COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Stimmenjagd bei 40 Grad Nicht-Wähler-Mobilisierung in Los Angeles Eine Reportage von Kerstin Zilm Regie: Atmo 1 rauhes Bellen Wachhund Autorin 1: Samstag vormittags, elf Uhr, in einem Wohnviertel von South- East-Los Angeles. Eng nebeneinander stehende, kleine Bungalows und zweistöckige Wohnblöcke. Fast 40 Grad. Keine Wolke am Himmel. Keine Brise. Kein Schatten. In ausgetrockneten Vorgärten verteidigen muskulöse Wachhunde hinter schulterhohen Maschendrahtzäunen Häuser, deren Türen und Fenster vergittert sind. Nichts davon schreckt Albert und Tracy ab. Die beiden freiwilligen Helfer der Demokraten sind unterwegs, um Wähler für Obama zu mobilisieren. Regie: Atmo 2 Wachhund plus Klopfen an Stahltür Autorin 2: Albert Vitela klopft energisch an eine der Stahlgittertüren einer Bungalowreihe. Der ein Meter fünfundneunzig große, stämmige Kunststudent mit freundlichem Blick hinter schwarzumrandeten Brillengläsern fürchtet, das Klopfen könnte klingen, als stehe die Polizei vor der Tür. Regie: 1. O-Ton stehen lassen ohne Übersetzung "It's this cop-knock, you know - BANG, BANG, BANG!" Regie: Atmo 3 nochmal Klopfen und Hund Autorin 3: Die Tür hinter dem Gitter öffnet sich langsam. Das Stahlgewebe ist zu eng, um ein Gesicht zu erkennen. Vor dem dunklen Raum dahinter hebt sich eine weibliche Silhouette ab. Auf ein vorsichtiges "Si?" erklärt Albert, Sohn mexikanischer Einwanderer, auf Spanisch, warum er und seine Partnerin Tracy bei der Hitze im Viertel unterwegs sind. Regie: 2. O-Ton Anfang stehen lassen, dann unter Text "Hola, venimos del partido de presidente Obama, el partido democrata, como esta? - Bien, bien, y usted? - Bien. Estamos buscando voluntarios pero tambien es importante: estan registrados para votar? ..." Autorin 4: Sie suchen freiwillige Helfer für die Obama- Kampagne der demokratischen Partei. Sie haben auch Formulare dabei, für die, die nicht als Wähler registriert sind. Das passiert in den USA nicht automatisch. Wer seine Stimme abgeben will, muss sich vorher bei der Bundesstaatsverwaltung als Wähler anmelden. Durch die Gittertür gibt die Frau zu verstehen, dass niemand in der Wohnung Interesse hat. Regie: 2. O-Ton Ende noch mal hoch "No - Esta bien. Gracias! - De nada ..." Regie: Atmo 4 im Viertel - Verkehr, Flugzeug, Klopfen Autorin 4: Albert und Tracy gehen weiter. Die 32 jährige Sozialarbeiterin mit Dutzenden Obama-Stickern rund um den üppigen Ausschnitt ihres knall- pinkfarbenen T-Shirts schaut zum Himmel. Über die Häuser zieht der Schatten eines Passagierflugzeugs. South-East-Los Angeles liegt in der Einflugschneise des Flughafens der Metropole. Über fünfzig Prozent der Bewohner sind Latinos, rund 40 Prozent Afro-Amerikaner. Hohe Kriminalität, geringe Einkommen und hohe Arbeitslosigkeit. Die meisten Türen, an die die ehrenamtlichen Helfer klopfen, bleiben verschlossen. Reagieren Bewohner, erklären sie meist durch das enge Schutzgitter ihrer Türen, dass sie kein Interesse oder keine Zeit haben; nicht wählen dürfen, weil sie illegal im Land sind oder zu jung sind um zu wählen. Einer der wenigen, der die Tür seiner Wohnung öffnet, ist Jake Trailor. Regie: Atmo 5 Tür, mehrere