COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Ursula Gaßmann für Deutschlandradio Kultur "Frische, vor Kälte angelaufene Gläser" Die Welt der Dinge in der niederländischen Literatur Ursula Gaßmann Redaktion: Sigried Wesener Zitator: "Wer spart..." "der bewahrt ..." "...sagte die achtzigjährige Jungfrau." Wie die Geschichte mit der Taube und dem Ring begann sich nun auch das Ereignis mit dem Pferd noch am selben Tag zu einem rohen Märchen zu entwickeln. Zwischen Beinen, Billardstöcken, Barhockern und Zigarettenrauchwolken auf der Suche nach seinem Vater , fing Albert Fetzen davon auf, Worte, die er nicht verstand, aber immer behalten sollte. Sprecherin: Der bekannte niederländische Schriftsteller A.F.Th. van der Heijden. schildert in seinem Roman Das Gefahrendreieck die biedere und abgründige Welt der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Zitator: Als sie noch bei Alberts Großeltern in Tivoli wohnten, spielte sein Vater sonntags vormittags oft Billard mit seinen "indischen" Freunden. Alberts Mutter schmiedete dann unter großem Gezisch seine Hosenbeine zu zweischneidigen Schwertern, wonach ein Geruch, der gerade noch eben kein Brandgeruch war, im kleinen Zimmer hängenblieb. Wenn er, durch den engen Raum tigernd, auf seine früheren Kumpel vom Militär wartete und Albert, noch keine zwei Jahre alt, auf ihn zutrippelte, um mit klebrigen Händen das Bein seines Vaters zu umarmen, schob dieser den kleinen Kerl gereizt weg. "Geht jetzt nicht, Männeken...Meine Sonntagshose. Frisch gebügelt." Sein Versprechen, "gegen halb zwei" zu Hause zu sein, hielt er pünktlich ein, allerdings nicht mittags, sondern nachts. Sprecherin: Das Kind, das durch Gegenstände in die Welt eingeführt wird, hat auch Walter Benjamin beschrieben: Zitator: Kaum tritt es ins Leben, so ist es Jäger. Es jagt die Geister, deren Spur es in den Dingen wittert; zwischen Geistern und Dingen verstreichen ihm Jahre, in denen sein Gesichtsfeld frei von Menschen bleibt. Musik Sprecherin: Wer sich längere Zeit in den Niederlanden aufhält, der spürt, zunächst meist auf diffuse, unaufdringliche Weise, dass es in diesem Land eine andere Wahrnehmung des Alltags gibt. Der polnische Dichter Zbiegniew Herbert beschrieb in seinem Buch Stilleben mit Kandare seine Besuchs-Zustände in Holland so: Zitator: Ein Anfall von Fremdheit, aber ein sanfter, wie er die meisten an fremde Orte versetzte Menschen befällt. Ein Gefühl der Andersartigkeit der Welt. Hier in Holland hatte ich das Gefühl, es genüge ein beliebiger Hügel, um das ganze Land mit dem Blick zu erfassen, seine Flüsse, Wiesen, Kanäle und roten Städte. Sprecherin: In kulturgeschichtlicher Hinsicht lösen die Niederlande meistens zweierlei Assoziationen aus: das Meer und die Malerei. Die Holländer, ein Seefahrer- und Handelsvolk, immer konfrontiert mit dem Wasser als Lebenselexier, aber auch als Gefahr. Und die Malerei: die weltberühmten Stilleben des 17. Jahrhunderts, des sogenannten Goldenen Zeitalters. Jan Konst, Professor für Niederlandistik an der Freien Universität Berlin über die Anfänge der Genremalerei: 1) O-Ton Jan Konst 1) Es hat natürlich kulturhistorische Gründe. Im 17. Jahrhundert gab es keine kirchlichen Aufträge mehr für Maler und die haben sich einfach neue Themenbereiche aussuchen müssen. Die durften ja diese religiösen Themen nicht mehr malen oder da war keine Nachfrage. Die haben sich andere