Sendereihe: Forschung und Gesellschaft Datum: 20. Oktober 2011 Zeit: 19:30 Uhr Titel: Der Abrieb des Alltags Was die Soziologie am Müll der Menschen abliest Autor: Nora Bauer Redaktion: Jana Wuttke, Tel. 5520 Band: DIRA Musik 2 / freistehen lassen, überblenden Atmo / Müllpresse, Sortieranlage O-Ton 1a / Bidlingmaier [5 ? Bidlingmaier I ? Untersuchung in Bujumbura] ff In Bujumbura, Hauptstadt von Burundi, ? dort konnte man das sehr schön sehen, am Wachstum der Stadt, dort sind Städte gewachsen ähnlich wie das bei uns im Mittelalter war, es gab irgendwo einen Nukleus und dann hat sich der langsam ausgedehnt, also Moskau, Straßburg sind heute noch Städte, wo man das sehr gut sehen kann, an den alten Fortifikationen, das sind praktisch Ringe, die sich um die Stadt legen, ... und die sind immer weiter gebaut worden, die Stadt wuchs, musste man eine neue bauen, ? und solche Ringe sind natürlich von alters her Wachstumsringe, wie beim Baum. Innen sitzt sozusagen die alteingesessene Bevölkerung. Sprecher 1 Werner Bidlingmaier ist Professor für Abfallwirtschaft an der Fakultät für Bauingenieurwesen der Bauhaus-Universität Weimar. In vielen Entwicklungsländern der Welt hat er Abfall-Deponien entwickelt, die für die Menschen dort mit eigenen wirtschaftlichen und technischen Mitteln betreibbar sind. Müll ist sein Spezialgebiet. O-Ton 1b / Bidlingmaier [5 ? Bidlingmaier I ? Untersuchung in Bjumbura] Und in Bujumbura als eine junge Stadt konnte man das genau sehen, da sitzen diejenigen, die etabliert sind. Die sind am längsten da, haben sich dort ansässig gemacht, betreiben irgendwelche Gewerbe, verdienen Geld, leben dort im Regelfall auch noch, so, dann kamen immer vom Land neue, haben den nächsten Ring gebildet und so weiter. Und wir haben das am Müll wunderschön darstellen können, einmal über die Müllmenge, im Kern von Bujumbura haben wir Müllmengen wie in Mitteleuropa, 0,6 ? 0,8kg pro Einwohner und Tag. Am Stadtrand Null. Ganz einfach, weil, die Leute haben keinen Müll, die können sich nicht leisten. Das bisschen, was sie an Müll haben, das nehmen sie noch als Brennstoff für ihren Küchenherd. Und was sie an organischen Abfällen haben, das fressen die Ziegen. Also Müll gibt?s nicht. ? Und wenn Sie das an der Zusammensetzung klar machen, ? Glasrecycling findet in der Innenstadt kaum statt, aber je weiter Sie nach außen gehen, desto stärker nimmt das zu, und die Leute kaufen sich keine komplette Flasche, die kaufen sich wenn mal, einen Becher voll Cola, aber nicht eine ganze Cola-Flasche. Also selbst am Abfall kann ich wieder ziemlich genau sehen, was wohnen denn, in welcher Gegend wohnen denn nachher was für Leute. Sprecherin 1 Nicht jeder kann sich Müll leisten, denn auch alles was man wegwirft, muss man vorher einkaufen und bezahlen. Müll ist der Abrieb unseres Alltags und gleichzeitig sein Negativ. Gewohnheiten, Kaufkraft und Status seiner Produzenten lassen sich daraus ablesen. Atmo / Sortieranlage O-Ton 2 / Bidlingmaier [13 ? Bidlingmaier I ? nicht Bier sondern Müll] Ein Einwegbier aus dem Supermarkt, also Einwegflasche Bier aus dem Supermarkt, da ist die Flasche teurer als der Inhalt, das heißt, Sie kaufen von vorneherein nicht das Bier, sondern Müll. Sprecherin 1 Werner Bidlingmaier hat mit seiner Familie vor zwanzig Jahren eine Sparmaßnahme eingeführt, die sie bis heute erfolgreich praktizieren: Müllvermeidung. O-Ton 3 / Bidlingmaier Bidlingmaier [14 ? Bidlingmaier II ? Abfallvermeidung] Also Abfallvermeidung, wenn man sich da drüber unterhält, muss man als allererstes erst mal wissen, dass man ? eigentlich sich so verhält, wie diese Gesellschaft sich wirtschaftlich normalerweise überhaupt nicht verhält, wir werden ja auch dauernd von unserer