Schlösser, dann mit Ruck auf Autorin 5: Nur das Flimmern des Fernsehbildschirms erhellt den Raum hinter dem drahtigen Mann in Shorts und weißem T-Shirt. Mit zerzaustem Haar und zusammen gekniffenen Augen sieht er aus, als hätte ihn das Klopfen von einem Nickerchen auf dem Sofa geweckt. Er blinzelt gegen die Sonne. Auf die Aufforderung, sich im Wahlkampf zu engagieren und Obama seine Stimme zu geben, hat er eine müde Antwort: Regie: 3. O-Ton JAKE SPRECHER Mir ist das egal. Ich verfolge das alles nicht. Politik interessiert mich nicht. Alles nur Gerede. Ich will Action. Ich hab das Gerede satt. Ich will Taten sehen! Das ist alles Unsinn. Nichts passiert. Es ist lächerlich. Ich weiß nicht, warum wir überhaupt noch Wahlen haben. Autorin 6: Auf Alberts Frage, warum er so frustriert ist, erzählt Jake: Er ist 27, hat eine Ausbildung zum Bewährungshelfer abgeschlossen, 40 tausend Dollar Schulden und keinen festen Job. Über ein Jahr war er arbeitslos. Seit ein paar Wochen repariert er aushilfsweise Kameras in einem Foto-Laden, der kurz vor der Pleite steht. Jake ist sicher: weder Obama noch Mitt Romnney werden seine Lebenssituation verbessern. Regie: 4. O-Ton JAKE SPRECHER Egal, worum es geht - nichts passiert. Alles was sie wollen ist mehr Geld von der Unterschicht, von uns! Warum nehmen sie nicht was von den Reichen? Ich versteh das nicht. Unser Leben ist schwer genug. Die Reichen haben all das Geld und müssen nicht mal Steuern zahlen. Das wird alles unter den Teppich gekehrt! Für mich ist das nicht fair! Streicht mich von der Wahlliste! Autorin 7: Tracy und Albert wenden ein, Obama wolle Steuererleichterungen für Reiche streichen. Doch Jake schließt die Gittertür ohne weitere Worte vor ihren Nasen. Regie: Atmo 6 Tür zu, mischen mit Atmo 7 Straßenverkehr lauter Autorin 8: Die beiden setzen ihren Weg fort, kommen zur vierspurigen Hauptstraße, die das Viertel durchschneidet. An der Ampel sprechen sie eine Frau in weißer Kochjacke und grauer Wollmütze über wilden Locken an. Sie gibt ihnen freundlich zu verstehen, dass sie keine Zeit habe, den Wahlkampf zu verfolgen und keinem der Kandidaten helfen möchte. Regie: 5. O-Ton CHRIS SPRECHERIN Es interessiert mich nicht wirklich, was Republikaner oder Demokraten zu sagen haben. Hinter allem stecken Verschwörungen, Propaganda und viel Geld. Sie haben keine Ahnung vom Alltag normaler Menschen und wir verstehen nicht mehr, wie die Regierung funktioniert. In all den Jahrhunderten, in denen sie regiert haben, haben sie nur für die Reichen etwas erreicht, sonst für niemanden. Autorin 9: Albert bemüht sich, mit der Frau Schritt zu halten, die bei Grün schnell weiter geht. Er hört ihr nickend zu, sagt, dass er ihren Frust versteht und dass es trotzdem wichtig ist, zu wählen. Sie bleibt stehen, als er ihr von einem Gespräch mit seinem Vater erzählt, das ihn geprägt hat. Regie 6. O-Ton ALBERT SPRECHER Er hat mir gesagt: Demokraten setzen sich mehr fürs Volk ein und was Robert Kennedys letzte Worte waren nachdem auf ihn geschossen wurde: "Sind alle ok?" Das ist für mich die Philosophie der Demokraten: dass alle ok sind - egal welche Rasse, welche sexuellen Vorlieben oder Religion. Das sind die Grundwerte. Autorin 