Bereiche gesucht und auch gefunden und mit diesen Bereichen ja auch ganz neue Interessenten angesprochen. Zitator: Ich habe mir die Frage gestellt, warum man gerade in diesem Lande mit besonderer Fürsorglichkeit und beinahe religiöser Achtung das Häubchen der Urgroßmutter, die Wiege, den Gehrock aus schottischer Wolle des Großvaters, das Spinnrad aufbewahrt. Die Zuneigung zu den Dingen war so stark, dass man Abbildungen und Porträts der Gegenstände bestellte, um ihr Dasein zu bestätigen und ihre Dauer zu verlängern. Sprecherin: schreibt Zbiegniew Herbert. Nicht nur in der Bildenden Kunst, auch in der Literatur spiegelt sich bis heute eine intensive Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung. Die Dinge im Alltagsleben scheinen in Holland eine besondere Aura zu haben. Die Schriftstellerin Margriet de Moor über die Bedeutung der Gegenstände in ihrem persönlichen Alltag und als Autorin: 2) O-Ton Margriet de Moor 1) Die Dinge sind ja oft symbolisch oder sind eine Metapher für das Leben selber. Und dann braucht man nur an das Stilleben zu denken, das ich als Malerei, als Gemälde immer sehr geliebt habe. Hinter diesen Dingen steckt das normale Leben. Und die Dinge verschweigen oft die ganz großen tragischen Dinge. Es ist natürlich nicht so, dass ich mir das in meinem täglichen Leben immer bewußt bin. Wenn ich eine Szene schreibe in meinen Erzählungen und Romanen, dann sehe ich oft sehr klar vor mir, was da passiert, fast wie ein Film und das, während ich im wirklichen Leben oft sehr zerstreut bin. Aber an meinem Schreibtisch, das ist so wunderbar und unerklärbar, sehe ich immer sehr, sehr klar. Und seh ich die Dinge genau vor mich, dann brauch ich sie nur zu beschreiben, und dann sind sie da. Sprecherin: Thomas Rosenboom inspiriert der Kontakt mit seiner unmittelbaren Umgebung. Der Schriftsteller lebt im Grachtenviertel von Amsterdam. 3) Thomas Rosenboom 1) Ich fange jeden Tag an mit einem langem Spaziergang, und das beruhigt mich, dass alles noch genau so ist, wie es gestern war. Sprecherin: Zur Entstehungsgeschichte seines Romans Neue Zeiten, der um 1900 spielt, erzählt der Autor: 4) Thomas Rosenboom 2) Der Anfang von Neue Zeiten war eine Wahrnehmung. Das war ein Hotel, wo ich jeden Tag entlangspaziere und wo es in der Fassade noch zwei kleine alte Häuser gibt. Und da hab ich mich gefragt, wie kann das so sein. Etwas soll hier passiert sein. Das war der Anfang dieses Romans. Zitator: Mit seinen Spalierlinden vor dem Haus und den hohen Sprossenfenstern machte die "Zwölf Apostel" schon von außen einen vornehmen Eindruck. Nach dem Eintreten sah sich der Besucher durch das imposante Repositorium gleich rechts hinter der Ladentheke noch bestätigt, das, mit hunderten grüner und brauner Standgläser bestückt, bis zur Decke reichte. Inmitten all der Gläser befand sich, auf Augenhöhe, eine verschließbare Lade mit der Aufschrift "Venena", hinter der in versiegelten Flaschen die Gifte bewahrt wurden. Altmodische Apothekerkuriositäten wie Mohnkapseln oder ein ausgestopftes Äffchen gab es hier nicht; die Einrichtung bestand aus nichts als der Erkenntnis Nützlichem, einer kleinen Librairie voll Attestbüchern, der Batavischen Pharmakopöe und einer Flora, einem eigenen Schränkchen für Sedativa und darauf einem Topf Blutegel, an der Wand natürlich dem Zeugnis und ansonsten, neben der Kasse, einem Mörser, einer Waage und einem Porzellantintenfass in Form eines phrenologischen Kopfes. Niemand konnte sich die Apotheke vorstellen, ohne zugleich an den Apotheker zu denken. 