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Zitatorin: Es ist? nicht ein Sprung, wie mit dem Flugzeug; es ist, als ob sich das angenehmste Nichts zwischen die Länder oder die Zeiten schiebe; ganz realitätslos, so ohne fühlbaren Widerstand wie das Wasser selbst, diese ungeheuere Wasserwüste, die man Ozean nennt? Er: Ich glaube, ich würde ähnlich empfinden. Ich könnte es nur nicht so ausdrücken. Sie: Könnte sein. Hannah Arendt ist eine kühle Denkerin. Er: Kühle Raucherin. Sie: Sie reist durch Deutschland, Frankreich, die Schweiz. Sie staunt, wie gut es den Er: ? bösen? Sie: Deutschen schon wieder geht. Empfindet keinen Neid. Zitatorin: Die Prosperität ganz ungebrochen, es geht den Leuten großartig.   Er: Da kommen die Dichter und Denker ins Grübeln. Sie: In Flensburg wird die Verkehrsünderkartei eingerichtet. Er: Davon hab ich schon mal was gehört. Sie: Luxusprobleme. Er: Der Bundestag beschließt die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Sie: Apokalyptische Gefühle. Die Menschheit im Bann der Bombe. Sie traut sich nicht zu, die Bombe zu besitzen, ohne sie dann auch zu werfen. Der Drang zur Selbstvernichtung ist zu groß. Gelehrte, Intellektuelle, Künstler, Gewerkschafter, SPD-Mitglieder laufen Sturm dagegen. Er: In der DDR werden die Lebensmittelkarten abgeschafft. Zitator: Radio und Presse? überprahlen den Erfolg, reden von unserer Überlegenheit dem Westen gegenüber, wo doch unser Spätkommen, unsere Armut am Tage liegen, wo doch niemand voll befriedigt ist? Sie: ? schreibt Victor Klemperer müde, Philologe jüdischer Herkunft, der den Faschismus in Deutschland überlebte, LTI geschrieben hat, Die Sprache des dritten Reiches, und nun schon wieder voller Unruhe beobachtet, wie dumpfes Fühlen das Denken in der Sprache ersetzt. Er: Kulturexport. Joachim Kraudelat, in Tilsit geboren, nach Ostdeutschland umgesiedelt, in den Westen geflüchtet, wandert mit seinen Eltern nach Kanada aus, wird später als John Kay die Galionsfigur der Rockband Steppenwolf und kann von seinem Song ?Born to be wild? ein Leben lang leben. Sie: Kulturimport. Deutsche Teenager kreischen ekstatisch, als der Truppentransporter ? USS General Randall? in Bremerhaven anlegt. An Bord Elvis Presley. Der King of Rock wird GI und dient im Stabsbataillon der 2. US-Panzerdivision als Aufklärer und Jeepfahrer, lebt mit Vater und Großmutter privilegiert in einem Haus in Bad Nauheim, lernt in der vierzehnjährigen Priscilla Beaulieu, Stieftochter eines Luftwaffenoffiziers, seine spätere Frau kennen, bei Manövern kommt er erstmals mit Sucht verursachenden Aufputschmitteln in Berührung. Musik ? Elvis Presley: Jailhouse-Rock 92-78920 Er: Atempause. Die politischen Grundsatzfragen sind entschieden. Die Westbindung der Bundesrepublik, die Ostbindung der DDR, der Aufbau der Bundeswehr, der Aufbau der Nationalen Volksarmee. Sie: Die Jugend setzt sich von den Vorgängergenerationen ab. Rock?n? Roll ändert die Alltagskultur. Bill Haley und die Kometen geben ein Konzert im Berliner Sportpalast. Das Publikum zertrümmert das Mobiliar. Schalke 04 wird deutscher Fußballmeister. Zum letzten Mal bis in alle Ewigkeit. Er: Der Osten buchstabiert einer desinteressierten Öffentlichkeit die Zehn Gebote der sozialistischen Moral. In den