Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 21. Februar 2015, 11.05 - 13.00 Uhr Pulverfass Majdan - ein Jahr danach Die ukrainische Zivilgesellschaft und ihre Revolution Mit Reportagen von Mareike Aden Redakteur am Mikrophon: Robert Baag Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Eine Mutter aus der nordukrainischen Stadt Tschernihiv. Ihr Sohn Maxim ist als Wehrdienstleistender bei den Truppen des Innenmi- nisteriums während der blutigen Auseinandersetzungen Mitte Feb- ruar 2014 auf dem Kiewer Majdan ums Leben gekommen: "Maxim ist auf keiner der beiden Listen. Wer braucht denn schon meinen Soldaten? Ich spende warme Kleidung für unsere Armee im Osten und mache mit bei Hilfsaktionen. Eine meiner Nichten engagiert sich sehr und neulich haben wir zusammen ein Hilfspaket verschickt. Das mache ich. Aber mehr tun kann ich nicht." Und: Ein Bienenzüchter von der russisch annektierten Schwarz- meer-Halbinsel Krim, der sich heute als Taxifahrer in Kiew durchschlagen muss: "Wir haben bis zuletzt nicht geglaubt, dass die Krim russisch wird. Wir dachten, das sei so ein Spielchen von Putin. Wir haben die Krim verlassen, weil wir an die Zukunft unserer Kinder ge- dacht haben: Wir wollten nicht, dass sie in Isolation aufwachsen und unter dem Einfluss russischer Propaganda." Pulverfass Majdan - ein Jahr danach. Die ukrainische Zivilgesellschaft und ihre Revolution. - Eine Sendung mit Reportagen von Mareike Aden. - Am Mikrophon begrüßt Sie: Robert Baag. Der "Majdan" im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew: Auf diesem Platz ließ sich zu Beginn des vergangenen Jahres ukraini- sche und europäische Geschichte wie unter einem Brennglas und im Zeitraffertempo beobachten. - Gewaltfreie Studentenproteste ge- gen den weithin verhassten damaligen Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch machten den Auftakt: Ende November 2013 hatte die- ser seine Unterschrift unter ein lange vorbereitetes Assoziie- rungsabkommen mit der EU urplötzlich verweigert. Vor allem junge Kiewer verabredeten sich daraufhin per Handy und Internet zu ei- ner spontanen Protest-Demonstration auf dem "Majdan Nezalezhnosti", dem "Platz der Unabhängigkeit". Das dort aufgekommene Schlagwort vom "Euromajdan" steht seitdem als Synonym für das zivilgesellschaftliche Motiv der mit dem Zu- stand ihres Landes unzufriedenen Ukrainer: Es fasst ihren Wunsch nach demokratischer Teilhabe zusammen - verwurzelt in europäi- schen Werten. - Knapp drei Monate später, am 20. Februar 2014, kulminierten die beständigen Zusammenstöße mit den Sicherheits- kräften des Janukowitsch-Regimes in einem blutigen Finale. - "Banda hetj" - "Bande, weg mit euch", lautete damals ein populä- rer Schlachtruf des Majdan. Doch heute, ein Jahr später, fragen schon viele: Ist sie denn weg? - Fakt bleibt: Mit Petro Poroschenko ist ein hochkarätiger Oligarch Staatspräsident geworden - wenn auch in freien Wahlen. Vertreter des alten Systems sitzen immer noch in der Verchovna Rada, dem Parlament, wenn auch im so genannten "Oppositionellen Block". Und: Als Nachbarn sitzen ihnen waschechte Aktivisten vom Majdan im Nacken, die nun versuchen die Ukraine im Sinn des "Eu- romajdan" zu verändern: Es ist kurz nach Mittag an einem Samstag, als sich dutzende Men- schen vor einem Bauzaun im Kiewer Stadtteil Darniza versammeln. "Kiew braucht Bäume" oder: "Wir sind gegen illegale Bauten", steht auf ihren selbstgemalten Plakaten. Die Anwohner wollen verhindern, dass das Waldstück hinter dem Bauzaun für Hochhaus- Neubauten abgeholzt wird. Die Baugenehmigung, glauben die Anwoh- ner, haben die Bauherren sich erschlichen. In der Menge steht Igor Luzenko, 36 Jahre alt, eigentlich Journalist und Aktivist. Seit Oktober 2014 ist er Mitglied des ukrainischen Parlaments und sitzt dort im Ausschuss zur Vorbeugung und Bekämpfung von Korruption. Er gehört zu einer ganzen Reihe von Majdan-Aktivis- ten, die nun als Parlaments-Abgeordnete in der Verchovna Rada sitzen. Allerdings macht er klar: Es geht nicht darum, Politiker zu sein. Es geht darum, dass das Volk nicht schweigend zuschaut. Wenn die Menschen sehen, dass ich kämpfe, dann tun sie es vielleicht auch. Für mich persönlich hat sich nicht viel verändert. Jetzt muss ich eben jeden Morgen zur Arbeit ins Parlament gehen. Früher, als Aktivist, hatte ich auch viele Treffen mit Juristen, habe oft an Aktionen wie dieser teilgenommen und mich mit der Miliz herumgeärgert. - Nun habe ich allerdings einen anderen Status. Als Abgeordneter können sie mich jetzt nicht mehr festnehmen - vor einem Jahr haben sie das ständig gemacht. Die Milizionäre, die die genehmigte Protestveranstaltung be- obachten, behandeln Igor Luzenko höflich. Offensichtlich wissen sie, dass der Mann mit Mütze, Jeans und grauer gepolsterter Ja- cke Parlamentsabgeordneter ist und deshalb Immunität genießt. In der gleichen grauen Jacke mit dem