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Reportage WDR 1955 Seit Langem warten die Insassen des zerstörten Hauses, die hier wohnten, in einer Baracke auf den heutigen Tag, auf das neue Haus, wie so viele Millionen vor ihnen und wohl noch tausende nach ihnen. Autor In Westdeutschland entstanden in den 50er-Jahren insgesamt über 5 Millionen Wohnungen, eine enorme Aufbauleistung. O-Ton Reportage NRW 1955 Es ist an der Zeit, um dem ausgebombten Hauseigentümer wieder sein Haus zu erbauen. Autor Auf der Feier spricht auch der nordrhein-westfälische Minister für Wiederaufbau, Willi Weyer (FDP). O-Ton Reportage NRW 1955 Es ist an der Zeit auch städtebaulich, nachdem alle Planungen an sich abgeschlossen sind, städtebaulich nunmehr modern wieder aufzubauen, und deswegen freue ich mich, Herr Oberbürgermeister, dass ich aus Anlass dieses kleinen Festaktes, aus Anlass der Überschreitung der Wohnungsgrenze im sozialen Wohnungsbau Ihnen heute 500.000 Mark überweisen kann für Ihre schwer geprüfte Stadt, 500.000 Mark (Applaus) außerhalb der Schlüsselzuteilungen für Wiederaufbaumaßnahmen. Autor Ohne staatliche Subventionen und ohne massive staatliche Eingriffe in den Wohnungsmarkt wäre diese Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Einer der Männer, die die Wohnungspolitik der Bundesrepublik in den 50er und 60er-Jahren maßgeblich prägte, war Paul Lücke, CDU: O-Ton Rias 1957, Vereidigung der Bundesminister - Herr Bundesminister Lücke, sind Sie bereit den Eid zu leisten? - Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe Autor 1957 wurde er Bundesbauminister - und sorgte mit dem sogenannten "Lücke-Plan" für Aufsehen. Dieser Plan wurde Grundlage für das "Abbaugesetz" oder, wie es genau hieß, "Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Miet- und Wohnungsrecht". Am 23 Juni 1960, heute vor 50 Jahren, wurde es verabschiedet. Es war eine der zentralen Weichenstellungen in der Wohnungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, hin zu mehr Marktwirtschaft auf dem Wohnungsmarkt. Ein damals äußerst umstrittener Schritt. O-Ton RIAS Zeit im Funk 15. 5. 1959 (Gong / anschl. Ansager:) Bonn. Das Bundeskabinett verabschiedete gestern den Gesetzentwurf über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und die Einführung eines sozialen Mietrechtes. Autor Der RIAS im Mai 1959, als der Gesetzentwurf auf den parlamentarischen Weg gebracht wurde. O-Ton RIAS Forts. Zeit im Funk Die Kritiker dieses Entwurfes setzen allerdings vor den Begriff "soziales Mietrecht" das Wort "sogenanntes soziales Mietrecht", weil sie zahlreiche Härten nach Inkrafttreten des Mietrechts befürchten. Der gesamte Entwurf wird bereits seit Monaten heftig diskutiert. Denn er sieht eine kräftige Erhöhung der ohnehin schon hohen Mieten vor, die ein Teil der Mieter dann nur noch schwer aufbringen kann. Autor Rückblick: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs prägten Hunger und Wohnungsnot die ersten Nachkriegsjahre. Die Städte waren Ruinenlandschaften, besonders betroffen: die Innenstädte. Dort waren bis zu 90 Prozent der Wohnungen zerstört, sechs Millionen Wohnungen fehlten. Viele Familien lebten jahrelang in Notunterkünften. O-Ton Bericht von Frauen in Notunterkünften in Frechen über ihre Wohnsituation (Reporter) Wie beispielsweise diese Menschen in