COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur / Die Reportage Titel: ''Wir haben nichts, wir zahlen nichts!'' - Griechenland im Ausstand Autor: Alkyone Karamanolis Atmo 1: Versammlung, Musik Eine schmucklose Tribüne unter grauem Himmel, es nieselt. In der feuchten Kälte harren rund 200 Menschen aus - die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Aus den Lautsprechern scheppern Widerstandslieder. Über dem Podium ist ein Transparent angebracht, griechische Schrift in roter Farbe: "Wir haben nichts, wir zahlen nichts". Zuspielung 1 Wir sind unter Druck. Die Staatskassen mögen leer sein, aber unsere Geldbeutel sind auch leer! Wenn einer 600 Euro Rente bezieht und davon schon 100 Euro für Medikamente weggehen, wovon soll er dann leben? Der grauhaarige Mann mit Schildmütze hat rote Backen vor Kälte und vor Wut. Er tritt einen Schritt zurück und sucht Schutz unter der Markise eines Klamottenladens. Im Schaufenster hinter ihm kostet das teuerste Kleidungsstück 29 Euro, das Outlet daneben wirbt mit Rabatten bis 70 Prozent. Atmo 2: Sprecher Anlass für die Bürgerversammlung im Athener Randbezirk Nea Ionia ist die neue Immobiliensteuer. Sie flattert den Griechen zusammen mit der Stromrechnung ins Haus. Wer nicht zahlt, riskiert, dass ihm der Strom abgestellt wird. Atmo 2 Sprecher kurz hoch "Wir müssen uns zusammen widersetzen", krächzt ein Mann ins Mikrofon. Ein Ruck geht durch die Menge. Eine Wohnung oder ein Häuschen hat selbst in dieser Kleine- Leute-Gegend fast jeder. Dafür fehlt vielen ein Einkommen, von dem sie leben können. Die Gemeinderätin Olga Katimertzi, Mitte 50, flotte Frisur, lässige Lederjacke, steht in der ersten Reihe. Sie gehört zu den Initiatorinnen des Zahlungsboykotts. Irgendwann ist Schluss, findet sie, die Immobiliensteuer bringt das Fass zum Überlaufen: Zuspielung 2 Wir haben eine enorme Arbeitslosigkeit. Vielen Bürgern fehlt es mittlerweile am Allernötigsten. Es gibt Kinder, die ohne Pausenbrot in die Schule gehen. Wir werden diese Steuer also verweigern. Das ist reine Notwehr! Olga Katimertzi sieht nicht aus wie eine Revoluzzerin. Die schick gekleidete Frau gehörte bis vor Kurzem zum Mittelstand. Ihr Mann ist Bauunternehmer, er hat Aufträge für öffentliche Bauten übernommen, sie selbst hat als technische Zeichnerin in seinem Büro gearbeitet. So lange es Arbeit gab. Atmo 1 Versammlung hoch Die Gemeinderätin geht durch die Reihen, schüttelt Hände. Ein paar Mitstreiter verteilen Flugblätter und rufen dazu auf, die Steuer nicht zu bezahlen, sich zu wehren, alle zusammen. Um 5,5 Prozent wird die Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen. Dass der Staat in dieser Situation immer neue Steuern erhebt, ist unverzeihlich, sagt Olga Katimertzi. Deshalb organisiert sie - gemeinsam mit dem linken Gemeinderat - den Widerstand von unten. Ganz nebenbei macht sie das bei ihren Wählern enorm populär. Atmo 3: Auto, Münzen klimpern (kurz) Atmo 4: Auto Kurz vor der Mautstelle kramt Dimitris Bourantas Wechselgeld hervor. Bourantas ist ebenfalls im Widerstand. Intellektuell. Denn im Gegensatz zu den Bürgern von Nea Ionia hat er das nötige Kleingeld. Für ein schnelles Cabrio, für die Immobiliensteuer und für einiges mehr. Der Professor für Management findet die neue Steuer allerdings auch nicht gerecht. Hätten die Reichen in der Vergangenheit ihre Steuern bezahlt, bräuchte man heute die Kleinen nicht zur Kasse zu bitten, sagt Bourantas, und der Schnurrbart in seinem Jungengesicht bebt. Sein Steuerberater hat ihm vor Jahren geraten, eine offshore-Firma auf Zypern zu gründen, um das griechische Finanzamt zu umgehen. Bourantas hat sich dagegen