neongelben Reißverschluss war Igor Luzenko auch letztes Jahr auf dem Maidan zu sehen - bevor Unbekannte ihn entführten und folterten. Die Fernsehbilder, die ihn danach im Krankenhaus zeigten, mit schlimmen Blutergüssen im Gesicht und am Arm, sind damals um die Welt gegangen. Die Erin- nerung an jene Nacht zum 21. Januar 2014 will nicht weichen: Ich habe einen Verletzten ins Krankenhaus gebracht und da haben sich Männer auf uns gestürzt, einige maskiert, andere nicht. Sie haben uns in den Wald gebracht und geschlagen, dann ging es zu einem anderen Ort - da haben sie uns wieder geschlagen und uns später im Wald ausgesetzt. Mein Leidensgenosse hat das nicht überlebt, so schlimm waren seine Verletzungen. Die Angreifer wa- ren Männer, die eng mit der Miliz zusammen gearbeitet haben und Teil des Systems waren, gegen das wir gekämpft haben. Der Kampf geht immer weiter, sagt Igor Luzenko und schnappt sich ein Mikrofon. Heute tritt er eben dafür ein, Bäume zu retten. Schon lange vor den Ereignissen auf dem Majdan ist er aktiv für Bürgerrechte eingetreten und hat auch gegen illegale Baumaßnah- men in Kiew protestiert. Er hat selbst dann noch weiter gemacht, als sich seine Mitbürger nach den leichtfertig verspielten Hoff- nungen der "Orangenen Revolution", nach 2004,längst enttäuscht abgewandt hatten von jeglicher Politik und zivilem Protest. Jetzt fürchtet Luzenko, dass sich das wiederholen könnte. Denn: Wahrscheinlich haben die Menschen erwartet, dass sich alles sehr schnell verändert. Aber es ist ja klar, dass der Majdan nicht einfach alle Fragen würde lösen können. Der Majdan musste ja erstmal das Grund-Problem lösen: Dass so ein verrückter Mensch wie Wiktor Janukowitsch Staatsoberhaupt war. Wir mussten ihn loswerden, mit ihm konnte es nicht weitergehen. Jetzt aber muss es voran gehen! Das wird alles nicht schnell passieren, es lie- gen viele Etappen vor uns. Die gegenwärtige Staatsführung ist nur ein Kompromiss zwischen den Forderungen des Majdan und den alten Mächtigen. Da tauchen an diesem Samstagnachmittag plötzlich maskierte Män- ner vor den Demonstranten auf: sie kippen einen Sack voller Müll, nasser Blätter und Dreck auf den Boden vor die Demonstran- ten. Gleichzeitig stellen sich grimmig blickende maskierte Be- waffnete vor den Bauzaun. - "Sicherheitsdienst", lautet die Auf- schrift auf ihren dunklen Uniformen. Für die Kundgebungsteilneh- mer ist klar, dass es sich um Provokateure handeln muss - enga- giert von den offensichtlich wütenden Bauherren. Die Milizionäre schauen sich das alles an, die einen gelangweilt - die anderen leicht amüsiert. Igor Luzenko besteht darauf, dass die Milizio- näre seine Anzeige gegen die unbekannten Maskierten aufzunehmen haben. Die Reform der als korrupt geltenden ukrainischen Miliz ist ohnehin eines seiner Hauptanliegen als Parlamentarier. Ich möchte eine andere Miliz und habe einen Entwurf für ein ent- sprechendes Gesetz vorbereitet, das ein kleiner Schritt nach vorn wäre: Ich möchte eine Kennzeichnung für die Ordnungshüter. Sonst gibt es keine Möglichkeit sie zu identifizieren. Wenn ein Milizionär zum Beispiel jemanden zusammenschlägt, können wir ihn nicht einmal identifizieren. Jeder soll sichtbar eine Nummer tragen - das will ich vorantreiben, damit Milizionäre Verantwor- tung für ihr Handeln übernehmen müssen. "Weg mit euch, ihr Bande", rufen die Demonstranten. - Gemeint sein dürften nicht nur die vermummten Unbekannten sondern auch die offiziellen Ordnungshüter. - Es ist ein Schlachtruf des Ma- jdan. Eine weitere politische Krise in der Ukraine sei wahr- scheinlich kaum zu vermeiden, fürchtet Igor Luzenko. Denn noch immer hätten es die Mächtigen im Land nicht gelernt auf die Sor- gen und Bedürfnisse der Menschen zu reagieren, Korruption und Machtmissbrauch zu verfolgen und zu bestrafen. Als Abgeordneter will er weiterhin für einen - wie er sagt - "Hauch von Majdan", im Parlament sorgen und den Repräsentanten des alten Systems auf die Finger schauen - damit trotz des Krieges im Osten und des drohenden Staatsbankrotts nicht in Vergessenheit gerate, wofür zehntausende Menschen vor einem Jahr auf dem Majdan gestanden hätten. Andrej Kurkow ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller der Ukraine: Seine satirisch-ironisch, zuweilen auch surreal-fantastisch angelegten Geschichten wie etwa das "Picknick auf dem Eis" oder "Pinguine frieren nicht", haben längst auch eine deutsche Fan-Gemeinde bezaubert. Ganz anders, ernster im Ton nun sein jüngst erschienenes "Ukrainisches Tage- buch - Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protestes". Diese sehr persönlich gehaltene Chronik vom Aufbegehren der ukrainischen Zivilgesellschaft überzeugt gleichermaßen als literarische wie auch als klassisch historische Quelle zum Ablauf der Ereignisse auf dem Majdan seit Ende November 2013: "21.November: Als ich wieder zu Hause bin, gehe