COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt wer- den. Zeitreisen 9. Januar 2012 Transitmetropole am Mittelmeer Marseille - Europäische Kulturhauptstadt 2013 Von Fritz von Klinggräff 1 - Atmo(a) mp3 Lautsprecheransage im Bahnhof Marseille "Marseille St. Charles, ici Marseille St Charles (...)" Erzähler (auf Atmo der der Lautsprecheransage) Der Gare St. Charles. Marseille. Willkommen in der Europäischen Kulturhauptstadt 2013. 1 - Atmo(a) noch einmal hochziehen bei Marseille St. Charles, this is Marseille St. Charles " bis "Massilia St. Charles" Erzähler Gibt es ein schöneres Ankommen in Europa als an seinem Endbahnhof in Frankreichs Mit- telmeermetropole? Hoch oben über dem Häusermeer steht der Bahnreisende auf der breiten Terrasse aus dem 19. Jahrhundert - und schaut mit schwindelndem Blick gegen das Abend- licht. Gedämpft schallt der Straßenlärm aus den Stadtschluchten von Marseille hoch, zersto- ben vom kalten Mistralwind. 2 - Atmo(b) mp3 Bahnhofsvorplatz. Stadtgeräusche. Unweigerlich geht der Blick über schwatzende Touristen- und Trinkergruppen hinweg - hinü- ber zu Europas markantestem innerstädtischen Hügel: zur stolzesten aller mediterranen Kir- chen - Notre Dame de la Garde. Am graublauen Himmel zieht ein Flugzeug aus Richtung Algier seinen Kondensstreifen hinter sich her. Nur der Blick auf Europas berühmteste Mit- telmeerbucht ist längst verbaut - durch eine Stadt, die sich in ihrem wogenden Auf und Ab gern selbst als Meer sehen möchte. 3a/ 3b Atmo(c): mp3 Bahnhofsvorplatz. Stadtgeräusche und Stimmen II Wer will hier in Marseille noch vom Ankommen sprechen? Wir sind längst da: in der Euro- päischen Kulturhauptstadt 2013, deren stellvertretender Programmleiter, der Deutsche Ulrich Fuchs, doch lieber von einer Stadt des Transits sprechen möchte: O-Ton(1) mp3 Ulrich Fuchs Marseille ist eigentlich seit 2.600 Jahren Stadt des Transits. Das hat begonnen mit der legendären Begründung der Stadt durch die Ankunft des fremdländischen Prinzen, der hier eine einheimische Prinzessin geheiratet hat - Protis und Gyptis. Und über die 2.600 Jahre zieht sich ein Element, das die Stadt Marseille sehr stark charakterisiert: Das ist das Hier-ankommen-können-und-willkommen-sein." Erzähler Und so kamen sie auch im 20. Jahrhundert, zu Beginn der Vierziger Jahre, in Marseille an: die Flüchtlinge eines europäischen Kontinents, der ihnen nur noch die Wahl zwischen Emi- gration und Vernichtung ließ. Sie kamen aus Italien oder Spanien, aus Deutschland und Polen - als Rotspanier, als Mussolini-Flüchtlinge, als Linke, als Juden, als so genannte "entartete" Künstler. Erst wohnten einige von ihnen noch im schönen Städtchen Sanary, im Westen Mar- seilles. Nach der deutschen Besetzung Nordfrankreichs im Juni 1940 aber suchten viele den Weg über Marseille - nur raus aus Europa! 3a / 3b - Atmo(c) mp3 (noch mal Stadtgeräusche hochziehen) Also setzten sie hier, am Marseiller Endbahnhof, den Fuß auf die hundert weißen Stufen der prächtigen Freitreppe, die sie hinunter führte: bergab in Richtung Canebière, dem mythischen Boulevard der ältesten Stadt Frankreichs. Doch bis zur Canebière brauchten die Flüchtlinge ihre Koffer 1940 gar nicht zu tragen. Denn direkt zu Füßen der Treppe - mit ihrem leichten Urinduft der Nächte und dem Sog der Straße weiter hinab - bot sich ihnen ein prachtvoller Bau im Kolonialstil als erste Station auf ihrem Fluchtweg raus aus Europa an. 4 - Atmo(d): mp3 Stadtgeräusche rue d'Athène/rue des Dominicaines Hier in der Rue d'Athène Nummer 31, wo um die Ecke zu einer Grundschule