Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen - 18. Januar 2012 Irgendwas mit Freiheit Auf der Suche nach dem Liberalismus Walter van Rossum 1. Zit.: Alles prüfe der Mensch und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will. (Hölderlin) Musik: Allons enfants de la patrie 2. Zit.: "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind." (Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776) 1 O-Ton: (Flach) ... die alte bürgerliche Schicht, die ja eine große Tradition hatte im Durchsetzen liberaler Grundsätze gegenüber den alten Fürsten usw. ihre Verdienste hatte. Musik: Ich bin ein freier Mann (1848, Herwegh) 2 O-Ton: (Wahlwerbung FDP) 3 O-Ton: In Deutschland sind unsere Bürger leider sehr staatsorientiert, sie wollen sich die Mühen des Lebens eher vom Staat abnehmen lassen. Sie fürchten das Risiko wie kaum ein anderer. Und wenn man sagt: FDP wählen, dann sagen die, dann muss ich ja alles selber machen. (W. Gerhardt, Liberalismus gestern und heute) 4 O-Ton: (Bush) Freedom and fear are at war. The advance of human freedom, the great achivement of our time and the great hope of every time, now depends on us. 3. Zit.: Artikel 1 Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)) Autor: England, Mitte des 19. Jahrhunderts. Willkommen im ersten Paradies des Liberalismus: 2. Zit.: Man nahm die Kinder aus den Armenhäusern, von denen sie scharenweise als "Lehrlinge" bei den Fabrikanten auf längere Jahre vermietet wurden. Sie wurden gemeinschaftlich logiert und bekleidet und waren natürlich die vollständigen Sklaven ihrer Brotherren, von denen sie mit der größten Rücksichtslosigkeit und Barbarei behandelt wurden. (...) Der Bericht der Zentralkommission erzählt, dass die Fabrikanten Kinder selten mit 5, häufig mit 6, sehr oft mit 7, meist mit 8 bis 9 Jahren zu beschäftigen anfingen, dass die Arbeitszeit oft 14 bis 16 Stunden (außer Freistunden zu Mahlzeiten) täglich dauere, dass die Fabrikanten es zuließen, dass die Aufseher die Kinder schlugen und misshandelten, ja oft selbst tätige Hand anlegten. Autor: Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse, 1845. 2. Zit.: In den Kohlen- und Eisenbergwerken arbeiten Kinder von 4,5,7 Jahren; die meisten sind indes über 8 Jahre alt. Das Loshauen, das von erwachsenen Männern oder starken jungen Burschen von 16 Jahren und darüber geschieht, ist ebenfalls eine sehr ermüdende Arbeit. - Die gewöhnliche Arbeitszeit ist 11 bis 12 Stunden, oft länger, in Schottland bis zu 14 Stunden, und sehr häufig wird doppelte Zeit gearbeitet, so dass sämtliche Arbeiter 24, ja nicht selten 36 Stunden hintereinander unter der Erde und in Tätigkeit sind. Autor: So sah es aus, wenn die freien Märkte die Befreiung der Menschheit betrieben: die Versklavung und Verelendung der größten Teile der Bevölkerung. So sah sie aus, die Befreiung von den feudalen Verhältnissen, die im Zeichen von liberté, egalité, fraternité begonnen hatte. Irgendwas ist gründlich schiefgelaufen in den Köpfen der Denker und für die Opfer ihrer Denkfehler. Die Bibel für diese Sorte Marktwirtschaft hatte ein schottischer Philosoph verfasst: Adam Smith. Sein Werk über den Wohlstand der Nationen erschien 1776. 