ich auf face- book. Aufrufe, zum Majdan zu kommen, um die Unterzeichnung des Abkommens einzufordern, machen die Runde. Aufrufe, warme Sachen, Isomatten, Thermoskannen mit heißem Tee und Proviant für die Nacht mitzubringen. Ich hebe einfach nicht die Kraft loszugehen und dort zu stehen. Und kein Verlangen danach, keinerlei Verlan- gen. Im Fernsehen war zu allem Übel Putin zu sehen, mit munte- rem, breitem Grinsen, und der Nachrichtensprecher sagte in einem merkwürdigen Tonfall, Russland freue sich sehr, die Zusammenar- beit mit der Ukraine weiter auszubauen. Welche Zusammenarbeit? Drei Jahre Handelskriege, mal ein Exportverbot für Käse, mal für Fleisch und Wurst aus der Ukraine, dann wieder für ukrainisches Bier und so weiter und so fort..." Schon im Januar 2014 gab es Tote auf dem Majdan, doch besonders blutig wurde es zwischen dem 18. und 20. Februar: Rund einhun- dert Menschen sind während dieser Tage gestorben, die meisten von ihnen am 20. Februar rund um das Hotel "Ukraina" direkt am Majdan, als dort plötzlich Scharfschützen auftauchten. - "Himmlische Hundertschaft", nennen die Ukrainer ihre Toten vom Majdan. Immer noch legen die Menschen in Kiew dort Blumen nieder und zünden Kerzen an, Portrait-Fotos erinnern an die Getöteten. - Allerdings: Auch auf der anderen Seite, bei den Truppen des Inneren, sind damals Soldaten ums Leben gekommen. Doch über diese Gefallenen spricht man in der Ukraine kaum. Deren Angehö- rige fühlen sich deshalb mit ihrem Schmerz allein gelassen. Im Zentrum von Tschernihiv hasten die Menschen durch die feuchte Kälte. Im Mittelalter war Tschernihiv eine bedeutende Stadt des Großreiches "Kiewer Rus". Heute ist sie verarmt. Viele der etwa 300.000 Einwohner müssen zum Geldverdienen ins rund 150 Kilome- ter entfernte Kiew fahren. Auch Tatjana Tretjak arbeitet dort - als Tagesmutter. An diesem Tag hat sie frei und ist auf dem Weg zum Grab ihres einzigen Kindes: Maxim starb am 18. Februar 2014 auf dem Majdan. 20 Jahre alt ist er geworden, war Wehrdienst- leistender bei den Truppen des Innenministeriums, die für Präsi- dent Janukowitsch den Majdan bewachen sollten. Soweit ich weiß hat die Menge meinen Sohn in Stücke gerissen: Er wurde zusammengeschlagen und erschossen. Was zuerst geschah und was genau, weiß ich nicht. Die Details seines Todes öffentlich bekannt zu machen, ist wohl weder im Interesse der Sicherheits- kräfte noch der Majdan-Unterstützer. Dabei muss es ein Video da- von geben. Auf dem Majdan ist doch von allen Seiten gefilmt ge- worden. Am Roten Platz, dem zentralen Platz von Tschernihiv, hält Tatjana inne und zeigt auf eine Tafel: Dort hängen Fotos von Menschen aus der Region, die auf dem Maidan ums Leben kamen - "Himmlische Hundertschaft", nennt man sie. Ein paar Meter weiter steht eine Tafel mit Fotos von im Donbass getöteten Soldaten aus Tschernihiv. Davor liegen Blumen. Tatjana Tretjak hastet weiter. Maxim ist auf keiner der beiden Listen. Wer braucht denn schon meinen Soldaten? Ich spende warme Kleidung für unsere Armee im Osten und mache mit bei Hilfsaktionen. Eine meiner Nichten enga- giert sich sehr und neulich haben wir zusammen ein Hilfspaket verschickt. Das mache ich. Aber mehr tun kann ich nicht. Ihr Sohn Maxim, erzählt sie auf dem Weg zur Bushaltestelle, hatte Probleme mit dem Jura-Studium. Deshalb plante er Polizist zu werden. Dafür musste er seinen Wehrdienst ableisten. In Tatjana Tretjaks Familie, die aus Weißrussland stammt, haben viele Männer beim Militär gedient. Ein Jahr Wehrdienst würde ih- rem Sohn gut tun, glaubte sie damals, im Sommer 2013. Wenn du bei der Armee warst, dann bedeutete das immer, dass du dich nicht gedrückt hast, nicht eingeknickt bist und dir nichts ausgedacht hast, um dem zu entgehen. Gleich am Anfang der Aktionen auf dem Majdan, Ende November 2013, erzählt sie, wurde Maxim dorthin abkommandiert. Wenn sie zur Arbeit in Kiew war, brachte sie ihm Lebensmittel und sah, wie durchgefroren er war, nachdem er stundenlang in der Kälte stehen musste, um die Protestierenden in Schach zu halten. Er war erschöpft und auch wütend. Er sagte: ‚Mama, ich geh hier nicht weg, nach all dem was ich gesehen habe. Einige von uns wurden geschlagen, ich wurde mit Steinen beworfen. Ich lasse meine Jungs nicht im Stich.' - Er war kein glühender Anti-Majdan-Anhänger. Ich habe versucht ihn zu überreden, aber er sagte: ‚Ich werde hier weiter dienen und gehe nirgendwo hin.' Zum Friedhof am Stadtrand nimmt Tatjana Tretjak eine "Marsh- rutka", eines der gelben Sammeltaxis. Mehrmals pro Woche fährt Tatjana diese Strecke. Jeden Tag spürt sie: Um jene, die wie Ma- xim auf der anderen Seite der Barrikaden gestorben sind, trauern in der Ukraine nur wenige. Das gilt vor allem für Mitglieder der inzwischen aufgelösten Berkut-Spezialeinheit. Denen geben viele die Schuld daran, dass auf dem Majdan so viele Menschen gestor- ben sind. Das