10: Die junge Frau rollt mit den Augen. Sie erzählt dass sie 65 Stunden die Woche als Konditorin arbeitet und damit gerade genug Geld verdient, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Von Obamas Politik ist sie enttäuscht. Er habe nicht den versprochenen Wandel gebracht. Auch sie glaubt nicht, dass Politiker etwas dafür tun werden, dass ihr Leben einfacher wird. Regie 7. O-Ton CHRIS SPRECHERIN Als ich jünger war, nach der Schule und im Studium habe ich ab und zu mit der demokratischen Partei gearbeitet. Aber je mehr Einblick ich bekam, desto mehr kam sie mir vor wie die katholische Kirche: sie wissen, es läuft viel schief, aber die Machtverhältnisse sind so, dass sich nichts ändert. Ich glaube, niemand kann irgendetwas ändern. Nur wenn eine Frau antritt, egal von welcher Partei - dann werde ich für sie stimmen! Autorin 11: Die Konditorin läuft im Eilschritt weiter. Albert geht zurück zu Tracy. Die Sozialarbeiterin steht neben einem Geschäft, aus dem das Programm eines Latino-Senders laut auf den Bürgersteig klingt Regie: Atmo 8 Musik aus Laden unter Text legen und leckt an einem Eis, das sie sich in dem Laden geholt hat. Wie Albert lässt sie sich weder von Apathie, Argumenten oder Aggression von ihrer Mission im Auftrag von Präsident Obama abbringen. Regie: 8. O-Ton TRACY SPRECHERIN Du musst Dich zumindest ein bisschen anstrengen, wenn Du etwas verändern willst. Kannst nicht nur drüber reden sondern musst auch etwas tun: Rausgehen, Leute anrufen, zwei, drei Stunden, oder eine Stunde - das ist nicht viel für einen wichtigen Anlass! Autorin 12: Die Wahlhelfer biegen wieder ab ins Wohnviertel. Regie: Atmo 9 Hunde, Flugzeug, Klopfen, Reden etc. Autorin 13: Sie verbreiten weiter durch Stahlgitter und vorsichtig geöffnete Türspalten ihre Botschaft: Geht wählen! Registriert Euch! Wählt Obama! Ganz selten zeigt jemand verhaltenes Interesse, im Wahlkampf zu helfen. Dann beschreiben die beiden gut gelaunt ihre Arbeit als sei sie der reine Feierabendspaß. Die 15 jährige Kristy ist Schülerin und sucht ein Praktikum, das ihr bei der Jobsuche nach dem Schulabschluss helfen könnte. Albert und Tracy versprechen: Die Arbeit im Obama-Büro ist genau das Richtige für sie: Regie: 9. O-Ton ALBERT SPRECHER Wir rufen Leute an - das ist nicht peinlich! - wir machen Buchhaltung, geben Leuten, die ins Büro kommen Informationsmaterial - nichts Schwieriges. Und es gibt immer Essen und Wasser. 10. O-Ton TRACY SPRECHERIN Vor der Wahl gibt es viele Veranstaltungen und Partys. Ich hab auch einen Sticker für Dich! Autorin 14: Albert kommt jedes Wochenende ins Wahlkampf-Büro und - soweit es sein Studium erlaubt - werktags an jedem Abend. Er ist alleinerziehender Vater. Seine zwei Söhne - zwölf und 14 Jahre alt - leben zurzeit bei seinen Eltern. Am vergangenen Wochenende hat Albert im Nachbar-Bundesstaat Nevada Wähler mobilisiert. Dort liegen Präsident Obama und sein Herausforderer Mitt Romney Kopf an Kopf im Rennen um das Präsidentschaftsamt. 