Schulen beginnt unter der Marke ?Einführung in die sozialistische Produktion? der polytechnische Unterricht. Auf der Leipziger Messe wird der Kleinwagen ?Trabant? aus dem VEB Sachsenring Zwickau vorgeführt. In Rostock feiert die Internationale Ostseewoche ihre Premiere. Sie: Der Krieg findet jetzt im Fußballstadion statt. Er: Fußballweltmeisterschaft in Schweden. Deutschland kommt als Titelverteidiger, das ist einer der Ausgangsmythen der jungen Bundesrepublik. Im Halbfinale geht es gegen Gastgeber Schweden. Unter aufgeputschten Fans entsteht eine feindliche Atmosphäre im Stadion von Göteborg: Der deutsche Abwehrspieler Juskowiak lässt sich von Schwedens Stürmer Hamrin zu einem Revanchefoul provozieren und wird des Feldes verwiesen. Sie: Aus der Traum, Weltmeister zu sein. Nach der unglücklichen Niederlage kommt es in Deutschland zu Ausschreitungen gegen schwedische Touristen. In Hamburg werden Reifen von schwedischen Autos zerstochen. Die populäre Schwedenplatte verschwindet von den Speisekarten der Restaurants. Er: Der Deutsche kann nicht mehr verlieren. Sie: Moment! Der Westdeutsche. Es gibt auch noch den Ostdeutschen mit seinen Komplexen. Er: Ach ja. Beinah vergessen. Hannah Arendt hält Vorträge über die Krise in der Erziehung, wechselt Briefe mit Heinrich Blücher, ihrem in Amerika gebliebenen Mann? Sie: ? wunderbare Briefe? Er: trifft ihre Vergangenheit, beobachtet, registriert. Zitatorin: Gestern waren wir hier im Theater, sehr gut gespielte Stücke von Max Frisch, so ?ne Art Schweizer Nihilismus, aber in der Form einer französischen Gesellschaftskomödie, also wenigstens lustig. Er: Diskussionen in Universitäten. Begeisterte Studenten. Würdige Gelehrte. Zitatorin: Stell Dir vor, mit Horkheimer, Ludwig Marcuse, Wilhelm Herzog und Hermann Kesten zusammen? Die Herren kamen sich in die Frisuren, und wie! Und die Eitelkeit. Wenn dort mal einer Applaus hatte, stand er auf, wie in der Oper, und verneigte sich! Unbeschreiblich? Ich lache noch, wenn ich nachts aufwache und daran zurückdenke. Sie: Arendts Lehrer und Freund, Karl Jaspers, hat das Buch ?Die Atombombe und die Zukunft des Menschen? geschrieben? Er: ? ein ungeheurer Erfolg auf dem Buchmarkt, die Angst sitzt tief in den Menschen? Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 2:58) Sie: Jaspers erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Hannah Arendt soll die Laudatio halten. Zitatorin: Als ich die Deutschen fragte, wie seid Ihr gerade auf mich verfallen, sagten sie: Es wäre so gut, dass eine Frau zum ersten Mal in der Paulskirche aufträte. Überschrift: Sommersprossen sind auch Gesichtspunkte. Er: Ach, so meint sie das. Sie: Sie zögert. Einiges spricht dagegen. Sie hat auch Angst. Blücher rät zu. Es bleiben kleinere Probleme. Zitatorin: Lange Diskussion mit Frau Jaspers, was er anziehen soll. Ich: Schwarzer Anzug. Sie: Hat er nicht, und da er schon so alt ist, lohnt sich die Geldausgabe nicht mehr. Der alte blaue, noch aus Heidelberg, ist gut genug. Ich: Woher wissen Sie, wann er stirbt? Sie: Selbst wenn er noch zehn Jahre lebt, braucht er den Anzug nie wieder. Ich: Kann man gar nicht wissen ? diskrete Anspielung auf Nobelpreis ? und was koste er denn. Sie: 1000.? frcs (ca. 250.