COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschtzt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszgen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielf„ltigt werden. Fr Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt. Zeitreisen 10. 7. 2013 Wandel durch Ann„herung Eine politische Jahrhundertidee von Winfried Str„ter O-Ton-Collage Wandel durch Ann„herung (mehrere Stimmen) Autor Es ist einer jener Begriffe, die zu Wegmarken der deutschen Nachkriegsgeschichte wurden. Schlagw”rter, die sich so sehr in den K”pfen verankerten, dass sie selbst Geschichte gemacht haben. Wie "die Unf„higkeit zu trauern", "die Gnade der sp„ten Geburt", "wir sind das Volk", "Wandel - O-Ton 1 (Nolte) ab 1.43 "Wandel durch Ann„herung" - sagte Egon Bahr 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing. Das ist vom historischen Ereignis l„ngst zu einer Formel mutiert, zu einem Topos, und ein Stck weit zu einem Mythos. Der Tutzinger Moment ist zu einem deutschen Erinnerungsort geworden. Autor Erkl„rte jngst der Berliner Historiker Paul Nolte in der Evangelischen Akademie Tutzing zum 50j„hrigen Jubil„um der Tagung in Tutzing, bei der das Wort in die Welt gesetzt wurde. O-Ton 2 (Nolte) ab 1.43 Mit diesem Begriff des Erinnerungsortes bezeichnet die Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit nicht nur Orte, physische Orte, an denen Erinnerung, z. B. nationales Gedenken, gepflegt wird, also ein Denkmal, eine Gedenkst„tte, einen authentischen Ort des Schreckens wie z. B. die Berliner Topographie des Terrors, es geht berhaupt nicht nur um r„umliche und physische Orte, an denen sich kollektive Erinnerung anhaftet und abgerufen werden kann, sondern um Projektionen des Kollektiven unseres gemeinsamen Ged„chtnisses, die bei vielen Menschen eine Kette typischer Assoziationen freisetzen und aus denen sich eine kollektiv bedeutsame Geschichtserz„hlung entwickeln l„sst. Die uns auch in der Gegenwart und m”glicherweise in der Zukunft betrifft. Autor Der Mann, der das Wort im zarten Alter von 41 Jahren in die Welt gesetzt und damals wtende Reaktionen provoziert hatte - er hatte das Glck, nun im rstigen Alter von 91 Jahren am selben Ort zu erleben, wie sein Wort, seine Idee und berhaupt alles, was er daraus konzeptionell und politisch entwickelt hatte, geradezu hymnisch gefeiert wurde - von allen Lagern, die sich einst so heftig befehdeten, damals, im Jahrzehnt nach 1963, O-Ton 3a (Beckstein) Waren Sie das Feindbild fr einen konservativen Politiker. Autor Fr einen wie Gnther Beckstein, CSU, den sp„teren bayerischen Ministerpr„sidenten, der nun im Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing dem ehemaligen Feindbild seinen Respekt bezeugte. O-Ton 3b (Beckstein) Ausverkauf deutscher Interessen - war so etwa das Schlagwort. Ich muss gestehen am Ende dieser Tagung, dass ich mit groáer Freude sehe, dass er ein, ich sage, lupenreiner Demokrat und groáer deutscher Patriot, dazu beigetragen hat, Geschichte in Bewegung zu bringen, da haben viele andere Punkte auch eine Rolle gespielt, unser Herrgott hat es gut gerichtet, dass aus ganz unterschiedlichen Beitr„gen etwas Gutes entstanden ist. Autor Egon Bahr warf einen schelmischen Blick zurck auf das Drama jener Jahre zwischen 1963 und 72, auf die fast