5) O-Ton Jan Konst 2) In den Romanen von Thomas Rosenboom sieht man beispielsweise, dass das Alltagsleben, die erkennbare Realität, sehr stark da ist. Man könnte natürlich sagen, dass, wenn die Umgebung, die wiedererkennbare Realität, wenn das so wichtig ist, wie ist es dann mit dem psychologisieren. Gibt es dann auch ein Interesse für das Innere, das Innenleben des Protagonisten. Und ich würde eindeutig sagen, ja. Aber es wird dem Leser in niederländischen Romanen vieles überlassen. Es ist ja wirklich so, dass man als Leser sich ein eigenes Bild formen soll, aber es ist nicht so, dass das festliegt. Sprecherin: Der Erfolgsautor und Journalist Geert Mak verbindet Autobiograhisches, Fiktion und journalistische Beobachtungsgabe. Geert Mak liest den Anfang aus seinem Buch Das Jahrhundert meines Vaters: 6) O-Ton Geert Mak 1) Gerüche. Teer und Taue. Das müssen die ersten Dinge gewesen sein, die mein Vater gerochen hat. Außerdem war da der Geruch von Salz und Wellen, von Großsegeln und Vorsegeln, Focksegeln und Bramsegeln, Rarsegeln und Sturmfokken, die in der Werkstatt zum Trocknen hingen. Es gab eine Küche, in der es nach Milch und Brot roch und später am Tag nach Grieben und gebratenen Fisch und schließlich war da noch ein Hauch von Holz und von der Kälte der Stahls. Die ersten Geräusche. Im Haus war manchmal aus der Werkstatt das Rattern eines Flaschenzugs zu hören. Oder das Schleppen einer Segeltuchrolle. Hin und wieder die Stimme meines Großvaters und seiner ältesten Söhne Koos und Ari. Draußen hörte man die Schritte auf der Straße, das Rumpeln der Karren und das Bimmeln der Pferdebahn. Und da waren all die in der Nähe arbeitenden Menschen in der Schmiede und der Blockmacherei ein Stückchen weiter, wo der Bruder meines Großvaters Maste und Flaschenzüge herstellte, oft draußen auf dem Kai, weil seine Werkstatt zu klein war. Abends dann die Schritte der wenigen späten Spaziergänger. Die Stimme des Blockmachers, der zu einem kleinen Schnack herübergekommen war. Der Wind in den Kastanien. Das Scheuern der Kutter und Schoner an der Kaimauer. Das Tuten eines kräftigen Horns, zweimal, dreimal. In der Ferne das Flüstern von Heckwellen und Dampfmaschinen. Ein merkwürdiges fernes, hell erleuchtetes Schloss, das vorüberfuhr auf dem Weg in eine andere Welt. 7)O-Ton Geert Mak 2) Ich komme von einer typischen journalistischen Tradition und habe auch durch die journalistische Tradition gelernt, zu beobachten. Die psychologische Analyse habe ich oft beim Leser gelasssen. Es ist ein Spiel zwischen Schriftsteller und Leser und ich liebe niemals Schriftsteller, die alles erklären. Es ist immer ein gewisses Geheimnis, nicht nur zwischen Schriftsteller und Leser. Ja, Margriet de Moor hat einmal gesagt, erst ist da eine Relation zwischen dem Schriftsteller und dem Buch. Aber wenn das Buch fertig ist, dann fängt eine neue Relation an, zwischen dem Buch und den Lesern. Und der Schriftsteller muss langsam in der Kulisse verschwinden. Der muss nicht alles erklären. Musik Sprecherin: Der Durchbruch für die niederländische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt kam mit der Frankfurter Buchmesse 1993, die den Fokus auf niederländische und flämische Literatur legte. Literaturkritiker entdeckten die Holländer, und dass Qualität nicht mit philosophischer Schwere gepaart sein müsse. Die Auflagen von Cees Nooteboom, Harry Mulisch, Connie Palmen, Leon de Winter, Maarten T´Hart und vielen anderen schossen in die Höhe. Das lag natürlich auch an den hervorragenden Übersetzungen. Aber schreiben niederländische Autoren tatsächlich anders als deutsche? 