KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : Verflucht, verjagt, geduldet ? wie kroatische Schriftsteller die Demokratie unter Tudjman überlebten AutorIn : Ksenija Cvetkovi? und Martin Sander Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 25.5.2010 Regie : Rita Höhne Besetzung : 1.Sprecherin/Autorentext, 2.Sprecherin/Voice-over, 1.Sprecher/Voice-over + Zitate, 2.Sprecher/div Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Verflucht, verjagt, geduldet ? wie kroatische Schriftsteller die Demokratie unter Tudjman überlebten Autoren: Ksenija Cvetkovi? und Martin Sander Redaktion: Barbara Wahlster Deutschlandradio Kultur: 25.05.2010 O-Ton (1) Nenad Popovi? Ich war vierzig Jahre alt, und eigentlich konnte ich nicht glauben, dass freie Wahlen stattfinden, denn das waren meine ersten freien Wahlen, und auch für die meisten Jugoslawen, Kroaten, außer den älteren, die sich vielleicht noch an die dreißiger Jahre erinnern. 1. Sprecherin Nenad Popovi?, Autor und Übersetzer, gründete 1990 in Zagreb den ?Durieux?- Verlag. In den folgenden Jahren verlegte er vor allem verfemte, kritische Autoren aus allen Teilen des zerfallenden Jugoslawiens. Im Frühjahr 2010 sitzt Popovi? im Biergarten einer Zagreber Vorstadt und erinnert sich an die ersten freien Wahlen in Kroatien vor zwanzig Jahren. O-Ton (2) Nenad Popovi? Das war ein sonniger Tag, und ich hatte mich als Stimmenzähler verdungen in meinem Stadtteil, weil ich sehen wollte, mit eigenen Augen, wie das vor sich geht. Und bis halb zwei Uhr morgens haben wir Stimmen gezählt und sie dann in Paketen mit irgendwelchen Listen ein paar Straßen weiter gebracht zu so einer Zählstelle, Sammelstelle. Gleichzeitig habe ich beobachtet beim Zählen, wie der Stapel mit den Stimmen für die HDZ, für die Partei von Franjo Tudjman, ins Ungeheure wächst gegenüber den anderen. Das war für mich eine riesige Überraschung, denn die Tudjmansche Partei war bis dahin eine marginale Partei, und ja: So hab ich mit eigenen Augen gesehen, hab gezählt und hab diesen Stapel wachsen sehen, der uns dann zehn Jahre normales Leben gekostet hat, bis dieser Herr gestorben ist. O-Ton (3) Slavenka Drakuli?, 2. Sprecherin An diesen Tag kann ich mich gar nicht erinnern. Ich glaube sogar, dass ich nicht hier war. Weder hatte ich viel erwartet noch große Hoffnungen. Für mich besaß das Ganze eine andere Dimension. Ich bin Teil einer Generation, die eigentlich, wie ich meine, zu den letzten Gläubigen des Sozialismus gehört. 1. Sprecherin Slavenka Drakuli?, geboren 1949 in Rijeka, eine der bekanntesten kroatischen Schriftstellerinnen und Journalistinnen, die heute in Kroatien, Österreich und Schweden lebt. Drakuli? erregte international Aufsehen mit Büchern über den Frauenalltag im Sozialismus, über Vergewaltigungen im Bosnien-Krieg, über die Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag. O-Ton (4) Slavenka Drakuli?, 2. Sprecherin Wenn ich darüber nachdenke, fühle ich mich immer noch schuldig, für meine ganze Generation, dafür, dass wir nichts getan haben. Wir haben keine demokratische Alternative geschaffen. Als Alternative gab es nur den Nationalismus. Die Nationalisten besetzten ein politisches Vakuum. Sie waren am besten organisiert. Wir hatten keinen Havel, keinen Lech Wa??sa. Der Grund dafür ist, dass die Menschen im sozialistischen Jugoslawien an dieses System glaubten. In meiner Generation war das besonders ausgeprägt. Warum? Weil wir eigentlich sehr gut lebten und ziemlich viele Freiheiten besaßen. O-Ton (5) Boris De?ulovi?, 1. Sprecher Ich persönlich hatte überhaupt keine Hoffnungen. Hoffnungen oder Erwartungen waren reserviert für Menschen, die sich von nun an als national befreit ansahen. 