KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: Literatur Titel der Sendung: Dramatisch zweigeteilt Heinar Kipphardt, der vergessene Chronist AutorIn: Adolf Stock Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 13.11.2012 Regie: Klaus-Michael Klingsporn Besetzung: Sprecher (Kommentar) /Sprecher (Zitate) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Dramatisch zweigeteilt Heinar Kipphardt, der vergessene Chronist Musik: Das neue Leben Chor tritt auf die Bühne und beginnt dann zu singen Take 1: (Heinar Kipphardt) "Ich möchte beschreiben die Entstehungsgeschichte und Lebens- geschichte eines bürgerlichen Pflichtmenschen vom Typus Eichmann, aufgrund eines sehr reichen dokumentarischen Materials, der Tonbandverhöre, vielen anderen Unterlagen, Dokumenten, Berichten, ärztlichen Berichten und alles Mögliche." Sprecher: Im Februar 1966 erzählte Heinar Kipphardt im Radio von seiner Arbeit an einem neuen Stück. Es handelt von Adolf Eichmann, der von seinem Schreibtisch aus die Züge für die Judentransporte in die Vernichtungs- lager koordinierte. Take 2: (Heinar Kipphardt) "Wie entsteht so ein Mann, eigentlich der Gegentypus eines Verbrechers, nämlich ein Überkonformist, der mit seiner Gesellschaft übereinstimmen will? Philosophisch hat mich interessiert, inwiefern ist der Mensch Objekt seiner Geschichte, und inwiefern macht er die Geschichte selber." Sprecher: Als Heinar Kipphardt am 18. November 1982 im Alter von 60 Jahren starb, war sein Stück "Bruder Eichmann" gerade erst fertig geworden. Am Münchner Residenztheater hatten die Proben begonnen. Zwei Jahre später inszenierte Thomas Langhoff das Stück in Ost-Berlin, damals wurde Adolf Eichmann von Thomas Neumann gespielt. Take 3: (Thomas Neumann/ Bruder Eichmann) "Mein Vater war 1913 nach Linz versetzt worden und war als kaufmännischer Direktor der Linzer Straßenbahn- und Elektrizitäts- gesellschaft dort tätig bis 1924. War eine strenge religiöse Protestantin meine zweite Mutter, auch mein Vater." Zitator: "Das Stück beschreibt, wie ein ziemlich durchschnittlicher junger Mann aus Solingen, aufgewachsen in Linz, Vertreter bei Vacuum Oil, auf sehr gewöhnliche Weise zu der monströsen Figur Adolf Eichmann wird." Sprecher: Dann will Kipphardt wissen, weshalb sein Nachbar kein Eichmann wurde, und ob er selbst in der Nazi-Zeit zu einem Eichmann hätte werden können. Take 4: (Thomas Neumann/ Bruder Eichmann) "Nach einer Versammlung, da sagte also Kaltenbrunner zu mir: Du kommst zu uns, forderte mich also kategorisch auf, ich habe zu kommen und so weiter, wie das eben damals so ging, burschikos, da wurde nicht viel herum und so weiter, ich sagte dann ,Ja gut', so kam ich zur SS." Musik: Das neue Leben Sprecher: Aus Kipphardt wäre nie ein Eichmann geworden. Im Gegenteil, er wollte mit seinem Stück ja zeigen, wie wichtig es ist, Widerstand zu leisten und sich mit den Mächtigen nicht gemein zu machen. Als Vertreter des Dokumentartheaters ist Kipphardt berühmt geworden. Sein Stück "In der Sache J. Robert Oppenheimer" bringt den Erfinder der Atombombe auf die Bühne, um sein Verhalten zu analysieren. Die Uraufführung war 1964 in München, als Kipphardt die DDR schon wieder verlassen hatte, weil sich sein Traum von einer besseren Welt am Deutschen Theater in Ost-Berlin nicht verwirklichen ließ. Musik: Das neue Leben Sprecher: "Reinste Provinz", Uwe Naumann blickt von seinem