Frechen, unweit von Köln. Es sind ausgebombte Essener Familien. Sie leben in Massenquartieren, Tanzsälen, Scheunen und Schulen, in diesem Raum hier beispielsweise, es ist ein Klassenzimmer der Burgschule in Frechen, wohnen zehn Menschen zusammen. Drei Frauen, drei Männer und vier Kinder. Autor Eine Reportage aus dem Jahr 1948. Ausgebombte, Vertriebene und Flüchtlinge suchten ein Dach über dem Kopf. O-Ton Bericht von Frauen in Notunterkünften in Frechen über ihre Wohnsituation (Frau) Wir sind Rheinländer und sind am 19.10.1946 aus Bayern ausgewiesen worden, weil wir dort Flüchtlingen Platz machen mussten, man versprach uns in Bayern, wenn wir nach Essen zurück kommen, finden wir dort ordnungsgemäße Unterkünfte. Leider war dem nicht so, nach 18tägiger Fahrt hat man uns nach Frechen dirigiert, wo wir im November 1946 ankamen. Autor Die von den Nationalsozialisten 1936 verfügte Wohnraumbewirtschaftung wurde von den Siegermächten fortgeführt. Hausbesitzer konnten nicht frei über ihre Wohnungen verfügen. Die Miethöhe wurde auf dem Stand von 1936 eingefroren, Kündigungen waren weitgehend ausgeschlossen. Die Wohnungsämter bestimmten die Belegung der Wohnungen und sorgten dafür, dass Ausgebombte und Flüchtlinge unterkamen. Sie wurden einquartiert, ohne dass die eigentlichen Mieter oder die Vermieter etwas dagegen tun konnten. Erst nach Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde mit Wohnungsneubau im großen Stil begonnen, wie von Konrad Adenauer bereits im Wahlkampf angekündigt: O-Ton Adenauer 1949 Wenn wir uns klar machen, dass im Bundesgebiet ein Bedarf von etwa 6 Millionen Wohnungen besteht, wissen wir, dass man nur unter Aktivierung aller privaten und öffentlichen Mittel diese Aufgabe lösen kann. Autor Auch unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde die Wohnraumbewirtschaftung fortgesetzt. Noch gab es zu wenige Wohnungen, um den Markt frei geben zu können, die große Nachfrage hätte zu explodierenden Mieten geführt. Und den Verantwortlichen war klar, dass der Staat mit Subventionen den Wohnungsbau anschieben musste. Der Historiker Georg Wagner-Kyora: O-Ton Wagner Kyora Es gab so wenig Geld am Kreditmarkt, das man sich leihen konnte in Deutschland, weil es ein völlig verarmtes geldloses Land geworden war, dass der Staat eben darauf acht geben musste, dass das wenige Geld in bestimmte bevorzugte Töpfe geleitet wurde und das konnte nur durch staatliche Subventionen in den Wohnungsbau geschehen, ansonsten wäre der Wohnungsbau zu unrentabel gewesen, um Geld anzuziehen und dann hätten die Investitionen noch jahrzehntelang auf sich warten lassen. Autor 1950 wurde rasch das erste Wohnungsbaugesetz im Bundestag verabschiedet, in einem großen wohnungspolitischen Konsens auch mit den Stimmen der Opposition. Mit diesem Gesetz wurden wichtige Weichen gestellt, sagt der Stadtsoziologe Tilman Harlander. O-Ton Harlander Es zielte an, breite Schichten der Bevölkerung zu fördern, also das war im Unterschied zum Arbeiterwohnungsbau, wie wir ihn in den 20er-Jahren erlebt hatten, nun wirklich der Versuch, durchmischte Strukturen im Wohnen zu entwickeln und wir gehen heute davon aus, dass damals etwa 75 Prozent der Bevölkerung prinzipiell zugangsberechtigt war zu diesem sozialen Wohnungsbau. Weitere entscheidende Rahmenstellungen waren dann, keine