- Dollar)! (mit hörbarem Entsetzen). Ich: Das sind nicht mehr als 10 % des Preises. 10 % des Preises sind normal. Er: Man höre die Stimmen von Arendt und Jaspers in der Paulskirche zu Frankfurt am Main und stelle fest, dass die Philosophen durchaus Talent zu Pathos und Feierlichkeit hatten. In den fünfziger Jahren. Man kann auch zwei Sorten von Pathos unterscheiden und sich fragen: Was bleibt übrig, wenn das Pathos abgezogen wird. O-Ton Hannah Arendt: Jaspers war fünfzig, als Hitler an die Macht kam. Das ist ein Alter, in dem die überwiegende Mehrzahl der Menschen längst aufgehört hat, Erfahrungen zu machen und in welchem gerade die Gebildeten sich zumeist längst so auf ihre Meinungen versteift haben, dass sie in allem Wirklichen nur noch Bestätigungen ihrer Meinungen sehen und hören, nun! Jaspers hat, wie Sie alle wissen, auf die entscheidenden Ereignisse der Zeit, die er so wenig wie irgendein anderer vorausgesehen hat, weder mit einem Rückzug auf seine eigene Philosophie, die damals ja bereits vorlag, noch mit einer Verneinung der Welt, noch mit Verdüsterung reagiert? Bei Jaspers aber liegt das Großartige seiner Gegenwärtigkeit darin, dass er sich erneuert, weil er unverändert bleibt, nämlich der Welt so verbunden wie immer und den Ereignissen der Zeit mit unveränderter Treffbarkeit und Fähigkeit zur Sorge folgend. Er: Der Geehrte spricht über Deutschland. O-Ton Karl Jaspers: Leistung allein genügt nicht. Die Hauptsache ist damit noch gar nicht geschafft. Der Stolz auf die Leistung trügt und darf nicht ablenken vom Wesentlichen. Aus der Anstrengung des Arbeitsbetriebes und aus der Vergessenheit zur Besinnung kommend fragen daher immer mehr Deutsche: woher unser Ungenügen? Woher ein Gefühl der Unwahrheiten, im Grunde der totalen Ungewissheit? Was fehlt? Was wurde versäumt? ? Friede ist nicht Kampflosigkeit. Aber der Mensch kann den Kampf verwandeln, aus gewaltsamem Kampf in den geistigen und in den liebenden Kampf. Der gewaltsame Kampf erlischt in der Kommunikation. Statt Überlegenheit im Sieg ist das Ergebnis die gemeinschaftliche Wahrheit. Durch solchen Kampf miteinander kommt erst der Einzelne zu sich selbst. Der liebende Kampf stellt alle Mittel der Gewalt, auch der intellektuellen Gewaltsamkeit, die als stärkere Rationalität der stärkeren Muskelkraft entspricht, dem Partner in gleicher Weise wie sich selbst zur Verfügung und damit hört die tödliche Wirkung auf. Sie: Das Wort ist der Taten Schatten, schreibt Hannah Arendt, Platon zitierend, in ihr Denktagebuch. Er: Ein anderes Tagebuch. Peter Rühmkorf. Er notiert: Zitator: Dez. 58. Erhielt den ersten und einzigen Literaturpreis meines Lebens? Kaufte mir für die gnadentriefenden tausend Mark einen Kühlschrank und eine Gaspistole (beides heute noch in Betrieb). Er: Zu Rühmkorfs Gedichtband ?Irdisches Vergnügen in g? schreibt der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Friedrich Sieburg: Zitator: Für unseren Autor sind die Aussichten hell, wir werden ihn bald beim Rundfunk, als Redakteur oder Lektor, sehen, und überall wird er seinen Hauptberuf als Revolutionär ohne ernste Störungen weiter ausüben können. Wir brauchen solche Leute, unsere Gesellschaft bedarf der verlorenen Söhne, der Umstürzler und Bußprediger; wir sorgen dafür, dass sie nicht im