Bundesregierung aufgefordert zu konsumieren, und Abfallvermeidung ist eigentlich das Gegenteil von Konsumieren, nämlich nicht konsumieren. ___________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 In unserer Kultur sind Gegenstände entweder ?vergänglich? oder ?dauerhaft? Gegenstände der Kategorie des Vergänglichen verlieren im Zeitablauf an Wert und haben eine begrenzte Lebensdauer, Gegenstände der Kategorie des Dauerhaften nehmen im Zeitablauf an Wert zu und haben im Idealfall eine unendliche Lebensdauer. Wie wir uns einem Gegenstand gegenüber verhalten hängt direkt mit seiner Kategorienzugehörigkeit zusammen. Das eine stellen wir zur Schau und das andere zerstören und entsorgen wir. Sprecher 1 Aus ?Die Theorie des Abfalls? von Michael Thomson. Sprecherin 1 Michael Thompson, geboren am 28. Januar 1937, studierte am Royal Military College 1960 bis 61 Mathematik und Statistik, anschließend Anthropologie und Soziologie in Oxford. 1973 kehrte er als Doktorand nach London zurück und schrieb 1979 seine Doktorarbeit in Anthropologie: die Theorie des Abfalls. Er versah sie mit dem Untertitel ?Über die Schaffung und Vernichtung von Werten?. Sprecher 2 Wir neigen dazu, zu denken, dass Objekte als Folge ihrer intrinsischen physischen Eigenschaften so sind, wie sie sind. Der Glaube, dass Natur das ist, was da ist, wenn man Bestandsaufnahme macht, ist beruhigend aber falsch. Die Kategorienzugehörigkeit hängt von unserer Weltsicht ab. Eigenschaften wie ?dauerhaft? oder ?vergänglich?, die die Objekte zu haben scheinen, werden tatsächlich von der Gesellschaft verliehen und die Natur hat nur die Möglichkeit, sie zurückzuweisen, wenn sie zufällig physikalisch unmöglich sind. ___________________________________________________________________ Atmo / Sortieranlage O-Ton 4 / Bidlingmaier [10 ? Bidlingmaier I ? Müll kaufen, Geld weg werfen ] Also, wenn ich mir dauernd Müll einkaufe und ihn dann sofort wieder, kurzfristig, wegwerfe, dann werfe ich Geld weg. Wenn ich mir etwas kaufen würde, was länger hält ?, also für mich ist immer ein wunderbares Bespiel ein Tweed-Jackett, also ein Herren-Jackett, aus Tweed, so eins wie da hängt, kostet ? 350 bis 400 Euro, ? Lebensdauer von so einem Jackett ohne Reparaturen, bis die erste Reparatur vielleicht kommt, 10 bis 15 Jahre. Sagen wir 10 Jahre. Dann können Sie es immer noch mal reparieren lassen, weil normalerweise dieses Inlet, dieses Seidenfutter, was da drin ist dann kaputt ist, das Jackett immer noch nicht, weil Tweed hält ewig, das lassen Sie rein machen, kostet etwa 80 Euro, die müssen Sie nach zehn Jahren erneut investieren. Kaufen sich nur wenige Leute, weil zu teuer. Also ich leiste mir etwas billigeres, kaufe mir also ein Jackett für 80 Euro. So, dann kaufe ich mir im nächsten Jahr ein neues, entweder weil es aus der Mode ist, oder weil es kaputt ist, ich vielleicht nicht akzeptiere, dass ich in der Mode nicht immer ganz aktuell bin. Jetzt rechnen Sie mal zehn Jahre 80 Euro, jedes Jahr ein neues Jackett, haben Sie 800 Euro ausgegeben. ? Also das Tweed-Jackett ist viel billiger, obwohl Sie eigentlich mehr investieren. ___________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 Es ist zweifellos vorteilhaft, dauerhafte Dinge zu besitzen, da sie im Zeitverlauf an Wert zu nehmen, während vergängliche Objekte an Wert verlieren. Die Art und Weise wie der Welt der Objekte Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit aufgezwungen wird, funktioniert als Kontroll- Mechanismus, der den freien Zugang zu bestimmten Angeboten der Gesellschaft für ihre Mitglieder regelt. Es scheint fast, dass dieser Kontrollmechanismus unvermeidlich ein sich selbst perpetuierendes System entstehen lässt: Leute, an