Dauerbindung einzuführen, also die Bindung der Bauherren an eine bestimmte fixierte Miethöhe einerseits und der Anspruch, nur eine bestimmte berechtigte Klientel mit Wohnraum zu versorgen, diese Bindungen sollten nur für die Dauer der Periode gelten, in der die staatlichen Darlehen zurück gezahlt wurden, also keine Dauerbindung. Autor Keine Dauerbindung, das bedeutete: Wohnungen waren nicht dauerhaft Sozialwohnungen, sondern waren nach 30 Jahren - oder auch schon früher - für alle zugänglich, natürlich zu höheren Mieten. Die staatliche Förderung des Wohnungsbaus erfolgte auf verschiedenen Wegen: direkt, durch öffentliche Darlehen an Wohnungsbauunternehmen, oder indirekt, durch den Verzicht auf Steuern oder Gebühren, die beim Bau eines Hauses anfallen, sowie durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten. 1951 wurde außerdem das Wohnungsbauprämiengesetz beschlossen: Der Staat subventioniert seither die Ersparnis von Kapital für den Wohnungsneubau mit Bausparprämien. Schon im September 1950 konnte der Bundesbauminister Eberhard Wildermuth erste Erfolge im Wohnungsbau verkünden: O-Ton Interview mit Bundeswohnungsbauminister zum Wohnungsbau 1950 (Minister) Ursprünglich war das Programm der Bundesregierung, im Bundesgebiet 250.000 Wohnungen, davon etwa 200.000 Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus zu erstellen, die Zahl der Wohnungen, die in diesem Jahr fertig werden, wird voraussichtlich die 330.000 überschreiten, und kann vielleicht 350.000 erreichen, davon etwa 240 / 250.000 Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus. (Reporter) Und wie steht es mit den Preisen? (Minister) Im Großen und Ganzen sind die Preise in diesem Jahr wider Erwarten stabil geblieben. Autor Die Erfolgsgeschichte des sozialen Wohnungsbaus ist eng mit dem Aufstieg der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft, mit Unternehmen wie der "Neuen Heimat", verbunden. Doch trotz der Neubauprogramme war die Lage auf dem Wohnungsmarkt auch Mitte der 50er-Jahre noch sehr angespannt. O-Ton Diskussion Wie komme ich zu einer Wohnung, 5.11.53, Rias (Reporter) Wir haben hier einen Wohnungssuchenden hier bei uns, und der soll uns nun einmal schildern, wie sieht das nun in der Praxis aus (Mann) Ich bin seit 50 hier in Berlin, 49 praktisch, und suche seit 50 eine Wohnung. Bekam dann so eine Wohnlaube, die unwohnbar war, die überhaupt nicht definierbar war als Wohnung, und letzten Endes bekam ich dann eine Nissenhütte. Autor ... eine Wellblechhütte, benannt nach einem kanadischen Ingenieur, mit halbrundem Dach und etwa 40 qm Grundfläche, eine weit verbreitete Notunterkunft in dieser Zeit. O-Ton Diskussion, Wie komme ich zu einer Wohnung, 5.11.53, Rias Das ist der größte Mist, der überhaupt existiert hier in Berlin. Die ist so nass und so feucht, ich habe jetzt bereits ein Kind ins Krankenhaus bringen müssen, diese Woche, da müssen wir mit sieben Personen drin hausen, die älteste Tochter ist siebzehn, der jüngste ist zwölf Jahre. Eine Wohnung zu bekommen, fragt der Vermieter, "haben se Kinder?", sag ich fünf. "Kriegen se Bescheid", und so krieg ich schon zwei oder drei Jahre Bescheid von diesen Vermietern. Ja und das Wohnungsamt als solches: ja wir haben 4.000 oder 5.000 Wohnungssuchende oder Dringlichkeitsfälle oder Wohnungssuchende. So muss man