unberwindlichen Schwierigkeiten zwischen Wort und Tat, zwischen "Wandel durch Ann„herung" und der Neuen Ostpolitik. O-Ton 4 (Bahr) Ich bitte um Verst„ndnis, wenn ich zun„chst mal meiner hemmungslosen Genugtuung und meines groáen Neides Ausdruck verleihe, nach dem, was der Herr Nolte gesagt hat, ich war immer neidisch und bin es noch, dass die Historiker, nachdem alles gelaufen ist, erkl„ren k”nnen, warum es so und nicht anders war. (Lachen, Applaus) Autor Zweifellos: Der Begriff "Wandel durch Ann„herung" fasste genial zusammen, was den Kern des politischen Umdenkens damals ausmachte. Die Idee war so einfach, dass man sie im Rckblick fast als banal ansehen k”nnte: Die Berliner Mauer war gebaut, die letzte offene Frage, ob die DDR nicht nur eine Zone war, sondern ein Staat mit einem Staatsvolk, war beantwortet. Das Volk konnte dem Staat nicht mehr entkommen. Daran konnte die Bonner Regierung und wollten die westlichen Verbndeten nichts „ndern. Was nun? Bonn, die Bundesregierung, beharrte darauf, die staatliche Existenz der DDR weiter in Abrede zu stellen. Das Rathaus Sch”neberg, der West-Berliner Senat, hatte die Mauer vor Augen und kam zu der Erkenntnis, dass man die ver„nderten Realit„ten nicht ignorieren k”nne. O-Ton 5a (Bahr) Wir haben im Sch”neberger Rathaus in der Erkenntnis, dass wir allein gelassen worden waren und niemand uns half, dieses Ding, die Mauer, wegzubringen, angefangen zu berlegen, ob man nicht durch kleine Risse in der Mauer wenigstens fr Stunden die Menschen wieder auf die andere Seite bringen konnte, damit die sich sehen konnten. Auch dafr brauchten wir die Zustimmung der 4 M„chte. Und auch die sowjetische Seite hat in der Erkenntnis, dass die Bev”lkerung in beiden Teilen der Stadt ungeheuer aufgewhlt war, die Zustimmung gegeben zu Verhandlungen des Senats mit der anderen Seite. DDR durften wir ja noch gar nicht sagen. Ohne sich klar zu machen, dass das im Grunde ein fantastischer Tabubruch gewesen ist. Denn die Union reagierte sofort und sagte: Mit Gef„ngnisw„rtern verhandelt man nicht. Und Brandt reagierte und sagte: kleine Schritte sind besser als groáe Worte. Die šberlegungen, die wir machten, waren also darauf begrenzt, einen kommunalen Notstand zu lindern. Und nichts sonst. Jetzt muss ich aber noch mal fragen, Herr Bahr, Sie kamen dann mit Willy Brandt an diesem besagten Tag im Juli nach Tutzing - Autor Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk, Moderator im Politischen Club der Akademie Tutzing anno 2013, O-Ton 5b (Gottlieb / Bahr) also Sie hatten berhaupt keine Rede in der Tasche, wenn ich das richtig nachgelesen habe, und Willy Brandt hatte eine Rede in der Tasche. Und in der Rede war auch dieser - vermutlich, da Sie ein sprachstarker Mann sind und stets waren - war auch dieser Begriff "Wandel durch Ann„herung" drin in dieser Rede von Brandt. Oder nicht? Nee. Das hatten Sie ihm noch nicht reingeschrieben. Nee. Das heiát also, Brandt hat also eine Rede gehalten hier in Tutzing, das ist ja das Erstaunliche, die weniger Wirkung gezeigt hat als die dann von Ihnen spontan angeschlossene, sozusagen Kurzrede, um die man Sie gebeten hatte, und in deren Mittelpunkt Sie als Kerngedanken diesen Begriff "Wandel durch Ann„herung" gestellt haben. Ohne eine klare Konzeption