der Spitze, die die Macht haben, Dinge dauerhaft oder vergänglich zu machen, können sicherstellen, dass ihre eigenen Objekte immer dauerhaft sind und dass die der anderen immer vergänglich sind. Sie sind wie ein Fußballteam, dessen Mittelstürmer auch gleichzeitig der Schiedsrichter ist. Sie können nicht verlieren. Sprecher 1 Aus ?Die Theorie des Abfalls? von Michael Thomson. ___________________________________________________________________ Atmo / Wastepicker, Möven Sprecher 3 Where there is garbage, there is order. Garbage is the by-product of a systematic ordering and classification of matter, in so far as ordering involves rejecting inappropriate elements. Sprecherin 1 John Scanlan forscht am Research Centre for Environmental History an der University of St Andrews in Schottland über die Geschichte der Abfallwirtschaft. 2005 fasste er seine Erkenntnisse in dem Text ?On Garbage? zusammen. Sprecher 3 It is an instance of disorder that provides the spur to order. Order and disorder determine each other, because the order we settle on, marks a point of exclusion. All social systems organized themselves around some basic acceptance of the pure and contaminating; this need be, because we are positively re-ordering our environment, making it conform to an idea. Sprecher 1 [voice over] Wo Abfall ist, ist Ordnung. Abfall ist das Nebenprodukt des systematischen Ordnens und Klassifizierens von Materie, insofern als Ordnen das Aussortieren von nicht zugehörigen Elementen bedeutet. Erst der Moment der Unordnung gibt den Impuls zur Ordnung. Ordnung und Unordnung bedingen einander, weil die Ordnung, auf die wir uns verständigt haben durch das, was sie ausschließt bestimmt wird. Alle sozialen Systeme organisieren sich über eine basale Übereinkunft von ?rein? und ?kontaminiert?; das ist nötig, weil wir unsere Umwelt laufend umordnen und einem Ideal anpassen. ___________________________________________________________________ Sprecherin 1 Im Zuge des permanenten Umordnens und Aufräumens in der Welt produzieren wir immer mehr Müll. Auf der einen Seite entsteht dabei mehr Ordnung, auf der anderen Seite immer mehr Unordnung. Für die Unordnung gibt es ein physikalisches Maß: Entropie. Musik 2 / unterlegen O-Ton 5a / Stauffer [Dat 0:03:10] Stellen wir uns vor, wir wollen ein kühles Bier trinken und stecken daher eine Flasche Kölsch in den Kühlschrank. Sprecher 1 Dietrich Stauffer ist Professor für Theoretische Physik an der Universität zu Köln. O-Ton 5b / Stauffer [Dat 0:03:10] ff Der Kühlschrank produziert Kälte im warmen Zimmer. Das ist erst mal eine Verletzung des üblichen Entropie-Satzes, aber das kann der Kühlschrank, weil er von außen Strom aus dem Elektrizitätswerk bekommt. Aber was muss mit diesem Strom passieren, der muss erst mal erzeugt werden, da wird also Braunkohle irgendwo abgebaut ? und dann wird die Braunkohle verbrannt, dadurch wird chemische Energie in Wärmenergie umgesetzt, die treibt eine Turbine im Kraftwerk, da geht aber nur ein kleiner Teil der Energie in die Bewegung der Turbine hinein, die meiste Energie geht in die Abwärme ? und geht verloren, und dann wird mechanische Energie in elektrische Energie umgewandelt und die kommt hierher, da gibt es wieder Verluste auf den Stromleitungen hierher, da wird mehr Entropie erzeugt, mehr Unordnung und dann schließlich dreht sich der Elektromotor im Kühlschrank und erzeugt einen Temperaturunterschied. Sprecherin 1 Allein um die Bierflasche zu kühlen, weil unsere Ordnung vorschreibt, dass ein Bier gekühlt sein muss um zu schmecken, ist ein sehr komplizierter Prozess notwendig, in dem Energie umgewandelt wird. Wenn wir ein Stück Kohle verbrennen, bleibt ihre Energiemenge konstant, wird aber