heute ein päda- gogischer Buchladen seine Bleibe gefunden hat, befand sich Anfang der 1940er Jahre das Hotel Splendide. In diesem hatte der amerikanische Fluchthelfer Varian Fry 1940 seine erste Bleibe gefunden: Zitator (aus Text Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen, Fischer Tb, S.11) "Ich verließ Amerika im August 1940, die Taschen vollgestopft mit den Listen der Namen der Männer und Frauen, die ich retten musste, und den Kopf voller Ideen, wie ich das bewerkstel- ligen wollte. Es waren mehr als zweihundert Namen, und viele Hundert kamen später hinzu." Erzähler So berichtet Varian Fry in seiner Autobiografie unter dem Titel "Auslieferung auf Verlan- gen". Jetzt, im Januar des Kulturhauptstadtjahrs 2013, wird der Marseiller Historiker Robert Mencherini dem amerikanischen Fluchthelfer vor dem ehemaligen Hotel Splendide mit einem Pflaster-Graffiti ein temporäres Denkmal setzen. Ein Denkmal für Varian Fry - und damit zugleich ein Denkmal für den Bahnhof über der Stadt: O-Ton(2) mp3 Robert Mencherini Lui est arrivé à la Gare St. Charles, en train, comme beaucoup des réfugiés en ce mo- ment là"... bis "et au pied du Gare St. Charles il y avait une Hotel de luxe, qu'il s'appellait ,Hotel Spendide'" (...)" Und von "Varian Fry s'installe dans cette hotel (...) bis "Ca, c'est une bonne example, une bonne illustration du clima, qu'il y a eu à ce mo- ment là." Übersetzer Wie so viele Emigranten aus ganz Europa kam Varian Fry am Gare St. Charles an. Unterhalb des Bahnhofs befand sich ein Luxushotel mit dem Namen Hotel Splendide - das Gebäude gibt es noch heute. Varian Fry ließ sich in diesem Hotel nieder, weil ein Taxifahrer es ihm emp- fahl. Sofort liefen durch die ganze Stadt die wildesten Gerüchte vom einen zum nächsten der vielen tausend wartenden Emigranten: Da sei ein Amerikaner angekommen, die Taschen vol- ler Dollar, der den Leuten die Ausreise ermögliche und Visa besorge. Und schon blockierten Horden von Emigranten, die in Windeseile aus ihren Hotels und Absteigen kamen, die Flure des Luxushotels - in der Hoffnung auf die lebensrettenden Visa. Es gab noch einige anderer solcher Orte. Aber das Hotel Splendide war ein typisches Beispiel für das soziale Klima im Marseille dieser Tage. Erzähler Tausende Menschen wurden von Varian Fry und von den Konsulaten, die nach der Besetzung von Paris nach Marseille umgesiedelt waren, gerettet. Nicht allen glückte die Flucht übers Meer oder über die spanische Grenze. Und so wird in diesem Januar 2013 der Historiker Mencherini mit seinen Buchstaben-Schablonen noch rund fünfzig weitere Graffiti auf die Straße sprühen lassen: Erinnerungs-Male an die Vernichtung der Juden, an der sich auch das so genannte "freie Frankreich" unter Marschall Pétain im August 1942 beteiligte. Über 2.000 Männer, Frauen und Kinder wurden damals oft direkt aus ihren Marseiller Hotels ins Internie- rungslager Les Milles verschleppt - und von dort aus über Drancy bei Paris bis ins Vernich- tungslager Auschwitz. Das Wort "Transitmetropole" hat seitdem in Marseille einen zwiespäl- tigen Klang. Varian Fry aber war zu diesem Zeitpunkt schon wieder in den USA: Ausgewie- sen durch die Marseiller Behörden. Etwas später besetzten die Deutschen auch den Süden Frankreichs und sprengten am 23. Januar 1943 Marseilles Stadtviertel am Alten Hafen in die Luft, weil sie hier - nicht zu Unrecht - südfranzösische Widerstandsnester vermuteten. Mit dem Gedenken an diesen Tag, beginnt das Kulturhauptstadtjahr 2013, erklärt sein stellvertre- tender Intendant Ulrich Fuchs: O-Ton (3) mp3 Ulrich Fuchs Ja, im Januar 2013 jähren sich zum siebzigsten Mal die sogenannten "rafles du Pa- nier". Das ist die Zerstörung des ältesten Stadtteils von Marseille durch die deutschen Trup- pen, die Marseille ab November 1942 ja besetzt hatten. Und heute weiß man übrigens, dass diese Zerstörung des Panier durchaus mit Billigung von Teilen der französischen Politik und vor allem auch der Immobilienwirtschaft in Marseille erfolgt ist - damals vor siebzig Jahren ... das fällt zeitgleich zusammen mit dem fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung des Ely- sée-Vertrags durch die De Gaulle- und Adenauer-Regierung. In einem Kulturhauptstadtjahr, in dem eine Stadt auch aufgefordert ist, als Kulturhauptstadt des Beitrags zu gedenken, den sie zur Geschichte Europas geleistet hat, ist das, glaube ich, Anlass genug, um an diesen Teil der Geschichte Marseilles zu erinnern. Erzähler Mitten im Panier, nur wenige Meter vom Alten Hafen entfernt, liegt auch das alte Maison diamantée aus dem 16. Jahrhundert mit seiner schillernden Fassadengestaltung: Es ist heute Sitz des Organisationskomitees für das Kulturhauptstadtjahr "Marseille Provence 2013". Im weiten Umkreis ist es das einzige Gebäude, das von den Sprengungen durch die Nazis ver- schont blieb. Hier, im unteren Teil des Panier also, so erzählen die Marseiller heute gern, lebten in den vierziger Jahren vor allem die Kommunisten, die Italiener und die Prostituierten der Stadt - die oft alles zugleich gewesen seien. Erst weiter nördlich, den Hang hinauf, beginnen wieder die schmalen, langgestreckten Gassen dieses ursprünglichen Marseille mit seiner über die Jahrhunderte wechselnden Bevölkerung. Atmo: evtl. italienische Schlagermusik um 1900 Jeder vierte Marseiller war um 1900 gebürtiger Italiener, erzählt der Historiker Robert Men- cherini, selbst italienischer Immigrant aus dritter Generation: Sie waren die ersten Arbeitsim- migranten und fanden in den Docks in der Zuckerindustrie und in der umliegenden Landwirt- schaft ihre Beschäftigung. Doch auch aus Griechenland kamen sie, aus Spanien und auch die ersten Immigranten aus den Kolonien trafen schon um die Jahrhundertwende ein. Nach 1922 kamen die Armenier - zu zigtausenden auf der Flucht vor dem Genozid am Südostrand Euro- pas. Sie siedelten sich an der Porte d'Aix an, dem Triumphbogen, an dem heute die Autobahn aus Paris endet, und zogen dann weiter in den Osten der Stadt, wo sie heute nicht weit von der Synagoge der sephardischen Juden aus dem Maghreb ihre orthodoxen Kirchen haben. Denn viele von ihnen blieben für immer. Doch längst nicht alle, betont Robert Mencherini: O-Ton(4): mp3 Robert Mencherini "De tout de façons: ce lieu a eu toujours un lieu de passage (...)" bis "(...) tout les flux, qui convergent à Marseille." Übersetzer: Gleichzeitig blieb Marseille immer ein Transitort. Die Stadt liegt nun einmal zwischen Spa- nien und Italien, und Sie haben hier die wichtigsten Kreuzwege zum römischen Tiefland. Von daher erklären sich fast alle europäischen Immigrations-Bewegungen, die in Marseille zu- sammenlaufen. Erzähler Schon um 1700 hatte Marseilles Aufstieg zum einzigen Handelszentrum Frankreichs mit der Levante begonnen. Zwar verlor die Mittelmeerstadt damals unter Ludwig XIV. ihre Autono- mie. Zugleich aber stellte Ludwigs Finanzminister Colbert die fremden Kaufleute aus aller Welt den Marseillern gleich. Damit entwickelte sich die Stadt zum vielsprachigen Mittel- meerzentrum und zur Konkurrenz für Venedig. Oberhalb des Alten Hafens und des Panier, wo die Europäische Kulturhauptstadt heute ihr strategisches Zentrum aufgeschlagen hat, hatte dieses neue Marseille des frühen 18. Jahrhunderts seinen Mittelpunkt. Und noch der Schrift- steller Stendhal konnte knapp 150 Jahre später den Cours Belsunce, wo die Damen der Ge- sellschaft ihre Sonnenschirme ausführten, nicht genug preisen. 