COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Literatur Titel : Glück, Gewalt und ein grüner Löwe. Neue Literatur aus Südafrika AutorIn : Gaby Mayr Redakteurin : Dr. Jörg Plath Sendetermin : 17.01.2016 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Julia Brabandt, Eva Meckback, Kai Scheve, Alexander Radszun, Barbara Becker und Ulrich Lipka. Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 <<>> KÜRZUNGSMÖGLICHKEITEN TAKE 1 (MUSIK/ATMO 1: ROSEBANK MALL, "EXCLUSIVE BOOKS") UND/ODER TAKE 2 (ATMO/MUSIK 2: MUSIK) UNTERLEGEN BIS TAKE 5 ERZÄHLERIN Johannesburg, Rosebank Mall: glänzend polierte Marmorfußböden, geräumige Geschäfte mit gut sortiertem Angebot. Im dritten Stockwerk "Exclusive Books". TAKE 3 (O-TON JELE) This particular shop... you just wonna come in. ÜBERSETZERIN "Dieser Laden ist toll, er ist ganz neu renoviert. Ein schöner Ort, weil man hier sitzen, sich Bücher ansehen und dazu einen Kaffee trinken kann. Auch wer kein Buchmensch ist, geht hier gerne rein." ERZÄHLERIN Nozizwe Cynthia Jele hat vorgeschlagen, dass wir uns bei "Exclusive Books" treffen. Sie ist die Autorin von "Happiness is a Four-Letter Word" - Glück ist ein Wort mit vier Buchstaben. Die Kundschaft zwischen den Bücherregalen: jung und älter, verschiedene Hautfarben. Manchmal bildet sich vor der Kasse eine Schlange. Eines gefällt Cynthia Jele besonders: TAKE 4 (O-TON JELE) African fiction.... .... in your face. ÜBERSETZERIN "Ich sehe von hier aus das Regal mit der Belletristik aus Afrika. Afrikanische Literatur wird nicht irgendwo in der Ecke versteckt. Wenn man reinkommt, läuft man direkt darauf zu." ERZÄHLERIN In dem Regal stehen englischsprachige Klassiker aus Afrika wie Chinua Achebes "Things fall apart" - auf Deutsch "Okonkwo oder Das Alte stürzt". Außerdem Werke der beiden südafrikanischen Nobelpreis-Geehrten Nadine Gordimer und John Maxwell Coetzee. Und vor allem: aktuelle südafrikanische Literatur. SPRECHER Glück, Gewalt und ein grüner Löwe. Neue Literatur aus Südafrika TAKE 5 (MUSIK/ATMO 3: TAXI INNEN) ERZÄHLERIN Wir fahren durch Soweto, auf einer vielspurigen Straße. Das Asphaltband teilt ein Meer aus einstöckigen Häusern, dazwischen Einkaufszentren. Minibusse überholen uns - weiße Vans mit schwungvoll aufgemalter Bordüre in den südafrikanischen Landesfarben. Wir sind auf dem Weg zu Niq Mhlongo, Sowetos bekanntester literarischer Stimme. Um uns herum Autos renommierter Marken: Toyota, Audi, BMW. Hier ist der erfolgreiche Teil des neuen schwarzen Südafrika unterwegs. TAKE 6 (MUSIK/ATMO 4: NAVI-STIMME) ERZÄHLERIN Ein paar Kilometer vor dem Ziel schaltet der Taxifahrer das Navi ein. Es erteilt seine Anweisungen mit quäkendem US-Akzent. Seit der ersten demokratischen Wahl vor über 20 Jahren hat sich viel getan in Soweto, Wohnort für über eine Million Menschen, manche sprechen sogar von über drei Millionen. In den South Western Townships von Johannesburg gibt es jetzt Elektrizität und Wasserversorgung, auch Seitenstraßen sind asphaltiert. Straßenschilder und Hausnummern fehlen dagegen oft. Unser Fahrer hat Mühe, das Haus zu finden, in dem wir mit Niq Mhlongo verabredet sind. TAKE 7 (MUSIK/ATMO 5: TELEFONAT FAHRER/NIQ MHLONGO) ERZÄHLERIN Schließlich bittet er den Schriftsteller telefonisch um Hinweise für die letzten Meter. Wir sollen vor einem Laden warten, sagt Mhlongo, er werde uns dort abholen. TAKE 8 (O-TON FAHRER) "Okay, we´ll wait for him." TAKE 9 (O-TON MHLONGO) "This is an ordinary four roomed house in Soweto, asbestos roofed..." WEITER UNTERLEGEN ERZÄHLERIN Niq Mhlongo zeigt uns sein Elternhaus, ein so genanntes Streichholzschachtel-Haus, wie es der Apartheidstaat für schwarze Familien weit vor den Toren von Johannesburg hinstellte. Seine Eltern kamen in den 1960er Jahren vom Land nach Johannesburg. Niq wurde 1973 geboren, als achtes Kind. <> ERZÄHLERIN In solchen "Matchbox"-Häusern wohnen viele von Niq Mhlongos Romanfiguren. Zum Beispiel Ich-Erzähler Dingz in seinem furiosen Debüt "Dog eat Dog": Es ist das Jahr 1994, die Apartheid ist am Ende, die