sich ein ums andere Mal abfertigen lassen am Wohnungsamt. O-Ton Wagner-Kyora Die Realität der Adenauerjahre ist, dass es riesige Gebiete von Slums in den deutschen Städten gibt, die unkontrolliert an den Rändern der Städte entstehen müssen, weil in den Laubenkolonien und Behelfswohnungen, die alle bewohnen, die nicht untergebracht werden können, leider ist das eine Realität, die die Bundesrepublik bis Mitte / Ende der 60er-Jahre begleiten wird. Autor Der Historiker Georg Wagner-Kyora. Aus heutiger Perspektive verwundert es, dass gerade die sozial Schwachen große Probleme hatten, eine Sozialwohnung zu bekommen. Von der Wohnungsnot waren damals allerdings alle Schichten betroffen, Großbürger wie Sozialhilfeempfänger, Ausgebombte genauso wie Vertriebene. Die Vertriebenen hatten sogar bessere Chancen als andere Wohnungslose, weil sie über den staatlichen Lastenausgleich Zuschüsse bekamen. O-Ton Wagner-Kyora Man hat einen Konsens darüber, dass für alle ein standardisierter Wohnungsbau gebaut wird, und da setzen sich dann doch die Besserverdienenden sehr schnell gegenüber jenen durch, die weniger verdienen oder die allein Erziehende sind, also Kriegswitwen mit Kindern oder Schwerbeschädigte, die haben im Grunde in diesem Geflecht geringere Chancen. ( ... ) Auf Deutsch gesagt, wer die geringsten Chancen am Erwerbsmarkt hatte in der Adenauerzeit, der kam auch am letzten in den Genuss einer Sozialwohnung. Autor 1956 wurde, nach längeren Debatten, das Zweite Wohnungsbaugesetz im Bundestag beschlossen, das einen Schwerpunkt auf die Eigentumsförderung legte. Ein sozialpolitisches Instrument im Kalten Krieg: Wer ein eigenes Haus besitzt, ist weniger anfällig für sozialistische Ideologien, kalkulierte Adenauers Kabinett. O-Ton Wagner-Kyora Hier wird erstmals zu einer Zeit, wo das eigentlich nicht erwartbar war, eine Veränderung in Richtung auf einer staatlichen Förderung des Eigenheimbaus vollzogen, die ungeheuer erfolgreich sein wird, wird nachgerade zu einem Identifikationssymbol der Bundesrepublik aufgebaut und es funktioniert auch so: wenn Sie Personen aus den entsprechenden Generationen fragen, sie würden immer die Bundesrepublik mit der Möglichkeit identifizieren, dass das ein Land ist, wo man sich sein Eigenheim bauen kann und wo der Staat das zielgerichtet fördert. Autor Vorangetrieben hatte die Idee vom Eigenheim vor allem der CDU-Abgeordnete Paul Lücke, der seit 1950 Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wiederaufbau und Wohnungswesen war. 1957 wurde er Bundesbauminister. Durch mehrere Bundesmietgesetze hatte die Bundesregierung bereits seit 1955 eine schrittweise Anhebung der weiterhin gebundenen Altbaumieten erlaubt. Paul Lücke wollte mehr, er wollte das Ende der Wohnraumbewirtschaftung, obwohl damals noch rund 1,5 Millionen Wohnungen fehlten. 1959 erläuterte er den Entwurf für sein neues Wohnungsbaugesetz. Kanzler Adenauers Kabinett hatte dem Entwurf soeben zugestimmt, sodass er dem Bundestag vorgelegt werden konnte. O-Ton Lücke zum Lückeplan Der Wohnungsbestand wird in die soziale Marktwirtschaft überführt, das geschieht schrittweise, und zwar in dem Umfange, in dem die vorhandene Wohnungsnot beseitigt wird. Autor Der Wohnungsmarkt sollte künftig nach Angebot und Nachfrage funktionieren - mit möglichst geringen staatlichen Eingriffen. Um