5 - Atmo(e): mp3 am Cours Besunce Café Prince Heute braucht es zwar einiger Einbildungskraft, um in der arabisch dominierten und urban völlig zerstörten Platanenallee zwischen Canebière und Porte d'Aix diese Pracht vergangener Zeiten wieder zu entdecken. Dafür bekommt man im Imbiss Le Prince heute ein besonders köstliches Exemplar von Marseilles heimlicher Nationalspeise: ein echtes Sandwich-Frites- Merguez. Das Marseiller Pendant zum türkisch-deutschen Döner Kebab ist üppig bestrichen mit der scharfen nordafrikanischen Harissa-Paste, und im Innern des halben französischen Baguettes verbergen sich die köstlichen Merguez-Würste von undefinierbarer Herkunft, um- geben von überquellenden gelben Pommes Frites. Nirgends wohl kommt einem die ganze multikulturelle Herrlichkeit der Mittelmeerstadt Marseille näher als hier! Selbst der leise re- volutionäre Beigeschmack täuscht nicht. Denn von hier, vom Cours Belsunce, zogen 1792 auch die Marseiller Förderierten nach Paris - zur Unterstützung der revolutionären Sansculot- tes gegen die Konterrevolutionäre am Rhein. Musik: Die Marseillaise leise anklingen lassen. Sie marschierten zu einer Musik, die die französische Nationalversammlung in Paris drei Jah- re später zur Nationalhymne erklärte: Das "Lied der Rheinarmee" - besser bekannt unter dem Namen Marseillaise. 120 Jahre später zogen aus Marseille wieder Soldaten mit diesem "Al- lons enfants de la patrie" in den Ersten Weltkrieg: die tirailleurs sénegalais, wie man sie nannte: Frankreichs Soldaten aus den afrikanischen Kolonien zwischen Mali und Madagas- kar. Musik: Marseillaise (wenn möglich jetzt in einer besonders militärischen Into- nierung) noch mal lauter hochziehen Gleich um die Ecke zum Cours Belsunce hat sich Marseille für das Kulturhauptstadtjahr in der Rue Thubeneau nun sein Museum der Marseillaise geleistet. Und eben hier, am Cours Belsunce, in der kleinen Rue du Rolet nahe der neuen Stadtbibliothek Alkazar, wohnte in den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Hotel Aumage auch die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers und wartete auf ein Schiff in die Freiheit. In ihrem Roman "Transit", sagt der Historiker Robert Mencherini, schuf sie dem Marseille der Exilanten ein exaktes und bis heu- te unerreichtes Denkmal. So ist es kein Wunder, dass auch Marseilles Stadtführer den Roman längst für sich entdeckt haben - allen voran Bénédicte Sire, die Schauspielerin und Dokumentarfilmerin, eine beken- nende Verehrerin von Anna Seghers. Auf ihrem zweistündigen Fußweg mit den Touristen- gruppen kreuz und quer durch den Ventre, den Bauch, des Marseiller Hauptboulevards Can- nebière macht sie kurz vor der Ecke zum Cours Belsunce Halt. Vor den vier großen Karyatiden des einstigen Prachthotels "Zum Louvre und zum Frieden" liest Bénédicte Sire dann jene Passage aus "Transit", in der sich Anna Seghers´ Ich-Erzähler zum ersten Mal in die Innenstadt wagt: allein und im Bus statt im Zug, um nicht der Polizei in die Hände zu fallen. O-Ton (5 und 7, noch ungekürzt!): mp3 Bénédicte Sire - Lesung aus Anna Seghers, "Transit" "De la haut je descendait vers les vallées de Marseille. De là-haut j'ai vu la mer tout en bas entre les collines" bis "la Cannebière, et