zu haben. Einfach ein guter Begriff, der in die Zeit gepasst hat und der natrlich den Gespr„chen zwischen Ihnen und Brandt irgendwo gedanklich entsprungen war. Aber eigentlich zeigt das ja, dieser Begriff - ein kleiner Anlass und eine enorme Wirkung, die davon ausging. Also da gibtïs ja viele Beispiele in der Geschichte, wo es „hnlich gegangen ist. Also, ich will darauf hinweisen, dass ich mich noch in den Anfangszeiten der Zusammenarbeit mit Brandt befand. Das bedeutete, dass, als die Akademie ihn hier gebeten hat, seine neuen Vorstellungen fr den Fall einer Kanzlerschaft in der Auáen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, wir ein Manuskript erarbeitet haben, was hin und her und her und hin ging. Als das also erledigt war, hat der Direktor des Politischen Clubs angerufen und hat gesagt, ich m”chte mich mit Herrn Walden zusammen auf ein kurzes, einen kurzen Diskussionsbeitrag vorbereiten. Matthias Walden. Und habe gesagt, mein Kopf ist leer. Und weil er so dr„ngte, bin ich dann auf die Idee gekommen, ich nehme einen Punkt aus der Rede von Brandt und exemplifiziere, was das fr das Verh„ltnis der beiden deutschen Staaten bedeutet. Und das habe ich dann runterdiktiert und da kam dann auch dieser omin”se "Wandel durch Ann„herung" vor und dann sind wir zusammen nach Mnchen geflogen, und dabei habe ich ihm das gezeigt. Dem Willy Brandt. Im Flugzeug. Ja. Und da hat er drauf geguckt und gesagt, ja, in Ordnung. Erledigt. Und dann waren wir beide berrascht, dass dieser kleine Diskussionsbeitrag wie eine Bombe einschlug und ungerechterweise die hervorragende, auch heute noch hervorragend zu lesende Rede von Brandt dabei unterging. Er war ein bisschen muffig, aber man konnte es nicht „ndern. Autor Protokollarisch war beim Politischen Club in Tutzing am 15. Juli 1963 alles auf den Kopf gestellt. Egon Bahr, der Senatspressesprecher, stellte nicht nur seinen Chef Willy Brandt in den Schatten, sondern auch Konrad Adenauer: Der Bundeskanzler war der rangh”chste Teilnehmer der Tagung - aber seine Teilnahme ist heute kaum mehr eine Fuánote in den Geschichtsbchern wert. Adenauer war am Ende seiner Karriere, musste im Oktober 1963 zurcktreten, und hatte buchst„blich nichts mehr zu sagen. Nichts Wichtiges. W„hrend Bahr und Brandt wenige Monate sp„ter die Gelegenheit nutzten, im Kleinen auszuprobieren, was sp„ter den Kern der Neuen Ostpolitik ausmachen sollte: mit der anderen Seite respektvoll verhandeln, mit allen Mitteln diplomatischer Kunst unl”sbaren Streit in Grundsatzfragen ausklammern und ein praktisches humanit„res Projekt verwirklichen: Passierscheinabkommen fr die West-Berliner Weihnachten 1963. Das erste Wiedersehen seit dem Mauerbau. Es war, so der Historiker Paul Nolte, eine Demonstration der Kraft der neuen Idee. O-Ton 6 (Nolte) In dem ersten Passierscheinabkommen, das ber den Jahreswechsel 1963/64 etwa 1,2 Millionen Besuche von West-Berlinern bei Verwandten im Ostteil der Stadt erm”glichte, das muss man sich mal vorstellen, diese Zahl, die ist irrsinnig angesichts der Bev”lkerung von etwa 2 Millionen. Autor Und dann hat alles geklappt, wie Brandt und Bahr sich das nur in ihren khnsten Tr„umen h„tten ausmalen k”nnen. Brandt wechselt 1966 nach Bonn, Bahr bekommt dort Zeit, sich in die Materie