biblischen Schweinekoben oder im Dachstüblein verkommen, sondern ihren sicheren Platz am Diplomatenschreibtisch finden.? Sie: Das Jahr ist nicht so friedlich, wie es scheint. Ein Konservativer wie Sieburg? Er: Alfred Andersch bedenkt ihn mit dem Etikett ?größte und stinkendste Kanalratte in dem, was sich heute deutsche Literatur nennt?? Sie: ? sieht den Auftritt der neuen, heiteren, anarchistischen Generation mit reaktionärem Unbehagen. Er: Der größte Roman des Jahres kommt aus dem Osten. Sie: Nackt unter Wölfen. Er: Nachdem das Buch erfolglos verhindert wurde? Sie: Das heißt gegen alle Widerstände, allen Hochmut, und alles Desinteresse doch erschien? Er: Wurde es in dreißig Sprachen übersetzt. Der erste Welterfolg der DDR-Literatur. Sie: Sein Autor, Bruno Apitz, war immer so alt wie das Jahrhundert. Sohn eines Wachstuchdruckers und einer Waschfrau aus Leipzig. Schlug sich als Stempelschneider, Buchhandlungsgehilfe, Laufbursche und Schauspieler durchs Leben. Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Als aktiver Kriegsgegner und Kommunist oft in Haft. Verbringt acht Jahre im Konzentrationslager Buchenwald. Er: Sein Trauma, das den Rest seines Lebens bestimmte. Bruno Apitz war ein stiller hagerer Mann, der ab und zu im Schriftstellerverband auftauchte und nichts sagte. Der noch ein zweites Buch schrieb, das nicht beachtet wurde. Posthum erschien ein drittes, auch nicht beachtet. Der Schriftstellerin Eva Lippold hat er sich anvertraut, als er noch nicht der Apitz von Nackt unter Wölfen war. O-Ton Eva Lippold: Er hatte die ersten hundert Seiten nicht nur jemand, sondern vielen Verlagen angeboten. Aber? Nichts, sagte Bruno, sie haben es mir zurückgeschickt, alle, es sei literarisch nicht gelungen und im Übrigen wolle KZ-Literatur niemand mehr lesen, das Thema habe sich erschöpft. Vorsichtig fragte ich, ob er es dennoch weiter schreibt. Er müsse es tun, sagte er, seinetwegen und des Stoffes wegen. Er saß da, niedergeschlagen, zweifelnd an sich und seinem Können. Und ich fürchtete mich davor, das Urteil der Verlage vielleicht bestätigen zu müssen. Wenn es mir diesmal nicht gelingt, dann mache ich Schluss, verstehst du. Lass mich das von ihm Geschriebene gut finden, betete ich wie ein bigotter Christ? Bruno Apitz las überraschend gut. Aber nicht wie, sondern, was er las, ließ uns alle Ängste vergessen? Dieses, wenn er es so zu Ende führt, wird bleiben. Er: Nackt unter Wölfen ist die Geschichte der Rettung eines dreijährigen Jungen, den ein polnischer Häftling in einem Koffer ins Lager schmuggelt. Ein Kind, völlig verstört, wie ein Tier auf seine Instinkte verwiesen. Die Häftlinge verstecken und umsorgen es. Sie: Womit sie sich in Gefahr bringen, sich selbst und das Internationale Lagerkomitee, die streng gegliederte die Organisation kommunistischer Häftlinge, deren Führung fürchtet, durch das Kind auffliegen zu können. Er: Soll man das Kind preisgeben? Oder kann man sich der Gefahr aussetzen? Sie: Es sind einzelne Häftlinge, die sich der Anweisung des Lagerkomitees widersetzen. Das Kind wird gerettet, das Lager befreit. Er: Die Systeme arbeiteten sich an Bruno Apitz ab. Für die Westler hat er nicht konsequent genug gegen den Stalinismus gekämpft und zu wenig an der Allmacht der Partei