Trauern "nach Kategorien" verbittert die Tretjaks: Die ‚Berkut-Leute' lehnt man ab, aber jene, die in der Anti-Ter- ror-Operation kämpfen, bewundert man. Dabei sind unter ihnen ja doch auch viele ehemalige Berkut-Mitglieder, die ihre Pflicht erfüllen und meist sind die viel disziplinierter als die ande- ren. Am Friedhof kauft sie ein Gesteck aus Tannenzweigen und Plastik- blumen. Echte Blumen würden bei diesem Frost sofort erfrieren. Mittlerweile gibt es auf dem Friedhof einen Abschnitt für jene Soldaten, die im Donbass gefallen sind. Das Grab von Maxim liegt woanders: Dort wo auch Kriegs-Veteranen aus Sowjetzeiten beer- digt wurden. Tatjana Tretjak legt Süßigkeiten auf Maxims Grab - ein orthodoxes Ritual. Sie berührt das Eisenkreuz an dem ein Foto von Maxim in Uniform angebracht ist. Sie schließt kurz ihre Augen. Hier liegen Generäle und Helden der Sowjetunion. Dies ist ein würdiger Platz, ganz normale Leute werden hier nicht beerdigt. War der Majdan ein Fehler? Sie denke viel nach über diese Frage, sagt sie - und findet keine eindeutige Antwort. Die Korruption und die Einstellung der Mächtigen zum Volk - es war klar, dass sich etwas daran ändern musste. Aber was hat der Majdan dem Volk gebracht? Bitterkeit, Tränen und Angst, den Ver- lust geliebter Menschen. Nun spendet das Volk für die Anti-Ter- ror-Operation im Osten und vom Staat kommt wieder nichts. Jetzt gibt es neue Mächtige: Und? Was habt ihr erreicht? Der klapprige Kleinbus bringt sie wieder zurück ins Zentrum von Tschernihiv. Die Fahrt, die umgerechnet 10 Cent kostet, ist für sie kostenlos. Denn sie hat einen Ausweis, der ihr bescheinigt: Ihr Sohn ist im Militärdienst gestorben. "Am frühen Morgen, gegen vier, veranstalteten Sondereinheiten der Miliz eine Hetzjagd gegen den Euromajdan. Ein Teil der Pro- testierenden flüchtete hoch zum Sophienplatz und zum Michaels- platz. (...)(Da) kam ein kleingewachsener Mönch auf sie zu und bat sie zu sich ins Kloster herein. Er sagte, das Tor stehe of- fen, der Klostervorsteher habe es erlaubt. (...)Miliz-Offiziere tauchten auf und versuchten auf das Klostergelände zu gelangen, wurden aber nicht eingelassen. Der Chef der Kiewer Polizei er- klärte, der Befehl zum Sturm auf den Majdan sei deshalb gegeben worden, weil die Neujahrstanne wegen der Protestierenden nicht aufgestellt werden konnte." Schon während des Majdan, vor allem aber nachdem Präsident Viktor Janukowitsch geflohen war, entfesselte das russische Staatsfernsehen eine regelrechte Propagandaschlacht: Der Majdan, so hieß es dort unaufhörlich, das sei eine Bande von - Zitat - "Faschisten", "Antisemiten" und "Neonazis", die in Kiew die Macht übernommen hätten und von den Ukrainern unterstützt würden. Wahr ist allerdings: Auf dem Majdan waren rechtsnationalistische und rechtsextreme Gruppen aktiv. Sie waren gewaltbereit. Und: Sie trugen wesentlich bei zum Sieg des Majdan. Auch jetzt, bei den Abwehrkämpfen in der Ostukraine gegen von Moskau unterstützte Freischärler, beteiligen sich an der Seite der regulären ukrainischen Armee erneut Rechtsradikale und Nationalisten - wie etwa vom sogenannten "Rechten Sektor". Für einen Großteil der Gewalt auf dem Majdan wird er verantwortlich gemacht. Inzwischen auch eine politische Partei, will der "Rechte Sektor" sein schlechtes Image nun loswerden: "Ruhm der Ukraine", grüßt Artjom Skoropadskij die Männer, die auf dem Hof eines Kiewer Wohnhauses stehen, den er gerade be- tritt, und dort rauchen. "Ruhm den Helden", antworten sie und gehen hinein. Ursprünglich war dies einmal die Gruß-Formel ukra- inischer Nationalisten. Auf dem Majdan begrüßten sich die Men- schen dann alle so. Hier, einige hundert Meter entfernt vom Ma- jdan Nesaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, hat der "Rechte Sektor" sein Büro. Der Majdan ist sein Geburtsort. Wir mussten zeigen, wer wir sind. Auf dem Majdan standen ja auch Liberale, Nationaldemokraten oder parteilose Nationalisten. Je- mand brachte ein weißes Banner. Einer von uns, er ist inzwischen im Osten gefallen, sagte: ‚Lasst uns ‚Sektor' drauf schreiben, so wie im Fußball-Stadion!" - ‚Was für ein ‚Sektor'?', fragten wir. Er sagte: ‚Na, ‚Rechter Sektor' natürlich. Einige Männer im Büro streiten sich, fluchen. Skoropadskij er- mahnt sie sich zu benehmen. Es sei Besuch da. Manche der Männer tragen Tarnfleck und Kampfstiefel. Mit seiner Jeans und der Windjacke unterscheidet sich Skoropadskij deutlich von ihnen. Bis vor ein paar Jahren war er, der eher kleine, drahtige Mann Ende dreißig, Journalist bei einer angesehenen Zeitung, jetzt ist er Mitglied und Sprecher des Rechten Sektors - und will des- sen Image verbessern. Man sagt über den ‚Rechten Sektor', dass wir angeblich Antisemi- ten, Rassisten, Faschisten oder Terroristen sind. Aber das stimmt nicht. Unsere Ideologie ist ein konservativer ukraini- scher Nationalismus. Das hat nichts zu