entschieden. Er weiß, dass er damit zu einer Minderheit gehört. Zuspielung 3 Viele glauben, es hat keinen Sinn, Steuern zu zahlen. Weil das Geld der Steuerzahler ohnehin in die Taschen einer korrupten Elite fließt anstatt der Gemeinschaft zugute zu kommen. Ich nenne nur mal mein Beispiel: ich zahle rund 200.000 Euro Steuern im Jahr. Aber meine Kinder schicke ich auf eine Privatschule, weil der staatliche Unterricht mangelhaft ist. Wenn wir krank sind, gehen wir in Privatkrankenhäuser, weil die staatliche Gesundheitsversorgung miserabel ist. Die Alarmanlage an meinem Haus habe ich mit einem privaten Sicherheitsdienst verbunden. Selbst die Mülltonne in unserer Straße habe ich aus eigener Tasche bezahlt! So etwas frustriert. Und so kommt es, dass auch viele ehrliche Griechen am Ende das Finanzamt betrügen. Atmo 5: Mautstelle Gespräch 3 Euro 10 für den nächsten Streckenabschnitt. Bourantas zahlt viel für Mautgebühren und Benzin. 70 Vorträge hat er in diesem Jahr schon in ganz Griechenland gehalten. Er ist ein gefragter Mann. Denn er hat Visionen für die geschundene Heimat. Heute ist er auf dem Weg nach Patras. Buchhandlungen laden ihn ein, Vereine und Verbände. Alle wollen von ihm wissen, woran es fehlt und warum Griechenland am Punkt Null angelangt ist. Bourantas spricht dann nicht über Finanzen, sondern über Moral. Vor einigen Monaten hat er eine Bürgerbewegung gegründet. Eine Partei könnte folgen. Bourantas will, dass in Griechenland die Werte wieder regieren. Zuspielung 4 Es gibt einen Satz, der hat sich allen Griechen eingeprägt. Es ging um Bestechungsgeld, das der Verwaltungsdirektor des staatlichen Stromkonzerns angenommen hatte. Und der Premier damals, es war Andreas Papandreou, hat doch tatsächlich gesagt: Gegen ein kleines Geschenk für den eigenen Geldbeutel sei nichts einzuwenden. Im Klartext: Er hätte einfach nur weniger Bestechungsgeld nehmen sollen. Das setzt natürlich Maßstäbe, das prägt Mentalitäten! Je höher die Position, desto größer die Verantwortung, sagt der Professor für Management. Was die Bürger natürlich nicht von ihrem Teil der Verantwortung entbindet. Bourantas unterrichtet an der Athener Universität. Neben seiner Lehrtätigkeit berät er auch Unternehmen - darunter börsennotierte global player. Sein Arbeitsvertrag erlaubt das. Bourantas rutscht ungeduldig auf dem Autositz hin und her, legt den vierten Gang ein und setzt an zum Überholen. Bourantas mag keine Hindernisse. Auch Mentalitäten kann man ändern, sagt er. "So wie sich die Kultur eines Unternehmens verbessern lässt, genau so lässt sich auch in Griechenland die Kehrtwende einleiten". Er zieht links vorbei. Zuspielung 5 In vier bis fünf Jahren kann man große Veränderungen erzielen. Wenn der Kontext stimmt. Wieso haben sich die Athener während der Olympischen Spiele vorbildlich benommen? Selbst die für ihre Ruppigkeit berüchtigten Taxifahrer waren 1a. Atmo 6: Rathaus Flur + Katimertzi Um die Gemeinderätin Olga Katimertzi drängeln sich die Menschen im Flur. Der Aufstand der Gemeinde Nea Ionia findet heute im Rathaus statt. Die Versammlung unter freiem Himmel vor wenigen Tagen, das war ein Anfang, aber dabei soll es nicht bleiben. Man diskutiert die politische Lage: Der alte Premier, der neue Premier, die Hintergründe des Wechsels und die Konsequenzen. Die Stimmung ist aufgekratzt. Die Politiker der großen Volksparteien haben den Kontakt zu ihren Wählern verloren, erzählt Olga Katimertzi allen, die es hören wollen. Zuspielung 6 Die meisten Politiker stammen aus regelrechten Politikerdynastien. Sie haben keinen Kontakt zu den einfachen Leuten. Sie heben die Hand im Parlament und stimmen für ein