8) O-Ton Jan Konst 3) Man kann schon sagen, es gibt viel realistische Literatur. Es ist ein Wort, das wir als Literaturwissenschaftler nicht gerne verwenden, aber es ist vielleicht doch ganz nützlich, das hier zu verwenden. Realistische Literatur, wo ein Alltagsleben skizziert wird, was jeder Niederländer kennt, und das macht dann ja auch den Reiz dieser Literatur aus, dass es eine erkennbare Welt ist, in die man eingeführt wird. Sprecherin: Christoph Buchwald ist Kenner der Literaturszene, sowohl der deutschen als auch der niederländischen. Er lebt seit Jahren in Amsterdam und hat dort zusammen mit seiner holländischen Frau einen erfolgreichen Verlag gegründet. Buchwald ist skeptisch, ob die niederländische Literatur aufgrund ihrer Alltagsschilderungen eingängiger ist: 9) Christoph Buchwald 1) Es ist interessant, um darüber nachzudenken. Aber ich tu mich schwer mit dieser Generalisierung. Vielleicht hat es mit etwas anderem zu tun. Dass nämlich, wie ich als Ausländer hier gelernt habe, das, was die gesprochene niederländische Sprache ist, und die Schriftsprache sich kaum unterscheiden. Bei uns ist der Unterschied viel größer. Das heißt, wenn jemand im Deutschen anhebt zu erzählen, hat er im allgemeinen schon gleich einen ganz anderen Ton drauf, grundsätzlich. Hier in den Niederlanden ist das, was Sie im Buch finden und die Sprache, die gesprochen wird, habe ich mir sagen lassen - und inzwischen höre ich es langsam auch- sind die nicht so verschieden wie bei uns. Wenn ich mir aber anschaue wie zum Beispiel Margriet de Moor in ihrem letzten großen Roman De verdronkene, umgeht mit dem Wetter, mit der Seenot, mit der großen Sturmflut und wie die Figuren damit umgehen, dann seh ich da sehr wohl auch ein durchaus reflektierendes Moment, was nicht vom Erzähler aus dem Off kommt, was aber sehr geschickt sozusagen als verdeckter, verkappter Autorenkommentar spürbar und auch sichtbar ist. 10)a) O-Ton Margriet de Moor 2) In der Tat war hier auf der Südseite der Stadt viel los, wo der Tidehafen mit seinen Anlegestellen für Linienschiffe, Kutter und die direkte tägliche Verbindung nach Rotterdam über einen Kanal Zugang zu Oosterschelde hatte. Zu dieser samstäglichen Stunde waren die Kneipen voller Gäste. Durch den Sturm erregt, erhoben viele das Glas in Richtung der Fenster, hinter denen es am bereits finsteren Himmel auf imposante Weise wütete. Schräg gegenüber, unter der Laterne, deren gelbes Licht sich gegen den schräg dahinter aufragenden Koloß der Kornmühle mit den festgesetzten Flügeln sich verloren ausnahm, stand eine kleine Gruppe von Fischern und sah nach ihren Booten. Kurze Musik 10b) O-Ton de Moor "Warum ging er fort?" wiederholte sie. Frische, vor Kälte angelaufene Gläser, wurden ihnen vorgesetzt. Sonja schaute zu ihrer Mutter, die mit einem harmlosen Lächeln in ihrer Tasche zu kramen anfing, wahrscheinlich auf der Suche nach ihren Zigaretten. Sie fand sie und legte das Päckchen und das Feuerzeug vor sich auf den Tisch. Dann bekam Sonja die Geschichte von dem Mann zu hören, der unter gar keinen Umständen ein Kind haben wollte. ... "Lieber Gott", sagte ihre Mutter und spielte mit ihren Zigaretten, ohne sich eine anzuzünden, "wie war er da entschlossen. ... 