COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR Glaube niemals Gedichten Vom Schreiben und Leben in Sarajevo Eine Sendung von Ursula Escherig Redaktion: Barbara Wahlster Sendung: 21.Juli 2009, 19.30 Uhr MUSIK 1: Bentbasa "Sevdalinka", Track 9 (8'01) Nach 1'50 darüber ZITATOR: Lieber George, Sarajevo, endlich. Die Stadt ist umgeben von Bergen, in denen es noch viele aktive Minenfelder gibt. Das hat der Fahrer mir gesagt, der am Flughafen auf mich gewartet hat. Von seiner ID habe ich den Namen abgelesen: Sahib. Von Beruf ist er Lehrer. Aber weil er gut englisch kann, lohnt es sich eher für ihn, als Fahrer zu arbeiten als zu unterrichten. Er sieht ziemlich gut aus. Er hat schöne Hände und Fingernägel. Sein Hemd ist sauber. Es ist nicht feucht unter den Achseln und er riecht ganz annehmlich. Keine Spur von dem Knoblauch, vor dem Wilby mich gewarnt hat. Eigentlich gibt es nichts, wodurch sich die lokale Bevölkerung äußerlich und, aus einiger Entfernung vom Auto aus betrachtet, von uns unterscheidet. Der einzige Unterschied, den ich bemerkt habe, ist: dass sie alle (und) überall rauchen. (aus Nenad Velickovic: "Sahib" CD "Ihr werdet noch von uns hören". Hrsg. Christiane Koschmieder/ Kruno Lokotar, Partner und Propaganda, Leipzig 2008. Aus dem Bosnischen von Margit Jugo) MUSIK 1: wieder hochziehen darüber ATMO 1 Café Alfonso (Stimmen, Klappern von Tassen) darüber ERZÄHLERIN: Sarajevo im Frühling: eine Stadt aus Freiluft- Caféhäusern, eine Stadt voller Passanten und Flaneure. Es stimmt, dass sie alle (und) überall rauchen. Bosanska Kava - in Bosnien trinkt man den Kaffee noch auf türkische Art und mit viel Zucker. Zuvor wird der Kaffee mit heißem Wasser aufgegossen in kleinen Kupfer- oder Messingkännchen, die sich nach oben hin verjüngen. So bleibt der dicke Kaffeesatz des Nationalgetränks im Kännchen zurück. Doch genauso beliebt sind auch die eigentlich viel zu teuren Cafés der einschlägigen, globalisierten Kaffeemarken aus Italien oder Österreich. Man freut sich offenbar an der Auswahl. ATMO 1 wieder hochziehen MUSIK 1: wieder hochziehen darüber O-TON 1 (Nenad Velickovic bosnisch) darüber SPRECHER : Mein Roman besteht aus insgesamt 74 E-Mails. Sie werden von einem Engländer geschrieben, der in Sarajevo bei einer Organisation der Internationalen Gemeinschaft arbeitet. Diese E-Mails schickt er seinem Liebhaber nach London, er ist homosexuell. Er ist für ein Jahr nach Sarajevo gekommen, um danach zu entscheiden, wie es mit dieser Beziehung weiter gehen soll. In den E-Mails beschreibt er, was er in Sarajevo macht und wie sich die einheimische Bevölkerung ihm gegenüber verhält. MUSIK 1 wieder hochziehen darüber weiter O-TON 1: (Nenad Velickovic) darüber weiter SPRECHER : Er selbst ist zunächst sehr arrogant gegenüber der Stadt und ihren Bewohnern, sehr arrogant, aber mit der Zeit verliebt er sich in seinen Fahrer, der in Sarajevo geboren ist. Er will ihn für sich gewinnen, verrät das aber nicht in den Briefen an seinen Liebhaber. Je mehr sich sein Aufenthalt dem Ende nähert, desto mehr ist er von seinen Gefühlen verwirrt. Zugleich spürt er, wie groß die Kluft zwischen ihm und der Kultur und Zivilisation in Sarajevo ist. Das Buch ist ironisch, satirisch und sarkastisch. Es lacht mit einer gewissen Schärfe über Bosnien, aber auch über den Westen. MUSIK 1 wieder hochziehen darüber ERZÄHLERIN: Nenad Velickovic, geboren 1962 in Sarajevo, Schriftsteller und Dozent für südslawische Literatur. Die Ironie und Selbstironie ist ein Markenzeichen seiner Texte - er schreibt aus einer stets distanzierten Haltung. Und wahrscheinlich kann man nur so umgehen mit den Erfahrungen von Belagerung und Krieg. Diese Freiheit zur Distanzierung war verloren gegangen. Sie musste erst wieder