genagt, man warf ihm seine Sentimentalität, das Gut-Böse-Schema, die Verwendung trivialer Muster vor; der Osten war einerseits froh, einen Welterfolg zu haben, musste sich aber andererseits schämen, das Buch beinahe verhindert zu haben, weil ihm nicht wohl war mit der unterschwelligen Aussage, dass Menschlichkeit über Parteidisziplin siegt. Im Grunde sagt das Buch, dass Dogmatismus immer von Übel ist und dass man mit einer solchen Strategie auf Dauer keine Auseinandersetzung gewinnen kann. Das war es, was die Leute lesen wollten. O-Ton Bruno Apitz: Vielleicht liegt die Ursache (des großen Erfolges) darin, dass das Buch einen sentimentalen Brennpunkt hat, die Rettung des Kindes, und das wird viele Menschen angesprochen haben. Die Erinnerung an den Tag der Befeiung ist natürlich sehr wach in mir, ich muss Ihnen aber sagen, dass ich die Befreiung nicht selbst miterlebt habe, weil ich zu diesen 46 Häftlingen gehörte, die noch im letzten Augenblick von der SS erschossen werden sollten. Ich war am 11. April, am Tag unserer Befreiung, noch versteckt und wurde erst, nachdem die Kämpfe beendet waren, aus meinem Versteck herausgeholt. Was soll ich nun sagen, welche Gefühle, welche Emotionen mich beherrscht haben! Im Gunde genommen gar keine, denn die Freiheit, die wir uns erkämpft hatten, konnte ich mir nach elf Jahren überhaupt nicht vorstellen. Ich musste mich dann erst allmählich in den Zustand der Freiheit hineingewöhnen, das war nicht so leicht. Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 3:32) Sie: Angekommen im Zustand der Freiheit: Heinrich Böll. Verflogen Verzweiflung, Ausweglosigkeit, die Trauer der Kriegs- und Nachkriegsbücher. Er: Was vorerst bleibt, ist Melancholie. Satire, Spott ohne verletzende Absicht. Ohne klares Ziel. Sie: Dr. Murke, der junge Mann vom Radio, der das Schweigen sammelt. Es liegt zuviel Geschwätz in der Luft in einem Land, das schon wieder beginnt, sich selbst zu bewundern und keiner Schuld sich bewusst ist. Murke jedoch fährt jeden Morgen über den Wendepunkt des Paternosters hinweg, um angesichts der einzigen unverputzten Stelle des Funkhauses, geölter Ketten und fettbeschmierter Stangen eine, dem Kulturbetrieb fremde, Angst zu empfinden. O-Ton Heinrich Böll (1:12) Seit zwei Tagen nun hatte Murke aus einem besonderen Grund auf sein Angstfrühstück verzichtet: er hatte schon um acht ins Funkhaus kommen, gleich in ein Studio rennen und mit der Arbeit beginnen müssen, weil er den Auftrag bekommen hatte, die beiden Vorträge über das Wesen der Kunst, die der große Bur-Malottke auf Band gesprochen hatte, den Anweisungen des Verfassers gemäß zu redigieren und zu schneiden. Bur-Malottke hatte plötzlich über Nacht, so sagte er, religiöse Bedenken bekommen und sich entschlossen, Gott, den er in seinen beiden halbstündigen Vorträgen über das Wesen der Kunst oft zitiert hatte, zu streichen und durch eine andere Formulierung zu ersetzen. Er hatte vorgeschlagen das Wort ?Gott? durch die Formulierung ?jenes höhere Wesen, das wir verehren? zu ersetzen, hatte sich aber geweigert, die Vorträge neu zu sprechen, sondern darum gebeten, ?Gott? aus den Vorträgen herauszuschneiden und ?jenes höhere Wesen, das wir verehren? hieneinzukleben? Er hatte sich bereit erklärt, am Mittwoch