umgewandelt in Wärme, Schwefeldioxid und andere Gase, die in den Raum entweichen. Obwohl keine Energie verloren geht, wissen wir doch, dass wir das Stück Kohle nicht noch einmal verbrennen können. Bei jeder Umwandlung der Energie in einen anderen Zustand wird ein Teil der verfügbaren Energie zerstreut, und steht für keine Art von Arbeit mehr zur Verfügung. Diesen Vorgang bezeichnet man als Entropie. Abfall ist also gewissermaßen verschwendete und zerstreute Energie. ___________________________________________________________________ Atmo / Sortieranlage O-Ton 6 / Bidlingmaier [2 ? Bidlingmaier I ? Projektbeschr. Müllanalyse Berlin ] Das Projekt war eigentlich ein Projekt um festzustellen, wie Abfall zusammengesetzt ist, der in eine Anlage reingeht ? Und wir hatten zum Sortieren Studenten von der Uni von Berlin von der FU und von der TU ? und es waren unter anderem auch zwei Soziologiestudenten dabei, die hatten mit Müll alle noch nie was zu tun gehabt, außer, dass sie selber auch was wegwerfen, stellten aber fest, dass der Müll eigentlich immer unterschiedlich ist, heute sah er mal so aus und ein andermal sah er etwas anders aus, und dann sind die hergegangen und haben versucht, ? heraus zu charakterisieren, was sind denn die Unterschiede, also ein Unterschied kann sein, dass die Schnapsflaschen alle weiß sind, in einem bestimmten Bezirk, im anderen Bezirk sind die alle grün oder braun. In einem Bezirk kommen lauter Stern, Cosmopolitan, oder sonst was für Journale, im anderen Bezirk kommen gar keine Journale, dazu ausschließlich Bildzeitung. Und dann fingen die Studenten an, mal Strichlisten zu führen, was kommt denn woher. ? Und haben sich dann nach einem Vierteljahr den Spaß gemacht zu sagen, sag uns bitte nicht aus welchem Bezirk heute der Müll kommt, sondern wir sortieren, und dann sagen wir dir das. Und das klappte zum Schluss ganz prima, nach den Strichlisten, die die geführt haben, nach dem Motto ?was du wegwirfst, das charakterisiert deinen Alltag, was du liest, was du trinkst, was du isst?. ___________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 Nun erhebt sich eine paradoxe Frage. Wie kann ein solches sich selbst perpetuierendes System sich jemals ändern? Wie kann, sozusagen, die andere Seite jemals ein Tor erzielen? In diesem Fall entspricht ein solches Tor dem Transfer eines Objektes von der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften. Uns allen ist bekannt, wie verachtete viktorianische Webbilder zu begehrten antiken Objekten geworden sind; wie aus Bakelit-Aschenbechern Sammelartikel wurden; wie sich alte Knatterkästen in Autoveteranen verwandelten. Wir wissen also, dass die Veränderung eintreten, aber wie? Die Antwort liegt in der Tatsache, dass die beiden offenkundigen Kategorien, die des Dauerhaften und die des Vergänglichen, das Universum der Dinge nicht erschöpfen. Es gibt einige Dinge, solche mit keinem und unveränderlichem Wert, die weder in die eine noch in die andere dieser beiden Kategorien fallen, und diese bilden eine dritte verborgene Kategorie: den Abfall. Sprecherin 1 Wenn Cola-Dosen im Vorgarten liegen oder die Überreste des Picknicks auf dem Gehweg im Park, dann sieht man den Müll, dann stinkt und stört er, dann stellt er ein Problem dar, dann ist er Materie am falschen Ort. Der ?falsche? Ort impliziert, das es auch einen richtigen Ort für ihn gibt, einen Ort, an dem Abfall unsichtbar wird: die Mülltonne oder die Deponie oder ein Komposthaufen im Garten. Für den britischen Anthropologen Michael Thompson ist diese Unsichtbarkeit des Mülls sein größtes Potential. Sprecher 2 Meine Hypothese ist, dass diese versteckte Abfall-Kategorie dem Kontrollmechanismus, der sich hauptsächlich mit dem