einzuarbeiten. Brandt wird 1969 Kanzler, Bahr sein Chefdiplomat fr die Neue Ostpolitik, und er kann die Idee von Tutzing in praktische Politik verwandeln: Vertr„ge mit den Ostblockstaaten, mit der DDR, Vierm„chteabkommen zur Regelung des Berlinverkehrs - Egon Bahr muss nur noch die eine wichtige Frage beantworten: wie es denn nun um die Einheit der Nation stehe. Die Antwort darauf gibt er 1973, als in der Evangelischen Akademie Tutzing erstmals eine Gedenktagung stattfindet, zum zehnj„hrigen Jubil„um von Tutzing 1963: O-Ton 7 (Bahr 1973) Die Frage der staatlichen Einheit ist eben a) zu einem Prozess geworden, den die die Geschichte zu beantworten haben wird, b) muss man sehen, dass die Frage der staatlichen Einheit auch die Frage aufwirft, geht das berhaupt, Gebiete aus zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen zusammen zu tun? Und dies kann heute niemand beantworten. Unabh„ngig davon, dass wir dies nicht beantworten k”nnen, wenn wir ehrlich sind, bleibt der Wille zur staatlichen Einheit. Der wird durch die Geschichte, er wird auch durch die Menschen selbst beantwortet werden, wenn sie eine Chance dazu haben. Heute gibt es diese Chance nicht. Autor Mehr war 1973 dazu nicht zu sagen. Dass die Menschen schlieálich die Chance erhalten und diese nutzen; dass die Politik tats„chlich gezwungen wird, Bahrs Frage zu beantworten, ob denn berhaupt zwei Systeme zusammengefgt werden k”nnen: So ein Glck erleben Realpolitiker mit Visionen selten. O-Ton 8 (Erler) Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erreichte die von Egon Bahr 27 Jahre zuvor hier in Tutzing eingeleitete Entspannungspolitik ihre historische Vollendung. Autor So resmierte in Tutzing der SPD-Politiker Gernot Erler. Nun erst wird der vom Historiker Paul Nolte beschworene "Moment von Tutzing" zum Erinnerungsort. Und die Erinnerung daran, dass das ganze Geb„ude der Neuen Ostpolitik fast jederzeit einsturzbedroht war, dass ein Scheitern viel wahrscheinlicher war als der Erfolg, verblasst. O-Ton 9 (Ferber) Naja, ich vermute, im Rckblick warïs alles recht leicht. Damals war es sehr schwer. Autor So kommentierte jetzt in Tutzing der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber. Aber gerade weil gegen alle Widerst„nde und Wahrscheinlichkeiten alles so gut aufgegangen ist, wurde "Wandel durch Ann„herung" zur Zauberformel fr Konfliktl”sungen. Jedenfalls, wenn diese Voraussetzung gegeben ist, so Egon Bahr: O-Ton 10 (Bahr) Sie k”nnen Wandel durch Ann„herung nur anwenden mit einem Partner, der das auch will. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, der will gar nichts „ndern, dann funktioniert es selbstverst„ndlich nicht. Autor Aber - die internationale Diplomatie hat heute das Konzept im Koffer. Denn es gibt Situationen, auf die es anwendbar ist. O-Ton 11 a (Ischinger) Ich will nur mal einen Punkt nennen, der mich selber sehr besch„ftigt hat und da kann man in der Tat sehen, dass solche Erfolgsgeschichten auch Pr„zedenzwirkung haben k”nnen. Stichwort Kosovo. Autor Wolfgang Ischinger, ehemaliger deutscher Botschafter, heute Leiter der Mnchener Sicherheitskonferenz. O-Ton 11 b (Ischinger Forts.) Ich musste etliche Zeit mich sehr intensiv, zum Teil im Auftrag der EU, mit der Kosovo-Problematik auseinandersetzen. Und ich