3. Zit.: Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeiten, sondern von deren Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Menschenliebe, sondern an ihre Eigenliebe und sprechen ihnen nie von unseren eigenen Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen. Autor: Wenn sich die Gier des Einzelnen auf einem freien Markt entfalten könnte, dann würden letztlich alle dabei gewinnen, lautete der Grundgedanke von Adam Smith. Der Markt würde von einer unsichtbaren Hand regiert, die die Probleme dieses Marktes unauffällig korrigiert. Kürzlich vermutete der frühere Weltbank-Chef Josef Stiglitz, die unsichtbare Hand wäre vielleicht deshalb unsichtbar, weil es sie gar nicht gäbe. Für Ökonomen ist das 230 Jahre nach Adam Smith schon ein Gewinn an Weisheit. Doch Smith sprach von Bäckern und Metzgern, von Handwerkern, aber er kannte noch gar nicht die mörderischen Produktionsbedingungen der kommenden Textilindustrie, die Qual in den großen Stahlwerken oder die Fron der Bergwerke. In einer Hinsicht behielt er recht: Die Nation wurde reicher, doch den meisten Menschen ging es schlechter. Und wer nicht früh starb, flüchtete sich in die nächste Illusion der Freiheit: Amerika. Immerhin 7 Millionen Deutsche mussten im 19 Jahrhundert auswandern, wollten sie nicht Hungers sterben. Musik: Hungerlied Autor: Adam Smith wurde berühmt-berüchtigt mit seinem Werk über den Wohlstand der Nationen. Doch ihm galt es nur als ein Nebenwerk. Der Mann war schließlich Moralphilosoph und was ihn wirklich beschäftigte, hat er in seiner Theorie der ethischen Gefühle dargelegt. Und da geht es weder um Markt noch Wohlstand, sondern um die Voraussetzungen dafür, nämlich um die nichtökonomischen Bedingungen, die moralischen und gesellschaftlichen Grundlagen für erfolgreiche Märkte. Selbstverständlich haben Liberale diesen Teil der Rechnung konsequent unterschlagen. Musik: Amerikanische Nationalhymne 2. Zit.: ... mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit Musik: Nationalhymne (Hendrix-Version) Autor: Was heißt eigentlich "freier Markt"? Wie frei waren denn die englischen Märkte zu den Zeiten des sogenannten Manchester- Kapitalismus - von dem mancher Neoliberale heute wieder ungeniert zu träumen scheint? 6 O-Ton: (Film, Opiumkrieg) Autor: 1839 kam es zu einem Krieg der Engländer gegen China: der erste Opiumkrieg. Es ging darum, dass England große Mengen Seide und Tee aus China bezog. Dadurch entstanden den Briten enorme Devisenverluste und ein Mangel an Silber. Während sich die chinesischen Märkte dem britischen Handel verschlossen. Was hätten sie auch aus England gebraucht? Die einzige Ware, die die Engländer anzubieten hatten - und die tatsächlich reizend Absatz fand -, war das Opium. Opium grassierte wie eine Seuche in China und war deshalb den chinesischen Feudalherren ein Dorn im Auge. Die britische East India Company hatte sich in den Jahren zuvor zu einem der größten Drogenkartelle aller Zeiten entwickelt und verlangte jetzt, dass die chinesischen Märkte mit militärischen Mitteln für den "freien" Opiumhandel geöffnet wurden. Das geschah in jenem ersten Opiumkrieg, der bis 1842 dauerte und der den Niedergang Chinas zu einer Kolonie westlicher Mächte einleitete. 7 O-Ton: (Film) Autor: 1880 beliefen sich die Opiumeinfuhren nach China auf 6500 Tonnen und 20 Millionen Chinesen waren süchtig. Die Kosten ruinierten die chinesische Wirtschaft. Sorgfältig achteten die Engländer darauf, dass China nicht selbst Opium anbaute und den Handel mit Opium legalisierte. Der enorme Gewinn durch den Opiumhandel funktionierte nur, wenn die Briten das Monopol hatten. Kurzum, die sogenannten freien Märkte waren nie frei und sie führten für die meisten Menschen nicht in die Freiheit, sondern in die Gefangenschaft. Auf Anhieb hatte der Liberalismus sich als eine trügerische Ideologie erwiesen. Musik: 