für eine Viertelstunde ins Funkhaus zu kommen und ?jenes höhere Wesen, das wir verehren? so oft auf Band zu sprechen, wie ?Gott? in seinen Vorträgen vorkam. Er: Der große Bur-Malottke? Wenn Böll das las, klang es gemütlicher, als es tatsächlich war. Der Gutmensch aus Köln, ein Etikett, mit dem man den späteren Literaturnobelpreisträger einwickeln und unschädlich machen wollte, konnte durchaus unversöhnlich sein gegenüber den Selbstdarstellern, die das geistige Leben mit ihren Eitelkeiten lahm legten. Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 5:40) Sie: Seinerzeit begann Friedrich Dürrenmatt schon, ?noch mögliche Geschichten? und Requiems zu schreiben. Zitator: Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Sie: Ein traumhaft sicherer Erzähler. Der Welt, die Dürrenmatt aufs Papier setzt, mangelt es an nichts. Er zeigt überdurchschnittliche Einzelfiguren, die dem Druck der Masse und des Durchschnitts, wenn nicht des Untermaßes, auf Dauer doch ausgeliefert und unterlegen sind. So einer ist der Kommissär Matthäi. Zitator: Ich war wohl der einzige, der ihn mochte ? weil ich klare Menschen überhaupt liebe, wenn mir auch seine Humorlosigkeit oft auf die Nerven ging. Sein Verstand war überragend, doch durch das allzu solide Gefüge unseres Landes gefühllos geworden. Sie leben also stets noch in Hotelzimmern, mein guter Matthäi?? Führen Sie denn überhaupt kein Privatleben? Sie: Das im Titel angedeutete Versprechen hat Matthäi der Mutter der ermordeten Gritli Moser gegeben, das Versprechen, den Mörder der Tochter zu finden, der das Leben der Moser-Eltern gleichsam mit vernichtet hat. Dieses Versprechen wird zur Obsession, die dann auch Matthäi vernichtet, der nicht davon ablassen kann, den Mörder, der weniger ist als ein Schemen, eigentlich nur der Umriss einer Kinderzeichnung, zu jagen. Matthäi entwickelt eine Theorie, die ihn ganz nah an das Phantom des Mörders heranführt. Wie ein Profiangler sucht er die Stelle aus, an der er den Mörder treffen muss, legt er den Köder aus. Aber der Mörder geht nicht in die Falle. Matthäi wird an seiner eigenen Theorie irre. Zitator: Sie haben sich vorhin mit Recht gewundert, dass ich immer noch im Hotel wohne. Ich wollte mich nicht mit der Welt konfrontieren, ich wollte sie wie ein Routinier bewältigen, aber nicht mit ihr leiden. Ich wollte ihr gegenüber überlegen bleiben, den Kopf nicht verlieren und sie beherrschen wie ein Techniker? Sie: Am Ende ist das Genie Matthäi nicht an seiner gottähnlichen Selbstherrlichkeit gescheitert, sondern an einer kleinen Unebenheit im Ablauf des Geschehens. Der Mörder kann nicht in die Falle gehen, weil er zuvor tödlich verunglückt ist. Dürrenmatt konstruiert daraus sein Requiem. Die Systematik des Kriminalromans ist unecht, verlogen, er kapituliert vor dem Unerklärlichen, der Lücke in der Wirklichkeit. O-Ton Dürrenmatt II .. man schreibt immer nur für sich. Wenn Sie denken? ich lese jetzt hier vor einem Publikum, und ich hab keine Ahnung von dem Publikum, das ist ein Sammelbegriff. Ich schreibe, um jemandem etwas klarzumachen, aber wer ist der Jemand, das ist eine Fiktion. Für eine Fiktion kann man wieder nicht schreiben. Also versuche ich, mir etwas klarzumachen, man versucht selber Ordnung zu machen in