tun mit Rassismus. Im Os- ten kämpfen für den ‚Rechten Sektor' auch Russen, Weißrussen, Polen und Juden. Wir sprechen von einer politischen Nation - wer für eine vereinte, starke Ukraine kämpft, den sehen wir als Ge- nossen im Kampf. In einer Ecke liegen zusammengeklappte Rollstühle, kugelsichere Westen und Helme, Kartons mit Teebeuteln - alles für ihre Kame- raden im Osten des Landes. Wie viele es sind, das sei ein Kriegsgeheimnis. Die Kämpfer des ‚Rechten Sektors' gelten in der Ukraine als mutig und gut vorbereitet, sie haben ein eigenes Ausbildungslager. Doch im Gegensatz zu anderen Verbänden, in de- nen ebenfalls Radikale kämpfen, hat das Innenministerium den ‚Rechten Sektor' nicht als Freiwilligen-Bataillon anerkannt. Und deshalb bekommen sie vom Staat auch keine Waffen. Außerdem: Wer- den sie verwundet oder sterben sie, gibt es für sie und ihre An- gehörigen keine staatlichen Hilfen. Der Staat weiß, dass wir ihm so einiges vorwerfen: Viele Korrup- tionäre aus Janukowitsch-Zeiten sind immer noch da, weil das im Geschäftsinteresse der neuen Regierenden ist. Wahrscheinlich denken manche Politiker und Beamten: ‚Wenn wir den Rechten Sek- tor bewaffnen, dann sind wir an der Reihe, wenn der Krieg vorbei ist' Unserer Armee würde wohl bis zu 7000, vielleicht sogar 8000 Menschen zählen - und: Diese Streitmacht könnte sich ja auf den Weg nach Kiew machen. Artjom Skoropadskij macht sich auf Weg zur Haupt-Post, direkt am Majdan. In Deutschland lebende Anhänger des Rechten Sektors ha- ben Medikamente für die Front geschickt. Am Majdan überdeckt ein riesiges Werbebanner die rußgeschwärzte Fassade des Gewerk- schaftshauses, das genau vor einem Jahr, am 18. Februar, in Brand gesteckt worden war. Bis dahin hatte es als Hauptquartier der Protestbewegung gedient. Im fünften Stock hatte der ‚Rechte Sektor' sich eingerichtet, organisiert in drei Schichten, damit immer jemand auf dem Majdan Wache halten konnte - kampfbereit. Skoropadskij versichert: Dass unten auf dem Platz Menschen gestorben sind, das ist nicht unsere Schuld! Wir haben nie angefangen zu schießen oder Gewalt anzuwenden. Wir haben uns immer nur verteidigt und all die ein- fachen Ukrainer - die Studenten, die Hausfrauen, die Mittel- klasse -, die auf die Straße gegangen sind, um sagen, dass sie genug haben von Janukowitsch. Das Paket mit den Medikamenten liegt noch beim Zoll, heißt es. Artjom Skoropadskij verlässt das Gebäude, biegt dann links ab, in Richtung Europa-Platz, die Hruschevski-Straße hinauf. Während der Proteste versperrten hier Sicherheitskräfte den Zugang zum Parlament und zum Regierungssitz. Am 19. Januar 2014 veränderte sich der Majdan an dieser Stelle entscheidend, wurde zu einem historischen Ort in der jüngeren Geschichte der Ukraine. Anstatt auf die Forderungen der Protestierenden einzugehen, hatte das Parlament einige Tage zuvor ein Gesetzespaket verab- schiedet, dass die Meinungsfreiheit und vor allem die Versamm- lungsfreiheit massiv einschränken würden. Eine Gruppe von Protestierenden, darunter auch Anhänger des ‚Rechten Sektors', rückte vor, fing an, Pflastersteine und Molo- tow-Cocktails zu werfen. Die Sicherheitskräfte antworteten mit Gummigeschossen und Tränengas, tagelang ging das so. Es gab Tote, Verletzte auf beiden Seiten. Auch Studenten, sogar Haus- frauen machten mit und füllten Molotow-Cocktails ab. Der ‚Rechte Sektor' war die Avantgarde der Revolution. Wir haben gezeigt, dass das nichts bringt, wenn man drei Monate friedlich auf dem Majdan steht. All diese Zeit saß Janukowitsch zwei- bis dreihundert Meter von hier in seinem Büro. Aber erst als wir ak- tiv geworden sind, da hat Janukowitsch Angst gekriegt. Die Ukrainer, könnten dem ‚Rechten Sektor' dafür ruhig ein biss- chen dankbarer sein, meint Artjom beim Abschied und klingt ein wenig unzufrieden. Als Partei hatte der "Rechte Sektor" bei den Wahlen so gut wie keinen Erfolg: Nur der Anführer Dmitrij Jarosch hat ein Direkt- mandat für das Parlament gewonnen. Aber im Augenblick will sich der "Rechte Sektor" sowieso auf den Krieg im Donbass konzentrie- ren. Sein größter Feind ist derzeit Russland und die von Russ- land unterstützten Kämpfer und Söldner in und um Donezk und Luhansk. Erst danach wollen sie sich darum kümmern die Ukraine wieder fest auf eigene Beine zu stellen: Und zwar, so sagt Art- jom: Ohne Oligarchen - und auch ohne Einfluss aus den USA oder aus der Europäischen Union. "24. Februar 2014: Morgens muss ich mein Gesicht jetzt länger mit kaltem Wasser waschen, um den Normalzustand zu erreichen. In den ersten zwei Monaten wurde ich mehrmals nachts wach und lauschte in die Stille hinein, früh morgens dann trat ich in banger Erwartung ans Fenster unserer Wohnung in der dritten Etage und blickte in den Hof hinab, wo ich immer das Auto ab- stelle. (...) Aber ich habe keine Angst mehr. Ich habe das Ge- fühl verloren, dass das einen