1. Zit.: Alles prüfe der Mensch und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will. Friedrich Hölderlin Autor: Lange bevor es Liberale gab, gab es ein Denken der Freiheit. Das Wort Liberalismus ist erst 1812 zum ersten Mal belegt. Doch seit Beginn der Neuzeit gibt es eine komplexe Reflexion über die Regierung der Freiheit - wie der Politologe Wolfgang Fach in seinem gleichnamigen Buch schreibt: 2. Zit.: Der Freiheit muss eine Gasse geschlagen werden - die breit genug ist, damit Menschen sich ausleben können, die aber so befestigt ist, dass niemand 'über die Stränge schlägt'. Autor: Darüber grübelte bereits Thomas Hobbes, der den "Krieg aller gegen alle" befürchtete, wenn eine Gesellschaft nicht durch Regeln reguliert wird. 3. Zit.: In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann [und es] herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes - das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. Autor: heißt es in Der Leviathan aus dem Jahre 1651. Genau so wird die Wirklichkeit 200 Jahre später in Zeiten entfesselter Märkte aussehen. Und das Problem bleibt bis heute aktuell: Ein Übermaß an Freiheit zerstört die Freiheit. Ein halbes Jahrhundert später wird der niederländische Arzt Bernard Mandeville berühmt durch seine Bienenfabel, jene hübsche Geschichte, die später bei Adam Smith wieder auftaucht und wonach sich der individuelle Eigennutz wundersamerweise in sozialen Gewinn verwandelt - gewissermaßen das liberale Zentralmärchen. Allerdings hatte Mandeville keinerlei Zweifel daran gelassen, dass die Fabel nur funktioniert, wenn der Eigennutz nur wenigen erlaubt ist: 1. Zit.: Mir ist glaubhaft versichert worden, dass ein Pack Lakaien zu solcher Unverschämtheit gelangt sind, dass sie einen Verband gegründet und Statuten geschaffen haben, durch die sie sich verpflichten, nicht für weniger als die und die Summe zu dienen, noch irgendwelche Lasten, Bündel oder Pakete über ein gewisses Gewicht hinaus zu tragen - und was die Bestimmungen mehr sind, die den Interessen ihrer Dienstherren geradezu ins Gesicht schlagen und die Zwecke untergraben, denn sie dienen sollen. Autor: Früh hat Mandeville erkannt, dass so was wie Gewerkschaften des Teufels sind, und damit ein Lieblingsmotiv des späteren Liberalismus vorweggenommen. Die Freiheit der Lakaien steht einfach auf einem anderen Blatt. Viel diskutiert und sehr folgenreich waren Jean-Jacques Rousseaus Thesen über den "Gesellschaftsvertrag" - also im Grunde das Problem wie man sich in freier Übereinkunft ins Gesellschaftskollektiv einschreibt. Und das Problem wird sich bald erheblich verschärfen. Denn spätestens mit der Industrialisierung geht es nicht mehr darum, wie sich die widerstreitenden Interessen in einer Gesellschaft vertragen, sondern wie man ein riesiges Produktionskollektiv organisiert, in dem alle mit allen durch Produktion und Märkte verbunden sind und alle von allen abhängen. Darauf versucht im 19. Jahrhundert Karl Marx eine Antwort zu finden. Selbstverständlich geht es auch ihm um eine Theorie der Freiheit, die Gesellschaft, Ökonomie und Individuum in eine dramatische und komplexe Dialektik der Befreiung verwickelt. 