par ce canal dans la mer, ou il y avait enfin l'espace pour tous et la paix." Übersetzer (aus Originalfassung von Anna Seghers "Transit", Tb Aufbau Verlag S. 41) "Wie ich begriff, dass das, was blau leuchtete, am Ende der Canebière bereits das Meer war, der Alte Hafen, da spürte ich endlich wieder nach soviel Unglück und Elend das einzige Glück, das jedem Menschen in jeder Sekunde zugänglich ist: das Glück zu leben. Ich hatte mich in den letzten Monaten immer gefragt, wohin denn das alles münden sollte, das ganze Rinnsal, der Abfluss aus allen Konzentrationslagern, versprengte Soldaten, die Söldner aller Heere, die Schänder aller Rassen, die Fahnenflüchtlingen aller Fahnen. Hier also floss alles ab, in diese Rinne, die Canebière, und durch diese Rinne ins Meer, wo endlich wieder Raum war - und Friede." Regie: assoziative Musikeinblendung, evtl. schon unter O-Ton/Übersetzung aufblenden - oder Meeresrauschen Erzähler Auch die Autorin Anna Seghers wird am Ende mit ihrem Sohn und ihrem Mann das Meer und ein Schiff finden - die Paul Lemerle, auf der sie 1941 bis auf die Antillen flieht - und von dort aus weiter in die USA. Mit an Bord: unter anderem der Surrealist André Breton, sein Freund Victor Serge und der Ethnologe Claude Levi-Strauß, Mitbegründer des französischen Strukturalismus. Viele gehen und verlassen die Stadt und die Canebière, deren überbordende Kolonial-Pracht immer weiter zerfällt. Von diesem vergangenen Reichtum des 19. und des frühen 20. Jahr- hunderts erzählen heute nur noch die Stadtführer, wenn sie, wie Bénédicte Sire, vor dem eins- tigen Luxushotel mit dem ausufernden Namen "Zum Louvre und zum Frieden" Halt machen. Das Eingangsportal ist bewacht von vier Karyatiden, die in stiller Eintracht die Kontinente Amerika, Asien, Afrika, Europa - die Welt des 19. Jahrhunderts - repräsentieren. 6 - Atmo(f): mp3 Markt rue du marché des capucins Gegenüber bieten in der Rue du marché des Capucins, in der Kapuzinermarktstraße, die Mar- seiller aus aller Welt auch heute noch sieben Tage in der Woche ihre Waren feil. Doch diese Händler sind nicht mehr unterwegs auf den Weltmeeren - wie noch vor 150 Jahren, als selbst die Dichter wie Arthur Rimbaud in Afrika als Kolonialisten ihr Glück versuchten, als der Suezkanal endlich den Weg nach Osten freigab und als die Menschen aus halb Europa über Marseille in die neue Welt auswanderten. Der Krieg in Europa war 1871 gegen Deutschland verloren - im Süden der Weltkugel lag nun die Hoffnung Frankreichs auf Macht und auf Reichtum. Zur Jahrhundertwende wurde Marseille so zum Durchgangstor für Europas Glücksritter, erzählt Bénédicte Sire: O-Ton(8) mp3 Bénedicte Sire 19. Jahrhundert "Sur la Canebière vous aviez au dixneuvième siècle des (je dirait) plus grands hotels du monde (...)" bis "...les articstes venaient ici et participait à ces tours de champs/chances etc" Übersetzerin Auf der Canebiere fanden Sie als Tourist im 19. Jahrhundert die größten und prunkvollsten Hotels der Welt: das "Hotel zum Louvre und zum Frieden", vor dem wir hier stehen oder das Hotel Noaille beispielsweise. Diese Hotels beherbergten die ganze Welt. Marseille hatte seine großen Kolonien in Afrika und im Südwesten Asiens und jeder - selbst diejenigen, die es gen Südamerika zog - hatten Marseille als ihren Ausgangshafen. Ganz Europa kam damals durch Marseille. Selbst die Engländer auf ihrem Weg nach Indien fuhren hier ab. Die Künstler star- teten hier ihre Welt-Tourneen. Zwischen 1870 und 1920 war Marseille eine der meistfrequen- tierten Städte Europas. Hier standen die