Wert darstellt. Das menschliche Leben hat einen Wert, den einzig wesentlichen. Und mit dieser "Währung", mit menschlichem Leben, hat die Ukraine ihren wieder- holten Versuch bezahlt, sich von Grund auf zu erneuern, sich von Amoralität und Korruption zu reinigen." Kaum hatte der Maidan in Kiew gewonnen, da besetzten Bewaffnete das Regionalparlament der Krim, der ukrainischen Halbinsel im Schwarzen Meer und ein selbst ernanntes Parlament konstituierte sich, das wenig später ein Referendum ansetzte. Wladimir Putin bestritt hartnäckig, dass es sich bei den so genannten "Grünen Männchen" um russisches Militär gehandelt habe - nur um dann, nach der vollzogenen Annexion, genau dies doch zugegeben. Auch wenn die internationale Gemeinschaft das Referendum nicht anerkennt - faktisch ist die Krim nun Teil von Russland und die meisten Menschen dort haben inzwischen einen russischen Pass. Andersdenkende droht die neue Krim-Führung von der Halbinsel zu vertreiben. Zehntausende haben sie bereits verlassen. Sie versu- chen in anderen Landesteilen der Ukraine ein neues Leben zu be- ginnen - auch in der Hauptstadt Kiew: Das silbergraue Auto von Pjotr Molitwenik rattert über das Kopf- steinpflaster im Zentrum von Kiew. Auf dem Nummernschild steht das Kürzel für Simferopol, die Hauptstadt der Halbinsel Krim - dort wurde Molitwenik vor 41 Jahren geboren und dort hat er bis vor kurzem noch gelebt. Vor fast einem Jahr hat er mit seiner Familie die Krim verlassen. Knapp zwei Wochen nach dem Referen- dum kamen sie nach 15 Stunden Fahrt in diesem Auto in Kiew an: Pjotr, seine Frau Ludmilla und ihre fünf Kinder im Alter von zwei bis 15 Jahren. Wir haben bis zuletzt nicht geglaubt, dass die Krim russisch wird. Wir dachten, das sei so ein Spielchen von Putin. Als das dann doch passiert ist, waren wir geschockt und ratlos. Wir hat- ten ein Haus auf der Krim, eine Bienenzucht, aber in Russland zu leben, gehörte nicht zu unseren Plänen. Wir haben die Krim ver- lassen, weil wir an die Zukunft unserer Kinder gedacht haben: Wir wollten nicht, dass sie in Isolation aufwachsen und unter dem Einfluss russischer Propaganda. Auch nach fast einem Jahr hat Pjotr Molitwenik immer noch keine feste Arbeit gefunden in Kiew. Im Frühling will er wieder eine Bienenzucht aufbauen. Bis dahin verdient er Geld mit Gelegen- heitsarbeiten oder als Taxifahrer, so wie heute. Er erinnert sich gut: Sie kamen im März 2014 nur mit einigen Rucksäcken vol- ler Kleidung an - und bekamen sofort Hilfe. Nicht nur von Freun- den in Kiew, sondern auch von Unbekannten. Sie haben uns wirklich alles gebracht. Die ersten zwei Monate haben uns freiwillige Helfer sogar komplett mit Essen versorgt. Das waren ganz normale Leute. Und das ist das Größte aus dieser Zeit: Früher haben sich die Menschen nicht so umeinander geküm- mert. Jetzt haben sie sich zusammengeschlossen und sind sich ih- rer Werte bewusst. Vielleicht hat der Majdan die Menschen ver- eint oder es war die Reaktion auf Putin. Das ist schwer zu sa- gen. Aber: Es ist passiert. Nach rund einer Stunde Fahrt kommt Pjotr Molitwenik im Dorf Letki an. Es ist längst dunkel. Straßenbeleuchtung gibt es kaum. Abgele- gen, am Rande eines Feldweges steht ein Erholungsheim für Mitar- beiter der Kiewer Metro, gebaut noch zu Sowjetzeiten. Hier, in einer Art Wohnheim, leben die Molitweniks seit ihrer Ankunft, zusammen mit fast einhundert anderen Flüchtlingen. Außer uns Übersiedlern lebt hier im Moment niemand - die meisten kommen von der Krim und etwa ein Drittel aus dem Donbass. Ihr Apartment mit der Nummer 413 hat zwei Zimmer: alle fünf Kin- der schlafen in einem Raum. Die Familie hofft zumindest bis zum Frühling hier bleiben zu können. Wo sie dann wohnen können, wis- sen sie nicht. Und das beunruhigt sie. Die Wirtschaftskrise und die vielen Binnenflüchtlinge machen es fast unmöglich eine be- zahlbare Wohnung zu finden, klagt Pjotr Molitwenik. Der Staat sollte Flüchtlingen zumindest ein Stück Land geben und einen finanziellen Zuschuss, damit wir uns etwas aufbauen kön- nen. Ich bin sicher, dass internationale Organisationen das un- terstützen würden, aber im Moment hängt das wohl in irgendeinem Gesetzgebungsverfahren fest... Pjotr Molitweniks Vater ist Ukrainer, seine Mutter Russin. Pjotrs Frau Ludmilla stammt aus Russland, deshalb haben die Mo- litweniks auf der Krim mit den Kindern immer Russisch gespro- chen. In ihrer neuen Kiewer Schule ist der Unterricht aber auf Ukrainisch, erzählt Ludmilla Molitwenik. Sie sitzt auf einem Ho- cker in der schmalen Küche, auf ihrem Schoß schläft der zwei Jahre alte Sohn. Unser ältester Sohn hat schon aufs Ukrainische umgeschaltet. Er ist sehr patriotisch und versucht auch zu Hause die meiste Zeit ukrainisch zu sprechen. Aber unser mittlerer Sohn hat Probleme: Seine Lehrerin sagt uns immer: ‚Er denkt noch auf Russisch.' Sein Gehirn hat noch nicht angefangen auf