1. Zit.: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klasen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (Kom. Man.) Autor: Heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahre 1848. Und es besteht kein Zweifel, was die beiden unter Freiheit verstehen: 1. Zit.: (Marx) "Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. (...) Die Theorie wird in einem Volk immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist." Autor: Alle diese Denkunternehmen - und etliche mehr - sind höchst unterschiedlich, ja, teilweise schroff gegensätzlich - und im Kontext der historischen Umstände zu verstehen. In einem Punkt stimmen allerdings alle diese Theorien überein: Sie behandeln die Freiheit als Problem und nicht als Lösung. Das unterscheidet alle diese Denkgebäude vom politischen Liberalismus, der bis heute stets so tut, als sei Freiheit die Lösung, und dabei nach Belieben mal die Freiheit des Marktes, mal die Freiheit des Individuums, mal die Freiheit des Bürgers meint - und gelassen die Verelendung der Massen oder ganzer Kontinente in Kauf nimmt. Man könnte sagen: Die Freiheit war immer schon etwas komplexer als Liberale sich das vorstellen wollten. Und zugleich darf man feststellen: Keine der philosophischen Versuche über eine Regierung der Freiheit enthält die Urszene des Liberalismus, in der sich der unveräußerliche Wesenskern dessen findet, was fortan Liberalismus definierte. Und bis heute gibt es so eine Theorie nicht. Und darin besteht vielleicht das große Geheimnis des Liberalismus: Es gibt ihn gar nicht. Liberalismus ist, was sich so nennt. Von Fall zu Fall. Irgendwas mit Freiheit. Nur wenn man das versteht, kann man verstehen, warum die Realgeschichte des Liberalismus aus einer Ansammlung komplett heterogener und widersprüchlicher Positionen besteht. Musik: Allons enfants de la patrie ... Autor: Wie man weiß, begann die Französische Revolution als Freiheitskampf und endete mit dem Kaiserreich Napoleons. Das machte die Sache nicht gerade leichter für die bescheidene antifeudale Opposition gegen Hunderte von Fürsten und Könige in Deutschland. Die Besetzung durch die Armeen Napoleons entfachte Nationalismus und Befreiungsfolklore gegen Frankreich, aber kaum antifeudale und demokratische Opposition. In Deutschland wurde die Forderung nach nationaler Einigung wichtiger als die Forderung nach Freiheit. Irgendwelche bemerkenswerte liberale Denker treten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht in Erscheinung. In Süddeutschland werden zwei Revolutionäre berühmt: Gustav Struve und Friedrich Hecker. Ihre politische Substanz beziehen die beiden aus einer kruden Mischung aus Deutschkatholizismus, strammem Vegetariertum und der Phrenologie - der Wissenschaft der Schädelvermessung. Karikaturen jakobinischer Militanz, denen Heinrich Heine in seinem Atta Troll ein spöttisches Denkmal gedichtet hat. 2. Zit.: Atta Troll, Tendenzbär, sittlich Religiös; als Gatte brünstig; Durch Verführtsein von dem Zeitgeist, Waldursprünglich Sansculotte; Sehr schlecht tanzend, doch Gesinnung Tragend in der zott'gen Hochbrust; Manchmal auch gestunken habend; Kein Talent, doch ein Charakter! Autor: Die Revolution von 1848 wird bald erweisen, was von dieser liberalen Opposition zu halten ist. Rasch vollzieht sich der Bruch zwischen den radikalen Liberalen vom Typ Hecker und Struve und den überwiegend dem Großbürgertum verbundenen moderaten Liberalen. Als die frisch konstituierte Nationalversammlung in Frankfurt dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone antragen wollte, schickte der König die Delegation kurzerhand nach Hause. Den Rest erledigte das Militär. Musik: Hecker, hoch (1848) Autor: 1861 wird die Deutsche Freiheitspartei gegründet - ein liberales Sammelbecken für Republikaner und Konstitutionalisten. Zusammen mit anderen liberalen Gruppen gewinnen die Liberalen bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus eine überwältigende Mehrheit. Doch Otto von Bismarck regiert, als gäbe es weder Parlament noch Verfassung. Statt sich gegen Bismarck zu verbünden, zerstreitet sich die Opposition. Die meisten Liberalen laufen zu Bismarck über und gründen die Deutsche Fortschrittspartei: eine Säule der Bismarck'schen Politik - die niemand in keinem Sinne liberal wird nennen können. Musik: Nationalhymne Einigkeit, Recht und Freiheit Autor: Als 1871 das Deutsche Kaiserreich gegründet wird, rechnen sich die Liberalen das als ihre Leistung an. Was zweifelsohne nur sehr bedingt zutrifft. Und dass das neue feudale Imperium mit Freiheit wenig im Sinne hat, beunruhigt sie nicht. Schließlich rauchen die Schlote. Doch als bald der Freihandel gefährlich wird für die deutschen Märkte, fordern Liberale umgehend die Errichtung von Schutzzöllen. Musik: 8 O-Ton: ... die alte bürgerliche Schicht, die ja eine große Tradition hatte im Durchsetzen liberaler Grundsätze gegenüber den alten Fürsten usw. ihre Verdienste hatte. Karl-Hermann Flach 1971, Generalsekretär der FDP Musik: Autor: Mit Begeisterung stürzen sich Liberale aller Art in die barbarischen Schlachten des Ersten Weltkriegs. Nach der Niederlage geben sie sich mal wieder ein neues Gesicht. 1918 wird die Deutsche Demokratische Partei als liberales Sammelbecken gegründet. Udo Leuschner - ein Chronist des deutschen Liberalismus - beschreibt die DDP so: 1. Zit.: Die DDP tritt als neue Kraft an, unbelastet von Monarchie, Chauvinismus, annexionistischen Kriegszielen und anderen Hypotheken aus der Vergangenheit. Sie empfiehlt sich damit als bürgerliches Bollwerk gegen die von links anstürmende Revolution. (...)Die DDP präsentiert sich als lupenrein liberale Partei, die Geist, Geld und soziale Belange in ansprechender Form zu verbinden weiß. Sie ist die Partei des Bildungsbürgertums und aufgeklärter Wirtschaftskreise. Zu ihr gehört beispielsweise der AEG-Präsident Walther Rathenau, der sich den Kapitalismus auch in Form einer Gemeinwirtschaft vorstellen kann und 1921 als Reichsaußenminister von Fanatikern der Rechten ermordet wird. Autor: An insgesamt 17 der 20 Regierungen der Weimarer Republik ist die Deutsche Demokratische Partei beteiligt. Doch als die freien Märkte mal wieder die Welt ins Unglück stürzen, verliert auch die DDP rasch ihre Haltung. 1930 vereinigt sie sich mit der "Volksnationalen Reichsvereinigung" - einer Gruppe vom rechten Rand - zur Deutschen Staatspartei. Trotzdem verliert auch die neue Partei wie kaum eine andere ihre Wähler an die NSDAP. Zu ihren besten Zeiten konnte die DDP 19 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, am Ende -1932 - ist es noch ein Prozent. Am 23. März 1933 votieren die verbliebenen fünf Abgeordneten der Deutschen Staatspartei geschlossen für Hitlers Ermächtigungsgesetz. Zu diesen fünf Abgeordneten gehört auch der spätere FDP-Politiker Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik. Musik: Autor: Die Inflation 1923 und der Finanzcrash von 1929 beunruhigen auch die liberalen Ökonomen. Ihnen dämmert, dass die freie Märkte nicht leisten, was die Theorie von ihnen behauptet: wachsender Wohlstand für alle und die Selbstregulierung im freien Spiel der Kräfte. Stattdessen herrschen Arbeitslosigkeit und Armut. Der Kapitalismus taumelt von Krise zu Krise und frisst die Demokratie. So entstehen in der nationalökonomischen Theorie mehrere Schulen im Zeichen eines sogenannten Ordoliberalismus. Der Ordoliberalismus wird im Wesentlichen von Walter Eucken und Franz Böhm - der sogenannten Freiburger Schule - entwickelt. Es ging diesen Nationalökonomen um ein Mittleres zwischen sozialistischer Planwirtschaft und dem Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Ordoliberale interessieren sich nicht nur für Wettbewerbsbedingungen und Preisbildung, sondern auch für Fragen der Sozialordnung und die Aufgaben des Staates. 