10c) O-Ton de Moor Wenn ich das so lese, das erste mal auf deutsch, dann muss ich mich auch bemühen, das deutsch auszusprechen, dann sehe ich es doch vor mir, wie in einem Film. Man könnte das so drehen und ich denke tatsächlich, dass diese Bilder, das eine auf dem Kai dort in Zeeland und das andere so im Innenraum eines Zimmers, ja die sind bedeutend. Die bedeuten sehr viel und das wird im Rest der Erzählung deutlich. Sie bedeuten zum Beispiel dort in Zeeland Gefahr, aber nicht nur Gefahr, sondern auch Unschuld, das Verneinen der Gefahr. Man hat sich gewöhnt, in diesen Umständen zu leben und man will die Gefahr nicht sehen. Man macht die Gefahr ganz klein. Und dann natürlich, dann sind die Gegenstände, die Dinge, die sind eigentlich auch klein. Die geben Courage, die geben Mut. Und das andere, die Szene mit Sonja und ihrer Mutter, ja da sitzen eine Mutter und eine Tochter zusammen und die trinken Tee und sie reden so etwas, ganz harmlos scheinbar. In Wirklichkeit geht es um die ganz großen und tragischen Dinge. Aber es ist schön, finde ich, um sie dann auch klein zu lassen. Hier bleiben sie auch klein. Sie haben sich verwandelt in Tee und Zigaretten. Musik Zitator: Nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht. Sprecherin: Philosoph Peter Sloterdijk ist in den Niederlanden sehr populär - und sicherlich nicht nur wegen seines holländischen Namens. Dinge sind weder gut noch böse. Geschenke können Erinnerungen und Assoziationen auslösen. Dinge können aber auch einfach nur als vorhanden wahrgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie nützlich sind oder nicht. Franz Hessel schreibt in seinem Roman Kramladen des Glücks, erschienen 1913: Zitator: Ich habe schon Freude, aber nicht am Leben, will sagen, nicht an meinem Leben. Ich habe Freude an Dingen, die mich nichts angehen. Sprecherin: Mit Kleidung, Schmuck und Interieur zeigt man wer man ist, oder wer man gerne sein möchte. Adriaan van Dis, bekannter holländischer Gegenwartsautor in seinem Roman Doppelliebe: Zitator: Es wurde Zeit für andere Kleider, eine neue Rolle stand mir bevor. Ich musterte meinen Schrank mit anderen Augen, warf einen affigen Schal weg, die viel zu engen Hemden wanderten zu Werner, meine Reithose verwahrte ich in einem Koffer, und Maud schenkte ich meine Goldkette. Sie wollte sie nicht, aber ich verlangte, dass sie das Geschenk annahm. Seriös wollte ich für sie sein - in Hosen mit Aufschlag, gestreiften Hemden und einem dreiteiligen Anzug für das Concertgebouw -,meine Freundin sollte sich meiner nicht schämen müssen. Kurze Musik? 11) O-Ton Geert Mak3) Ich glaube, in der holländischen Literatur ist die Wahrnehmung sehr wichtig. Und wir Holländer, ja, psychologisieren, das machen wir auch, aber nicht soviel wie die Franzosen und die Deutschen. Ich glaube, vielleicht haben wir in der Vergangenheit viel theologisiert. Die Holländer lieben den Gottesstreit und das Theologisieren. Und vielleicht ist die Wahrnehmung, aber das ist nur eine Möglichkeit, eine Reaktion auf die theologisierte und psychologisierte Literatur gewesen. Sprecherin: Der berühmte Kunsthistoriker Johann Huizinga hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen untersucht, die