Gesetz. Doch sie haben keine Ahnung, was dieses Gesetz für eine Familie bedeutet! Sie machen sich nicht klar, dass sie mit ihren Beschlüssen Lebensentwürfe ruinieren. Atmo 7: Saal Im Sitzungssaal geben Gemeindeangestellte unterdessen Tipps, wo und wie man die Stromrechnung bezahlen kann, ohne die neue Immobiliensteuer zu entrichten. Hilfe zur Selbsthilfe. Atmo 8: Famlienvater fragt "Wird mir der Strom auch nicht abgestellt", fragt ein Familienvater - "jetzt, mitten im Winter?" Atmo 9: Gemeindemitarbeiterin beschwichtigt. Mit Text drüber Eine Gemeindemitarbeiterin reicht ihm einen zugeschnittenen Zettel. Darauf sind ein paar Telefonnummern notiert. Ein Anruf, erklärt sie, und die Elektriker der Gemeinde richten die Verbindung wieder ein. Verunsicherte Bürger stehen Schlange, ziehen ihre Dokumente aus Plastiktüten und Klarsichthüllen: Einkommensnachweis, eidesstattliche Erklärung - und die Stromrechnung. Atmo 10 Handy Dann klingelt das Handy von Olga Katimertzi. Ein Journalist aus Kanada möchte ein Interview. Vorher hat schon ein griechischer Fernsehsender angerufen. Berauscht von ihrem Erfolg macht die Gemeinderätin einen Termin aus. Atmo 11 Café, Musik Zwischenstopp. Der Managementprofessor hat auf dem Weg zu seinem Vortrag in Patras einen Abstecher gemacht. In einer Kleinstadt im Norden des Peloponnes wollen ihn ein paar Leute kennen lernen, vielleicht werden sie sich der Bürgerbewegung anschließen. Man trifft sich in einem verrauchten Café. Nach einer kurzen Begrüßung geht es zur Sache: ist ein anderes Griechenland denkbar? In der Runde: Ein Mann mit behäbigem Bauch und Ziegenbärtchen. Sein Blick ist herausfordernd. Er ist skeptisch, was Griechenlands Zukunft angeht, weiß aber, was er will. Zuspielung 9 Ich wünsche mir einen funktionierenden Sozialstaat. Ich habe das in Dänemark erlebt, wo ich früher gelebt habe. Nur: hier in Griechenland werden wir Bürger an der Nase herumgeführt. Wir zahlen Steuern - ich jedenfalls zahle die meinen - doch staatliche Leistungen sehen wir keine! Heftiges Kopfnicken. Aber auch die Bürger müssen sich ändern, wirft ein anderer in die Runde. Nun ist Bourantas in seinem Element. Wir müssen vom "Ich" zum "Wir" finden. Zu Werten und Regeln, an die sich alle halten. Je hitziger die Diskussion wird, desto mehr Zigaretten werden angezündet. Trotz Rauchverbot. Wenn die Menschen Zweifel haben, läuft Bourantas zu Höchstform auf. Zuspielung 10 Nehmen wir an, in einer Straße sind zwei Tavernen. Die eine zahlt Steuern, die andere nicht. Die erste kann niedrigere Preise anbieten, und schließlich wird sie die zweite in den Konkurs treiben. Also zwingt die erste Taverne die zweite Taverne geradezu, auch Steuern zu hinterziehen. Ohne einen Wertekodex geht also gar nichts. Aber auch die Politik hat Verantwortung, nämlich darauf zu achten, dass die Regeln von allen eingehalten werden. Atmo 13: Verbabschiedung (kann auch wegfallen, falls zu viele Atmos aufeinander) Dimitris Bourantas verabschiedet sich wie ein Wahlkämpfer nach seinem Auftritt. Wieder hat er Verbündete gefunden. Mitstreiter für einen Neuanfang. Auf dem Weg zum Parkplatz läßt Bourantas das Treffen Revue passieren. Zuspielung 11 Was diese Leute bewegt, das bewegt die Bürger im ganzen Land. Die Leute wünschen sich ein funktionierendes Staatssystem, Politiker, die nicht in die eigenen Taschen wirtschaften, Steuergerechtigkeit, überhaupt: Gerechtigkeit. Bourantas steigt ins Auto. In wenigen Stunden beginnt sein Vortrag. Atmo 14 Freundinnen Lachen, Unterhaltung Fünf junge Frauen in einem Athener Wohnzimmer, alle um die 25 Jahre alt. Freundinnen. Keine engagiert sich bisher politisch. Vom umtriebigen