50 Dollar Fahrtgeld hat es ihn gekostet. Die Kampagne hat Essen und Unterkunft organisiert. An diesem Morgen war der Scheck für sein Studienfördergeld im Briefkasten: ein tausend Dollar für die kommenden drei Monate. Zur Feier des Tages hat er den Söhnen zum Abendessen Pizza versprochen und einen Scheck in die Wahlkampfkasse gesteckt. Regie: 11. O-Ton ALBERT SPRECHER Ich habe heute 50 Dollar gegeben. Ich möchte in Amerika investieren. Das sag ich nicht nur so. Ich meine das ernst! Ich hab nie so was gemacht bis Präsident Obama kandidierte. Er hat etwas in mir geweckt. Ich vertraue ihm. Ich glaube an seine Vision. Autorin 15: Unterwegs im Viertel haben Albert und Tracy wenig Gelegenheit diese Vision zu verbreiten. Als die beiden wieder mal vor einer verschlossenen Tür stehen, entdecken sie hinter der Fensterscheibe daneben einen etwa sechs Jahre alten Jungen, der neugierig durch verschlissene Vorhänge schaut. "Was ist das - eine Wahl?" fragt er Regie: 12. O-Ton ALBERT SPRECHER Weißt Du, dass manche Länder Könige haben? Wir haben Präsidenten und wir tauschen sie nach vier Jahren aus. Wenn wir sie mögen, behalten wir sie noch mal vier Jahre. Wir wählen Obama, aber ein anderer Gentleman, Herr Romney tritt auch an ... Weißt Du wer der Präsident ist? Obama. Hast Du von ihm gehört? ... Was hältst du von ihm? ... Wir glauben, er ist ein guter Typ, der viel für das Volk getan hat. Deshalb arbeiten wir für ihn. Autorin 16: Eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund ruft den Jungen. Er verschwindet. Die Tür bleibt zu. Tracy und Albert beschließen, zurück ins Büro zu gehen. Nach knapp vier Stunden Türenklopfen haben sie sechs Wähler registriert und elf potentielle Wahlhelfer rekrutiert. Zeit für eine Pause. Sie sind verschwitzt, ihre Wasserflaschen leer und ihre Schritte schwer. Es ist drei Uhr nachmittags. Das Thermometer zeigt 105 Grad Fahrenheit, über 40 Grad Celsius. Regie: Atmo 10 im Büro, Einführung freiwillige Helfer übergehen in Atmo 11: Büro, Stimmen mehr in Distanz Autorin 17: In einem zur Wahlkampfzentrale umfunktionierten Laden an der Hauptstraße sitzen sechs neue, freiwillige Helfer um einen runden Tisch. Sie lernen ihre Route für die Wählermobilisierung und worauf sie unterwegs achten müssen: Sonnencreme und Wasser mitnehmen, nicht in Vorgärten mit Hunden gehen, freundlich bleiben, kein Informationsmaterial in Briefkästen oder an Türklinken hinterlassen. Obama-Biden-Poster, eine US-Flagge, ein riesiger Kalender und Schichtpläne hängen an den Wänden über Metalltischen mit Computern und Telefonen. Zwei Steh-Ventilatoren auf Hochtouren bringen eine leichte Brise in den fensterlosen Raum. Büro-Manager Brian Romero erinnert sich: vor vier Jahren standen um diese Zeit Obama-Helfer Schlange, um im Wahlkampf dabei zu sein. Jetzt hat er Mühe, die Schichten für Telefondienst und Nachbarschaftsarbeit zu füllen. Brian ist in South-East Los Angeles aufgewachsen. Er ist überzeugt: die Mehrheit der Bewohner ist auf Obamas Seite. Aber sie gehen nicht wählen. Also ist es seine Aufgabe, sie zur Wahlurne zu bringen. Regie: 13. O-Ton BRIAN SPRECHER Die Menschen hier arbeiten hart. Sie teilen viele Grundwerte mit Präsident Obama. Familie; Respekt für Frauen; Gesundheitsversorgung; sich um alle zu kümmern, unabhängig von der sexuellen Orientierung, vom Einkommen oder der Herkunft. Autorin 18: Albert hat sich im Mini-Markt nebenan eine Erdbeermilch