zurück erobert werden in den Jahren nach dem Kriegsende 1995. Und heute scheint endlich wieder alles möglich zu sein: die Wahl neuer Themen und neuer literarischer Mittel: MUSIK 1: hochziehen und ausblenden O-TON 2: (Emir Imamovic bosnisch) darüber SPRECHER : Ich finde, dass die Literaturszene nie vitaler war als jetzt. Und obwohl zwei Drittel der Texte schlecht sind, gibt es doch einige, die in 10-15 Jahren in Anthologien zu finden sein werden. Natürlich sind wir hier eingeschränkt, vom Buchmarkt her und von den politischen Zuständen. Aber ich halte die Literatur aus Bosnien und Herzegowina in dieser Region für die interessanteste, weil sie sich an sehr viele Themen heranwagt. In den letzten 15 Jahren gab es hier Romane, die brutal von unserer Realität erzählt haben; es gab Dichtung, es gab Science-Fiction-Romane. Und diese Vitalität, die man hier findet, die ist natürlich sehr an unsere Vergangenheit geknüpft. Da geht es eigentlich darum, dass der Autor nicht nur über seine Frustrationen spricht, sondern über die kollektiven Frustrationen. Und zwar nicht, um sie zu heilen, sondern um sie überhaupt erst einmal in der Literatur zu benennen. ERZÄHLERIN: Emir Imamovic, geboren 1973 in Tuzla, Journalist, Kriegsreporter, Schriftsteller. MUSIK 2: Bentbasa "Sevdalinka", Track 3 (Länge 5'12) darüber ZITATOR: "In unserer Stadt, in unserer Region, in unserem Staat, auf dem Balkan und natürlich in ganz Europa gibt es keine einzige Pyramide, die antike, uns ungenügend oder gar nicht bekannte Volksgruppen errichtet hätten", las Amer Trampo von seinem Zettel ab, hob den Kopf und schaute die auf der Pressekonferenz versammelten Journalisten an. Zuerst schaute er auf einen Kameramann, dessen unkontrollierte Bewegungen darauf hindeuteten, dass er entweder Ecstasy geschluckt hatte oder einer von denen war, die mit dem Missionarssyndrom beschrieben werden können, beseelt von dem Wunsch, endlich eine mediale Revolution anzuzetteln. MUSIK 2: wieder für 30 Sek. hochziehen darüber ZITATOR: Amer schluckte einen Fluch hinunter, kämmte sich den Scheitel, rückt den Hut zurecht und fuhr fort: "Um mich letztlich präzise auszudrücken: sie haben bis heute nicht existiert. Mit Stolz eröffne ich Ihnen hiermit, urbi et orbi, dass sich hier in Visoko, quasi direkt hinter meinem Rücken, eine steinerne Pyramide ungeahnten Ausmaßes befindet, deren Erbauer als unsere Ahnen bezeichnet werden können." (Emir Imamovic: "Das Geheimnis von Pyramid Valley. Auf der Suche nach Beweisen, dass Bosnien-Herzegowina einst von intelligenten Kreaturen bewohnt war", CD "Ihr werdet noch von uns hören", Hrsg. Christine Koschmieder/ Kruno Lokotar, Leipzig 2008. Aus dem Bosnischen von Dorette Wesemann) MUSIK 2: wieder hochziehen und ausblenden O-TON 3: (Emir Imamovic bosnisch) darüber SPRECHER : Im Jahr 2005 kehrt ein Hobby-Archäologe in seine Heimatstadt Visoko zurück und macht eine epochale Entdeckung: die größte Pyramide, die es jemals gegeben hat. Nach einigen Monaten kommt er auf den Gedanken, dass dort nicht nur eine Pyramide steht, sondern sogar sechs oder sieben monumentale Pyramiden, die wahrscheinlich älter sind als der Mensch selber. Wie dumm es auch klingen mag, die Euphorie wächst ins Unermessliche. Die Zahl der Anhänger dieser Pyramiden steigt in die Millionen. Auch der Staat investiert schließlich Steuergelder in das Projekt. Drei Jahre später ist die Euphorie vorbei, es ist eigentlich jedem klar, dass das einfach natürliche Berge sind und keine Pyramiden. Das Geld ist verbraucht. Und auch die Touristen, die nach Visoko statt nach Ägypten reisen sollten, sind ausgeblieben. Deswegen lautet der Untertitel meines zweiten Romans: "Auf der Suche nach Beweisen, dass Bosnien-Herzegowina einst von intelligenten Kreaturen