1. Sprecherin Boris De?ulovi?, Schriftsteller und Journalist, berichtete über die Wahlen 1990 aus dem Zagreber Parlament. Später gründete er in seiner Heimatstadt Split das satirische Oppositionsblatt ?Feral Tribune?, die einzige kroatische Zeitung, die Tudjman kompromisslos kritisierte. O-Ton (6) Boris De?ulovi?, 1. Sprecher Die Hoffnungen waren für diese Menschen reserviert, weil sie auf einmal entdeckten, dass sie seit tausend Jahren von einem eigenen Staat geträumt hatten und ähnlichen Unsinn. Die Menschen, die einen kühlen Kopf behielten, wussten, dass nichts Gutes folgen wird. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass wir damals wussten, dass ein Krieg auf uns zukommt. Spult man den Film von heute aus zurück, dann ist klar, dass alles auf Krieg zusteuerte. O-Ton (7) Franjo Tudjman, 2. Sprecher Kroaten und Kroatinnen, verehrte und liebe Volksgenossen, Bürger und Kriegskämpfer, Verteidiger unserer heiligen Heimat. Ein jahrhundertealter Traum des kroatischen Volkes geht in Erfüllung. Danach strebten, dafür lebten und starben alle Generationen des kroatischen Volkes im Verlaufe ihrer gesamten, vierzehn Jahrhunderte währenden Geschichte in diesen Gegenden von der Mur bis an die Drau, von der Donau bis zur Adria. 1. Sprecherin Die Beschwörung nationaler Größe aus grauer Vorzeit gehörte zum rhetorischen Kernbestand von Franjo Tudjman, dem ersten frei gewählten Präsidenten Kroatiens, der von 1990 bis zu seinem Tode 1999 amtierte, einem Politiker, der sich mit Vorliebe als Vater seiner Nation sah. Begonnen hatte die Karriere des 1922 unweit von Zagreb geborenen Tudjman in den Reihen von Titos Partisanen. In den fünfziger Jahren stieg er in Belgrad zum jüngsten General der Jugoslawischen Volksarmee auf. Später sattelte er um und leitete in Zagreb ein Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung. Zunehmend fiel Tudjman nun durch nationalkroatische Ansichten auf. Sie kosteten ihn Ende der sechziger Jahre seine politischen und wissenschaftlichen Ämter. Danach saß er sogar mehrfach als Konterrevolutionär im Gefängnis. Aus einer vergessenen Randexistenz als Rentner katapultierte sich Tudjman mit Hilfe seiner erst 1989 gegründeten Partei, der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft, kurz: HDZ, an die Spitze Kroatiens. Diese Machtübernahme wäre undenkbar gewesen, hätte nicht in Belgrad bereits seit Jahren ein Gegenspieler vergleichbaren Zuschnitts mit seiner großserbischen Propaganda die Bevölkerung Jugoslawiens in Aufwallung gebracht: Slobodan Milo?evi?. Für viele Kroaten schien Tudjman der Mann zu sein, der Milo?evi? die Stirn bieten konnte. Stärker als Milo?evi?, mit dem er immer enger, wenn auch heimlich, kooperierte, störten Tudjman die Serben im eigenen Land, immerhin zwölf Prozent der Bevölkerung. O-Ton (8) Boris De?ulovi?, 1. Sprecher Die Serben in Kroatien verspürten Unsicherheit und Angst gleich nach den Wahlen. Man muss sich Tudjmans Rhetorik in Erinnerung rufen, zum Beispiel dass Kroatien