Schreibtisch in Reinbek bei Hamburg in eine friedliche Herbstlandschaft. Bunte Blätter fallen. Es regnet. "Also wenn man wie ich ein Stadtmensch ist", Uwe Naumann würde lieber in Hamburg sein. Als Herausgeber der zehn- bändigen Werkausgabe ist er einer der besten Kenner von Kipphardts Werk. Am Ende seines Lebens ist der Stadtmensch Heinar Kipphardt mit seiner Familie auf Land gezogen. Take 5: (Uwe Naumann) "Ich glaube, dass diese dokumentarische Mode, wie manche sagen würden, zu der ja nicht nur Kipphardt gehört, sondern auch Peter Weiß gehört, Rolf Hochhuth gehört, aber auch in der Prosa dann Günter Wallraff gehört, dass das eigentlich immer noch ein Reflex ist auf die Nazi-Zeit und die pathetische Ideologie, die da verbreitet wurde." Sprecher: 1963 zeigte Rolf Hochhuth in seinem Stück "Der Stellvertreter" einen Papst, der vom Holocaust nichts wissen wollte. Peter Weiss schrieb das Stück "Die Ermittlung", wo es um Auschwitz geht. Und ein Jahr später inszenierte Erwin Piscator Kipphardts Oppenheimer in West-Berlin. Take 6: (Uwe Naumann) "Jetzt wollte man die Gesellschaft verändern, und was suchte man dafür? Den Beweis, das Dokument, um zu zeigen: so war es wirklich, und jetzt guckt euch das an! Und ihr könnt nicht abstreiten, dass es so war, und wir zwingen euch, genau hinzuschauen." Sprecher: Was ist aus den Autoren des Dokumentartheaters geworden? Peter Weiss starb 1982. Sein Roman "Die Ästhetik des Widerstandes" gehört zu den Schlüsselwerken der Nachkriegszeit. Ein paar wenige Kenner bewahren ihm ein ehrbares Gedenken. Dagegen geistert Rolf Hochhuth bis heute durch den bundesdeutschen Kulturbetrieb: Mal quält er den Intendanten Claus Peymann, weil er Rechte an der Immobilie des Berliner Ensembles besitzt, oder er streitet lautstark mit Günter Grass über ein eher schlechtes Gedicht. Aber so richtig will das keiner mehr hören, wenn alte Männer Schlachten schlagen und dabei mächtig übertreiben. Und Heinar Kipphardt? An jenem Herbsttag in Reinbek kommt Uwe Naumann noch einmal auf seine Stücke zu sprechen. Take 7: (Uwe Naumann) "Ich glaube, was man mit ihm oft verbindet, so das dokumentarische, nüchterne Theater, wie ein Reflex auch darauf ist, dass er diese erste Welle der Ideologie, der positiven Ideologie, die er transportieren wollte in den 50er Jahren, eigentlich neu verarbeiten musste. Das was man kennt, sein Oppenheimer-Stück oder andere Theaterstücke, wo er ganz streng in der Form geblieben ist, war ein Reflex darauf, dass der Versuch, Ideologie zu transportieren mit seiner Literatur so grauenvoll, wenn man so will jämmerlich gescheitert ist in den 50er Jahren." Sprecher: Es ist ein lauer Abend im Mai 2012. Eingeklemmt zwischen einer hohen Friedhofsmauer und Brechts einstigem Wohnhaus sitzen ein paar Besucher in einem kleinen Biergarten und verbringen noch etwas Zeit, bis die Lesung beginnt. Die Theaterkritikerin Esther Slevogt ist in die Chausseestraße gekommen, um ihre Biografie über Wolfgang Langhoff vorzustellen. Sie ist ein wenig nervös, denn als Kritikerin und Initiatorin einer erfolgreichen Webseite, bei der sich alles ums Theater dreht, spielt sie gewöhnlich hinter den Kulissen. Nun wird sie bald auf dem Podium sitzen und über Wolfgang Langhoff sprechen, der nach dem Zweiten Weltkrieg für lange Jahre Intendant des Deutschen Theaters war, das er in der Anfangsjahren mit Ensemble von Bertolt Brecht