Härten für die Mieter abzufedern, sollte im Gegenzug das Wohngeld ausgebaut werden. O-Ton Lücke zum Lückeplan Die Wohnraumbewirtschaftung wird stufenweise abgebaut, die Wohnungsämter werden nach und nach überflüssig. Die Preisbindungen für Wohnungen werden ebenfalls schrittweise gelockert, auch die Preisbehörden können so nach und nach verschwinden. Autor Lücke wollte, dass der Vermieter wieder Herr im Hause wird, hinsichtlich Miethöhen und Mietverträgen. O-Ton BR, aus "Weißer Kreis mit Gnadenfirst 23.01.1969 (Frau bei 033) a, geh zua, Martin, des kannst du doch ned, meinetwegen kündigst alle im Haus, aber doch ned die Siegels, (Mann / Gustl Bayerhammer) ja warum denn ned? Sag a mal, ist des mei Haus oder isses des ned? Jetzt setz den Namen von dem Herrn Siegel in des Kündigungsformular und des Datum, Moment, i sags dirs glei, die Siegels wohnen in unserem Haus Annastraße 17 seit 1932, (Frau) des sind genau 37 Jahr lang (Mann/ Gustl Bayerhammer) ja 37 Jahr lang (Frau) alsodass du di so was traust! (Mann/Gustl Bayerhammer) auf den Tag, lang hab ich gewartet, dass i wieder Herr über mei Eigentum bin, und jetzt is soweit. Autor Lückes Gedanke: Die Mieten für Altbauwohnungen waren auf einem so niedrigen Stand, dass es sich für viele Hausbesitzer nicht lohnte, Sanierungen vorzunehmen. Mehr Mieteinnahmen - mehr Investitionen in den Altbestand: so seine Kalkulation. Der "Lückeplan" bedeutete das Ende des wohnungspolitischen Konsenses in Westdeutschland. Trotz heftiger Kritik von Opposition, Mieterverbänden und Gewerkschaften wurde das "Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Miet- und Wohnungsrecht" im Mai 1960 im Bundestag verabschiedet. Am 23. Juni 1960, heute vor 50 Jahren, trat es in Kraft. Ab 1963 sollten, so das Gesetz, die Altbaumieten völlig freigegeben werden. Allerdings nicht überall gleichzeitig, sondern abhängig von der Wohnungsversorgung, nämlich dort, wo der Wohnungsmangel nur noch 3 Prozent betrug - in den sogenannten "weißen Kreisen". Ab 1966 sollte die Mietpreisbindung auch in den übrigen Kreisen, den sogenannten "schwarzen Kreisen", aufgehoben werden. Der Termin konnte allerdings wegen der schlechten Versorgungslage nicht eingehalten werden - München und Hamburg fielen beispielsweise erst 1977 aus der Mietpreisbindung für Altbauten, West-Berlin erst 1988. Unter den Mietern machte sich Anfang der 60er-Jahre Angst breit. O-Ton Mieter aus dem hessischen Offenbach, aus Aktuelles zum Wochenende vom 7.9.1963 (Mann 1) Ich glaube, es wird sehr haarig werden für uns, vielleicht werden sie uns das Fell über die Ohren ziehen, vielleicht wird's auch zu teuer werden, dass ich die Altbauwohnung auch nicht mehr halten kann und werd in eine Neubauwohnung ziehen müssen, die wird vielleicht noch teurer werden, ich weiß es nicht die ganze Sach kommt bisschen früh auf uns zu. (Mann2, bei 2202)) Schauen Sie mal, ich bin nun jung verheiratet seit 9 Monaten, wenn das nun so weiter gehen wird, werden wir doch glaube ich das Freiwild für die Hauswirte sein und die werden nachher die Mieten so erhöhen, dass wir sie einfach nicht mehr zahlen können. Autor Der Bürgermeister der Stadt Pforzheim berichtete 1963 von zahlreichen Briefen, die ihn erreichten: O-Ton Bürgermeister von Pforzheim berichet von Briefen, die ihn erreichen aus Aktuelles zum