Ausdruck der tausendjährigen Bestrebungen des kroatischen Volkes sei. Dabei bezog er sich auf den ?Unabhängigen Staat Kroatien?, also auf den Marionettenstaat Hitlers, den Staat der faschistischen Ustascha- Bewegung aus dem Jahr 1941. Meine Tante Ljubica aus Vrginmost hatte ihre ganze Familie im Zweiten Weltkrieg durch die Ustascha verloren. Wenn sie nun von ihrem Staatspräsidenten hörte, dass dieser Unabhängige Staat Kroatien Ausdruck der natürlichen historischen Bestrebungen des kroatischen Volkes gewesen sei, dann musste sie wirklich eine panische Angst verspüren. Auf diese panische Angst reagierten die Manipulatoren aus Belgrad perfekt, indem sie verkündeten, die Ustascha würden kommen. Und als Tudjman am Ende auftauchte, zerstreute er durch seine Rhetorik beim primitiven, armen Volk aus der Krajina alle Zweifel daran, dass die Ustascha wirklich gekommen waren. Es gibt die ersten Ausschreitungen. 2. Sprecher Boris De?ulovi? ? Dreißig Jahre ? Gedichte aus Lora: 1. Sprecher Ja Ich war Pate bei seinen Kindern ja ich habe ihm das Haus angesteckt und ja ich habe ihn umgebracht Dreißig Jahre waren wir die besten Freunde und dreißig Jahre hat er vor mir den Gestank verheimlicht Dreißig Jahre hatte ich keine Ahnung dass er Serbe ist. (Boris De?ulovi?: Gedichte aus Lora, aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof, Drava Verlag, Klagenfurt 2008) 1. Sprecherin Gegen Serben in Kroatien breitet sich seit 1990 eine Volkswut aus, die der Staat bei Gelegenheit zügelt, meist aber anstachelt. Die Serben sind jedoch nicht die einzigen, die nicht in Tudjmans Traumstaat passen. Argwöhnisch beobachtet dieser Staat auch alle Kroaten, die nicht zum neuen nationalkatholischen Großkroatentum konvertieren wollen, weil sie nicht vergessen haben, dass die Mehrheit der Kroaten ? Tudjmans neue Anhänger eingeschlossen ? noch kurz zuvor kaum etwas am Tito-Staat auszusetzen hatte, oder auch nur, weil sie das Wort Jugoslawien nicht aus ihrem Wortschatz streichen und so tun wollen, als würde die Geschichte ihres Landes mit Tudjman beginnen. 2. Sprecher Slavenka Drakuli? ? Meine Mutter sitzt in der Küche und raucht nervös ? Sterben in Kroatien: 2. Sprecherin Was glaubst du, werden sie seinen Grabstein zerstören? Meine Mutter sitzt in der Küche und raucht nervös. Sie stand mir noch nie sehr nahe, jetzt dringe ich schon kaum zu ihr durch, außer zu ihrer ganz greifbaren Angst. Sie plagt der fünfzackige Stern, der kommunistische, der in Vaters Grabstein gemeißelt ist. Das Grab liegt an einer abgeschiedenen Stelle, ganz an der Nordmauer, und der Stern ist klein, kaum sichtbar. Aber es ist das einzige Grab mit einem Stern, und alle Dorfbewohner wissen das. Dieser Gedanke verfolgt sie. Ich sage ihr, daß ich nicht weiß, ob sie den Grabstein zerstören werden; es ist möglich, daß es passiert, alles ist möglich. Und das nicht, weil mein Vater Offizier war, sondern wegen des Sterns, der das ehemalige System symbolisiert. Ich stelle mir also das Gesicht desjenigen vor, der diese Platte zerstören oder beschädigen könnte ? das Gesicht eines Sternehassers. Könnte dies der Kaufmann, der junge Metzger, der Tankwart sein? (Slavenka Drakuli?: Sterben in Kroatien, aus dem Englischen und Kroatischen von Ulrike Bischoff und Katharina Wolf-Grießhaber, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992) 