teilen musste. Doch zunächst sitzt sie noch an der Mauer des Dorotheenstädtischen Friedhofs, wo Wolfgang Langhoff im Sommer 1966 begraben wurde, in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Größen der deutschen Kulturgeschichte: Hegel, Schinkel und eben auch Brecht. Take 8: (Esther Slevogt) "Da war der schlunzige Brecht, mit seinen nachgemachten Arbeiter- anzügen, immer von einem Tross junger Leute umgeben. Alle total cool, alle wahnsinnig ehrgeizig und bekriegten sich auch ziemlich mit dem eigentlichen Hausherrn Wolfgang Langhoff, der nämlich ein, ja, sozialistischer Dandy durch und durch war, mit Maßanzügen, Einstecktuch, Gel, einer goldenen Brille. Und Heinar Kipphardt war eine ähnliche Natur, ein feingliedriger Mensch mit schönen Gesichtszügen, hohen Geheimratsecken und überhaupt eine sehr aristokratische Erscheinung eigentlich. Also beide auch total unkommunistisch, unproletarisch, und stießen auch immer wieder auf den Argwohn der Genossen dort, für die Kommunisten irgendwie ein bisschen anders auszusehen hatten als Kipphardt und Wolfgang Langhoff." Sprecher: Neben Bertolt Brecht wirkt Wolfgang Langhoff immer etwas grau und blass. Auch so ein Klischee, das Esther Slevogt an diesem Abend zurechtrücken will, wenn sie von den frühen 50er Jahren am Deutschen Theater erzählt. Und mit Heinar Kipphardt hatte Langhoff einen Selenverwandten gefunden. Musik: Gegenlied von der Freundlichkeit der Welt "Soll das heißen, dass wir uns bescheiden Und "so ist es und so bleib es" sagen sollen? Und, die Becher sehend, lieber Dürste leiden Nach den leeren greifen sollen, nicht den vollen?" Take 9: (Esther Slevogt) "Die waren sich sehr ähnlich, beide sehr arrogant, von einem scharfen Intellekt, einem sehr analytischen Verstand. Es waren viele Menschen nicht wirklich würdig, ihnen das Wasser zu reichen." Sprecher: 1949 war Heinar Kipphardt aus politischer Überzeugung als Nervenarzt in die DDR gezogen. Er kam mit seiner Familie von Krefeld nach Ost- Berlin. Sie lebten in einer kleinen Wohnung auf dem Gelände der Charité, die nur über den Flur der psychiatrischen Abteilung zu erreichen war. Take 10: (Uwe Naumann) "Jemand, der so in der Nazizeit großgeworden ist, mit der Ideologie so konfrontiert war, wie er das war, auch in oppositioneller Weise glaube ich, der hat eine Sehnsucht gehabt, diese Ideologie hinter sich zu lassen. Und daher kam eine erste Orientierung Richtung Naturwissenschaften, Medizin. Eigentlich hat ihn aber immer die Literatur fasziniert, und der Schritt dann in Berlin sich um ein Engagement beim Deutschen Theater zu bewerben, Theater selber zu produzieren, Theaterstücke zu schreiben, ist, glaube ich, der Antrieb, zu dem zurückzukehren, was ihn eigentlich fasziniert und interessiert, und das war dann doch die Literatur, das Theater, die Ästhetik." Sprecher: Im Herbst 2012 treffe ich noch einmal Esther Slevogt. In ihrer Langhoff- Biographie hat Heinar Kipphardt eine noble Statistenrolle, doch sie blickt nüchtern und klar auf sein Leben und sein Werk. Wenn Heinar Kipphardt als Dramatiker und Schriftsteller erneut eine Chance haben soll, wird es nur auf diese Weise gehen: Er muss ohne Scheuklappen neu gelesen und neu verstanden werden. Take 11: (Esther Slevogt) "Wozu man ja auch noch einmal sagen muss, der Kipphardt selber war auch ein ziemlicher Stalinist, und ich weiß nicht, ob das die Herausgeber dieser