offenkundigen Teil des Systems, den wertvollen und sozial bedeutsamen Objekten befasst, nicht unterworfen ist und somit dazu dienen kann, den scheinbar unmöglichen Transfer eines Objektes von der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften zu ermöglichen. Ich glaube, dass ein an Wert und erwarteter Lebensdauer allmählich abnehmendes vergängliches Objekt in die Kategorie ?Abfall? hinübergleitet. In einer idealen Welt würde ein Gegenstand den Wert Null und die Lebensdauer Null im selben Moment erreichen und dann, wie Mark Twains ?Einspänner?, in einer Staubwolke verschwinden. Aber in Wirklichkeit geschieht das gewöhnlich nicht; der Gegenstand existiert einfach weiter in einem zeitlosen und wertfreien Limbo, wo er zu irgendeinem späteren Zeitpunkt (wenn er bis dahin nicht zu Staub geworden oder gemacht worden ist) die Chance hat, entdeckt und erfolgreich in die Kategorie der Dauerhaftigkeit transferiert zu werden. Die reizende Folge dieser Hypothese ist, dass wir Abfall untersuchen müssen, wenn wir die soziale Kontrolle von Werten erforschen wollen. ___________________________________________________________________ Atmo / Sortieranlage O-Ton 7 / Bidlingmaier [4 ? Bidlingmaier I ? Stadtvierteldurchmischung] Die wussten natürlich, dass es nicht ganz Berlin ist, aber die konnten das hinterher genau zuordnen, wo das herkam. ? Man kann schon Bezirke ? sehr klar bestimmten Gesellschaftsschichten vor allem vom Einkommen her zuordnen ? weil der eine trinkt eben einen Malt-Whiskey und der andere trinkt eben einen billigen Korn vom Aldi. ___________________________________________________________________ Atmo / Wastepicker Sprecher 2 Der Übergang vom Abfall zum Dauerhaften geschieht, anders als der Übergang vom Vergänglichen zum Abfall, nicht allmählich, sondern abrupt. Der Übergang umfasst das Überschreiten zweier Grenzen, derjenigen, die das Wertlose vom Wertvollen trennt, und derjenigen, zwischen dem Verborgenen und dem Sichtbaren. In der Versenkung verschwinden können Dinge allmählich, aber sichtbar werden sie mit einem Schlag. Damit ein Gegenstand diese Grenzen überschreiten kann, muss er anfangen, Wert zu erlangen, er muss aus der Versenkung auftauchen, (?) er muss seine verschmutzenden Eigenschaften aufgeben. (?) Ein innovatives und kreatives Individuum (muss) in einer plötzlichen Eingebung sozusagen einen Gegenstand nicht mehr als Abfall, sondern als dauerhaft ansehen und weitere (müssen) seinem Beispiel folgen, bis schließlich alle übereinstimmend der Meinung sind, dass der Gegenstand dauerhaft ist. ___________________________________________________________________ Atmo / Schritte und Knirschen im Schnee, aufziehen Sprecherin 1 Das folgende Exempel verfügt über das wesentliche Merkmal eines guten Beispiels: es hinkt. Wenn man aber toleriert, dass es sich bei einem Menschen eigentlich nicht um ein Konsumgut und bei menschlichen Überresten nach allgemeinem Dafürhalten nicht um Abfall handelt, veranschaulicht die Geschichte die wesentlichen Ansätze sowohl der Mülltheorie von Michael Thompson, als auch des zweiten Satzes der Thermodynamik, den Dietrich Stauffer verhandelt. Sprecher 3 Am 19. September 1991 fanden Spaziergänger in den Ötztaler Alpen auf 3210 Metern Höhe einen Leichnam. Anfangs ging die Bergrettung noch davon aus, dass es sich um einen verunglückten Wanderer handelte, den die Schneeschmelze freigegeben hatte. Doch schnell war klar, dass der Tote schon sehr lange dort liegen musste. Es stellte sich heraus, dass der Körper über etwa 5300 Jahre im Eis konserviert worden war. Die Konservatoren, die die Mumie für nachfolgende Forschergenerationen erhalten wollen, konstruierten eine spezielle Kältekammer um den Leichnam in einer