9 O-Ton: In Deutschland sind unsere Bürger leider sehr staatsorientiert, sie wollen sich die Mühen des Lebens eher vom Staat abnehmen lassen. Sie fürchten das Risiko wie kaum ein anderer. Und wenn man sagt: FDP wählen, dann sagen die, dann muss ich ja alles selber machen. W. Gerhardt, ehemaliger FDP-Vorsitzender. Autor: Die Sache wird nicht einfacher, als in den 50er Jahren eine neue liberale Schule von sich reden macht: der Neoliberalismus im Sinne des Chicagoer Ökonomen Milton Friedmann. Die Lehren Friedmanns spielen zunächst nur in den angelsächsischen Ländern eine Rolle. Doch seit den 90er Jahren liefert der Marktfundamentalismus der sogenannten Chicago Boys die Stichworte für die radikale Entfesselung globaler Weltmärkte, die seitdem unsere Gegenwart heimsuchen. 10 O-Ton: (Werbung) Autor: Wenn man die ökonomischen Theorien des Liberalismus der letzten achtzig Jahre betrachtet, zeigt sich ein Feld, auf dem sich Oskar Lafontaine und Joseph Ackermann gleichermaßen heimisch fühlen können. Mit anderen Worten: Unter welchen Umständen ein freier Markt wirklich frei und welcher Grad an Freiheit ökonomisch effizient, politisch durchsetzbar und sozial verantwortbar sei - das ist bestenfalls ein schwebendes Verfahren, aber nie und nimmer eine gesicherte Erkenntnis. Bis vor Kurzem kannten Wirtschaftsliberale wahrscheinlich nur einen verbindlichen Glaubensgrundsatz: die Ablehnung der Planwirtschaft. Seitdem jedoch Staaten mit unvorstellbaren Summen Banken und andere Akteure der Finanzindustrie stützen mussten, ist selbst diese letzte kümmerliche Bastion liberalen Programms ins Wanken geraten. Musik: Autor: Wie stets nach schweren historischen Brüchen mussten Liberale in neuem Kostüm die Bühne betreten. So war es auch bei der Gründung der Bundesrepublik. Freie Demokratische Partei nannten sich die Liberalen jetzt. Obwohl meist die kleinste im Parlament vertretene Partei, war die FDP an den meisten Regierungen beteiligt. Da in den ersten vier Jahrzehnten das Parlament ein relativ weites programmatisches Spektrum bot, konnte die FDP sich irgendwie als Mitte labeln. Doch was die Mitte ausmachen und liberal sein sollte, das bestimmten nicht komplexe Prinzipien, sondern liberale Politiker von Fall zu Fall. Die Geschichte der FDP bot eine Art Zusammenfassung des deutschen Liberalismus in den letzten 200 Jahren: Mal gab sie sich als Hort des Nationalismus, in dem etliche Altnazis Unterschlupf fanden, mal spielte sie die Rolle der Wirtschaftsliberalen, zwischendurch verstand sie sich immer mal wieder als Bürgerrechtspartei. Heute verspielt sie ihr letztes Vertrauen als unbelehrbare Propagandistin des Marktfundamentalismus. 