Wochenende vom 7.9.1963 "Wir haben jetzt Fälle, wo die bisherigen Wohnungsmieten von monatlich 124 Mark mit einer Erhöhung auf 240 Mark vom Vermieter angekündigt worden sind, Fälle, die in ihren Einkommensverhältnissen knapp unter den Sätzen, die für Miet- und Lastenbeihilfen in Betracht kommen. Das bedeutet also eine Erhöhung um fast 100 Prozent. Autor Während der großen Koalition ging der staatlich geförderte Wohnungsbau weiter, 1967 konnte Bundesbauminister Lauritz Lauritzen (SPD) den Neubau der 10 millionsten Wohnung seit 1949 feiern. O-Ton Lauritzen 10 millionste Wohnung NDR 24.11.1967 (Reporter) Die Hälfte der gebauten Wohnungen entstammen ja dem sozialen Wohnungsbau, nich? (Lauritzen) Die Hälfte sind Sozialwohnungen und was noch erfreulicher ist, sie sind seit dem beginn des sozialen Wohnungsbaus in ihrer Ausstattung wesentlich verbessert worden und auch was ihre Größe angeht. Während die Größe früher etwa bei 55 qm je Wohnung lag, liegt sie heute bei 82. Heute hat fast jede Sozialwohnung Bad und WC. Wir haben hier also einen Ausstattungsgrad erreicht, der für den gesamten Wohnungsbau einfach Schrittmacher gewesen ist. Autor Das Leben in Sozialwohnungen hatte lange Zeit kein schlechtes Image, im Gegensatz zu heute, wo man bei sozialem Wohnungsbau vor allem an gettoartige Hochhaus-Siedlungen und soziale Brennpunkte denkt. Ein Grund für diesen Wandel lag in der Belegungspolitik: Früher war ein breiterer Querschnitt der Gesellschaft zugangsberechtigt - heute sind es nur noch die sozial Schwachen. Das Gesetz von 1960 hatte allerdings ein Ungleichgewicht auf dem Wohnungsmarkt bewirkt, zum Nachteil der Mieter. Unter der sozialliberalen Regierung wurde dies Anfang der 70er-Jahre korrigiert, mit mehreren Gesetzen. Der Stadtsoziologe Tilman Harlander: O-Ton Harlander Zu diesen Gesetzen zählte ein erstes und zweites Wohnraumkündigungsgesetz, aber vor allem auch das Miethöhegesetz, das nun die Miethöhe an eine örtliche Vergleichsmiete band, damit wurden gleichzeitig auch dann die Tatbestände Mietpreisüberhöhung, Mietwucher konnten verbindlicher geregelt werden. Umgekehrt sprachen nun die Haus- und Grundbesitzerverbände, CDU/CSU und FDP sahen in diesem Mietergesetz ein Investitionshemmnis, das heißt, man sieht hier sehr deutlich, wie schwierig die Gradwanderung immer ist zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, zwischen Intervention zugunsten der Mieterseite oder Intervention zugunsten der Vermieterseite. Autor Unter der sozialliberalen Koalition erreichte der Wohnungsbau neue Rekordmarken. 1973 wurden 714.000 Wohnungen fertig gestellt, zum Vergleich: Gegenwärtig sind es etwa 200.000 im Jahr. Und diese 7140.000 Wohnungen ließen sich zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte nicht vollständig vermieten. Ein Schock für die Wohnungswirtschaft, der ein Umdenken beförderte. 1975 kann als zweite große Wendemarke in der Geschichte der bundesdeutschen Wohnungspolitik angesehen werden, nach dem Gesetz von 1960. 