und ein Stück Kuchen geholt. Kauend sitzt er an einem der Schreibtische mit Computer und Telefon vor einer Namensliste. Der Kunststudent nimmt einen großen Schluck Milch, atmet einmal tief durch und wählt die erste Nummer auf dem Zettel. Regie: 14. O-Ton ohne Übersetzung stehen lassen "Hi, is this Kyla Westin? ... Hi Kyla, my name is Albert Vitela, I am calling on behalf of the California Democrat Party. How are you doing? ... Oh, ok, thank you very much. I apologize. ... You too. Bye." Autorin 19: Über eintausend potentielle Wähler hat Albert schon angerufen. Die gut geölte Obama-Kampagne sammelt und sortiert die Daten, gibt Namenslisten an die Büros und zählt die Anrufe der Wahlhelfer. Bis zum Wahltag will Albert mehr als zweitausend Stimmberechtigte kontaktieren. Auf der Liste kreuzt er an, ob die Angerufenen abgenommen haben, wählen werden, Demokraten, Republikaner oder unabhängig sind, beim Wahlkampf helfen wollen und registriert sind. Er würde gerne mehr mit unentschlossenen Wählern, Nicht-Wählern und Republikanern diskutieren. Meist kommt er aber nicht einmal dazu, Fragen zu stellen. Doch nur selten reagieren Menschen am anderen Ende richtig unfreundlich. Regie: 15. O-Ton ALBERT SPRECHER Ich kann mich nur an einen Vorfall erinnern. Ich bin sehr ruhig mit den Leuten, auch wenn ich merke, sie wollen auflegen oder wenn sie unhöflich werden. Ein Typ hat mich am Telefon angeschrien: "Ich wähle doch nicht diesen Clown, diese Puppe, kapierst Du?" Ich wollte ihn bitten: überzeug mich. Aber er hat aufgelegt. Autorin 20: Büromanager Brian empfiehlt, im Friseurladen gegenüber nach Meinungen zur Wahl zu fragen. Nirgendwo bekommt man interessantere Einblicke in das, was die Bewohner eines Viertels denken als im Friseursalon, wo alle zusammen kommen und zwischen Haarschnitt und Rasur debattierten. Regie Atmo 12 Friseur, Rasieren, Reden, TV im Hintergrund Autorin 21: "J.Q.s Barber Shop. Zwölf Dollar Haarschnitt, nur Männer. Kinder zehn Dollar. Geöffnet von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends - sieben Tage die Woche." wirbt ein riesiges Plastikplakat über dem Schaufenster. Zwei Kunden lassen sich gerade die Haare schneiden. Auf grünen Plastikstühlen hinter der Fensterfront sitzen zwei Mädchen. Sie starren gebannt auf einen Fernsehschirm, der über den Spiegeln hängt. Dort verfolgen Geisterjäger schleimige Ungeheuer in einem U-Bahnschacht. Im Friseurstuhl unter dem Fernseher lümmelt ein schmächtiger junger Mann. Mit den Beinen über der Stuhllehne hängend blättert er gelangweilt in einer zerschlissenen Motorsport-Zeitschrift. Raymond wartet auf Kundschaft. Er ist 21 Jahre alt. Dies ist die erste Präsidentschaftswahl, bei der er seine Stimme abgeben könnte. Aber er will nicht wählen. Den Wahlkampf verfolgt er nicht einmal. Regie: 16. O-Ton RAYMOND SPRECHER Wer ist es? Obama und McCain, richtig? Ich meine: Obama und - wie heißt er? ... Romney! Ehrlich gesagt, mach ich mir keine Gedanken. Meine Frau will Obama wählen, ich schau es mir manchmal im Fernsehen an, aber ich interessiere mich nicht fürs Wählen. Autorin 22: Raymond ist nicht als Wähler registriert. Kollege Terry schon, ER versteht Raymond nicht. Die Schere des 18 