Umgebung aufzubewahren, die seinem eisigen Grab in mehr als 3000 Metern Höhe annähernd entspricht. Das Fenster ist nicht gerade groß, das Glas stolze acht Zentimeter dick. Und doch kommen jährlich Hunderttausende, die einmal die berühmteste Mumie der Welt in Augenschein nehmen wollen. Andächtig schweigend begegnen sie dem ?Iceman?, hierzulande besser bekannt als Ötzi, in seiner tiefgekühlten Museumsgruft. __________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 An einem bestimmten Punkt dieser Abfolge (?) erlangen die ästhetischen Urteile so viel Gewicht, dass ein Markt entsteht. (..) Verkäufer werden sagen, Das werde ich nicht wegwerfen, ich könnte es vielleicht ebenso gut verkaufen. Und Käufer bieten schließlich dem Besitzer dafür einen bestimmten Betrag an. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass man jemals in der Lage sein wird, auf einen genauen Zeitpunkt oder auf eine bestimmte Transaktion hinzuweisen und zu sagen, dann und dort ist der Gegenstand dauerhaft geworden. ______________________________________________________________ Musik 2 / unterlegen O-Ton 8a / Stauffer [Dat 0:09:15] In der Thermosflasche erst ? kalte Milch unten eingefüllt und dann heißen Kaffee oben, oder andersherum ? man braucht nicht Physik studiert zu haben, um zu wissen, dass nach einiger Zeit die Milch warm und der Kaffee ein bisschen kälter wird. Sprecher 1 Professor Dietrich Stauffer von der Universität Köln. O-Ton 8b / Stauffer [Dat 0:09:15] ff Dieser Temperaturausgleich bedeutet, dass eine Ordnung, die vorher existierte, Milch war kalt, Kaffee war warm, aufgelöst wird und es gibt mehr Unordnung, Milch und Kaffee mischen sich miteinander, beide werden gleich warm. ? Da hat sich Entropie gebildet und die kriegt man nie wieder raus. Sprecherin 1 Ein System, in dem kein Energieaustausch stattfindet, nennt man ein abgeschlossenes System. Es ist ein Naturgesetz, dass in einem abgeschlossenen System die Entropie immer mehr zunimmt, bis alles gleich Null ist. Auf eine Gesellschaft bezogen, könnte man sagen, bis alles gleich viel oder gleich wenig wert ist oder bis alle gleich reich oder gleich arm geworden sind. Ein zweites Naturgesetz besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Entropie irreversibel ist. O-Ton 9 / Stauffer [0:13:32] Nehmen wir an, das Universum ist ein abgeschlossenes System ? wenn dem so ist, wie eine Thermosflasche, in sich abgeschlossen, dann wird im Laufe der Zeit alle Temperaturunterschiede im Weltraum auf null gehen, der gesamte Weltraum wird dann eine einzige Temperatur haben, so wie in der Thermosflasche Milch und Kaffee, nach einiger Zeit alle die gleiche Temperatur haben und dann wird kein Kraftwerk mehr funktionieren, dann passiert nichts mehr, dann ist kein Leben mehr möglich, wir leben auf Grund von Temperaturunterschieden. ___________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 Die Abgrenzung zwischen Abfall und nicht-Abfall verändert sich entsprechend dem sozialen Druck. (?) Verallgemeinernd können wir sagen, dass diese kulturelle Grenze, wenn Konkurrenz ausgeschaltet wird Kasten, und wenn Konkurrenz fortbesteht, Klassen trennt. Und Konkurrenz wird ermöglicht durch die Existenz der Kategorienwechsel von ?vergänglich? zu ?Abfall? zu ?dauerhaft?. (?) Die Erklärung ist ganz einfach: das Vergänglich-Abfall-Dauerhaft-Kategoriensystem gestattet die ungleiche Verteilung von Macht und Status innerhalb unserer Gesellschaft und ist die Grundlage für kulturelle Unterschiede zwischen den Klassen, die entsprechend dieser Verteilung angeordnet sind. Die zulässigen, aber sorgfältig kontrollierten Transfers zwischen diesen Kategorien erlauben ein Maß an sozialer Mobilität, das ausreicht, um diese Klassen