Werkausgabe mit Absicht gemacht haben oder nicht, aber eins dieser Bände ist auch wirklich mit einem veritablen Stalin-Zitat betitelt. Und selbst sozusagen den SED-Funktionären gegenüber trat er dann so als Stalin-Exeget auf und versuchte denen zu erklären, wie das Stalin nun wirklich gemeint hätte." Sprecher: Als Reaktion auf die Ereignisse des 17. Juni war Heinar Kipphardt 1953 in die SED eingetreten. Blicken wir noch einmal zurück, wie Heinar Kipphardt Dramaturg und Schriftsteller wurde, Esther Slevogt kennt die Geschichte, als Kipphardts Vater Wolfang Langhoff bei einem Vortag traf. Take 12: (Esther Slevogt) "Dann kam er also nach Krefeld und sprach auf einer antifaschistischen Veranstaltung, die es damals ja auch im Westen gab. Der berühmte DDR-Theatermann und Antifaschist Wolfgang Langhoff. Wolfgang Langhoff war der Autor des Buches ,Die Moorsoldaten', also eines der ersten Berichte über die Konzentrationslager, die es überhaupt gegeben hat, 1935 in der Schweiz in der Emigration erschienen." Musik: "Wir sind die Moorsoldaten, ..." Musik beginnt unter dem Sprechertext, wird dann lauter Take 13: (Esther Slevogt) "Und auch Wolfgang Langhoff hatte das gleiche Schicksal wie Heinrich Kipphardt, der Vater von Heinrich Kipphardt, nämlich der war auch schwer misshandelt worden, man hatte ihm die Zähne ausgeschlagen und jetzt trug er ein Gebiss." Musik wird noch einmal lauter Take 14: (Esther Slevogt) "Nach der Versammlung ging dann der Heinrich Kipphardt zu ihm: Langhoff eine großartige Rede, aber eine Schande, dass ein Mann wie Sie so ein katastrophales Gebiss hat. Und er bot ihm also an, das Gebiss zu erneuern, und während er dann auf dem Stuhl lag, und wahrscheinlich nichts sagen konnte, hat sich der Vater für seinen begabten Sohn Heinar starkgemacht." Sprecher: Schon bald nach diesem Gespräch wechselte Kipphardt von der Charité zum Deutschen Theater in der benachbarten Schumannstraße. Musik: Das neue Leben Zitator: "Bei uns im Parkett sitzen junge Holzfäller, die ihre Axt an die Wurzeln des Todes gelegt haben. Bei uns im Parkett sitzen junge Zimmerleute, die entschlossen sind, die Erde bewohnbar und den Menschen menschlich zu machen. Sie wollen vom Theater wissen, wie man das macht. Sie wollen von dem Theater wissen, wie die Welt, wie der Mensch heute beschaffen sein soll, um richtig handeln zu können. Sie wollen die Wahrheit wissen, ausschließlich die Wahrheit, ohne Beschönigung, ohne Kompromisse, die harte Wahrheit über den Menschen, der einzigen Gegenstand des Dramas. Das ist die Forderung des Volkes an die Dramatiker: ,Schreibt die Wahrheit'. Da antwortete Stalin den Schriftstellern, die ihn fragten, was sozialistischer Realismus sei." Musik noch einmal lauter Sprecher: "Schreibt die Wahrheit" heißt der Essay von 1954, aus dem diese Zeilen stammen. Kipphardts Texte aus jener Zeit haben alle diesen "volkserzieherischen Unterton", kommentiert Uwe Naumann die entsprechenden Texte in der von ihm betreuten Werkausgabe. Take 15: (Uwe Naumann) "Kipphardt hat am Anfang durchaus ein kräftiges Pathos entwickelt, auch in seinen Texten, das ist heute manchmal schwer zu lesen. Das ist aber das Pathos, wir bauen auf, wir bauen neu auf, daran wollte er teilhaben, und seine Tragik war, dass er in der DDR eigentlich nach wenigen Jahren gescheitert ist. Dass er also an Grenzen gestoßen ist, der Zensur zum Opfer gefallen ist, mit