bewohnt war". Mein Buch "Das Geheimnis von Pyramid Valley" ist eine Mischung aus Fiktion und Realität. Es handelt von zwei Cousins, die sich getrennt haben und dann wiedertreffen, um Geld aus den Pyramiden zu schlagen. MUSIK 3: Bentbasa "Sevdalinka", Track 6 (Länge 5'19) darüber O-TON 4 (Mile Stojic liest auf deutsch sein Gedicht "Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit") Käme ich noch einmal auf die Welt und könnte wählen, wählte ich weder diese Sprache noch diesen Beruf weder dieses Glaubenszeichen noch diesen Glauben ohne Hoffnung. Ich würde nicht zulassen daß mich Mörder Gerechtigkeit lehren Ich würde weder diese Zeit wählen noch dieses Land, in dem es keinen Trost gibt. Noch diese Brüder, die mich verkauft haben. Noch dieses Volk das seine Söhne dem goldenen Kalb darbringt. Abwerfen würde ich meinen Namen. Einzig dich würde ich wieder erwählen, die ich dich an jedem Tag tausendmal berühre mit Blicken voll Hingabe und Licht (Mile Stojic: "Das ungarische Meer", Kitab Verlag, Klagenfurt 2006. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof) MUSIK 3: wieder hochziehen und ausblenden ERZÄHLERIN: Mile Stojic, geboren 1955 in Dragicina in der Herzegowina, Lyriker, Prosaautor und Kolumnist für verschiedene Zeitungen. 1992, als die Belagerung Sarajevos begann, ging er ins Wiener Exil und kehrte erst 10 Jahre später wieder in die Stadt zurück. ZITATOR: Wir haben eigentlich nicht einmal mitgekriegt, auf welch hinterlistige Weise uns der Westen wieder ins Leben hineingezogen hat, indem er seine bunten Glasperlen über die Krater unserer Häuser streute. So zum Beispiel haben die Amerikaner beschlossen, die Vertreter unserer traditionellen Kulinarik arbeitslos zu machen und an ihrer Stelle ihren obersten Cevapcici-Berater McDonalds zu installieren. Die saftigen Cevapcici und geschmackvollen Pljeskavice werden in Kürze von faden Hamburgern und Cheesburgern abgelöst; und die appetitliche Pita von banalen Pizzas; wieder einmal wird die Form den Inhalt ersetzen, aber das ist vermutlich der Eintrittspreis in die Glücksgesellschaft. Die pannationale Katastrophe hat es mit sich gebracht, daß wir nicht einmal bemerkt haben, wie wir immer mehr unser Gesicht verlieren und zu traurigen Mannequins einer Welt werden, die uns nicht will und der wir nicht angehören. (Mile Stojic: "FensterWorte. Ein bosnisches Alphabet", Drava Verlag, Klagenfurt, 2000. Aus dem Kroatischen/ Bosnischen von Klaus Detlef Olof) ATMO 2: Altstadt Sarajevo (hämmernder Blechschmied, Musik, Stimmen) darüber ERZÄHLERIN: In der Altstadt von Sarajevo gibt es keine McDonalds- Filialen. Dafür aber rund ein Dutzend Cevapcici-Lokale. Schon vormittags steigt einem der Duft der Grillfeuer in die Nase. 12 Cevapcici kosten umgerechnet 2,50 Euro. Doch die bosnische Küche hat noch viel mehr zu bieten: in Brühe zubereitete Schmorgerichte aus Gemüse oder Fleisch, gefüllte Tomaten und Paprika, auch griechisches Moussaka - eine reizvolle Mischung aus Esstraditionen der verschiedenen Kulturen. Bascarsija heißt das alte, orientalisch geprägte Handels- und Handwerkszentrum der Stadt, schon im Mittelalter ein zentraler Handelsplatz. In den schmalen Gassen siedelten sich im 16.Jahrhundert, in der Blütezeit des Osmanischen Reiches, die unterschiedlichsten Handwerksbetriebe an: So gibt es auch heute noch die Gasse der Goldschmiede, die Gasse der Schumacher oder die Gasse der Kupferschmiede. Allerdings gibt es keine Handwerker mehr, bis auf den fleißig hämmernden Blechschmied - natürlich eine Touristenattraktion. ATMO 2 wieder hochziehen und ausblenden MUSIK 4: Bentbasa "Sevdalinka", Track 4 (7'30) darüber ZITATOR: Irgendwann im frühen Herbst, zu einer Zeit, in der das Laub von Nebel feucht und schläfrig wird, fiel