1975 war das europäische Denkmalschutzjahr, die historischen Stadtquartiere wurden wieder entdeckt, bis dahin hieß Sanierung in der Regel Kahlschlag: Auch in diesem Prozess spielte die staatliche Wohnungspolitik eine wichtige Rolle, durch die Sanierungsförderung, die sich auf ausgewählte Teilgebiete einer Stadt beschränkte sowie durch eine allgemeine Modernisierungsförderung, die ab Mitte der 70er-Jahre im großen Stil anlief. Und der Staat förderte nun steuerlich auch den Kauf von Wohnungen. Bisher war dies auf den Eigenheimbau beschränkt gewesen. O-Ton Harlander Im Zusammenwirken dieser verschiedenen Instrumente begann nun in der Tat ab Mitte der 70er-Jahre in allen Städten zunehmend, ein sich verstärkender, ja zum Teil sogar überschlagender Prozess der Aufwertung der Innenstadtbereiche, die zuvor noch in den 60er-Jahren Abwanderungsgebiete waren und von Verödung bedroht waren, wie wir das aus den USA ja kennen. Autor Die Aufwertung verschiedener Stadtteile führte dazu, dass sich manche Alteingesessenen die Mieten nicht mehr leisten konnten und fortziehen mussten: ein Verdrängungsprozess, der bis heute anhält, in der aktuellen Diskussion bekannt unter dem Schlagwort "Gentrifizierung". Trotz leer stehender Wohnungen Mitte der 70er-Jahre sprach man Anfang der 80er- Jahre schon wieder von Wohnungsnot. Und noch ein Phänomen sorgte für Schlagzeilen: die Hausbesetzer. O-Ton Lied Wohnungsnot - Instandsetzung In Kreuzberg, in Kreuzberg, da wird instand besetzt, in Kreuzberg, in Kreuzberg, da wird instand besetzt, wir fingen an mit einem Haus, inzwischen wurden viele draus, in Kreuzberg, in Kreuzberg, da wird instand besetzt (20 sec) Autor In Berlin kam es im Dezember 1980 zu Straßenschlachten nach der Räumung eines besetzten Hauses. Der CDU-Abgeordnete Volker Hassemer und der Bausenator Ulrich stellten sich wenig später der Diskussion mit Hausbesetzern in der TU Berlin und räumten ein, dass rund 10.000 Wohnungen in der Stadt leer stünden. O-Ton Volker Hassemer Wir haben den Fehler gemacht, dass wir geglaubt haben, dass es richtig ist, auf der grünen Wiese so was wie das märkische Viertel zu bauen, und dafür alte gewachsene Strukturen abzureißen. Bausenator Ulrich (735) Die Kahlschlagsanierung war eine Zeit lang der große Renner, ist von allen akzeptiert worden, ist überall, auch von Wissenschaftlern, innerhalb der Universitäten als eine neue soziale Komponente aufgezeigt worden, um wegzukommen von den Wohnverhältnissen des 19. Jahrhunderts, die ja nicht gerade gekennzeichnet sind von sozialen Belangen. (1054) Es kann doch nicht so sein, dass wir jede alte Schabracke aus dem vorherigen Jahrhundert erhalten müssen, was wir müssen, ist ganz behutsam an eine Stadterneuerung rangehen, sehr behutsam, da wo Instandsetzung möglich ist, instand zusetzen. Autor Wohnungsnot und Hausbestzungen beschäftigten auch den Bundestag, wo Bundeskanzler Helmut Schmidt im Frühjahr 1981 klar stellte: O-Ton Helmut Schmidt, Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland im Verlauf der vergangenen 10 Jahre 5 Millionen Wohnungen gebaut, im gleichen Zeitraum ist die Wohnbevölkerung um eine Million weniger geworden. 