12 O-Ton: (Wahlwerbung FDP) Autor: Die letzten Politiker, die für sich in Anspruch nehmen konnten, ein anspruchsvolleres liberales Denken zu vertreten, waren in den 70er Jahren Ralf Dahrendorf und Karl-Hermann Flach. Flach, der Anfang der 70er zwei Jahre lang Generalsekretär der Partei war, bevor er überraschend starb, erklärte in einem Interview zur Programmatik des modernen Liberalismus: 13 O-Ton: Darunter ist zu verstehen, dass man die liberalen Ideen - Freiheit der Persönlichkeit und Wahrung der Würde des Menschen - nicht nur so sehen kann, dass sie für eine bestimmte Schicht erkämpft werden, sondern für möglichst viele Menschen. (...) Wir müssen also die Freiheit nicht nur formal sehen, sondern ihr bestimmte materielle und soziale Bezüge in der modernen Gesellschaft geben. (ZZ 11.50) Autor: Besser kann man das Definitionsproblem des Liberalismus kaum zusammenfassen. Was Flach als die genuinen Ideen des Liberalismus bezeichnet, wird von sämtlichen Parteien des Bundestags ausdrücklich vertreten und hat Verfassungsrang. Interessanter noch erscheint, dass Flach indirekt zugibt, dass der Liberalismus bis dahin Freiheit stets nur als die Freiheit bestimmter Gruppen und Klassen verhandelt hat. Und man darf gelassen in aller Pauschalität behaupten: Diese höchst instrumentelle Wahrnehmung der Freiheit war einer echten Politik der Freiheit nicht gerade förderlich. Autor: Wahrscheinlich hat es den Liberalismus nie gegeben als eine einigermaßen kohärente und komplexe politische Theorie oder Haltung. Heute ist er zu einer Angelegenheit für Sonntagsredner wie den Philosophen Peter Sloterdijk geworden. 1. Zit.: Wir verteidigen die Sache der Freiheit, indem wir daran arbeiten, das Wort Liberalismus, das leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht steht, wieder zu einem Synonym für Generosität zu machen - und das Wort Liberalität zu einer Chiffre für die Sympathie mit allem, was Menschen von Despotien jeder Art emanzipiert. Autor: Wer den Begriff der Freiheit auf die Abwesenheit von Despotie beschränkt, ist bloß ein Ideologe der Freiheit. Wir sind nicht deshalb frei, weil kein Führer uns befiehlt. Wir sind auch nicht frei, weil wir die Wahl haben. Menschen haben immer die Wahl. Auch der Gefesselte kann sich entscheiden zu schreien, zu leiden, zu beten oder die Wonnen des Martyriums zu genießen. Wir leben unablässig und schier unentrinnbar in Prozessen komplexer Vergesellschaftung, die jederzeit über den Einzelnen verfügen: Wir werden von Anfang an dressiert und geprüft. Märkte entscheiden über den Preis für unsere Arbeit und die Gesellschaft über unsere Eignung. Das Genie ist eine Frucht der Umstände. Die Ideologie der Freiheit tut so als säßen wir als autonome Individuen am Steuerknüppel unseres Lebens und könnten tun, was wir begehrten. Wir sind frei, weil uns ja niemand befohlen hat. Und wenn man die Sache so betrachtet, dann müssen wir nie über unser komplexe und dramatische, über unsere intime Vergesellschaftung nachdenken. 3. Zit.: Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Artikel 2. Musik: Autor: Wer wissen will, auf welchem Niveau diese Ideologie der Freiheit heute operiert, dem sei dringend das Buch Die Freiheitsfalle von Mathias Döpfner empfohlen. Döpfner ist nicht irgendein gecharterter Sänger des Liberalismus. Er ist der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG - ein Fürst unserer neoliberalen Eliten: 1. Zit.: Nein. Nein ist das Wort der Freiheit. Widerspruch ist Selbstbestimmung. (...) Demokratien sind Nein-Sager- Gesellschaften. Diktaturen sind Ja-Sager-Gesellschaften. Autor: Es lohnt sich, das Buch vollständig zu lesen: Es ist Seite für Seite ein schöner Beleg dafür, dass der Liberalismus unserer Tage zwar keine Ahnung von Freiheit hat, dafür aber gerne wehrhaft zur Jagd auf die angeblichen Feinde der Freiheit bläst. 14 O-Ton: (Bush) Freedom and fear are at war. The advance of human freedom, the great achivement of our time and the great hope of every time, now depends on us. 16