1. Sprecherin Die Journalistin Slavenka Drakuli? war bereits im sozialistischen Jugoslawien eine bekannte kritische Stimme. Nach der Wende zur Demokratie unter Tudjman, auch im Angriffskrieg Belgrads gegen Kroatien 1991/92, ordnet sie sich keinem nationalen Standpunkt unter. Ihre Texte erscheinen daher immer seltener in Kroatien und immer häufiger im Ausland. Drakuli? ist nicht die einzige, der es so ergeht. Ähnliche Erfahrungen sammelt Dubravka Ugre?i?. Ugre?i?, 1949 in Kutina geboren, war bis zur Ära Tudjman vor allem als Erzählerin bekannt und darüber hinaus als Wissenschaftlerin an der Universität Zagreb mit der russischen Avantgarde befasst. 2. Sprecher Dubravka Ugre?i? ? Saubere kroatische Luft ? Die Hamburger Wochenzeitung ?Die Zeit? vom 23. Oktober 1992: 2. Sprecherin Vor zwei Jahren, als das Volk Kroatiens euphorisch über seine Unabhängigkeit abstimmte, tauchten in den Zagreber Souvenirbuden ungewöhnliche Blechdosen auf. Sie glichen denen von Coca-Cola, trugen das rotweiße kroatische Wappen und die Aufschrift Saubere kroatische Luft. Der Geist aus der Blechdose hat sich in die Institutionen eingeschlichen, besonders in das Ministerium für Kultur, wo sich die Mitarbeiter mit der Ministerin an der Spitze als eifrigste Saubermänner hervortun. Sie haben die Lehrprogramme der Schulen von allem ?Unbotmäßigem? befreit, und wegen der ?sauberen kroatischen Luft? hat die Ministerin öffentlich angeordnet, daß Lehrer der kroatischen Sprache an den Schulen reine Kroaten zu sein haben. Meister Proper aus Kroatien ist wie eine frische Brise auch in die Bibliotheken eingezogen, wo fleißige patriotische Saubermänner still und heimlich die Bücher serbischer Autoren in die Keller verfrachten, die Regale von der feindlichen kyrillischen Schrift und von den Werken kroatischer Autoren mit antifaschistischer Thematik befreien. Viele selbsternannte Blutgruppenpolizisten kontrollieren eifrig die Blutbilder der kroatischen Bürger auf der Suche nach jenen ?Unreinen?. Das öffentliche Bekenntnis zur Nationalität ist zur neuen Vorschrift im kroatischen guten Ton geworden. Den Anfang setzte der Präsident persönlich, indem er kundtat, wie glücklich er sei, eine reinblütige Kroatin zur Frau zu haben. (Dubravka Ugre?i?: Saubere kroatische Luft, aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Die Zeit Nr. 44, 23.10.1992) 1. Sprecherin Mit diesem in Deutschland veröffentlichten Essay bringt Dubravka Ugre?i? das Fass zum Überlaufen ? in Kroatien, wo der Text gar nicht erscheint. Die Zagreber Wochenzeitung ?Globus? antwortet am 11. Dezember 1992 mit einer Enthüllungsgeschichte über sie und vier weitere schreibende Frauen, die von nun an die ?fünf Hexen? heißen werden. Neben Dubravka Ugre?i? handelt es sich um Slavenka Drakuli?, ferner um die Journalistinnen Vesna Kesi? und Jelena Lovri? sowie um die Philosophin Rada Ivekovi?. 2. Sprecher Kroatische Feministinnen vergewaltigen Kroatien! 