habe dann entdeckt, dass das Problem zwischen Serben und Kosovaren eigentlich nicht ganz un„hnlich dem damaligen Problem zwischen BR Deutschland und DDR war, n„mlich, man wollte zwar irgendwie miteinander reden, aber man wollte um Gottes willen nicht den andern anerkennen. Also die Serben schon mal gar nicht den Kosovo. Es ging also um die Frage, kann man praktische Erleichterungen schaffen, ohne sich gleich voll anzuerkennen. So. Dann hab ich denen mal das Bahrïsche Vertragswerk mitgebracht zum Studium, und inzwischen gibt es ja ein serbisch-kosovarisches Abkommen, das noch nicht implementiert ist, aber der Kern dieses Abkommens ist exakt, und ich will jetzt gar nicht sagen, dass das mein Erfolg w„re, aber ich bin ganz sicher, dass der Kern dieses Abkommens genau der Philosophie des damaligen deutsch-deutschen Vertrags entspricht, n„mlich, wir schaffen praktische Schritte unter Ausklammerung dessen, was zur Zeit nicht l”sbar ist. Autor Bedenkt man, wie Deutschland in der ersten H„lfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf der internationalen Bhne aufgetreten ist - nicht erst mit Hitler, sondern schon mit Kaiser Wilhelm -, dann geh”rt dies zu den erfreulichen Ph„nomenen der zweiten Jahrhunderth„lfte: dass es deutsche Diplomatie geschafft hat, aus einer schwachen Position heraus einen weltpolitischen Konflikt zu entsch„rfen und dabei Muster fr friedliche Konfliktl”sungen zu schaffen. Wie gehe ich mit der anderen Seite um, mit der ich nicht einverstanden bin? Mit ihrer Innenpolitik ebenso wenig wie mit ihren auáenpolitischen Vorstellungen? Das war der Ausgangspunkt in den 1960er Jahren, als klar war, dass man weder die Sowjetunion noch die DDR bekehren oder in die Knie zwingen konnte. Und das ist, wie jetzt in Tutzing deutlich wurde, ein viel aktuelleres Problem der deutschen - europ„ischen - westlichen Ostpolitik, als gemeinhin wahrgenommen wird. O-Ton 12a (Ischinger) Also die Lage ist erstaunlicherweise auch im Jahre 2013 so. Autor Wolfgang Ischinger. O-Ton 12b (Ischinger Forts.) Interkontinentalraketen warten abschussbereit darauf, im Fall der F„lle den Atlantik berqueren zu k”nnen, und weiterhin, daran hat sich berhaupt nichts ge„ndert in den letzten 20 Jahren, amerikanische und russische Groást„dte, wennïs denn sein muss, in Schutt und Asche zu legen. Die Vereinigten Staaten sind im Augenblick dabei, 410 Mrd. US-Dollar fr die Modernisierung der Nuklearstreitkr„fte aufzuwenden, in Russland ist die Rede (ich kann das nicht in Dollar oder Euro bersetzen) von 1,9 Trillionen Rubel, Frage: Macht das Sinn? Es gibt also erstaunlicherweise mehr als 20 Jahre nach dem offiziellen Ende des Ost-West-Konflikts und des Kalten Kriegs gibt es diesen Konflikt - er lebt weiter in den Milit„rdoktrinen, das Denken in Washington und in Moskau ber den jeweils anderen vom Denken des Ost-West-Konflikts, des Kalten Kriegs, beherrscht, obwohl wir in allen Gipfelerkl„rungen immer wieder sagen, wir betrachten uns nicht mehr als Gegner oder Feind. Das ist die Lage. Autor Bundesauáenminister Westerwelle sah sich gen”tigt, bei der Tagung in Tutzing deutlich zu machen: O-Ton 13 (Westerwelle) Sicherheit und Frieden in Europa kann es dauerhaft nur mit Russland und nicht gegen Russland geben. Autor Verwundert reibt man