unsere Truppe eines Kriegsjahres gleich im Anschluss an die Spezialeinheit in ein kleines Dorf in der autonomen Provinz Westbosnien ein, wo ich in einem Holzstall die nebeneinander liegenden Leichen eines Großvaters und seines Enkels vorfand. Beide hatten Einschusslöcher in der Stirn. Jemand sagte, der Großvater habe mit einem Maschinengewehr geschossen und sein Enkel habe ihm assistiert. Niemand hatte Mitleid mit ihnen. MUSIK 4: wieder hochziehen für 30 Sekunden darüber weiter ZITATOR: Ich durchsuchte sie, um festzustellen, ob sie Waffen bei sich hatten und fand in der blutverschmierten Weste des alten Mannes eine Taschenuhr mit dem Relief eines fliegenden Auerhahns auf dem Deckel. Der Großvater trug lederne, gelöcherte Autofahrerhandschuhe. Jemand nahm sie ihm ab und zog sich die Kriegsbeute gleich über. Ich nahm die Uhr mit der Kette und öffnete sie. Unter der Schraube, von der die Zeiger gehalten wurden, stand UdSSR. Sie hatte kein Glas mehr und ihr Ziffernblatt war teilweise mit frischem Blut verschmiert. Vorsichtig säuberte ich sie am Brunnen vor dem Haus des Toten mit einem Tuch. Der dünne Sekundenzeiger tickte unermüdlich und maß die ersten Minuten des Todes des alten Mannes. Wir schlugen unser Lager in seinem Haus auf. (Faruk Sehic: "Tempus fugit", CD "Ihr werdet noch von uns hören", Hrsg. Christine Koschmieder/ Kruno Lokotar, Partner und Propaganda, Leipzig 2008. Aus dem Bosnischen von Margit Jugo) MUSIK 4 wieder hochziehen und ausblenden O-TON 5: (Faruk Sehic bosnisch) darüber SPRECHER : Als ich die Geschichte "Tempus fugit" geschrieben habe, dachte ich noch, dass das Thema Krieg für mich abgeschlossen sei. Deswegen ist sie auch im Perfekt geschrieben. Die Geschichte basiert auf realen Ereignissen, sie ist autobiographisch, und alles, was dort erzählt wird, ist wirklich passiert. Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass der Krieg kein Dämon ist, der aus mir heraus vertrieben werden soll. Sondern der Krieg ist ein Teil von mir, eine Erfahrung, mit der ich sozusagen zusammen gewachsen bin. Ich habe mich aber auch mit dem Kriegstrauma in mir beschäftigt und gelernt, es zu bewältigen, bewusst und auch intuitiv. Mit meinem Buch "Unter Druck" können sich sowohl Leute, die im Krieg waren, und die nicht im Krieg waren, identifizieren und dadurch auch eine Katharsis erleben. ERZÄHLERIN: Faruk Sehic, Schriftsteller, Journalist und Soldat von 1992 bis 1995 in der bosnischen Armee - die langen Kriegsjahre haben eine ganze Generation junger Menschen geprägt. Auch der Autor Nenad Velickovic diente während der Belagerung von Sarajevo von 1992 bis 1996 in der bosnischen Armee. In seinem Roman "Logiergäste", der 2002 auch in Deutschland erschienen ist, erzählt er auf lakonische Weise von den Absurditäten des Alltagslebens in der eingeschlossenen Stadt, auf die täglich "Granatenkonfetti" regnet. Velickovic erzählt die Geschichten mit viel Humor und Witz aus der Perspektive der 16jährigen Maja: ZITATOR: Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt. Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, daß sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, daß Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar. Nein! Ich glaube, ich bin nicht imstande, einem ausländischen Durchschnittsleser zu erklären, warum hier Krieg geführt wird. (Nenad Velickovic: "Logiergäste", Volk und Welt, Berlin 1995. Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak) O-TON 6: (Nenad Velickovic bosnisch) darüber SPRECHER : Als Autor bin ich mit der Wahl meiner Erzählerin zufrieden. Ein Mädchen von 16 Jahren kann als Person für die Literatur sehr spannend sein, sie kann als Erzählerin über viele literarische Mittel verfügen. Aber sie muss sich nicht für Politik interessieren. Und so hat sie die Möglichkeit, sich sehr kindlich und sehr naiv über die politischen Gegebenheiten zu äußern. Dadurch habe ich Distanz zu den Ereignissen bekommen. Diese Distanz war notwendig für mich, um Ironie zu erzeugen. Da Maja sich inmitten dieser Geschehnisse befindet, hatte ich einen sicheren Zeugen. Und ich glaube, dass die Qualität dieses Romans gerade in dieser zweifachen Perspektive liegt. ZITATOR: Glaube niemals Gedichten, sondern den Seewölfen Die Muscheln haben ihre Perlen verloren, nicht das Brausen der Kornaten: jetzt kündet ihr Rauschen unhörbaren Sinn eines fernen Klanges am Ohr des Kindes, am Hals der Frau, an goldenem Kettchen Indessen: die Schiffbrüchigen. Wo sind sie gestrandet? Vergeblich ihre fiebrigen Blicke, die den Hafen suchen Wie ist es möglich, dass die Städte, die in der Ferne leuchte- ten im Nu zunichte, das heißt in Nichts verwandelt wurden In muffigen Bars trinkt man die Trauer auf ex mit verblühten Frauen, einst geträumten Engeln Ebbe herrscht im Gebein, wenn der Südwind bläst Der kalte Wind gemahnt an steigende Flut Nur Erinnerungsrauschen, Narben. Aus Gewohnheit gedenkt man noch der Flotten und Masten, die durch trunkene Abenddämmerungen segeln Untergegangen deine Kommandobrücke, zerstampft dein Staat Niedergemacht Dein Heer, unglücklicher Kapitän. (Mile Stojic : "Das ungarische Meer". Kitab Verlag, Klagenfurt/Wien 2006. Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof) ERZÄHLERIN: "Das ungarische Meer" von Mile Stojic. In seiner Erzählung "Ein Licht in der Sonnenfinsternis" erinnert der Schriftsteller an die Vertreibung der Muslime aus der Herzegowina. Sie tut ihm deshalb so weh, weil damit auch ein Stück der eigenen Kindheit und Jugend verlorengeht: ZITATOR: Ich wurde im Sommer 1993 für immer aus der Heimat vertrieben, zusammen mit den Muslimen, mit jenen schönen Männern und Frauen, mit denen mein Vater und meine Mutter befreundet waren. Als ich unlängst im Auftrag meiner Redaktion dorthin fuhr, fühlte ich mich ein wenig wie ein Dieb, wie ein Eindringling, den selbst alte Freunde aus der Kindheit mieden. Mein Heimatkonto stand auf Null. Vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass zwei alte Herzegowinische Weiblein, meine Tante Iva und ihre Freundin Rusa S., in den Autobus gestiegen waren und sich aufgemacht hatten, ihre Busenfreundinnen Senga und Fatima aufzusuchen, die heute in einer Flüchtlingsunterkunft leben. Da standen nun diese beiden welken Frauen, zitternd auf dem Busbahnhof der Großstadt, bis sie endlich von vertrauten Gesichtern entdeckt wurden. Nach so vielen Jahren hatten sie sich wieder gefunden und war die Welt wieder dieselbe geworden, wenigstens für einen Augenblick. Diese beiden guten Frauen konnten nicht begreifen, wie die Welt ohne Erinnerungen existieren kann. Wieder ist die Rede vom Weltuntergang. Aber ich kümmere mich nicht groß um diese Geschichten. Das letzte Jahrzehnt hat deutlich gemacht, dass die größte Finsternis gerade aus unseren Gottestempeln kommt. Was mich betrifft, habe ich eine Lehre gezogen: Das Paradies liegt in der menschlichen Seele und die Hölle ist überall um uns. (Mile Stojic: "Ein Licht in der Sonnenfinsternis" CD "Ihr werdet noch von uns hören". Hrsg. Christine Koschmieder/ Kruno Lokotar, Partner und Propaganda, Leipzig 2008. Aus dem Kroatischen/ Bosnischen von Klaus Detlef Olof) ATMO 3 (Glockenläuten serbisch-orthodoxe Kirche darüber ATMO 4 (Glockenläuten römisch-katholische Kathedrale) darüber ERZÄHLERIN: Um 12 Uhr mittags vermischt sich in Sarajevo das Glockenläuten besonders deutlich: das der serbisch- orthodoxen Kirche und das der römisch-katholischen Kathedrale, die nur wenige hundert Meter voneinander entfernt liegen. ATMO 3 und 4 wieder