Professor hat bisher nur eine von ihnen gehört. Die rebellische Gemeinderätin, die die Immobiliensteuer boykottiert, kennen sie nicht. Die Frauen sitzen zusammen auf dem Sofa, lachen und erzählen. Scheinbar ungezwungen - aber nicht lange. Schnell sind die Freundinnen bei der Krise angelangt und ihren trüben Zukunftsaussichten - ein Dauerthema. Zuspielung 12 Wir leben in Angst vor dem nächsten Tag. Heute habe ich eine Arbeit. Aber was wird morgen sein? Ich arbeite in einem privaten Kindergarten, und jeden Tag bewerben sich Leute bei uns. Kürzlich war sogar eine Ärztin da. Sie sagte, sie würde alles tun, selbst putzen, egal für welchen Lohn. Mir ist die Spucke weg geblieben. Es ist als würden die Leute Schlange stehen vor der Tür. Deshalb lassen wir uns auch viel gefallen. Wer wird sich in dieser Situation über eine Lohnminderung beschweren? Zoi zuckt mit den Achseln, und Maria nickt. Auch Maria arbeitet mehr als früher, für weniger Lohn, und ihre Überstunden werden nicht mehr bezahlt. Trotz guter Auftragslage. Aber immerhin: Maria hat wenigstens Arbeit. Von den fünf Freundinnen haben nur zwei einen Job. Die anderen sind auf Arbeitssuche. Auch Argyro. Personalmanagerin mit Aufbaustudium in Glasgow. Zuspielung 13 Ich hatte bisher nur zwei Bewerbungsgespräche. Beide sind über Bekannte zustande gekommen. Sonst hätte ich gar keine Chance. In Griechenland läuft alles nur mit Vitamin B. Die meisten Stellen werden gar nicht erst ausgeschrieben. Und wenn, dann ist es völlig sinnlos, sich zu bewerben. Ich verschicke seit September Bewerbungsmappen, und ich habe noch nicht einmal eine Absage bekommen! Atmo 15 Mutter bietet Tee an Zois Mutter stellt ein Tablett mit Tee auf den Tisch. Seit Beginn der Krise ist Zois Gehalt von 1100 auf 900 Euro gesunken, an Ausziehen ist also nicht zu denken. Dass Zoi ihre Freundinnen im Wohnzimmer der Eltern empfängt, ist in diesen Zeiten völlig normal. Zuspielung 14 Im Augenblick macht mir das nicht viel aus, aber in ein, zwei Jahren würde ich gerne mit meinem Freund zusammen ziehen, heiraten und eine Familie gründen. Aber wenn sich die wirtschaftliche Situation in Griechenland nicht grundlegend verändert, wird das nicht möglich sein. In meiner Familie legen wir alle zusammen, um über die Runden zu kommen. Wenn ein Einkommen wegbricht, wäre das eine Katastrophe. Dann kommt Zois Vater dazu. Ein schmaler, eleganter Mann, dessen Lächeln über seine Sorgen hinwegtäuscht. Anastasios Haros führt seit 40 Jahren ein Bekleidungsgeschäft in einer zentralen Athener Fußgängerzone. Alle paar Tage meldet einer seiner Kollegen Konkurs an. Auch Anastasios Haros weiß nicht, wie lange er noch durchhalten wird. Zuspielung 15 So etwas haben wir noch nie erlebt. Das Geschäft ist in der schlimmsten Phase seit seiner Gründung. Ich hatte nicht einen einzigen Kunden. Null! Ein Dorfkiosk macht mehr Umsatz! Denn zur Krise kommen ja auch die Streiks und Demonstrationen. Heute haben die U-Bahn-Fahrer gestreikt. Und dann zanken sich die Politiker um Unterschriften und darum, ob die nächste Tranche ausbezahlt wird oder nicht. Sollen sie uns doch einfach Pleite gehen lassen, dann wissen wir wenigstens, dass es nicht weiter abwärts gehen kann! Atmo 16 Foyer Zois Familie ist eine griechische Durchschnittsfamilie. Die muss mitmachen beim Umbau des Landes, wenn es nach Dimitris Bourantas, Professor für Management, und Sprachrohr des Umbruchs, geht. Er will genau diese Menschen gewinnen für seine Idee der Bürgerbewegung oder womöglich für eine neue Partei. Später. Im dunklen Anzug steht er auf der Bühne in Patras. Es geht um den Richtungswechsel, um Visionen, um die Krise als