Hollands kulturelle Blüte in Malerei und Literatur erst ermöglichten. Zitator: Der Niederländer hat stets die Dinge des gewöhnlichen Lebens hoch geschätzt und die Würde des Alltäglichen begriffen. Es passte zu seiner innigsten Frömmigkeit, dies alles als Gaben Gottes zu würdigen. Es war eine hausbackene Tugend, aber es war nicht ein dummer Materialismus, vielmehr das Gegenteil. Die Eigenschaft hängt zusammen mit einem starken Wirklichkeitssinn in der tieferen Bedeutung, dass man die Welt und die Dinge als wirklich auffaßt, mit jenem Wirklichkeitssinn, der, mag er nun philosophisch begründet sein oder nicht, die Dinge als tatsächlich und jedes für sich bestehend anerkennt und schätzt. Sprecherin: Der wichtigste niederländische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Eduard Douwers Dekker, besser bekannt unter seinem Pseudonym Multatuli beschreibt in seinem Entwicklungsroman Woutertje Pieterse Szenen des Amsterdamer Judenviertels: Zitator: Nicht bei allen, aber doch bei manchen - vor allem in den unteren Schichten - gibt es etwas, was man das Gegenteil von Bluff oder Reklame nennen könnte. Dass der Lumpenkommissionär - eines der Glieder zwischen Papierfabrikanten und Lumpensammlern - seine Großmutter da auf der Straße sitzen ließ...lieber Gott, sie wollte es nicht anders! Sie war im Handel, diesem Handel groß geworden, und hier wollte sie auch sterben. Im übrigen waren "Saures" und verdorbene Krämerware ihre Spezialität. ... Der achtzigjährige Krieg, den sie gegen flaue Kauflust, schlechtes Wetter, lästige Polizei geführt hatte - einst hatte nämlich ein unwürdiger Magistrat das Feilbieten von verdorbenen Waren verboten...So war´s nun mal, und Gott höchstpersönlich könnte es nicht ungeschehen machen, dass Frau Roebens sich mit Leib und Seele sauren Gurken und verfaulten Feigen verschrieben hatte. Musik Sprecherin: Wie Christoph Buchwald sieht auch Geert Mak in den Niederlanden eine andere literarische Tradition als in Deutschland. 12) O-Ton Geert Mak4) Man liebt das Theologisieren und die Literaturgeschichte, auch die Poesie ist wirklich voll mit sehr frommen Geschichten und poetischen religiösen Sachen usw., usw., speziell für die normalen Leute. Und es gab nur eine Gegenkultur, und das ist immer das Märchen gewesen, speziell in dem Norden der Niederlande, in Friesland. Es ist eine sehr alte Erzählkultur. Und ziemlich wichtige Schriftsteller haben sich immer verwandt gefühlt mit dieser Erzählkultur. Wie zum Beispiel Theun de Vries, aber auch Simon Vestdijk, ist ein sehr wichtiger holländischer Schriftsteller in der Mitte des 20. Jahrhunderts und ich glaube, das wirkt immer noch durch, auch bei uns. Und natürlich sind wir auch sehr beeinflusst durch die angelsächsische Literatur, die amerikanische Literatur spezial. Und da sind doch immer Verbindungen gewesen zwischen der Journalistik und der Literatur. 13)O-Ton Jan Konst4) Bei Nescio sieht man das auch. Das ist alles sehr sehr alltagsbezogen, ganz erkennbare, wiedererkennbare Realität. Und auch ohne allzu viele stilistische Mittel wird da diese Realität in den Romanen aufgerufen. Sprecherin: Nescios Erzählungen, die zwischen 1911 und 1915 entstanden sind, besetzen das sehr merkwürdige Stilgebiet zwischen Romantik und Sarkasmus. Es gibt zum Beispiel den "Schnorrer" Japi, auf niederländisch plastisch "de uitvreter" genannt, was auch "Taugenichts" bedeuten könnte, ein