zu modifizieren, so dass sie die sich unvermeidlich ändernde Machtverteilung innerhalb unserer Gesellschaft widerspiegeln. Das heißt, sie erlauben die ständige Neuordnung von Macht und Status. Abfall ist eine notwendige Bedingung für Gesellschaft. Sprecherin 1 Micheal Thompson beschreibt in seiner Theorie des Abfalls die Modifikation von Werten in unserer Gesellschaft. Müllproduktion kann auch als Luxus betrachtet werden, von Menschen, die den Eindruck haben, dass ihre Zeit nichts wert ist. ___________________________________________________________________ Atmo / Sortieranlage O-Ton 11 / Bidlingmaier [17 ? Bidlingmaier II ? Investitionsgüter] Was Investitionsgüter angeht, da muss man letztendlich endscheiden, will ich es haben oder will ich es nicht haben. Und wenn ich es haben will, dann muss man gucken, dass man möglichst langlebige Produkte kriegt. ? Also wir haben einen Restabfallverbrauch pro Person und Jahr in Kilogramm von 25. ___________________________________________________________________ Atmo / Wastepicker Sprecher 3 We are caught within a certain economy of values, and whilst garbage will have a variable status between cultures, it is nevertheless conditioned within cultural constraints by the creation of order. Therefore everything is eventually reduced to the condition of garbage. Sprecher 1[voice over] Wir sind gefangen in einem bestimmten Wertesystem, denn obwohl Abfall einen wechselnden Status zwischen den Kulturen einnehmen kann, wird er trotzdem innerhalb kultureller Grenzen definiert, durch die Herstellung von Ordnung. Alles ist also dazu verdammt irgendwann Abfall zu werden. ___________________________________________________________________ Musik 1 / unterlegen Sprecher 2 Der Besitz von Wissen verleiht dem, der es besitzt, die Möglichkeit einer größeren und stärkeren Macht über Zeit und Raum, als derjenige, der kein derartiges Wissen besitzt, erlangen kann. (?) Es ist ein Kampf zwischen epistemologischen Riesen, und der Gewinner ist in der Lage, die räumliche Konfiguration der Gegenwart so neu zu ordnen, dass sie die raum-zeitlichen Erfordernisse dieses besonderen Wissenssystems bestätigt. Damit soll nicht gesagt werden, dass die Grenze zwischen dem Vergänglichen und dem Dauerhaften beliebig verschoben werden kann, sondern nur, dass derartige Verschiebungen, wenn sie auftreten, weder willkürlich noch natürlich noch homöostatisch sind. Sie sind das Ergebnis durch Wissen vermittelter sozialer Kräfte, und infolgedessen kann man sagen, dass sie die Realität zurechtbiegen, damit diese in die vorherrschende Theorie passt. ___________________________________________________________________ Musik 2 / Kreuzblende, unterlegen O-Ton 12 / Prof. Dr. Dietrich Stauffer [Dat-Kassette / 0.06.01] Der Entropie-Satz ist aus dem 19. Jahrhundert. ? Wir ? wissen, dass die Entropie nicht immer auf null gebracht werden kann. Also, normalerweise, betrachten wir Wasser oder so, ? wenn man die Temperatur auf den absoluten Nullpunkt herab kühlt, dann bewegt sich nichts mehr, dann ist alles in Ordnung, überhaupt keine Unordnung mehr, Entropie ist Null. Wir können auch sagen, Drittes Reich, ein Volk, ein Reich, ein Führer, das war Entropie gleich Null. Das war nicht sehr demokratisch. Demokratisch heißt, es gibt ein Gegengewicht von Entropie und Energie, von Freiheit und Regelung. ___________________________________________________________________ Atmo / Wastepicker Sprecher 3 The history of modern philosophy is a history of garbage. It is a history of disposal and tidying; of cutting off, chucking out, and of sweeping away the debris that lies on the territory of reason. And, much like the work that is undertaken to clear away our rubbish