seinen Gedanken, Schreiben ist ein sich klar werden? Früher hat man leichte Dinge geschrieben, ein Kriminalroman ist viel leichter zu schreiben, das würde mich heute einfach langweilen. Im Grunde schreibt jeder für sich. Es ist ein Ordnen, jedes Philosophieren ist Ordnen, ein Ordnen der Gedanken.? Ich denke, dass jeder Mensch, der sich Klarheit schafft auch etwas für andere tut, automatisch. Das ist fast ein biologisches Gesetz? Man weiß nur nicht, wer die anderen sind. Jeder Gedanke, der einmal gedacht wird, ist ein Sehen. Das kann einen anderen anregen. Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 4:28) Sie: Am Abend des 1. Januar trinkt Victor Klemperer nachträglich die Silvesterflasche Sekt. Er: Der Verfasser der berühmten LTI, Die Sprache des dritten Reiches, eines Buches, das von Hand zu Hand ging, zeigt sich in seinen Notizen als deprimierter Alt-Wissenschaftler. Vergeblichkeit. Versiegen der Arbeitslust. Die Feststellung, dass der Faschismus in Deutschland nicht aufhören will und das politische Engagement, der Eintritt in die KPD, in die Irre führen. Sie: Schlafsucht bei Kongressen, Parteitagen und Tagungen.   Zitator: ? es haftet wenig in meinem Gedächtnis, weil ? mir nirgends ein neuer Gedanke begegnete ? alles um mich herum stirbt u. ist jünger als ich. Sie: Klemperer leidet unter der sturen Geistfeindlichkeit, Unbildung und Tyrannei der Partei. Die Vorstellung, dass es in Bonn noch schlimmer sei, kann ihn kaum trösten. Er hält Vorträge, mischt sich ein, warnt und relativiert und kann sich nie des Gefühls erwehren, dass man ihn für einen verkalkten Greis hält. Zitator: Ulbricht? sah bei meinen 10 Worten mit kalten Augen über mich weg wie über ein Häufchen Scheiße auf seinem Weg. Sie: Noch hat Klemperer die Kraft, mit seiner jungen Frau das Wagnis einer China-Reise zu unternehmen, um doch nur zu erfahren, was er längst geahnt hat. Zitator: Es ist mir ? klar geworden, dass der Kommunismus gleichermaßen geeignet ist, primitive Völker aus dem Urschlamm zu ziehen und civilisierte in den Urschlamm zurückzutauchen? Ich bin gerade durch meine Chinareise ? zum endgiltigen Antikommunisten geworden. Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 5:16) O-Ton Johannes R. Becher Ein Großes, schien ihm/war noch zu vollbringen/Bevor zu Ende ging sein Lebenstag/Und sein Gedicht erhob sich wie auf Schwingen/traumhaft erklang der Strophe Flügelschlag//Die schwere Zeit ein dunkles Stimmenschweben/Bis eine Stimme hell den Chor durchdrang/Und er begann sich von sich abzuheben/Am Ende sich vollendend als Gesang/? Er: Johannes R. Becher, seiner Funktionen als Kulturminister und Präsident des Kulturbundes entbunden, ist er nur noch, was er immer sein wollte: Dichter. Ist es aber nur nach außen. Immer sich in der Gefahr sehend, repressiert zu werden, trägt er die Repressalien gegen andere mit. Sie: Man muss sagen, er ist ein Dichter, der durch Parteinahme seine Sprache verloren hat. Da ist nur noch die Geste, die Attitüde, der Werkzeugkasten des Dichters. Der Gedichtband ?Schritt der Jahrhundertmitte? schwankt zwischen Euphorie und Melancholie, eine Melancholie, die man allerdings nicht mehr sanktionieren kann. Mit letzter Kraft, die eher Schwäche ist, schwingt sich Becher zum Hymniker