seit Eichendorff durchaus ambivalenter Titel. Zitator: Abgesehen von dem Mann, der die Sarphatistraße für das schönste Fleckchen von Europa hielt, habe ich nie einen merkwürdigeren Kerl gekannt als den Schnorrer. Den Schnorrer, den dumit seinen schmutzigen Schuhen im Bett fandest, wenn du abends spät nach Hause kamst. Den Schnorrrer, der deine Zigaretten rauchte, von deinem Tabak stopfte und deine Kohlen verheizte und in deine Schränke guckteund dich anpumpte und deine Schuhe auftrug und einen Mantel von dir anzog, wenn er im Regen nach Hause musste. Den Schnorrer, der auf anderer Leute Rechnung Sachen bestellte; der wie ein Fürst aufder Terrasse des Hollandais saß und Jenever trank, auf Kosten anderer; der Schirme lieh und nie zurückbrachte, der Bavinks alten Ofen kaputt heizte. ... Mit keinem anderen hatte Bavink je ein Wort gewechselt, wenn er arbeitete, mit Japi redete er. "Zum Teufel", sagte Japi, "es kratzt doch keinen, ob es gut ist, du tust, was du kannst, du bist nun mal ein armer Schlucker. Du mußt malen. Du kannst es jadoch nicht lassen. Die Dinge stört es schließlich nicht, wenn du sie nicht genausohinkriegst, wie sie sind. Und die Leute kapieren ja doch nichts. Von den Dingen nicht, von deiner Arbeit nicht und von dir nicht." Musik Sprecherin: In den Niederländen wird auffallend viel Literatur gekauft und gelesen. Direkte politische Zeitgeschichte ist allerdings in den letzten Jahren wenig in der Literatur zu finden. 14) O-Ton Christoph Buchwald2) Jedenfalls spielt gerade bei den Jüngeren die politische Realität eine auffallend geringe Rolle. Da sind Autoren wie van der Heijden, wo die Zeit geradezu zu riechen und zu spüren und zu schmecken ist, anderes Kaliber. Aber das ist eine Generation älter. Bei den Jüngeren, auch was wir hier an Manuskripten in den Verlag bekommen, spielt die Zeit als typische Zeitgeschichte, die die Menschen prägt, quält, zerreißt, beschäftigt, was auch immer, eine deutlich geringere Rolle als in den Romanen von Juli Zeh oder Julia Franck oder wen Sie auch immer da nennen wollen. Sprecherin: Christoph Buchwald zertreut die Befürchtung, den deutschen Lesern würde nur ein Segment der niederländischen Literatur angeboten. 15) O-Ton Buchwald3) Die deutschen Verlage haben die meisten niederländischen Übersetzungen weltweit. Also Deutschland ist das beste Absatzland für niederländische Literatur. Es wird sehr viel übersetzt und ich glaube, es entgeht dem deutschen Leser kein Meisterwerk oder ein Buch, das auf dem Wege dahin ist. Sprecherin: Der Journalist und Historiker Willem Wansink, der einige Jahre als Korrespondent in Deutschland gelebt hat, kritisiert die journalstischen Ambitionen vieler Autoren. 16) Willem Wansink 1) Die niederländische Gesellschaft ist eine sehr schnelllebige Gesellschaft geworden, auch eine sehr oberflächliche. Das heißt, es finden hier zwar viele Diskussionen statt, viele gesellschaftspolitische Diskussionen. Aber was heute los ist, kann morgen wieder vorbei sein. Ein Feuerwerk, auch ein Feuerwerk der Gefühle. Es ist ein sehr emotioal besetztes Thema, Politikwissenschaft, auch Literatur. Denn die Literatoren schreiben heutzutage Spalten, Kolumnen, Meinungsbeiträge. Die niederländische Literatur ist eine Bildliteratur. Man beschreibt Luft, Emotionen, aber locker, schnell, oberflächlich also. Man geht selten in die Tiefe. Die richtige Philosophie wird nur von wenigen angesprochen. 