on a day-to-day level, the intellectual cleansing goes largely unnoticed: indeed, it vanishes to some extent under the presentation of an edifice of Reason as the perfectible, if not incorruptible, way of knowledge, as something that stands apart from the mess and garbage of unclear thinking or broken beliefs. Sprecher 1[voice over] Die Geschichte der Philosophie der Moderne ist eine Geschichte des Abfalls. Es ist eine Geschichte vom Vernichten und Aufräumen; vom Abschneiden, Beseitigen und Wegfegen von Ablagerungen, die sich über das Feld der Vernunft ausgebreitet haben. Und genau wie die Anstrengungen, die unternommen werden, um den alltäglichen Müll zu entsorgen, vollzieht sich auch der intellektuelle Reinigungsprozess unbemerkt ? er verschwindet tatsächlich größtenteils hinter der Vorstellung, Vernunft sei die perfekte und sogar nicht korrumpierbare Form von Wissen, frei von Unordnung und Durcheinander, unklaren Gedanken und zerbrochenen Überzeugungen. ___________________________________________________________________ Atmo / Sortieranlage O-Ton 13 / Bidlingmaier [18 ? Bidlingmaier II ? Zeitfaktor] Zeit, Aufwenden von Zeit ist der Gegenwert bei sehr, sehr vielen Abfallvermeidungsmaßnahmen. ? In der Anfangsphase ? wenn jemand anfängt zu sagen, jetzt will ich mal Abfall vermeiden, intensiv, in der Zukunft ? dann braucht er natürlich in der ersten Phase deutlich mehr Zeit, weil er sich erst mal umtun muss, wo kriege ich denn unter Umständen Produkte, die gering verpackt sind, oder wo kriege ich langlebige Produkte, ? ein typisches Merkmal ist der tägliche Einkauf. ? Der Normalbürger wirft 30% der Lebensmittel wieder weg, weil sie überlagert sind, ? weil das Verfallsdatum dann abgelaufen ist oder ähnliches. ? Das passiert nicht, wenn Sie jeden Tag bloß die kleine Menge einkaufen, aber das ist auch wieder ein Zeitfaktor. ___________________________________________________________________ Atmo / Wastepicker unterlegen Sprecher 3 We know, that the products of reason ? its great works, the important ideas and revolutionary theories these give expression to, represent the emergence of great edifices (?) but could not be presented without the creation of the rubble and the excess of unnecessary parts. But if Garbage is indeed so central to knowledge, how do we find a way into the domain of the leftover, the discarded ? in other words, how can we see, what knowledge uses up and throws away? Sprecher 1[voice over] Wir wissen, dass die Erzeugnisse der Vernunft ? die bedeutenden Werke, wichtigen Ideen und revolutionären Theorien, denen sie Ausdruck geben, das Herausbilden hochragender Gebäude ? komplexer Systeme ? darstellen, die aber nicht abgebildet werden können ohne die Produktion von Bauschutt und überflüssigen Teilen. Aber wenn Müll wirklich so eine zentrale Rolle für Wissen spielt, wie können wir dann einen Weg finden in das Reich der Reste und des Schrotts, mit anderen Worten, wie können wir verfolgen, was Wissen verbraucht und wegwirft? Sprecherin 1 John Scanlan beschreibt in seinem Text ?On Garbage?, wie westliche Philosophie, Wissenschaft, und Technologie sich die Natur durch permanentes Ausheben und Absprengen von ungültigem, unzeitgemäßem oder überholtem Wissen unterworfen haben. Die fortwährenden Exzesse der Entsorgung produzieren nicht nur überquellende Müll-Berge, sondern auch unzählige Wissens-Mumien, die durch die Realität unserer modernen westlichen Gesellschaften geistern. Wie können wir das vermeintlich Verbrauchte und Weggeworfene wieder zurückführen in unseren Kanon des Wissens? Wie können wir den entropischen Prozess des Wissens umkehren oder verlangsamen, damit nicht alle irgendwann das gleiche denken? Musik 2 / ausblenden 0