dann wollen wir mal...!" T 30 Der Bolle-Bulli, voll mit Boxen mit Soljanka, Saft und Plastikgeschirr - und einer Kiste warmer Kleidung. Baumann und Niklas fahren los, immer Richtung Westen, in die Berliner City, gute 10 Kilometer Richtung Alexanderplatz. Die Plattenbauten werden weniger, der Verkehr mehr. Für Baumann fängt vor 15 Jahren alles an: er arbeitet am Bahnhof Zoo mit Straßenkindern. Vor einem Jahr dann macht er Bolle in Marzahn auf. O 12 Ecki "Wir haben entdeckt für uns, dass überproportional viele Kinder aus Problembezirken wie Marzahn-Hellersdorf früher oder später auf der Straße landen und insofern hat sich für uns die Frage gestellt, warum dann nicht schon präventiv tätig werden und warum so lange warten, bis man die Kinder dann irgendwo auf den gefährdeten Plätzen aufliest." A 24 Autotür knallt "So simma da! - Hallo, grüße dich, wie geht´s? Muss..." T 31 Vier Uhr am Nachmittag. Baumann wird längst erwartet, von einem guten Dutzend junger Leute, vielen Punks. Der Kofferraum wird zur Theke, Hungrige reihen sich in die Schlange, die immer länger wird. A 26 Ecki "Haste ne Wohnung? Und bei ihr? Auch alles chic?" T 32 Niklas füllt Teller um Teller, Baumann spricht mit den Jugendlichen, fragt vorsichtig nach, wie es ihnen geht, woran es fehlt. Einer ist neu hier, gerade aus dem Gefängnis raus, sagt er, noch ohne Wohnung. Nico schielt ein bisschen, mit hängenden Schultern stellt er sich an für die Soljanka. O 13 Nico (nuschelt) "Hab keine Wohnung, habe Nahrung gesucht, was zu Essen und habe glücklicherweise durch meinen Kumpel was gefunden." A 27 Gedrängel T 33 Das Essen jeden Mittwoch am Alex ist eine Art Erstkontakt, sagt Baumann, um irgendwie an die 2000 bis 3000 Kinder und Jugendlichen ran zu kommen, die in Berlin auf der Straße leben sollen, die in S-Bahnen schlafen, in Internetcafés oder Abluftschächten. O 14 Ecki "Hier unterscheiden wir nicht so zwischen älteren und jüngeren, aber wir haben auch schon öfters, dass auch ganz kleine Kinder kommen, obdachlos, dann sind da Kinder mit auf der Straße, die 2, 3 Jahre alt sind, das jüngste Kind, das war 14 Monate alt." T 34 Die Jüngeren kommen immer dann, wenn es Zeugnisse gibt und sie Angst haben vor dem Ärger zu Hause. Bei ihnen gibt es noch gute Chancen, den Weg zurück zu finden in einen normalen Alltag. Bei den Großen wird es immer schwieriger. A 28 Hund O 15 Ecki "Teilweise seh ich die immer wieder, den kenn ich schon 13 Jahre, das ist ein trauriges Kapitel." T 35 Er zeigt rüber zu einem jungen Typ, grüne Haare, Springerstiefel. Eine Heimkarriere hat er hingelegt, weil er sich nur schwer an Regeln halten kann, weil er vergisst, neue Anträge zu stellen, verliert er jede Wohnung, die er sich erkämpft. O 16 Typ "Es wird mir wieder weggenommen, geh ich arbeiten, muss ich meine Schulden abbezahlen, wenn ich dann endlich meine Arbeit haben, werde ich wieder in die Haft kommen. Wenn man weiß, dass es immer so ablaufen wird, dann hat man auch nicht die Motivation, ständig aufzustehen." - Szenenwechsel - A 29 "Leyla hat ihm voll ein Bein gestellt!" T 36 Zurück in Marzahn, zurück bei Bolle, kurz vor sechs. Draußen wird es langsam dunkel, drinnen ist es noch voller als am Mittag. Justin, Jasmin, Jason - sie alle sind noch da. A 30 Musikraum T 37 Justins Hausaufgaben sind fertig, lesen geübt hat er auch, jetzt läuft er an der Kleiderkammer vorbei. Da können sich die Kinder regelmäßig was zum Anziehen aussuchen: heile Schuhe gegen die mit Löchern tauschen, eine warme Jacke mitnehmen. Justin drängelt sich in den Musikraum, bleibt an der Tür stehen. Jasmin zupft an der Gitarre, der kleine Jafar spielt auf dem Keyboard. Nicht sehr melodisch, aber so können sie Instrumente ausprobieren und wenn sie wollen, auch eins lernen. Kostenlos. Justin hat genug, geht wieder raus, rüber in den Toberaum. A 31 "Marina, Marina... hör doch mal auf!" T 38 Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn, er rutscht über seine Hose. Viel zu lang ist sie für den 7-jährigen, aber da wächst er noch rein. Justin springt gegen die grüne Gummiwand, erwischt einen kleinen, zarten Jungen. Tränen kullern sofort über sein Gesicht. Schnell ist Marina da, nimmt ihn in den Arm. O 17 Marina "Am meisten brauchen - ja, jemand, der ihnen zuhört, jemand, der mit ihnen Gemeinschaft