politischen Querelen zu tun bekam und letztendlich mundtot gemacht wurde." Sprecher: 1959 ging gar nichts mehr. Den Spielplan des Deutschen Theaters fand die Partei viel zu bürgerlich. Langhoff und sein Dramaturg gerieten unter Druck, und Heinar Kipphardt hatte von der ewigen Bevormundung einfach die Schnauze voll. Take 16: (Esther Slevogt) "Irgendwann hat Kipphardt eben gesehen, dass es gar nix bringt, dass das irgendwie auch verlogen ist, und er das irgendwie nicht mehr ertrug. Und Langhoff ließ ihn da irgendwie nicht raus aus dieser Freundschaft, und dann spitzte sich das so zu, das war ja eine Emanzipation im Grunde von diesem Übervater, das ist dann irgendwie ja auch so eine berühmte Geschichte, die wird dann oft dann auch immer auf dieses DDR-, Partei-, Kommunismus-Thema reduziert, aber das ist glaube ich eine ganz persönliche Emanzipationsgeschichte auch gewesen zwischen Langhoff und diesem Ziehsohn." Sprecher: Heinar Kipphardt kündigte am Deutschen Theater und zog Ende 1959 unter nebulösen Umständen in die Bundesrepublik. Einen Vertrag mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus hatte er in der Tasche. Intendant Karl- Heinz Stroux wollte ihn als Bühnenautor. Am 6. September 1960 rechtfertigt sich Kipphardt noch einmal in einem Brief an seinen Kollegen Lothar Creutz in Ost-Berlin. Zitator: "Ich erinnere mich des Augenblicks genau, da ich mich in einem hohen Gremium unvermittelt einer äußerst dürftigen Religionsgemeinschaft gegenüber sah, die den Vollzug des Ritus erwartete, wissensfeindlich, mythisch, eifernd aus Angst, lügend aus Angst. Ich glaube, das war der Augenblick, wo ich weg gegangen bin, mir war speiübel, und ich sah keine Änderungsmöglichkeiten mehr." Sprecher: Esther Slevogt hat die Protokolle der Parteibefragung gründlich gelesen. Sie steht damit ganz in der Tradition Kipphardts, der sich zu biografischen Sachverhalten auch erst nach gründlichem Quellenstudium äußern wollte. Take 17: (Esther Slevogt) "Die Partei hat immer Recht. Das ist genauso Quatsch, wie die Partei hat immer Unrecht, wie man immer so gerne sozusagen, wenn jemand mit der Partei in Konflikt gerät, ist die gängige Lesart immer die, der ist der Gute und die Partei, das sind die Bösen. Das kann so sein, aber das interessiert mich zum Beispiel gar nicht. Ich habe dann immer doch gedacht, was ist eigentlich genau der Konflikt?" Sprecher: In den endlosen Protokollen der Kulturkommission steht, wie die Partei um Kipphardt kämpft, wie sie ihm klar machen will, dass er von seinem Egotrip und seinem arroganten Ross runter kommen soll. Take 18: (Esther Slevogt) "Er hatte mit einer ungeheuren Zerschmetterungskraft die Arbeit anderer Leute als minderwertig qualifiziert und hatte aber dann den Fehler begangen, ein katastrophal schlechtes Stück selber zu schreiben. ,Esel schreien in der Nacht' heißt das. Ein grauenhaftes Stück. Ja und der Kipphardt sollte mal jetzt Demut lernen, das fanden die für so einen begabten Mann wie den Kipphardt eigentlich jetzt mal angesagt, dass der mal sich hier so aufspielt, sondern doch mal zu den Arbeitern geht, ein bisschen in die Produktion vielleicht, oder dann dachte man na ja, das kann man vielleicht auch nicht machen, dann geben wir ihm ein hübsches Pöstchen, wo er erst mal auf andere Gedanken kommen kann, da kann er auch ein paar Texte schreiben, übernimmt er das Hygienemuseum in Dresden, das