sich die Augen: Waren das nicht Selbstverst„ndlichkeiten angesichts des historischen Erfolges von "Wandel durch Ann„herung"? Dass die šberwindung des Kalten Krieges nicht einmal die machtpolitischen Rivalit„ten der alten Kontrahenten beendet hat: das ist eine der ernchternden Erfahrungen der Jahre nach 1990. Wolfgang Ischinger: O-Ton 14 (Ischinger) Es gab ja dieses Bild, unter anderem von Gorbatschow gepr„gt, vom gemeinsamen Haus. Ich habe vor ein paar Jahren eine junge amerikanische Historikerin kennengelernt, die hat, wie ich finde, die treffende Bemerkung gemacht, dass wir, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nach der Wiedervereinigung, zwar ein europ„isches Haus errichtet haben, aber irgendwie ohne ein anst„ndiges Zimmer fr Russland. Ich glaube, das Hauptproblem, das war brigens zu Zeiten der Bahrïschen Verhandlungen auch ein Hauptproblem, ist aber heute erst recht ein Hauptproblem, ist das mangelnde Vertrauen. In Moskau denkt man, alles, was die Amerikaner und natrlich die NATO und der Westen sich vornehmen, ist darauf gerichtet, uns zu schw„chen, es kann eigentlich nicht anders sein, ergo ist jeder Vorteil fr die USA ein Nachteil fr uns. Auf amerikanischer Seite ist es „hnlich, wir vertrauen uns gegenseitig nach wie vor nicht hinreichend, ich glaube, das ist der entscheidende Punkt, man muss erkennen, dass es sich lohnt, sich zu vertrauen und etwas zusammen zu machen. Autor Wandel durch Ann„herung. Wie anspruchsvoll dieser Gedanke in der politischen Realit„t heute noch ist, wurde bei der Tagung in Tutzing auch klar, als die innerdeutsche Wirklichkeit nach ber zwei Jahrzehnten Einigungsprozess thematisiert wurde. Das Ungleichgewicht zwischen Ost und West, Fremdheit und Entfremdung, das mangelnde Interesse freinander: Die Wunden der Wendezeit sind noch lange nicht verheilt. Markus Meckel, 1990 DDR-Auáenminister der ersten frei gew„hlten Regierung, wehrt sich gegen das Geschichtsbild in offiziellen politischen Reden: O-Ton 15 (Meckel) Der Mauerfall ist eben nicht eine ™ffnung der Mauer, sondern ist im Rahmen einer friedlichen Revolution gefallen, wir haben dann die šbergangsphase gehabt am Runden Tisch, und dann eine frei gew„hlte Regierung. Wenn ich den Prozess, die 15 Monate, anschaue, dann wird aber von den Hunderttausenden auf der Straáe geredet, und dann nach dem 9. November kamen die richtigen Politiker und haben die Einheit gemacht. In meinen Augen war dieser Prozess strukturell ein Prozess des Selbstbewusstseins der Ostdeutschen, wir sind n„mlich aufrechten Ganges in die deutsche Einheit gegangen. Dann hatten wir eine gew„hlte Regierung, die dringend notwendig war, um die deutsche Einheit zu verhandeln. Das taucht in den Reden normalerweise nicht auf, man fragt sich manchmal, wenn man so das ”ffentliche Bild sich ansieht, weshalb waren die DDR-Brger so bl”d, nach dem 9. November berhaupt eine eigene Regierung bilden zu wollen? Das wrde doch der Normalbrger nach diesen Reden berhaupt nicht mehr beantworten k”nnen. Warum war es aber notwendig? Weil es eine verhandelte Einheit sein musste und weil diese verhandelte Einheit natrlich nur von einer gew„hlten Regierung mit Legitimation gemacht werden konnte. Das taucht in den Reden normalerweise nicht auf. Autor Deutsch-deutsche