jährigen in engen roten Jeans und weißem T-Shirt fliegt über die kurzen Haare seines Kunden. Terrys Haar ist an den Seiten kurz und oben lang. Eine Strähne fällt ihm in die Stirn. In Richtung Raymond sagt er: du MUSST dich registrieren lassen und wählen! Regie: 17. O-Ton TERRY SPRECHER Ich hab es vor einem Monat bei meiner Schule gemacht, als ich mich für den Unterricht eingetragen habe. Sie haben mich gefragt, ob ich schon als Wähler registriert bin und haben mir das Formular gegeben. Ich hab es gleich ausgefüllt, es war super-leicht, hat keine zehn Minuten gedauert. Autorin 23: Obwohl Terry sich nicht viel mit Versprechungen, Programmen oder Entscheidungen der Kandidaten beschäftigt hat, ist für ihn die Entscheidung klar: Regie: 18. O-Ton TERRY SPRECHER Wir sind hier ziemlich pleite in South-Central und brauchen Hilfe. Ich habe gehört, dass - wie heißt er? Romney? - all das Regierungszeug, das armen Leuten hilft, streichen will. Das hört sich nicht cool an! Ich werde Obama wählen. Er kann sich mit uns identifizieren - mit diskriminierten Schwarzen, Latinos. Ich bin Mexikaner. Er kümmert sich um uns. Sagt er. Ich hab noch keine Veränderung bemerkt, aber ich bin grade mal 18, kenn mich nicht aus mit der Wirtschaft, nur mit dem Geld, das ich hier verdiene. Autorin 24: Der junge Friseur träumt von einem eigenen Laden, einer Art Cut and Culture-Salon, in dem er für seine Kunden rappen möchte. Spontan gibt er eine Kostprobe seiner Improvisationskunst: Regie 19. O-Ton Terry Rap etwas stehen lassen, dann unter Text "Let me freestyle. I hope it doesn't sound so wild. Like you hear about the Ghetto. How people say that it's so crazy. But it's not. It's just people trying to make money. In ways that are kind of lazy. Might shoot you might get jumped and shit. But it's alright man, I get away from it and spit .... Autorin 25: Will, sein Kunde, grinst amüsiert über den Enthusiasmus des jungen Wählers, der jetzt seine Schläfen rasiert. Die beiden Mädchen, die ihre Augen weiter auf den Fernsehschirm richten, sind seine Töchter. Will hat vor vier Jahren Barack Obama seine Stimme gegeben und sieht Zeichen für eine positive Entwicklung in der Wirtschaft. Er wünscht dem Präsidenten eine zweite Amtszeit. Weil er vor kurzem umgezogen ist, müsste er sich mit der neuen Adresse wieder registrieren lassen, um wählen zu können. Das ist ihm aber gerade zu kompliziert, er hat keine Zeit. Regie: 20. O-Ton WILL SPRECHER Ich habe momentan viele eigene Probleme, es war in letzter Zeit etwas hektisch. Mein Vater ist im Krankenhaus und ich versuche, mich auf die wichtigsten Dinge zu konzentrieren: die Familie, Gesundheit, dass wir zusammen sind. Wie kann ich über die Wahl nachdenken, wenn mein Vater im Sterben liegt? Das macht keinen Sinn. Autorin 26: Terry, sein Friseur, schüttelt energisch den Kopf. Für ihn ist eine Krise im Privatleben kein Grund, nicht zu wählen. Aus seiner Sicht muss alles getan werden, um zu verhindern, dass der Republikaner Romney gewinnt. Regie: 21. O-Ton TERRY SPRECHER Du musst Obama wählen, sonst bringst du uns hier um. Er hat noch nicht viel getan, aber er hat auch nicht so viel Scheiße gebaut wie Bush. Wenn Romney Präsident wird gibt es