aufnehmen darüber ATMO 5 (Ruf des Muezzin) ERZÄHLERIN: Und fünf Mal am Tag ist überall in Sarajevo der Ruf des Muezzin zu hören. Zum ersten Mal ruft er in der Morgendämmerung zum Gebet, zum letzten Mal rund zwei Stunden nach Sonnenuntergang. ATMO 5 wieder aufnehmen, stehen lassen und ausblenden ERZÄHLERIN: Doch der Krieg hat den Traum vom friedlichen Zusammenleben der Religionen und Kulturen für immer zerstört, zurück geblieben ist nur noch eine Art Fassade. Das tolerante Miteinander im Vorkriegs-Sarajevo ist sprichwörtlich, dem Exil-Autor Dzevad Karahasan galt es einst als "Metapher der Welt". Auch Mile Stojic, der aus dem Wiener Exil in seine Heimat zurück gekehrte Schriftsteller, trauert um dieses verloren gegangene tolerante Miteinander: O-TON 7: Mile Stojic (bosnisch) Kirchliches, Religiöses ist in unserem Fall sehr düster und ohne Licht. Weil, in Bosnien leben Muslime, Christen, Orthodoxe und Katholiken, aber alle Kirchen haben eine schlechte Rolle in unserem Leben gespielt. Ich erwähne immer einen Satz vom großen österreichischen Schriftsteller Karl Kraus. Der hat gesagt: "Alles, was uns trennt, ist die gemeinsame Sprache." Also er meinte das in Bezug auf Österreich und Deutschland. Aber ich glaube, das gilt auch für uns. Früher waren wir Serbokroaten, heute sind wir Muslime, Bosniaken und so weiter. Aber wir sprechen doch eine Sprache, wir teilen ein Land und wir teilen, glaube ich, auch eine Kultur. MUSIK 5: Bentbasa Sevdalinka, Track 2 (4'50) darüber ERZÄHLERIN: "Sevdalinka" heißt diese alte lyrische Liedform, die im 16. Jahrhundert, während der zeit des Osmanischen Reiches in Bosnien, entstanden ist - ein wenig vergleichbar mit dem portugiesischen Fado oder dem griechischen Rembetiko. In der Sevdalinka spricht der Dichter meist von der Liebe und tiefen Gefühlen, aber nicht nur zwischen Mann und Frau. Oft geht es auch um die große Liebe zur Heimat oder zur Heimatstadt, um die Liebe zu den Bergen und der schönen Landschaft Bosniens. Die Sevdalinka führt heute allerdings ein Schattendasein, die Jugend bevorzugt den sogenannten "Turbo-Folk". MUSIK 5: wieder hochziehen und ausblenden ATMO 6: (Straßenmusiker, Akkordeonspiel, 3') ERZÄHLERIN: Der Straßenmusiker steht in der Fußgängerzone, an einer Ecke, wo sehr viele Leute vorbeikommen. Das Geschäft läuft trotzdem nicht so gut. Wer gibt schon gerne, wenn er selber wenig hat. In der Fußgängerzone zeigen sich die sozialen Gegensätze dieser Gesellschaft am deutlichsten: die Geschäfte westlicher Edel-Marken und bettelnde Kinder, die Gesichter abgearbeiteter Menschen und die Ausgelassenheit der neuen Wohlhabenden. ATMO 6: wieder hochziehen darüber ERZÄHLERIN: In dieser Gesellschaft muss sich die Literatur erst wieder ihren Stellenwert erkämpfen. Es ist schon viel, wenn ein anspruchsvoller Roman eine Auflage von 2000 Exemplaren hat. In Bosnien und Herzegowina leben rund 3,8 Millionen Menschen. Die nach dem Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahr 1995 beschlossene politische Teilung des Landes macht die Situation für die Kultur noch schwieriger: ATMO 6: wieder hochziehen darüber O-TON 8: Nenad Velickovic (bosnisch) darüber SPRECHER : Bosnien und Herzegowina ist ein sehr kleines Land, das in drei verschiedene Buchmärkte geteilt ist. Damit sind die Nationen gemeint. Jeder dieser Buchmärkte hat eigene Leser. Von den Autoren wird erwartet, dass sie über bestimmte Themen schreiben, die für die jeweiligen Märkte besonders interessant sind. Es gibt somit wenige Autoren, die sowohl in der Republik Srpska oder im kroatisch sprechenden Teil Bosniens als auch in den Teilen Bosniens mit der bosniakischen Bevölkerung gelesen werden. Leider haben wir auch sehr wenige Leser. ATMO 6: wieder hochziehen und ausblenden 1