waren so Überlegungen, die die Partei so angestellt hat in seiner Gegenwart, um ihm klarzumachen: Lieber Heinar, Du musst jetzt erst mal auf den Teppich kommen." Sprecher: Heinar Kipphardt hatte kein Einsehen. Er konnte oder wollte sich nicht ändern. Wenn schon nicht er, dann mussten sich seine Lebensumstände ändern. Er ging zurück in den Westen. Aber das bedeutete nicht, dass er nun vom Westen eine gute Meinung hatte. In dem Brief an Lothar Creutz wird Kipphardt deutlich. Zitator: "Hier weiß man doch, wo man dran ist, an einem ehrlichen korrupten Schlachthause nämlich, aber mit Regeln, mit erlaubten und unerlaubten Tricks, und wenn man bestimmte Regeln beachtet, dann kann man die Schlächter Schlächter nennen, und wenn man es listig anstellt, kann man die Ursache der Schlächterei beschreiben. Die deutsche Geschichte durchgehend, muss das ein deutscher Schriftsteller für eine unerträgliche Freizügigkeit halten. Ich arbeite, man lässt mich in Ruhe und ich kann meine Arbeit verkaufen." Sprecher: Am 1. Januar 1970 wurde Heinar Kipphardt unter der Intendanz August Everdings Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen. Das noble Jugendstiltheater war 1926 von Otto Falckenberg mit "Dantons Tod" von Georg Büchner eröffnet worden, in einer Zeit, als in den Bierkellern der Stadt Adolf Hitler seine ersten Reden hielt. In München versuchte Kipphardt noch einmal, über das Theater Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen. Die Zeit war günstig, schon im Mai 1968 hatten zwanzig westdeutsche Theater ihre Vorstellungen unterbrochen, weil die Demonstranten mit den Zuschauern und den Theaterleuten über den Vietnam-Krieg und die Notstandsgesetze diskutieren wollten. Damals hat sich Kipphardt auch schon mit seinem Stück "Bruder Eichmann" beschäftigte, das Thomas Langhoff nach Kipphardts Tod in Ost-Berlin auf die Bühne brachte und gleich nach der Wende erneut am Deutschen Theater spielen ließ. Take 19: (Thomas Neumann/ Bruder Eichmann) "Musik - Ich weiß bloß noch, dass ich das erste Mal, dass ich folgendes gesehen habe: Einen Raum, da waren Juden drin, die mussten sich ausziehen, dann fuhr ein Lastwagen vor, gewissermaßen bis an eine Rampe ran. Da mussten jetzt die nackten Juden hineingehen. Dann wurde der Wagen zugemacht, und der Wagen fuhr los. Ich habe nicht zusehen können, ich habe nicht hingeschaut. Ich konnte es nicht, es hat mir genügt. Das Schreien und ich, und ich war viel zu erregt gewesen und so weiter. Ich weiß bloß noch, dass ein Arzt dort, im weißen Kittel, sagte, ich solle durch das Guckloch schauen, wie sie im Wagen drin waren. Das habe ich abgelehnt. Ich konnte nicht." Sprecher: Aus Solidarität zu Wolf Biermann setzte der Dramaturg Kipphardt 1971 das Theaterstück der ,Der Dra-Dra' auf den Spielplan der Münchner Kammerspiele. Ein Stück gegen Hitler. Es gelingt dem Drachentöter, das Ungeheuer zu vernichten. Doch der Drache kommt wieder, und der Drachentöter muss erkennen, dass eine Revolution nur siegreich sein kann, wenn auch die korrupten Helfer vernichtet werden. Im Programmheft sollten Köpfe aus Wirtschaft und Politik als moderne Drachen abgebildet werden. Politiker fühlten sich persönlich angegriffen, am 24. Mai 1971 berichtete das Magazin "Der Spiegel". Zitator: "Den ersten Stein warf Günter Grass. ,Mein Schriftstellerkollege Heinar Kipphardt ,ist unter die Hexenjäger gegangen', schrieb