5 Millionen Wohnungen gebaut, bei Abnahme der Wohnbevölkerung. Oder anders ausgedrückt: wir haben heute in Deutschland pro Kopf mehr Wohnfläche als jemals zuvor. Trotzdem gibt es Wohnungsprobleme, für bestimmte Gruppen mehr als für andere, aber es gibt Wohnungsprobleme und Hausbesetzungen nicht nur in Großstädten, und in keiner dieser Städte, nirgendwo in Deutschland, ist eine Hausbesetzung rechtmäßig. es ist überall unrecht. (211) Autor Nach dem Regierungswechsel in Bonn verkündete Helmut Kohl 1982 eine Wende in der Wohnungspolitik. Der soziale Wohnungsbau wurde zurückgefahren, genauso wie der Kündigungsschutz für Mieter - Maßnahmen, um wieder mehr Markt einzuführen. Doch der Wohnungsmangel ließ sich dadurch nicht beheben. Als dann 1990 die Wiedervereinigung folgte, kam es zu einer letzten Renaissance staatlicher Wohnungspolitik - vor allem bei der Sanierung der maroden Alt - und Plattenbauviertel in Ostdeutschland. Seit Ende der 90er-Jahre zieht sich der Staat immer mehr aus dem Wohnungsmarkt und dem staatlich geförderten sozialen Wohnungsbau zurück. Nach der Föderalismusreform 2006 liegt die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau und die Wohnraumförderung generell bei den Ländern, sowohl in finanzieller wie auch in gesetzgeberischer Hinsicht. Der Wohnungsmarkt ist gespalten, im Osten Leerstand, in vielen westdeutschen Städten herrscht dagegen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. In den vergangenen Jahren haben viele Kommunen Teile ihres Wohnungsbestandes an private Investoren verkauft, die Stadt Dresden sogar den kompletten Bestand. Eine Strategie mit Risiken, die vielleicht kurzfristig die Haushalte saniert, die Kommunen aber wichtiger Handlungsspielräume beraubt. Stadtsoziologe Tilman Harlander: O-Ton Harlander Wir müssen sehen, dass die eben nicht auf Dauer gebundenen Sozialwohnungen weiterhin abschmelzen, in allen Städten, vor allen Dingen Großstädten, auch Universitätsstädten, besonders deutlich bemerkbar schmelzen die früher gebundenen Sozialwohnungsbestände dahin und es entstehen kaum mehr, jedenfalls in einem quantitativ nur noch verschwindendem Ausmaß neue Sozialwohnungen, dabei verringert sich der Personenkreis, der auf derartige Wohnungen angewiesen ist, ja nicht, sondern im Zuge von Wirtschaftskrisen, Dauerarbeitslosigkeit, den damit verknüpften Problemlagen droht sich die Klientel ja eher zu vergrößern. Autor Mehr Markt, weniger Staat - das war das Ziel des Gesetzes, das 1960 die Wohnungszwangswirtschaft der Nachkriegszeit beendete. In den 50er-Jahren hatte die Wohnungspolitik - angesichts der großen Wohnungsnot - die Versorgung aller Bevölkerungsschichten mit bezahlbarem Wohnraum zum Ziel. Mit der 1960 einsetzenden Liberalisierung begann der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsmarkt. Die Marktmechanismen sollten für ein ausreichendes Wohnungsangebot sorgen. Im Prinzip geschah das, aber der Markt hat seinen Preis: die Tendenz zum sozialen Auseinanderdriften, die besonders in Krisenzeiten in den Städten bedrohliche Ausmaße annehmen kann. Allerdings ist der Wohnungsmarkt weit davon entfernt, völlig ohne Regulierungen zu sein. Der Staat hat Grenzen gezogen, im Sinne der sozialen Marktwirtschaft. Zwar sind Mieterhöhungen möglich, Kündigungen hingegen nur unter ganz bestimmten Bedingungen, beispielsweise bei Eigenbedarf. Der Vermieter ist bis heute nicht der uneingeschränkte Herr in seinem Haus. Und mit dem Wohngeld hilft der Staat Bürgern mit geringem Einkommen. Die Entwicklung seit Gründung der Bundesrepublik 1949 hat gezeigt, dass der Wohnungsmarkt ein besonders sensibler Bereich der sozialen Marktwirtschaft ist. Wäre er allein den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen, gäbe es soziale Verwerfungen, die sich keine Bundesregierung leisten kann. 1