Wahrnehmungen und Realit„ten. Egon Bahr: O-Ton 16 (Bahr) Also, von der DDR h„tte verdient mehr brig zu lassen als das grne M„nnchen und ich weiá nicht, was sonst noch. Das sehen wir doch in dem, was wir jetzt beklagen, was in Westdeutschland fehlt mit Kinderg„rten etc. pp. Und es hat auch lange gedauert, ehe es Allgemeinheit im Westen wurde zu sagen, wir respektieren den unterschiedlichen Lebenslauf. Es hat auch lange gedauert, ehe der Westen bereit war zu sagen, es hat auch ein richtiges Leben im falschen System gegeben. Zum Teil sind die Leute aus der DDR zweitklassig behandelt worden. Und das bezahlen wir noch ne ganze Weile. Autor Gregor Gysi: O-Ton 17 (Gysi) Das Problem ist doch folgendes: Wenn man ein anderes Land, eine andere Gesellschaft, bernimmt, bernimmt man sie ganz. Man kann sich nicht die Teile aussuchen. Und sagen: die will ich haben und jene schick ich nach Rum„nien. Das ist nicht erfunden, deshalb muss man sie ganz bernehmen, das ist immer ein sehr komplizierter Vorgang. Vieles ist besonnen geschehen, bei der Wirtschaft h„tte ich etwas anderes gemacht, aber darauf will ich gar nicht hinaus. Ich meinte etwas anderes. Es gab ein psychologisches Moment. Oder zwei psychologische Momente. Es gab nie eine Vereinigung der Eliten. Nun ist das klar, die politischen Eliten konnten gar nicht vereinigt werden. Aber warum nicht die wissenschaftlichen, warum nicht die knstlerischen? Was ich meine, ist Folgendes. Man h„tte bei der Herstellung der deutschen Einheit sich vorher den Osten genau angucken mssen, h„tte sagen mssen, 90 oder 95 Prozent ist Mist, alles weg, aber 5 Prozent - das ist gar nicht schlecht, das fhren wir in ganz Deutschland ein. Sagen wir mal, die Polykliniken, die wir jetzt Žrzteh„user nennen, oder was wirklich gut war, eine Berufsausbildung mit Abitur, ist ja einfach abgeschafft worden, dabei war das eine gute Idee, das Netz an Kindertagesst„tten - wichtig w„re mir gewesen fr das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, dass die sich gesagt h„tten, guck mal, 95 Prozent taugte nichts, aber bei 5 Prozent sagt selbst Helmut Kohl, das bernehmen wir jetzt fr ganz Deutschland, und noch wichtiger w„re mir gewesen fr die Einwohner-innen in Passau und in Tutzing und in Frankfurt am Main und in Kiel, am 3. Oktober 1990 das Erlebnis gehabt zu haben, dass durch die šbernahme von einigen Oststrukturen sich ihre Lebensqualit„t erh”ht. Ein solches Erlebnis hatte keine Westdeutsche und kein Westdeutscher. Und das hat Folgen bis heute. Herr Beckstein, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, wenn ich in Passau aufgewachsen w„re, h„tte ich am 3. Oktober 1990 ein Glas Sekt getrunken und gesagt, sch”n, die Ossis kommen hinzu, dann merke ich seitdem, mit mir gehtïs sozial bergab, der Osten kostet bloá Geld, aber es kommt keins raus, auáerdem n”rgeln sie rum und w„hlen komisch. So w„re meine Einsch„tzung. (Lachen, Beifall) Und dann erinnere ich mich, was hab ich eigentlich von den Ossis? Nscht. Auáer dass sie mich was gekostet - und das meinte ich! Autor Das Ungleichgewicht zwischen West und Ost war evident - es war die Grundlage der alten und der neuen Ostpolitik. Adenauer hatte aus der St„rke des Westens den Schluss gezogen, dass man die DDR bergehen und ihre staatliche Existenz