Ukrainisch zu denken. Aber Gott sei Dank, langsam wird es. Im Schlafzimmer der Eltern und im Kinderzimmer toben zwei Söhne mit dem Nachbarsjungen, der aus Luhansk im Donbass geflüchtet ist: Beide schießen mit Plastikpistolen aufeinander. Krieg sei ihr Lieblingsspiel, jetzt, da sie jeden Tag vom Krieg im Osten hören, erzählt Ludmilla Molitwenik. Ihre Mutter und ihre Brüder leben dort im Donbass. Sie haben ihr nicht verziehen, dass sie die Ideen des Majdan unterstützt und die - wie sie sagen - "russische Krim" verlassen hat. Ich habe noch zwei andere Schwestern, die in der Ukraine leben und die auch unsere Ukraine unterstützen. Und nun ist es schon so weit gekommen, dass unsere Brüder sagen: "Wir haben keine Schwestern mehr. Wenn ihr in den Donbass kommt, dann erschießen wir euch höchstpersönlich." Der Krieg hat so viele Beziehungen kaputt gemacht. Und selbst wenn es irgendwann mal aufhört, dann wird noch viel Zeit vergehen, bis sie sich wieder normalisieren - wenn das überhaupt möglich ist. Einige der Krim-Flüchtlinge, die zur gleichen Zeit wie die Mo- litweniks nach Kiew kamen und mit ihnen auf derselben Etage im Metro-Ferienwohnheim gewohnt haben, sind inzwischen wieder auf die russisch annektierte Krim zurückgekehrt. Sie hatten sich einfach mehr Hilfe vom ukrainischen Staat erhofft. Aber für die Molitweniks steht fest: Sie würden nur auf eine uk- rainische Krim zurückkehren. Aber ehrlich gesagt habe ich wenig Hoffnung. Es gibt nur eine Möglichkeit: Wenn unsere ukrainischen Soldaten alle Kämpfer der sogenannten Volksrepubliken aus dem Donbass nach Russland zurück vertreiben, dann wäre der nächste Schritt die Krim. Das wäre die einzige Möglichkeit - das würde weiter Krieg bedeuten und wäre sicher nicht besonders positiv. Aber darüber wird diskutiert. Solch eine Variante existiert. Aber ich glaube: Die Wahrschein- lichkeit dafür ist sehr gering. Ludmilla und Pjotr Molitwenik versuchen nach vorne zu schauen und optimistisch zu bleiben - auch um ihrer Kinder willen. Ein Zurück gebe es ohnehin nicht, sagen sie: Weder für sie noch für die Ukraine. "22. April 2014. Dienstag. Heute Morgen fuhr ich die Jungen in die Schule. Unterwegs fragte Theo: "Papa, wer war eigentlich besser: Stalin oder Lenin?" Ich sagte: "Lenin. Weil er früher gestorben ist!" Die Jungs nickten, die Antwort hatte sie zufrie- dengestellt. - Russland hat nun endlich beide Seiten der Me- daille "Für die Wiedergewinnung der Krim" gezeigt, mit der die an der Besetzung der Halbinsel beteiligten anonymen "Helden der russischen Armee" geehrt werden. (...) Das Bemerkenswerteste ist, dass auf der Medaille die Daten der Operation zur Krim An- nexion eingeprägt sind: ‚20.02.2014 - 18.03.2014'. Das heißt, die Operation zur Eroberung der Krim hatte Russland bereits be- gonnen, als Janukowytsch noch in Kiew war und gar nicht daran dachte zu fliehen. Und als die Protestteilnehmer auf dem Majdan noch nicht erschossen worden waren. So kommt, was verborgen war, doch noch ans Licht." Der Umbau des ukrainischen Staates kommt nur schleppend voran: Alte Seilschaften bremsen. Die Korruption ist keineswegs be- siegt. Das Land ächzt unter dem Reformdruck und den damit ver- bundenen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Lasten, vor allem aber unter den Folgen des Krieges im ostukrainischen Don- bass. Hundertausende Binnenflüchtlinge befinden sich im Inneren der Ukraine. Ein Staats-Bankrott droht. Die Behörden sind mit all dem offensichtlich überfordert und deshalb helfen immer mehr Ukrainer aus eigenem Antrieb dort aus, wo der Staat schwach ist - auch und gerade ihrer schwer bedrängten ukrainischen Armee. Aus großen Bündeln suchen sie Hosen, Pullover, Socken und Unter- hemden heraus und packen sie dann in einen großen Karton. In eine andere Pappschachtel verstauen sie Zahnpasta, Einwegrasie- rer und Zahnbürsten. Miroslaw Gai hat soeben einen Anruf von ei- nem Kiewer Krankenhaus bekommen. Sie brauchen dort Zivil-Klei- dung für im Osten verletzte Soldaten, die nach Hause fahren sol- len. Gai und sein Kollege Kyrill werden die Sachen gleich im Kiewer Krankenhaus abgeben. Normalerweise aber bringen sie die meisten Spendengüter direkt in den Osten zu den ukrainischen Soldaten und den dort kämpfenden Freiwilligeneinheiten. Ich war selbst als Freiwilliger im Donbass. Ich weiß genau, wel- che Probleme unsere Jungs haben an der Front. Wir waren in der gleichen Situation. Das Meiste haben uns freiwillige Helfer ge- bracht: Kleidung, Helme, kugelsichere Westen, Lebensmittel, Was- ser. Die Armee, also der Staat, hat uns nur eine Uniform gege- ben, ein Barett und Waffen. Und das war's. Alles andere kam von freiwilligen Helfern. Miroslaw Gai macht einen Kontrollgang durchs Vorrats-Lager, wäh- rend Kyrill die Kisten bereits zuklebt. Erst gestern sind er und einige andere Männer aus dem Donbass zurückgekommen. Sie haben dort Spendengüter