hat, denen irgendwie was bieten kann, beispielsweise mit ihnen spielt, sich Zeit nimmt, Raum und Zeit." T 39 Manchmal erzählen auch die introvertierten Kinder von Zuhause: von trinkenden Müttern, von Vätern, die versuchen, sich und ihr Kind umzubringen, von gewalttätigen Eltern, die ihren 12-jährigen Sohn wochenlang einfach nicht mehr in die Wohnung lassen, weil sie keine Lust mehr auf ihn haben. A 32 "Ok, der Bus fährt jetzt nach Hause! Leon, Elias, Vivien!" T 40 Feierabend, Niklas fährt die ersten Kinder zurück nach Hause. Jasmin wartet noch auf ihre Mutter, Justins Vater ist schon da, sein Stiefvater. Ein großgewachsener, dünner Mann, Mitte 30. A 33 Justin "Ich such meinen Schuh, die sind auf einmal nicht da!" A 34 "Tschüß...Tschüüßß...!!" T 41 Justin zieht seine Jacke an, dreht noch eine letzte Runde, verabschiedet sich von Marina und Niklas, ein kleines graues Plastik-Flugzeug in der Hand. Sein Geschenk für gutes Lernen. A 35 rausgehen A 36 "Wie viele Seiten hast du gelesen? - 3! - Boh! Du kannst das! Wenn du immer übst, übst, übst, dann kannste deinem Bruder bald ne Geschichte vorlesen!" T 42 Die beiden überqueren den Blumberger Damm, die immer gleichen Häuser ziehen sich kilometerweit entlang. Jasmin wohnt nur ein paar Blocks weiter. A 37 aufschließen "Ich hab was für dich, guck mal, das muss ich abmachen, ist zu klein, bumm!" T 43 Ein paar Stufen nur, die Familie wohnt im 1. von 8 Stockwerken. Justins kleiner Bruder Jason wartet schon, eine Strumpfhose über der Windel, zwei Jahre ist er alt. Justin streckt ihm das Flugzeug entgegen, der Kleine strahlt. Schnell verschwinden die beiden in Jasons Zimmer. A 38 Jungs T 44 Der Raum ist nur ein paar Quadratmeter groß, aber voll mit Kuscheltieren, mit Bällen und Plastikautos. Justin steht auch nach Stunden im Toberaum noch unter Strom. Aber wenn der Kleine schreit, tröstet der Große, immer wieder. A 39 Uhr T 45 Nebenan sitzt seine Mutter auf der Couch, gerade eingezogen sind sie in die Vier- Raum-Wohnung: ein paar Fotos von den Jungs als Babys an der Wand, ein Malen- nach-Zahlen-Bild, wenig Bücher, aber zwei Computer. A 40 "Schatzi (lacht), die Hose ist nass vom Kleinen - weeß ich, aber der lässt mich ja nicht wechseln." T 46 Justins Eltern sind beide arbeitslos. Seine Mutter, gelernte Maler- und Lackiererin, seit der Geburt des Jüngsten hat sie keine Chance mehr auf einen Job, ihre Gelenke sind kaputt, sagt sie, viel bewegen kann sie sich nicht. Justins Stiefvater sucht, aber findet nichts: eine Hartz IV-Familie, abhängig vom Staat. O 18 Bianca "Scheiße, mit einem Wort, Scheiße. Das ist zum Leben zu wenig, zum Sterben, ja, auch zu wenig. Sagen wir mal so. Also man kann den Kindern nicht wirklich was ermöglichen... Die Kinder haben zu hohe Wünsche oder zu hohe - nass, ja - zu hohe Ansprüche und ja, als Elternteil, man kommt sich einfach doof vor, wenn man den Kindern das halt eben nicht ermöglichen kann." A 41 Kind wickeln T 47 Nicht nur finanziell kann sie ihren Kindern nicht viel bieten. Ohne das Kinderhaus Bolle in der Nähe, sagt sie, geht es gar nicht. O 19 Bianca "Wenn die keine Beschäftigung haben oder keine richtige Herausforderung haben, wo sie sich auch weiter entwickeln können, dann fangen sie an, Scheiße zu bauen, das ist das normalste der Welt!" A 42 "Justin, Tisch decken!" T 48 Justin läuft in die Küche, zieht Jason hinter sich her, fängt an, Brettchen und Becher auf den Tisch zu stellen. A 43 "Da steht die Margarine, hör auf rumzustöhnen..." T 49 Kohlrabi und Käse landen auf dem Tisch, dazu Brot und Margarine. Es fehlt an nichts an diesem Abendessen - weil Justins Mutter dank Bolle sein Schulmittagessen sparen kann. O 20 "Sonst würde man das ja hier zu Hause auch noch mitmachen - da spare ich Gott sei Dank schon - aber zum Monatsende ist es immer sehr, sehr knapp, ist kaum zu überbrücken." T 50 Der Tisch ist gedeckt, Jason rutscht auf seinen Hochstuhl, versucht mit seinen Händen seinen Bruder und seine Mutter zu berühren. A 44 "So...Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb, guten Appetit..." ENDE Straßenkinder e.V. / Kinder- und Jugendhaus Bolle Hohensaatener Str. 20/20A 12679 Berlin 030-300244550 www.strassenkinder-ev.de Spendenkonto Straßenkinder e.V. Bank für Sozialwirtschaft Konto 32 82 600 BLZ 100 205 00 1