1. Sprecherin ...titelt das Zagreber Wochenblatt ?Globus? am 11. Dezember 1992. ?Globus? wirft den fünf Autorinnen vor, das eigene Land anzuschwärzen, statt die Welt über serbische Gewalttaten gegen kroatische und bosnische Frauen aufzuklären. Weiter heißt es in dem Pamphlet: 2. Sprecher Da die Mehrheit dieser (fünf) Damen ernsthafte Probleme hatte, einen männlichen Partner sowie einen echten Bereich des intellektuellen Interesses zu finden, wählten sie sich den Feminismus zum Schicksal, zur Ideologie und zum Beruf. Fast ausnahmslos waren sie Mädchen des Kommunismus, Mädchen aus den Familien von Spionen, Polizisten, Gefängniswärtern, Diplomaten, hohen Staats- und Parteibeamten. (Hrvatske feministice siluju Hrvatsku!, aus dem Kroatischen von Ksenija Cvetkovi?, Globus, 11.12.1992) 1. Sprecherin Alles, was ?Globus? wesentlich schien, publizierte man in Form einer großen Tabelle: Nationalität, Schulbildung, Parteimitgliedschaft, Immobilienbesitz, Wohnungsgröße, Auslandsaufenthalte während des Krieges, Nationalität und berufliche Stellung des Ehepartners ? soweit vorhanden, Zahl der Kinder und deren Geschlecht. O-Ton (9) Nenad Popovi? Es war kein Staatsauftrag oder was auch immer, politischer Auftrag, es war ein kannibalistischer Akt unter Kollegen, den man nur mit der Lektüre von Elias Canetti ?Masse und Macht? oder Brownings ?Ordinary Man? erklären kann. 1. Sprecherin Nenad Popovi?, der einzige kroatische Verleger, der es nach der ?Hexenjagd? in den neunziger Jahren noch wagte, Bücher der angegriffenen Autorinnen zu veröffentlichen. O-Ton (10) Nenad Popovi? Ich glaube, dass die Kollegen, die das gemacht haben, sich heute dessen schämen, aber sich wahrscheinlich dessen nicht bewusst waren, was sie anrichten. Es war eine, denke ich, von ihnen boulevardesk angegangene Sache, mit so spitzen Übertiteln wie ?Die fünf Hexen? oder ich weiß nicht wie, aber dann ist das mitten in eine Situation quasi des Pogroms hineingeraten. Es war etwas zwischen gutem Geschäft und der Massenpsychologie des Faschismus. 1. Sprecherin Die Kampagne gegen die sogenannten Hexen und ihren angeblichen Verrat löst eine Lawine aus. Fast alle kroatischen Medien greifen den Fall zumeist kritiklos und sensationslüstern auf ? monatelang. Das Leben der Betroffenen wird unerträglich. 2. Sprecher Dubravka Ugre?i? ? Der Volksfeind ? Die Kultur der Lüge: 2. Sprecherin ?Was haben Sie denn Schlimmes gesagt?? fragt mein Klempner Jura. ?Die Wahrheit?, sage ich. ?Wir brauchen nicht die Wahrheit, sondern unsere Ruhe?, kommentiert Jura. Ist die Situation in Kroatien düster? Für Optimismus gibt es zwei gute Gründe, einen ?philosophischen? und einen statistischen. Wir leben in einer postmodernen Zeit, alles wird nur simuliert, also wohl auch die Diktatur. In Kroatien mit seinen viereinhalb Millionen Einwohnern gibt es offiziell etwa ein Dutzend Volksfeinde. ?Die Ernennung von Volksfeinden ist eine ausgezeichnete Therapie für die dünnen Nerven des armen Volkes?, sagt heiter mein Klempner Jura und fuchtelt mit der Rohrzange. Schließlich gehöre ich selbst zu jenem Dutzend. Ich habe im falschen Moment etwas gesagt, das war es. Jetzt reibt sich die Presse täglich an meinem Namen. Sie haben wenigstens kein langweiliges Leben, sagt Jura. Und er hat völlig recht. Jeden Tag schrecken mich anonyme Anrufe auf. Raus aus Kroatien! empfehlen mir namenlose Bürger. Einer hat mir neulich in der Straßenbahn fast ein Auge ausgeschlagen? (Dubravka Ugre?i?: Die Kultur der Lüge, aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995) 1. Sprecherin 1993 gehen Dubravka Ugre?i? und andere ins Exil oder verlassen das Land vorübergehend. Im selben Jahr kommt Miljenko Jergovi?, Journalist und Schriftsteller, nach Zagreb. Der bosnische Kroate ist aus dem von Serben belagerten Sarajevo geflohen. O-Ton (11) Miljenko Jergovi? 