auch in entlegenen Winkeln des Kampfgebietes verteilt. - Vor dem Majdan war Miroslaw Gai Regisseur beim Fern- sehen und im Theater. - Wenige Wochen nachdem der Majdan gesiegt hatte, meldete sich der große, muskulöse Mann in den Dreißigern als Freiwilliger zur Nationalgarde. Drei Monate lang kämpfte er im Osten: Als die Russen die Krim eingenommen hatten, wusste ich, dass es Krieg geben würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Miliz, der Ge- heimdienst und die Armee vollkommen demoralisiert. Es war klar, dass die Ukraine wieder verlieren würde, wenn niemand die Ver- antwortung übernimmt. Deshalb habe ich meine Familie näher an die Grenze zur EU gebracht, damit sie im Notfall fliehen könnte, und bin selbst an die Front gefahren. Ein kleiner Heizlüfter bläst warme Luft in die kalten Lager- räume. In dicker Windjacke und Wollmütze sitzt Miroslaw Gai an einem der beiden Computer. In diverse soziale Netzwerke stellt er Fotos und Video-Aufnahmen ein, wie und an wen sie die Spenden übergeben. Das soll Vertrauen schaffen. "Mir und Co", heißt die Stiftung: "Mir" - das ist sein Spitzname, heißt aber auf Ukrai- nisch und auf Russisch zugleich auch: "Frieden". Er und seine Freunde denken schon weiter: Nach dem Krieg wollen sie helfen den Donbass wieder aufzubauen. Die Ukrainer, meint Miroslaw Gai, dürfen sich nicht auf den Staat verlassen - auch nicht in Friedenszeiten. Wir müssen unsere Staatsbeamten ständig im Auge behalten. Kor- ruption - müssen wir anzeigen. Und auf Demonstrationen gehen. Sonst haben wir wieder das Gleiche wie vorher: Es könnte wieder eine Diktatur geben, Amtsmissbrauch, die Veruntreuung von Staatsgeldern und Korruption. Ein paar Stunden später sitzt Miroslaw Gai mit seiner Frau Irina und dem zwei Jahre alten Sohn Grischa im Auto. Sie sind auf dem Weg in den Kiewer Zoo. Eigentlich wollte Miroslaw Gai ja noch in die Waschanlage, um den Dreck von der Fahrt in den Osten vom Auto abzuwaschen. Aber: Diesen Nachmittag hat er Grischa und Irina versprochen. - Irgendwie versucht Irina schon seit langem mit der Angst um ihren Mann zu leben. Es fällt schwer sich darüber im Klaren zu sein, dass er jede Mi- nute, jede Sekunde in Gefahr ist. Wenn er mal nicht ans Telefon geht, weil er beschäftigt ist oder keinen Empfang hat, schlafe ich nicht. Aber ihn davon abbringen zu wollen, ist sinnlos. Er hat sich so entschieden und ich habe nicht das Recht ihm zu sa- gen, dass er bei uns zu Hause bleiben soll. Das würde er sich nie verzeihen und das wäre nicht gut für unsere Beziehung. Ich bin stolz auf ihn. Natürlich. Miroslaw Gai will die Hoffnung nicht aufgeben, dass mehr Men- schen in Westeuropa verstünden, dass man Wladimir Putins Russ- land Einhalt gebieten müsse. Denn allein Russlands Einmischung habe zum Verlust der Krim und den vielen Kriegstoten geführt, ist er überzeugt. Jedenfalls nicht der Majdan - wie es die rus- sischen Staatsmedien Russlands Bürgern beständig einzureden ver- suchten. Der Majdan, so Miroslaw, sei ein Sieg gewesen für die Ukrainer. Wir haben es gelernt an unsere Kraft zu glauben. Wir haben un- sere Würde verteidigt - oder besser gesagt: Wir haben sie er- langt, eine nationale Würde, nationalen Stolz. Außerdem begann mit dem Majdan die Zivilgesellschaft in der Ukraine: Viele, die einander schon auf dem Majdan geholfen haben, bringen jetzt Me- dikamente in die Kampfgebiete, helfen Flüchtlingen, behandeln Verletzte oder bringen gefallene Soldaten zurück. Der Kiewer Zoo liegt am "Prospekt Peremoha", dem "Prospekt des Sieges", einer großen Hauptstraße. Der kleine Grischa tobt kreuz und quer über die Wege des Tierparks. Von den Ponys, Pelikanen und Bisons in ihren Gehegen ist er schwer begeistert - aber ganz besonders darüber, dass sein Papa mitgekommen ist. Ich möchte vor allem, dass mein Sohn keinen Krieg erleben muss so wie ich. Und ich möchte, dass die Ukraine ein Land ist, in dem niemand zusammenschlagen wird - wegen seiner politischen, kulturellen oder sexuellen Orientierung. Wir haben für das Recht auf Freiheit die Leben vieler Menschen geopfert. Jetzt müssen wir müssen beweisen, dass diese Opfer nicht umsonst waren. Ich bin sicher, dass uns das gelingt. Spätestens in einer Woche wird Miroslaw Gai sich wieder mit ei- nem Hilfskonvoi auf den Weg in Richtung Osten machen. Pulverfass Majdan - ein Jahr danach. Die ukrainische Zivil- gesellschaft und ihre Revolution. - Das waren die "Gesichter Europas" an diesem Samstag. Eine Sendung mit Reportagen von Mareike Aden. - Die Literaturauszüge stammen aus dem 2014 im Innsbrucker Haymon-Verlag erschienenen Titel: "Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests" von Andrej Kurkow, ins Deutsche übertragen von Steffen Beilich. Gelesen wurden sie von Bernt Hahn. - Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Angelika Brochhaus - Und am Mikrophon verabschiedet sich Robert Baag. ************ 2