ignorieren k”nne. Brandt und Bahr hatten das angesichts der Mauer als Trugschluss erkannt und suchten Wege zur Verst„ndigung. Aber das Selbstbewusstsein war „hnlich: Auch sie gingen davon aus, dass der Westen stark genug ist, um sich auf das Verhandlungswagnis mit dem Osten einzulassen. Und dass am Ende das westliche System siegen wrde. Dieses Selbstbewusstsein war in der Bundesrepublik gesellschaftlich so tief verankert, dass nach 1990 ein mentaler Wandel n”tig gewesen w„re, um eine Ann„herung zwischen den ungleichen Teilen der Nation zu erm”glichen. Markus Meckel: O-Ton 18 (Meckel) Die langen Pr„gewirkungen aus der kommunistischen Zeit sind doch etwas, was sehr nachwirkt. Dazu geh”rt eben einfach, der normale DDR-Brger hat doch keinen Diskurs in der Schule gelernt, wenn er dies woanders lernte, hatte er Glck durch seinen famili„ren Kontext. Es wurde in der Gesellschaft nicht ein freies Denken und Handeln, ein innovatives Handeln gef”rdert, sondern ein angepasstes Handeln. Als 1973 mit amerikanischer Hilfe Pinochet Herrn Allende den Putsch gemacht hat, wollten wir mit ein paar Jugendlichen auf die Straáe gehen. Dies wurde verhindert von der Staatssicherheit, 3 Tage sp„ter fand mit dem gleichen Ziel der Ablehnung dieses Putsches mit Hunderttausenden die groáe Demonstration statt. Das gleiche Ziel! Warum hat man das bei uns Hanseln verhindert? Weil wirïs selbstst„ndig taten. Wir h„tten beim n„chsten Punkt auch zu etwas anderem, was nicht unbedingt den gleichen Zielen entsprach, agieren k”nnen. Das ist etwas, was man, wenn es so tief drin steckt in der Generation, nicht ber Nacht wegkriegen kann, die Mobilisierung von Initiative, da ist, glaub ich, h„tte man mit ein bisschen Fingerspitzengefhl manches noch besser machen k”nnen, als wir es gemacht haben, auf der anderen Seite muss man auch sagen, es gibt immer Verlierer solcher Umbrche. Autor Wandel durch Ann„herung als gesellschaftlicher Prozess - da w„re, auch heute noch, mehr Interesse vonn”ten. Des Westens am Osten und des Ostens am Westen. Gregor Gysi: O-Ton 19 (Gysi) Sie sind mir nicht aufgeschlossen genug dem Westen gegenber. Sie sind mir nicht neugierig genug. Und Sie wissen ja, 40 Prozent der Menschen in den alten Bundesl„ndern waren noch nie in den neuen, noch nie. Nicht mal ein Besuch! Sind wir denn alle bekloppt oder was? Man muss doch wenigstens neugierig sein! Sich das mal ansehen, mit Leuten sprechen. Und das hatte ich immer so erwartet, dass man sich freinander interessiert. Autor Wandel durch Ann„herung: Welche Wirkung diese Randbemerkung eines West-Berliner Senatspressechefs bei der Tutzinger Akademietagung 1963 entfaltete, davon zeugte nicht zuletzt das auáerordentlich groáe Interesse an der Tagung zum selben Thema am selben Ort, jetzt, 50 Jahre sp„ter. O-Ton 20 (Nolte) Wenn es das noch einmal g„be. Wann kommt der n„chste Bahr? Der in unseren R„umen eine solche Schneise fr die Jahrzehnte schl„gt? Autor Fragte Paul Nolte am Ende der Tagung. Doch Geschichte wiederholt sich nicht. Auf den n„chsten Bahr zu warten, lohnt sich nicht. Es reicht, wenn man versucht, die politische Jahrhundertidee des Sommers 1963 auf gegenw„rtige Verh„ltnisse anzuwenden - in der Politik wie im gesellschaftlichen Alltag. Zeitreisen "Wandel durch Ann„herung" 14