er am 30. April in der ,Süddeutschen Zeitung'. Und er belehrte weiter; Kipphardt sei ,dumm und gemeingefährlich'; er sei ,als Dramaturg ein Stückeverfälscher'; er sei ein ,Denunziant', der ,schlimmste deutsche Tradition' fortsetze: ,Hetze, die zum Mord führen kann'." Sprecher: Es kam zum Skandal, und Kipphardt musste das Theater verlassen. Ein Rausschmiss mit Folgen, sagt Kipphardt Kenner Uwe Naumann. Take 20: (Uwe Naumann) "Ende der 60er Jahre in den Kammerspielen wurde er richtig politisch weggebürstet, wegzensiert. Also dieser Versuch in einem Kollektiv aufzugehen, ist zweimal gescheitert, deswegen glaube ich, ist er am Ende von diesen Dramaturgen-Leben doch sehr abständig gewesen und war dann froh, dass er ein freier Schriftsteller war, der alleine das machen konnte, obwohl er eigentlich jemand war, der gerne in größeren sozialen Zusammenhängen tätig war." Sprecher: Die letzten Jahre lebte Heinar Kipphardt auf dem Land, im Erdinger Moos, als es dort noch keinen Flughafen gab. In Angelsbruck gab es nur einen kleinen Bach mit einem Teich, eine Mühle, wo Kipphardt in Ruhe arbeiten konnte, und ein Haus für die Familie. Zitator: Angelsbrucker Notizen I Wie ich hierher gekommen bin, weiß ich nicht. Aber ich bin geblieben, halte den Föhn aus und halte mich immer noch. Hinter dem Türladen über dem Fluß Nisten die Bachstelzen in diesem Jahr Zum zweiten Mal Und beäugen mich. Sprecher Nach dem Skandal in München hat Kipphardt noch einmal literarisches Neuland betreten. Er fing an, sich selbst zu befragen, indem er den psychisch kranken Künstler Alexander März erfand. In einem Rundfunkgespräch gibt Heinar Kipphardt Auskunft. Take 22: (Heinar Kipphardt) "Vielleicht ist dieser März sowas wie ein Dichter, dem man halt von Kindheit an so mit beiden Schuhen so auf der Kehle steht, nicht, und der dann nur noch auf Anordnung was rausbringt. Aber ein Mensch, der offensichtlich ganz hartnäckig, auf sich besteht und in diese flache Anpassung an Normen nicht gelingen will." Musik: Das neue Leben nur kurz, wie ein Zitat Take 23: (Uwe Naumann) "In diesen ersten Jahren seines literarischen Schaffens war er jemand, der politisch wirken wollte und der die Psychologie, glaube ich, sehr weit beiseitegeschoben hatte, vielleicht auch sogar verdrängt hat ein Stück weit. Das heißt, der Psychiater kommt eigentlich in den späten Werken wieder zum Tragen, im März-Roman und den März-Gedichten ohnehin, da kehrt er dahin zurück, dass der Mensch Brüche in sich hat, und dass er Verhaltensmuster aufnimmt, mit denen man sich befassen muss, um ihn zu verstehen und ihn vielleicht wenn möglich auch zu verändern." Sprecher: Heiner Kipphardt schrieb jetzt seine Träume auf und notierte die vielen oft wirren Gedanken, die in seinem Kopf rumschwirrten. Plötzlich konnte er alles gebrauchen, alles wurde zu Material für seine literarische Produktion. Zitator: März-Gedichte 1 Der Vater Der Vater ist viereckig Und raucht Schwarze Viginia Am Sonntag im Bett Zieht er den Kindern gern Schnurgerade Scheitel. Take 24: (Uwe Naumann) "Die sind sehr interessant, weil die sind plötzlich wuchernd, die sind ausufernd, die sind phantasie- und lustvoll, die sind frech, die sind anarchisch, die sind surrealistisch, also gehen in Bereiche, die er sich in seiner sonstigen Literatur kaum zugestanden hat, in der Lyrik hat er sich ein bisschen gehen lassen können." Sprecher Alexander