17)O-Ton de Moor Ich finde gerade, dass in der niederländischen Literatur, soweit ich das dann lese, ich lese das alles nicht komplett, es sehr viel Psychologie gibt. Allzuviel. Sehr viel Psychologie und wie das heutzutage dann so passiert, dass jeder klipp und klar weiß, warum man sich benimmt, wie man das tut. Und das hat dann alles zu tun mit Vergangenheit und psychologischen Faktoren. Ich liebe das überhaupt nicht. Musik Sprecherin: Alexander von Bormann, emeritierter Professor für Literaturwissenschaft in Amsterdam , leitete viele Jahre eine Stiftung, die es jungen deutschen Autoren ermöglichte, eine Zeitlang in Amsterdam zu leben und zu arbeiten. Einer seiner Stipendiaten, Ralph Grüneberger veröffentlichte nach seinem Aufenthalt einen zweisprachigen Gedichtband. Zitator: Vondelpark Een man,aangelijnd Aan zijn mobieltje, loopt Zijn vrijloopend hond achterna. Vondelpark Ein Mann, angeleint An sein Handy, läuft seinem Freilaufenden Hund nach. Sprecherin: Alexander von Bormann sieht die Stadt Amsterdam als Inspirationsquelle auch für deutsche Autoren: Zitator: Grünebergers Gedichte sind hellsichtig und zart poetisch wie es die Stadt der Grachten und Coffeeshops herauszufordern scheint. Sprecherin: In den Niederlanden hat man den Eindruck, dass die Menschen gerne in ihren Häusern, in ihren Städten leben. Das Private ist immer noch ein hoch geschätzter Wert. Die Atmosphäre, das Licht, das ständig wechselnde Wetter schärfen die Wahrnehmung für die Welt der Dinge der Umgebung - nicht nur im Museum. 18) O-Ton Margriet de Moor Die Innenstadt von Amsterdam und auch von kleineren Städten, zum Beispiel hier in Haarlem oder in Leiden oder in Delft, man sieht die Gemälde eigentlich noch überall. Und nicht nur die Häuser. Wir brauchen nicht nur Touristen zu sein, um ziemlich kalt und unbezogen uns das anzusehen. Die Häuser selber schauen, gucken zurück, denn das Interieur dieser Häuser ist noch immer so, und damit mein ich, man liebt es noch immer so zu leben in dem Interieur, das Intime. Sprecherin: Auch Autoren mit Migrantionshintergrund lassen sich durch die Atmosphäre bezaubern und werden übrigens in den Niederlanden viel gelesen. Der in Marokko geborene Schriftsteller Hafid Bouazza ist Mitte dreißig und lebt seit seinem siebzehnten Lebenjahr in Amsterdam. Er liebt die Stadt. Sein niederländischer Roman Paravion-Paravion steht für Amsterdam- erschien vor zwei Jahren auf deutsch. Zitator: Mamette starrte zum Fenster hinaus und beobachtete den Rhythmus der trägen Schneeflocken. In geraden Linien fielen sie vom Himmel und änderten dann ihre Richtung. ...Sie mochte den Schnee, der die kahlen Bäume in weiße Pelze hüllte. Die Grachten waren zugefroren, und die ersten Schlittschuhläufer wagten ein paar vorsichtige Schritte. Bei Sonnenschein war sie ganz verzaubert von den blauen Schatten, die die kahlen Äste aufs Eis warfen. Sie hörte das laute Lachen der Kinder. Sie begriff, was für Striemen die Eisläufer auf dem gefrorenen Wasser hinterließen. mit Musik überleiten Zitator: Es dämmerte. Die letzten herben Gelbtöne erloschen, das ägyptische Gelb, das Zinnober wurde grau und spröde, die letzten Feuerwerkskörper des Tages dunkelten. Und plötzlich setzte eine unverhoffte Pause ein, eine kurz andauernde Unterbrechung in der Dämmerung, als hätte jemand in Eile die Tür von einem hellen zu einem dunklen Zimmer geöffnet. 16