wieder mehr Kriminalität hier. Dann wird es für uns im Ghetto wieder schwerer, Geld zu machen. Dann bringen die Leute sich wieder für 50 Dollar um und so'n Mist. Verstehst Du? Autorin 27: Der Besitzer des Friseurladens, Juan Quesada, hört der Diskussion schweigend zu während er einem Kunden den Nacken ausrasiert. Der leicht übergewichtige Friseur ganz in schwarz mit streichholzkurzem Haar wirkt schüchtern. Sein Friseurstuhl steht vor einer Wand voller gerahmter Schwarz-Weiß-Fotos mit mexikanischen Revolutionären. Autorin 27: Juans Eltern kamen illegal über die Grenze in die USA. Er ist 27 Jahre alt, in Los Angeles geboren, hat vor drei Jahren sein eigenes Geschäft aufgemacht und arbeitet seither sieben Tage in der Woche von sieben Uhr morgens bis 19 Uhr. Seine Frau kümmert sich zu Hause um die eigenen zwei Söhne und um die drei Kinder des Ehepaares, mit dem sie sich eine Wohnung teilen. Juans Eltern haben ihm beigebracht, dass es wichtig ist zu wählen. Auch er würde Obama seine Stimme geben. Aber er darf nicht. Juan ist vorbestraft - wegen Drogenhandels. Das ist in Kalifornien ein Schwerverbrechen. Die Konsequenz: mehrere Jahre Haft und Entzug des Wahlrechts. Egal, meint er achselzuckend, meine Stimme würde auch nicht viel ändern. Regie: 23. O-Ton JUAN SPRECHER Sie machen am Ende sowieso was sie wollen. Der mit dem meisten Geld gewinnt und wird Präsident. So seh ich das. Genauso wie in Mexiko. Wer mehr Geld hat, gewinnt. Es ist Korruption wie in Mexiko. Hier gibt es mehr Gesetze, es ist etwas schwieriger, aber sie finden auch hier einen Weg. Autorin 28: Aus dem Wahlkampfbüro Obamas wird in den nächsten Tagen jemand Formulare in den Friseursalon bringen und versuchen, die unentschlossenen Friseure und ihre Kunden zum Wählen zu bewegen. Die Abendschicht heute hat ein anderes Programm. Regie: Atmo 13 Obama-Wahlkampf-Büro Rollenspiel Autorin 29: Mit Rollenspielen üben sie Wählermobilisierung auf der Straße. Albert sitzt noch immer am Telefon. Er ist in eine Diskussion verwickelt über den Krieg in Afghanistan und Drohnen, die Bomben über Pakistan abwerfen. Regie: 24. O-Ton ALBERT SPRECHER Aber - was macht Pakistan? Warum helfen sie uns nicht? Warum blockieren sie unsere Versorgungswege? Natürlich haben wir Fehler gemacht. Aber wir müssen zusammen arbeiten, um den Krieg zu beenden. Regie: Rest des Gesprächs unter Text Autorin 30: Seine Augen leuchten während des Gesprächs. Freundlich zählt er Errungenschaften der Obama-Regierung auf. Manchmal schaut er dabei kurz auf ein Flugblatt mit Stichworten zu Gesundheitsreform, Bildung, Einwanderung und Sicherheitspolitik. Plötzlich unterbricht er seinen Redefluss. Der Mann am anderen Ende sagt, er hat keine Zeit mehr. Regie: 25. O-Ton ohne Übersetzung stehen lassen "Oh that's fine. Don't worry about it. Have yourself a good evening, ok?" Autorin 40: "Unentschlossen" und "Nichtwähler" kreuzt Albert auf seiner Namensliste hinter der zuletzt gewählten Nummer an. Dann räumt er die Unterlagen zur Seite. Feierabend. Er lässt mit Büromanager Brian die Stahlrollläden vor der Tür hinunter. Zeit nach Hause zu gehen und mit den Kindern Pizza zu essen. Regie: Atmo 14 Stahlrollladen runterlassen, Verkehr ENDE 1