März ist ein Außenseiter, und Kipphardt erkennt, dass auch er selbst immer ein Außenseiter war. Zitator: "Mit dem Unterschied, dass ich immer derjenige war, der die anderen zu Opfer machen wollte. Da musste ich umdenken bei März, der selbst Opfer ist." Take 25: (Heinar Kipphardt) "Ich beschäftige mich nicht mit einem merkwürdigen Sonderfall, sondern ich versuche halt herauszufinden, wie ist der Zusammenhang mit dem Äußerungsformen dieses Mannes und dem gesellschaftlichen Umfeld. Steckt in ihm nicht auch viel von der Realität eines Künstlers, in bestimmter Weise ist das ein sehr verstümmelter, trümmerhafter Künstlerroman und Künstlerproblematik kann man in ihm auch finden. Es gibt also bestimmt auch ziemliche Identifikationspunkte, also mehr von mir mit März als mit der Normalität." Sprecher: Mit seiner Kunstfigur Alexander März wollte Kipphardt, ganz wie bei Eichmann oder Oppenheimer, eine Haltung demonstrieren. März leistet Widerstand. Take 26: (Uwe Naumann) "Kipphardt hat früher einmal eine Formulierung notiert, er hat ja so kleine Heftchen immer gehabt, wo er was hineingeschrieben hat, Notathefte nannte er das: ,Ich störe also bin ich'. Das war wie ein Lebensmotto für ihn. Und das ist eigentlich der Kern der März-Figur." Sprecher: Heinar Kipphardt interessiert sich für seine Figuren vor allem dann, wenn sie für eine kritische Begutachtung taugen. Am Ende werden aus Menschen stets Prototypen. Take 27: (Uwe Naumann) "Es geht um Haltungen entweder des Einverständnisses mit der Macht, mit der Obrigkeit, oder des Widerstandes, des Sich-zur-Wehr-Setzens, auch des Leidens unter der Obrigkeit. Und ich glaube, in diesen Beschreibungen von Menschen, die sich entscheiden müssen und die sich so oder so entscheiden, entweder mit dem großen Strom zu schwimmen oder gegen etwas anzugehen, aufzustehen, eventuell auch ihr eigenes Leben zu riskieren, in der Beschreibung dieser Figuren und deren Handlung ist er eigentlich ein bleibender Schriftsteller." Sprecher: Doch die Dramen und Texte bleiben oft spröde. Es gibt keine unver- wechselbare Handschrift und auch keinen typischen Kipphardt-Ton. Wenn überhaupt, ist er in dem lakonischen Tonfall seiner späten Gedichte zu finden. Für Esther Slevogt bleibt Kipphardt trotzdem ein wichtiger Autor, über dessen Wirkung längst nicht das letzte Wort gefallen ist. Take 28: (Esther Slevogt) "Da bin ich sicher, da gibt es neue Zugänge. Aber ich glaube einfach, dass es noch ein bisschen braucht, um diese Leute wieder aus einer neuen Sicht zu entdecken, weil es ja genau die Generation auch ist, in deren Jugend diese Deutschländer zerrissen, und man kann sie dann, auch mit ihren eigenen Gehirnwäschen, die sie dann mit sich selber durchführen mussten und weswegen diese Gehirnwäsche auch ein bisschen auf das Werk fällt, weil man denkt, das ist ja ideologisch so nicht ernst zu nehmen, weil es eben so ideologisch ist, aber da werden vielleicht andere Zeiten kommen." Musik: Das neue Leben Sprecher: Nach 1945 gab es in Deutschland eine große Erzählung. Sie hieß: Nie wieder Krieg. Dazu gehörte die Frage, wie es zur NS-Katastrophe hat kommen können. Deutschland war zweigeteilt, dieser Riss ging mitten durch Kipphardts Biografie. Mit dem Fall der Mauer hat sich diese große Erzählung in viele kleine Erzählungen aufgelöst. In diesem Puzzle der Zeitgeschichte wird auch Heinar Kipphardt seinen Platz finden. 2