des Menschen auf, der Beherrscher der Natur ist und mit ihr anstellen kann, was er will. Er: Die Schmerzen, die ihn seit vier Jahren plagen, verschärfen sich. ?Dass ihr ihn leben lasst, mit sich allein?, wünscht er sich ? ehrlich? Wie um den Wahnwitz seines Lebens zu vollenden, wird seine von ihm selbst längst verworfene Ulbricht-Biographie in einer Auflage von 50 000 Exemplaren in die Mitte der Gesellschaft geworfen, für Jugendweihlinge und Grundschulen, Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn. Stephan Hermlin bringt ihm das frisch gedruckte Buch ans Sterbebett. Sie: Becher hatte zu wenig geschwiegen? Er: ? schreibt sein Biograph Jens-Fietje Dwars Sie: zu viel, zu leicht-fertig weitergeredet, um sein Verstummen vor dem Schrecken eines andersgewollten Aufbaus zur Sprache zu bringen. O-Ton Becher: Ein Großes, schien ihm, war noch zu vollbringen? Ein Großes, schien ihm, war noch zu vollbringen? Ein Großes, schien ihm, war noch zu vollbringen? (doubeln) Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 8:40) Er: Die neue Generation kommt etwa aus Sachsen, hat noch apokalyptische Kriegserfahrungen, aber keine Illusionen mehr, will Texte verfertigen, die den Anschluss an die Welt herstellten und Geld verdienen. Das Geld spielt eher eine größere als eine kleine Rolle. Sie: So viele gab es nicht von solchen Leuten. Ich nehme an, Sie sprechen von Heiner Müller. Er: Mehr Leute dieser Art fallen mir im Moment nicht ein. Müller schreibt das Stück Der Lohndrücker, ein Versuch, die Aktivistenbewegung in der DDR ernst zu nehmen. Sie: Das Stück wird im Maxim-Gorki-Theater aufgeführt, von der Bezirksleitung der Partei verboten, vom Zentralkomitee rehabilitiert. Er: Den Achterbahnkurs hat Müller über Jahrzehnte ertragen. Erst der Weltruhm hat ihn davon befreit. 1988 hat er den Lohndrücker noch mal selbst inszeniert und auf die Geschichte zurückgeblickt. Seine Geschichte, Theatergeschichte, deutsche Geschichte. O-Ton Heiner Müller:   (52:00) Die Existenzfrage dieser Gesellschaft ist, ob es gelingt, Produktivität attraktiv zu machen, und das ist nach wie vor das Problem, das nicht gelöst ist. Die knappste Formel für das Problem ist immer noch der Galilei-Text. Also Galilei hat widerrufen, sein Lieblingsschüler sagt, arm das Land, das keine Helden hat, geht weg, und dann sagt Galilei, als er allein ist, arm ist das Land, das Helden nötig hat. Das ist die Formel für das Aktivistenproblem. Das andere, was in dem Stück auch notiert ist, ohne dass es mir vielleicht bewusst war, dass dieser Held als Mensch natürlich zerstört wird, indem er zum Helden gemacht wird. Das ist auch ein Aspekt der Geschichte. Der Aktivist entfernt sich natürlich von seiner Klasse, die Klasse von ihm. Er verliert den Boden, und einen neuen kann man nur finden, wenn die anderen nachkommen. Die Stachanow-Bewegung, die ja das Modell ist, man kann sie auch sehen als ein Mittel, Solidarität zu verhindern und die Arbeiterklasse zu spalten und die Aktivistenbewegung als Ersatz für Demokratie oder Diskussion. Sie: Am Ende stellt sich immer heraus: Der beste Ersatz für Demokratie ist Volksherrschaft Er: Und der beste Ersatz für Diskussion ist Meinungsstreit. Musik ? Rolf Liebermann: Geigy Festival Concerto 50-11043 (ab 11:20)