größten Hotels, und die Cafés prunkten mit Wandma- lereien der größten Maler der Zeit. Das berühmte Café turc, in dem man echten türkischen Kaffee trinken konnte, war dekoriert mit vier riesigen Uhren, die die verschiedenen Zeitzonen anzeigten: Man wusste sich am Dreh- und Angelpunkt der Welt. Und so gab es auf der Cane- bière natürlich auch eine Unmenge Bühnen, auf denen die Schauspieler vor den Touristen ihre Künste darboten - um dann eventuell selbst weiter gen Süden oder Osten zu ziehen. Erzähler Heute lebt in den Straßen rund um die Canebière jeder Vierte unter der Armutsgrenze und die Rechtsextremen von der Front Nationale schüren Stimmung gegen das multikulturelle Mar- seille. Auf die rassistische Agitation der Front Nationale antworten Marseilles Vorstadtbe- wohner mit ihren Mitteln: Zum Beispiel mit dem Rap der französischen Hip-Hop-Band IAM, die in Frankreichs Banlieues längst Legende sind. Musik: IAM-Rap einspielen und unter dem Erzähler weiterlaufen lassen IAM, das steht für "Invasion vom Mars", also von jenem anderen Planeten, der Mars-eille für das Frankreich der Franzosen wohl noch immer ist. Und zugleich steht IAM für den ironisch gebrochenen Sound eines italienisch-algerisch-komorischen Selbstbewusstseins. Im Alltag der Canebière regiert eher die Gelassenheit einer Metropole: Der algerische Hähn- chenbrater vom Imbiss "Chicken Ville" hat sein Etablissement jetzt einfach in Chic en Ville - schick in Marseille - umgetauft. Und die Kirchen der Muslime, Katholiken, Hindus, Protes- tanten, armenischen Orthodoxen und all der anderen Marseiller Religionsgemeinschaften sit- zen seit zwanzig Jahren regelmäßig am Runden Tisch des Bürgermeisters, um schwelende Konflikte schon im Ansatz zu entschärfen. Marseille espérance - "Hoffnung Marseille" - heißt diese interreligiöse Initiative. Loic Le Pape ist Religionssoziologe in Marseille, er führt uns an den höchsten Punkt der Ca- nebière, wo sich neben der Kirche der Reformierten - der Réformés - das bunte Leben Mar- seilles selbst beim winterlichen Mistral noch in den Straßencafés abspielt: O-Ton(9): mp3 Loic Le Pape "Ca n'existe qu'à Marseille et c'est quelque chose d'assez particulier dans le contexte francais (...). bis "Les maires de Marseille ont réussi à réunir autour d'un table l'ensemble des respon- sables des cultes de Marseille." und von "Pendant très longtemps les cultes ont été historiquement (...)" bis "des gens qui se parlent et discutent entre eux." Übersetzer Diese Initiative "Hoffnung Marseille" gibt es bisher nur in Marseille; sie ist im französischen Kontext ziemlich einmalig. Den wechselnden Bürgermeistern von Marseille ist es nun schon seit über zehn Jahren gelungen, die Verantwortlichen aller religiösen Gemeinschaften regel- mäßig im Rathaus zu versammeln. Über Jahrhunderte waren auch in Marseille neben dem Katholizismus alle anderen Religionen verboten. Die Protestanten und die Juden praktizierten ihre Religion zwar - aber nur in einer tolerierten und allemal unsicheren Grauzone. Heute hingegen kann man in Marseille fast von einer Kultur des religiösen Transits sprechen: Die Vertreter der unterschiedlichsten Kulte sitzen um einen Tisch, sprechen miteinander, suchen miteinander Konfliktlösungen. Erzähler Auch die Kunst hat in den vergangenen Jahren in Marseille Fuß gefasst, hat hier ein Nischen- Selbstbewusstsein gefunden - und dabei auch einige Unterstützung durch die Kulturhaupt- stadt Europas bekommen. Der Algerier Yazid Oulab ist dafür ein gutes Beispiel, einer, der es geschafft hat, ein Profiteur der