Chance, um die Verantwortung der Politiker und die Eigenverantwortung der Bürger. Atmo 17 Diskussion, Rede Bourantas läuft auf der Bühne auf und ab, nimmt Einwürfe aus dem Publikum auf, würzt seine Rede mit Anekdoten und predigt den Wandel. Der Unternehmensberater weiß: Wer sich nicht rechtzeitig ändert, den bestraft der Markt. Später - bei Pasta und Wein - verbreitet er Optimismus. Zuspielung 15 Griechenland hat zwei Gesichter, ein modernes, innovatives und ein korruptes und rückwärtsgewandtes. Das korrupte Griechenland macht nicht mehr als zehn Prozent aus, aber es hat die Kraft, den gesunden Teil des Landes aufzuhalten. Hier muss die Politik saubere Regeln setzen. Ich spreche täglich mit Unternehmern. Sie wünschen sich eine Heimat, in der gleiches Recht für alle gilt, und in der Innovation und Integrität belohnt werden. Es braucht den Kitt, um all die zusammen zu führen, die Griechenland erneuern wollen. Von den Berufspolitikern dürfen wir nichts erwarten, sagt Bourantas und erntet breite Zustimmung. Als er seine Idee erwähnt, eine neue Partei zu gründen, mit unverbrauchten Personen, fällt ihm eine Frau um den Hals. Atmo 18 Küche, reden, Pizza Die Gespräche bei Zoi gehen - auch ohne so eloquente Redner wie den Professor - in eine ähnliche Richtung. Zoi holt ein Blech mit dampfender Pizza aus dem Ofen. Griechenland braucht einen Neuanfang, finden die Freundinnen. Einen politischen Neuanfang. Zoi verteilt Salat und meldet Zweifel an. Sie befürchtet, dass nach den Wahlen in ein paar Monaten wieder die alten Parteigranden an die Macht kommen. Zuspielung 17 Es regieren doch immer dieselben im Wechsel. Und gemeinsam haben sie Griechenland an den Rand des Abgrunds gebracht. Was ich mir wünsche, ist, dass uns endlich einmal jemand reinen Wein einschenkt. Ich glaube, wir wissen noch gar nicht, wie schlimm es wirklich um uns bestellt ist. Aber kein Politiker hat den Mut zu sagen: das waren unsere Fehler und das müssen wir nun tun. Damit auch wir uns einstellen können auf das, was uns bevorsteht. Atmo 19 Freundinnen reden durcheinander. Wenn alle Stricke reißen, dann wollen die jungen Frauen ins Ausland gehen. Aber noch besteht Hoffnung. Hoffnung auf eine echte, politische Erneuerung im eigenen Land. Zuspielung 18 Wir brauchen neue, unverbrauchte Politiker. Mit einer anderen politschen Kultur. Leute mit einer Vision, die sich für ihre Heimat einsetzen wollen. Und ich denke, es gibt diese Leute. Leute in unserem Alter. Die Dinge sind in Bewegung. Die Jungen sind viel engagierter als früher. Früher haben wir in einem trügerischen Wohlstand gelebt und die Politiker einfach machen lassen. Was dabei herausgekommen ist, sehen wir ja. Atmo 20 Auto Junge Leute wie Zoi und ihre Freundinnen, auch die braucht Dimitris Bourantas für sein großes Projekt: den Umbau Griechenlands. Er muss die Jugend überzeugen, keine Frage. Am nächsten Morgen ist er auf dem Rückweg nach Athen. Erschöpft aber zufrieden. Er tritt aufs Gas - kürzlich hat ihn die Polizei angehalten, weil er mit 245 Stundenkilometern gefahren ist. Zuspielung 19 Ich mag Tempo. Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Ich fahre schnell, ich esse aber auch schnell - meine Frau sagt mir immer, ich solle langsamer Essen. Ich schreibe schnell, auch meine Vorträge gestalte ich zügig. Ich verplempere nicht gerne meine Zeit. Der Managementprofessor setzt auf Effizienz. Doch nun, auf dem Heimweg, wird Bourantas skeptisch. Bisher bremsen die alten Parteigranden den Fortschritt aus. Die letzten Monate hat Bourantas mehrere Uni-Kollegen ziehen sehen. Sie sind mit ihren Familien ins Ausland gegangen, weil sie hier keine Zukunft sahen. Auch