1. Sprecher Die Öffentlichkeit erwartete von mir, dass ich ein guter Kroate bin. Ein guter Kroate, das ist eigentlich ein Kroate, der die Serben hasst, die Muslime, die Homosexuellen, die Schwarzen (auch wenn es sie gar nicht gibt), und der der Ansicht ist, dass die Juden der Menschheit viel Böses angetan haben, angefangen von der Kreuzigung unseres Herrn Jesus Christus. Ich war also kein guter Kroate, und insofern enttäuschte ich. 1. Sprecherin Vor allem Jergovi?s politischer Journalismus, der sich kritisch mit dem Tudjman-System und dessen Rehabilitierung der faschistischen Ustascha- Traditionen auseinandersetzt, ist vielen Kroaten ein Dorn im Auge. Beschimpfungen mit dem Hinweis, er solle dorthin zurückkehren, wo er hergekommen sei oder gleich nach Belgrad gehen, gehören zu Jergovi?s Alltag auf Zagreber Straßen. Andererseits avanciert Jergovi? im Zagreb der neunziger Jahre zum Star der literarischen Szene. O-Ton (12) Miljenko Jergovi? 1. Sprecher Die meisten Leser meiner Bücher in ihren Originalausgaben leben in Kroatien. Ich kann sagen, dass ich seit meiner Ankunft in Zagreb bis heute von diesem ziemlich zahlreichen Publikum geliebt, verehrt und respektiert werde. Mein Status ist also die ganze Zeit über sehr paradox. Ich werde unglaublich verehrt und unglaublich gehasst. 1. Sprecherin Nach Tudjmans Tod 1999 deutete vieles auf eine Überwindung seines autoritär-nationalistischen Regimes hin. Für eine Liberalisierung, die Wiederentdeckung des kroatischen Antifaschismus und die Hinwendung zu Europa sorgte nicht zuletzt die Führung seiner eigenen Partei, der HDZ. Dennoch erlebt Jergovi? auch in jüngster Zeit immer wieder Angriffe. 2006 löst ein literarischer Text Empörung aus, der Roman ?Ruta Tannenbaum?. Das Buch beleuchtet am Schicksal seiner Titelfigur, die einem wirklichen Wunderkind des Zagreber Theaters in den dreißiger Jahren nachempfunden ist, den Holocaust in Kroatien. O-Ton (13) Miljenko Jergovi? 1. Sprecher Man erhob den sinnlosen Einwand, ich würde Zagreb nicht kennen. Den Einwand zu erheben, dass jemand die Stadt nicht kennt, in der er seit nunmehr zwölf Jahren lebt und mit der er sich intellektuell und emotional intensiv befasst, ist bizarr. Ich kam aus Sarajevo und lebte vormals in einem Staat, zu dem auch Zagreb gehörte. Das wäre in etwa so, wie wenn jemand aus Frankfurt am Main einem Schriftsteller vorwerfen würde, dass er ein Buch über Frankfurt schreibt, da er doch aus Stuttgart stammt. Das ist vollkommen verrückt. Man störte sich in Wirklichkeit daran, wie ich Zagreb dargestellt habe. Achtzig Prozent der ermordeten Zagreber Juden wurden von kroatischer Hand in Jasenovac und anderen kroatischen Konzentrationslagern getötet. Und für diese Leute ist es unerträglich, dass jemand schreibt, dass das geschah. Sie hätten es gern, wenn man darüber schreiben würde, wie die Kroaten die Juden retteten. Ja, es gab solche Kroaten und solche Zagreber, aber vor wem wurden die Juden gerettet? Vor einem Angriff der Außerirdischen? Darüber zu sprechen hat man keine Lust. 1. Sprecherin Die Vergangenheit ist in Kroatien ein heikles Thema bis heute, gleichgültig, ob es sich um den Zweiten Weltkrieg handelt oder um die Kriege der neunziger Jahre. Für diese Kriege hatten die politischen Akteure der Tudjman-Ära parteiübergreifend die Opfer- und Heldenrolle Kroatiens festgeschrieben. Jedem Hinweis auf kroatische Kriegsverbrechen begegneten sie mit gründlich organisierter Empörung. 