Kulturhauptstadt Europas, sagen die Neider. Mit einer Einzel- ausstellung in der FRAC, dem Regionalfond der zeitgenössischen Kunst, wird Yazid Oulab unten am Hafen als erster eines jener neuen Museen bespielen, die sich dort - durch Brücken miteinander verbunden - aneinander reihen. Marseilles neue Kulturperlenkette -mit Blick hinaus aufs Meer. Schon dies ist für Yazid Oulab eine kleine Marseiller Revolution: O-Ton(11): mp3 Yazid Oulab Von " L'air d'aujourd'hui a un petit peu changer, parce que (...) " bis " ils sont sur la mer." Übersetzer Im Moment deutet sich in Marseille eine Veränderung an: Die Stadt wendet ihr Gesicht dem Meer zu. Bisher hat Marseille dem Meer immer den Rücken zugekehrt! Normalerweise dre- hen sich die Hafenstädte immer dem Meer zu. Erzähler Jetzt im Januar nimmt Yazid Oulab an der großen Ausstellung "Ici, Ailleurs" - "Hier - an- derswo" - teil, mit der das Kulturhauptstadtjahr seinen Ausstellungsreigen 2013 eröffnet. "Hier und anderswo": Für Yazid Oulab, den 50-jährigen Algerier, der seit dreißig Jahren Marseille zu seiner Wahlheimat erkoren hat, ist dieser Ausstellungstitel Programm. Sein Ladenatelier mit dem fauchenden Gasofen hat er ein paar Querstraßen unterhalb der Re- formierten Kirche, wo wir eben noch mit dem Loic Le Pape im lärmenden Straßencafé saßen. Hinter den Rolläden der Werkstatt von Yazid Oulab aber ist es ruhig. An den Wänden hängen großformatige Christus-Skizzen - von einem dichten Stacheldrahtkranz umkreist. Durch das Oberlicht scheint schräg die Wintersonne. Auf dem nackten Estrich eine Eisenplatte, auf der in Schreibschrift mit wulstiger Schweißnaht "Toleranz" steht. Yazid Oulabs Vorbild ist - neben Leonardo und Cézanne - heute vor allem der Deutsche Joseph Beuys. In seinem kultu- rellen Gedächtnis aber vernetzen sich die Erinnerungen an die mit Kalligraphien übersäten Oberarme der Großmutter, die Tänze der Derwische und das strenge Regime der Mutter, einer algerischen Französischlehrerin. Zur Eröffnung von "Ici, ailleurs" wird er seinen Ausstel- lungsraum mit graugrünen Tarnfarben auskleiden: militärische Camouflage, nach innen ge- kehrt. Hier wird er auf seiner selbstgebauten Ney spielen, der mystischen Querflöte der Sufis, der Tanzenden Derwische. O-Ton(12)/Atmo: Yazid Oulab "Cette instrument, avec quoi on charme l'âme." Danach direkt anschließend als Atmo das Flötenspiel durch Oulab. Übersetzer ... Das ist ein Instrument, mit dem man die Seele bezaubert und besiegt. Erzähler (auf der ausklingenden Flöten-Atmo) Der echte Transit, sagt Yazid Oulab, ist ein spiritueller. Er findet im Bewusstsein statt. Einmal sei auch er weggegangen - als junger Künstler über das Mittelmeer von Algier nach Mar- seille. Doch dieser Schritt sei gar nicht so weit, wie man gemeinhin annimmt: O-Ton(13): Yazif Oulab Von "Marseille pour moi, c'est - je ne sais pas - la 50ième ville d'Alger. C'est une ville algérienne!" bis "Je monte en France" Übersetzer Für mich ist Marseille keine europäische, sondern eine algerische Stadt. Das war schon immer so. Ich habe hier in Marseille das Gefühl, Algerier zu sein. Wenn ich nach Paris fahre, unter- läuft mir häufig der Lapsus zu sagen: Ich fahre nach Frankreich. Erzähler Gehen wir zum Abschluss unseres Marseille-Spaziergangs also noch einmal dorthin, wo sich die Stadt zum Meer hin, gen Afrika, öffnet. Unten - ans Wasser, an die Joliette. Jahrhunderte- lang lagen hier - jenseits des urbanen Raums von Marseille - die Docks. Hier gingen die Neuankömmlinge aus Italien, aus Armenien und von den Komoren zur Arbeit. Das Familien- leben spielte woanders, zum Beispiel im Panier um die Ecke oder weiter oberhalb am Cours Belsunce. Doch seitdem der Frachthafen die innerstädtischen Docks verlassen hat, seitdem die Containerschiffe im fernen Fos entladen werden und auch die Kreuzfahrtschiffe mit ihren 500.000 Gästen pro Jahr weit vor der Stadt anlegen, hat hier zu Füßen der wuchtigen Kathe- drale von Marseille die Kultur angedockt. 