seine Kinder bereiten sich innerlich darauf vor, im Ausland Karriere zu machen. Bourantas fragt sich selber manchmal, wo sein Land in zehn Jahren stehen wird. Zuspielung 20 Es gibt zwei Szenarien. Das eine ist, dass die Politiker radikale Reformen vermeiden und nur ein wenig Kosmetik betreiben. Dann wird Griechenland in zehn Jahren ein armes und unterentwickeltes Land sein. Die andere Möglichkeit wäre, unsere immensen Standortvorteile zu entwickeln. Wir haben Energieresourcen, fruchtbare Böden, phantastisches Klima und viele talentierte Menschen. Griechenland könnte einer der Top Player in Europa werden. Das zweite Szenario ist schwieriger zu realisieren, gibt Bourantas zu - aber nicht undenkbar. Und schon kehrt der Optimismus zurück, und Bourantas lacht. Atmo 21 Saal Im Athener Vorort Nea Ionia weiß man nichts vom Wandel wie ihn Bourantas, der Managementprofessor, predigt. Hier geht es ums Eingemachte. Widerstand gegen die Staatsmacht. Zahlungsboykott. Man wird die Immobiliensteuer verweigern. Was die Bürger tun müssen, wie sie am besten vorgehen, ohne sich strafbar zu machen, das erfahren sie im Rathaus. Die hier Versammelten fühlen sich als Verlierer. Denn als die Reichen im Land ihre Millionen in die Schweiz transferiert haben, hat der Staat zugesehen. Nun holt er das Geld von den armen Teufeln, schimpft Andreas Fakas, der auf eine Beratung wartet. 700 Euro Rente bezieht er gemeinsam mit seiner Frau. Kurz, bevor er an die Reihe kommt, dreht er sich um und erklärt den Umstehenden: Zuspielung 21 Ich unterhalte fünf Leute. Denn ich unterstütze auch meine Tochter, deren Mann und meine Enkeltochter. Meine Tochter hat seit einem Jahr keine Arbeit mehr, ihr Mann schon seit zwei. Ich bin 80 Jahre alt, und ich weiß nicht mehr weiter. Ich gehe jetzt zum Bürgermeister. Bittesehr! Keiner soll denken, er übertreibe. Andreas Fakas öffnet seinen Geldbeutel: Kein Schein, keine Münze. Leer. Die 400 Euro Immobiliensteuer, die ihm der Staat in Rechnung stellt, sind für ihn ein Vermögen. Und nicht nur für ihn. Mehr als 850 Millionen Euro schulden die Griechen dem staatlichen Stromversorger derzeit, täglich wird Dutzenden von Haushalten der Strom abgestellt. Und das ganz ohne die neue Immobiliensteuer. Atmo 22 Konversation mit Katimertzi Auch die populäre Gemeinderätin Olga Katimertzi ist da. Sie redet mit allen, gibt Ratschläge, sonnt sich in ihrem Erfolg und schimpft auf die Steuerpolitik der letzten Jahre. Sie ist jetzt manchmal im Fernsehen, vor einigen Tagen erst war sie bei einem Privatsender. Atmo 23 Fakas lobt Der Rentner Andreas Fakas hat die Sendung gesehen, er erkennt sie wieder. Bravo, sagt er, und: Wir brauchen mehr wie dich. Ein selbstgefälliges Lächeln huscht über das Gesicht der Gemeinderätin, doch sie unterdrückt es schnell. Atmo 24: Katimertzi redet gut zu Nebenbei sorgt sie dafür, dass einem der Wartenden das Bußgeld fürs Falschparken erlassen wird. Man nimmt es nicht so genau mit den Vorschriften. Es herrscht eine Wut auf die Politiker, von denen viele Geld veruntreut haben, ohne je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Also ist der Staat der Feind, dem man eins auswischt, wo man nur kann. Atmo 25 Auto Dimitris Bourantas rauscht mit seinem Cabrio über die Straßen in Richtung Athen. Sein Blick gleitet über die Landschaft. Zufrieden registriert er die malerischen Dörfer zu seiner Rechten, die Bergkuppen in der Ferne und den strahlend blauen Himmel. Bourantas überschlägt die Zahlen. Mit rund 5.000 Menschen hat er die letzten Monate gesprochen. Alle haben denselben Wunsch. Griechenland, sagt Bourantas und atmet tief durch, ist bereit für den Wandel.