2. Sprecher Boris De?ulovi? ? Die Hymne ? Gedichte aus Lora: 1. Sprecher Dann haben wir ihn nackt ausgezogen und mit Petroleum übergossen und er hat sich richtig angeschissen ich meine wortwörtlich Dann haben wir ihm einen Löffel gegeben damit er seine Scheiße isst aber er hat alles ausgekotzt (?) Dann haben wir ihm die Drähte des Feldtelefons mit Klammern an den Schwanz geklemmt und an die Eier ruf Belgrad an haben wir zu ihm gesagt Vorwahl eins eins (?) (Boris De?ulovi?: Gedichte aus Lora, aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof, Drava Verlag, Klagenfurt 2008) 1. Sprecherin 2005 legte der Schriftsteller Boris De?ulovi?, Mitbegründer des Oppositionsblatts ?Feral Tribune?, seine ?Gedichte aus Lora? vor. Lora war zu sozialistischen Zeiten eine Basis der jugoslawischen Flotte in Split und wurde 1992 vom kroatischen Militär übernommen. Auf dem Gelände entstand ein Lager für serbische Kriegsgefangene und Zivilisten. Als Journalist hatte De?ulovi? die kroatischen Verbrechen in Lora bereits 1992 enthüllt. Später entschloss er sich, aus der Mentalität der Täter Gedichte zu formen. O-Ton (14) Boris De?ulovi?, 1. Sprecher Der Auslöser war eine sehr interessante Geschichte von 1992. Es war damals Krieg, wir waren Kriegsreporter, Satiriker, Journalisten, eine völlig verrückte Phase unserer beruflichen Laufbahn. Wir hatten unser kleines Asyl in Split in Gestalt einer Taverne, so etwas wie Ricks Bar aus ?Casablanca?, fünfzig Quadratmeter Freiheit zwischen zwei Aufträgen, zwischen zwei Kriegsschrecken. Dort trafen wir uns. Unglücklicherweise war der Besitzer, Miro, ein Serbe, weshalb die Taverne dreimal fast in die Luft flog. Man hatte Granaten vor die Tür geworfen. Da engagierte Miro einen kroatischen Polizisten, einen Militärpolizisten, wir nannten ihn Byson. Seine Aufgabe bestand darin, in Tarnuniform mit der Pistole am Gürtel an der Theke zu sitzen, ein bisschen zu trinken und diesen Raum durch seine Autorität zu schützen. Mit der Zeit kam man sich näher, ab und zu ein Drink zusammen, ein bisschen Geplauder. Es war so ein stiller Typ, er war okay. Das dauerte ziemlich lange. Dann schloss Miro sein Lokal. Der Krieg war zu Ende. Unsere Wege trennten sich. 1. Sprecherin Erst viele Jahre später begann die kroatische Justiz, wegen der Kriegsverbrechen in Lora zu ermitteln. Die Angeklagten erschienen mit Photo in der Presse. Unter ihnen war Byson, der, wie sich herausstellte, nach Schichtschluss in der Taverne nach Lora gegangen war, um dort zu foltern. O-Ton (15) Boris De?ulovi?, 1. Sprecher Diese Entdeckung, dass man da praktisch mit einem Kriegsverbrecher herumsaß und trank, war für mich ein Auslöser, darüber Gedichte zu schreiben. Mich interessierte ? wie Hannah Arendt ? die Mentalität all dieser Bysons, die bis Mai 1990 Lastwagenfahrer waren, Alkoholiker, gute Ehemänner, Universitätsprofessoren oder Reifenmonteure, die dann eine Uniform anzogen und zu allen Kriegsgräueln fähig waren. 