8 - Atmo(h): Kathedrale Immer hatte Marseille sie eher stiefmütterlich behandelt, ihre Kathedrale über dem Verlade- hafen La Joliette. Nun also soll sie endlich hineinwachsen in die Stadt. In ihrem Rücken hat sie schon Gesellschaft bekommen: durch den stolzen Wolkenkratzer der irakischen Star- Architektin Zaha Hadid, der das Wahrzeichen des neuen Marseiller Geschäftsviertels Euro- méditerrannée ist. Nach vorn, zum offenen Meer hin, wandert der Blick von der Kathedrale hinunter auf Marseilles neue Museumskette neben dem trutzigen Fort Saint Jean, das über Jahrhunderte den Eingang zum Alten Hafen beschützte. Jetzt im Januar öffnet hier das MuCem seine Tore: das französische Nationalmuseum, in dem die Grande Nation noch einmal alle "Zivilisationen Europas und des Mittelmeers" zusammen denken will. Sein Direktor, Thierry Fabre, ist überzeugt, dass Marseille für diese nationale Aufgabe genau der richtige Ort ist, - vielleicht sogar der einzige Ort, um über die nationalen Grenzen hinauszublicken: O-Ton(14): Thierry Fabre MuCem Quand on est à Marseille on regarde le monde autrement, parce qu'on est en prise avec ces situations là (...)" bis "...ça a un echo profond à Marseille, ça ne peut pas nous laisser indifférent." Übersetzer Von Marseille aus sehen wir die Welt anders als aus der Pariser Perspektive. Es gibt hier ein- fach eine größere Nähe zur arabischen Welt. Marseille ist ein Seismograf für den gesamten Mittelmeerraum. Durch die Wellen der Immigration spüren wir die Erschütterungen jedes Mal wie ein Nachbeben. Immer wenn in Jerusalem, Saloniki, Alexandria, Tanger oder Algier etwas in Bewegung kommt, hat dies sein Echo in Marseille und hinterlässt in dieser Stadt seine Spuren. Erzähler Das MuCem, das "Museum für die Zivilisationen Europas und des Mittelmeers" am Eingang des Alten Hafens, soll Marseille bei dieser Aufgabe in Zukunft unterstützen: als Seismograph für die kulturellen Bewegungen im gesamten Mittelmeerraum. Die erste eigene Ausstellung, die Thierry Fabre hier ab Juni 2013 zeigen wird, schaut aber noch einmal zurück in die nähere Vergangenheit der alten Mittelmeermetropole. Das MuCem eröffnet mit einer Ausstellung über eben jene dunklen Vierziger Jahre, mit denen wir unseren kleinen Spaziergang durch die Kulturhauptstadt Europas 2013 begonnen haben: jene Jahre, als Marseille für viele Intellek- tuelle und Künstler der Fluchtpunkt aus Europa war - und für manchen auch das letzte Asyl: O-Ton(15): Thierry Fabre im MuCem Ouvrir une saison culturelle, une programmation d'exposition avec Marseille transit, c'est un moment ou Marseille était déja capitale europénne de la culture - dans un moment tragique - et rapeller cette histoire pour se projetter en avant, se projetter dans l'avenir." Übersetzer Wenn wir unsere erste Ausstellungs-Saison im MuCem mit dem Thema "Marseille transit" eröffnen, dann wollen wir jenen Jahren unsere Hommage erweisen, in denen Marseille schon einmal - auf tragische Art und Weise - Europas Kulturhauptstadt war, und wir wollen damit zugleich nach vorn, in die Zukunft, denken. Entweder frei - oder mit Atmo (Musik von IAM?) Schluss (Wortende bei 27´54) 1