1. Sprecherin Einige Täter aus Lora wurden inzwischen ? nach einem ersten Freispruch ? von kroatischen Gerichten hinter Gitter gebracht. Mit Ivo Josipovi? hat das Land im Februar 2010 einen sozialdemokratischen Präsidenten gewählt, der sich offen auf die Traditionen von Titos Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg beruft. Im April hat Josipovi? in Ahmi?i, einem bosnischen Dorf, in dem kroatische Militärs 1993 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübten, als erster führender Politiker seines Landes bedauert, dass sich Kroatien unter Tudjman an der Teilung Bosniens aktiv beteiligt hat. Allerdings erhielt Josipovi? eine scharfe Rüge von der eigenen Regierung, die in letzter Zeit wieder von Hardlinern der Tudjman-Partei HDZ beherrscht wird. Dubravka Ugre?i?, die in Amsterdam lebt, empfindet die Lage in Kroatien weiterhin als hoffnungslos. Auch aus diesem Grund will sie sich ? nach einer ursprünglichen Zusage ? nicht direkt in dieser Sendung äußern: 2. Sprecher Dubravka Ugre?i? ? E-Mail vom 8. April 2010: 2. Sprecherin Es ist eine Illusion, dass es in Kroatien unabhängige Intellektuelle gibt. Denn es gibt keine unabhängigen Medien noch unabhängige Institutionen noch eine unabhängige Universität noch unabhängige Lehrer in den Schulen noch ein unabhängiges Kulturministerium, noch sind die Journalisten unabhängig. Die Situation ist jetzt schlimmer als zu den Zeiten Tudjmans, denn damals, zumindest am Anfang, gab es einen gewissen Widerstand um ?Feral Tribune? und um einige NGOs. In der Zwischenzeit verwandelte sich alles in die Fähigkeit, sich selbst zu positionieren. Wenn ich das alles nicht sage, werde ich die Wahrheit verschweigen. Wenn ich es sage, wird man es so deuten, als würde ich indirekt gegen meine Kollegen sprechen oder meiner Position eine besondere Bedeutung zumessen ? oder ich würde einfach nur als boshaft gelten. Außerdem vermittelt ein Mosaik verschiedener Stimmen den Anschein einer demokratischen Kulturszene, die in Wirklichkeit kaum existiert. O-Ton (16) Nenad Popovi? Heute ist eine Zeit der großen Verbrüderung und des großen Vergessens. 1. Sprecherin ... lautet das Resümee von Nenad Popovi?, seit zwanzig Jahren Leiter des ?Durieux?-Verlags in Zagreb? O-Ton (17) Nenad Popovi? Die doofen Generäle und Obristen sind in Den Haag. Niemand will mit ihnen zu tun haben. Alle sind good guys. Das ist natürlich ein schreckliches Phänomen, das mich genauso entsetzt wie der damalige Nationalismus oder die damaligen Aggressivitäten, Verleugnungen von Verwandtschaften oder was auch immer. Wir haben es mit einer zynischen Welt zu tun. Ich glaube nicht, dass sie nur Kroatien oder Ex-Jugoslawien betrifft. Ich glaube, dass das überall so ist. O-Ton (18) Slavenka Drakuli?, 2. Sprecherin In den vergangenen zwanzig Jahren verändern sich die Dinge sehr langsam, aber sie verändern sich. 1. Sprecherin ?bilanziert Slavenka Drakuli? die jüngste Geschichte ihres Landes? O-Ton (19) Slavenka Drakuli?, 2. Sprecherin Mein Gefühl ist, dass Kroatien erst einen Schritt nach vorn und dann zwei Schritte zurück macht. Das ist gewissermaßen unser Rhythmus. Was kann man aber von einem Land erwarten, das einen Krieg durchgemacht hat? Es wird eine Politik nach außen betrieben und eine andere Politik nach innen. Ich meine, das ist nicht nur charakteristisch für die kroatische Politik, sondern auch für die die serbische, die bosnische ? für die ganze Politik dieser Region. Ein Gesicht zeigt man nach außen ein anderes nach innen. Aber zivilisatorisch sind wir doch ein wenig vorangekommen. * * * 20