erste demokratische Wahl steht bevor, und der Junge aus Soweto studiert seit Kurzem an der berühmten Wits Universität in Johannesburg. Er fremdelt in der Welt höherer Bildung, die bisher den Weißen vorbehalten war. Denn Dingz bleibt, wie sein Schöpfer, ein Kind Sowetos. Mhlongo entwickelt aus dieser Konstellation ein Feuerwerk unterhaltsamer Szenen. ZITATOR "Wir standen an der Hauptstraße durch Orlando West, in der Nähe vom Hector Peterson Gedenkstein und Onkel Tom´s Veranstaltungshalle. Dungas Zeigefinger deutete nach unten, um ein Taxi anzuhalten, das zum Bara Krankenhaus fuhr. So machen wir das im Township. Die Finger sind das einzige Verständigungsmittel zwischen den Fahrern der Minibus-Taxis und den Fahrgästen auf der Straße. Wenn man in Soweto vier Finger nach oben hält, heißt das, man will nach Johannesburg. Zeigefinger und Mittelfinger nach oben bedeutet Highgate Mall. Fünf Finger bedeutet, dass du dich wahrscheinlich verirrt hast, denn es heißt Lenasia, und das liegt in der entgegengesetzten Richtung." ERZÄHLERIN Als Nelson Mandela die Wahl gewinnt, verwandelt sich ganz Soweto in eine Partymeile. Auch Dingz ist in "Dog eat Dog" unterwegs. Überschäumende Freude empfindet er allerdings nicht, ebensowenig wie Mhlongo, der sich gut erinnert. TAKE 12 (O-TON MHLONGO) Around that time... like anyone else. ÜBERSETZER "Es war eine Zeit der Zweifel. Kein Mensch kannte die Demokratie. Niemand wusste, was für ein Tier das ist. Was sie uns bringen würde. Viele dachten: Wow, vielleicht bedeutet sie das Ende der Armut. Das Ende von Kriminalität und Arbeitslosigkeit. Vielleicht kann ich ein Haus kaufen. Deshalb habe ich eine Figur voller Zweifel geschaffen, die nichts verstanden hat, aber voller Erwartungen ist. Wie alle damals." TAKE 13 (MUSIK) SPRECHER Niq Mhlongos "Dog eat Dog" erregte im Jahr 2004 mit einem Schlag Aufmerksamkeit für eine ganz neue Literatur, die aus den Townships kam. Manche nennen sie Kwaito-Literatur, nach dem Musikstil, bei dem zu elektronisch hämmernden Bässen in verschiedenen südafrikanischen Landessprachen gerappt wird. Kwaito-Literatur erzählt von den Menschen in den Schwarzensiedlungen. Sie sind verstrickt in den täglichen Überlebenskampf und hungrig nach Insignien des Wohlstands. Sie sind drastisch, laut und gewitzt. Die Kwaito-Literatur ist oft sehr unterhaltsam. Ihre Hauptdarsteller sind männlich. Frauen sind unerlässlich - als Sidekicks. ERZÄHLERIN Niq Mhlongos jüngster Roman "Way Back Home" ist gerade, als erstes seiner Bücher, auf Deutsch erschienen. Die Hauptfigur Kimathi Tito hat Soweto verlassen. Als Teilhaber einer erfolgreichen Baufirma wohnt er nun im Johannesburger Nobelvorort Bassonia. Seine Aufträge verdankt Kimathi Weggefährten aus dem Kampf gegen das Apartheidregime, die in Politik und Verwaltung Karriere gemacht haben. Denn Kimathi war Mitglied der "Bewegung", er kennt viele "comrades" aus dem Exil. Im demokratischen Südafrika "hilft" man sich nun gegenseitig. "Die Bewegung", das ist - unschwer zu erkennen - der regierende African National Congress, kurz ANC. Aber neuerdings hat Kimathi Probleme. TAKE 14 (MUSIK/ATMO 8: DJ TIRA AND BABES: BENU BENU) ZITATOR "Um neun weckte ihn das Geräusch eines Autos in der Einfahrt. Er spähte durch die Lamellenvorhänge und sah Sechabas silbernen Sport-Range-Rover hinter seinem BMW parken. Georges weißer Toyota Tazz stand draußen auf der Straße. Schnell zog er sich eine Trainingshose an und schlüpfte in seine Sandalen.... ‚Wo warst du gestern, Com?', fragte Sechaba, während Kimathi sich einen Whisky eingoss und nach Eiswürfeln kramte. 'Wir haben dir auf allen deinen Handys die Mailbox vollgequatscht.' 'Tut mir sehr leid. Ich war im Eastern Cape bei der Beerdigung eines Verwandten und bin erst im Morgengrauen zurückgekommen', log Kimathi.... 'Okay. Reden wir übers Geschäft', sagte George. 'Sicher hast du die schreckliche Nachricht schon gehört...' 'Ich habe keine Ahnung', erwiderte Kimathi und rieb sich die Nase.... 'Lies selbst', sagte Sechaba und deutete auf das Bündel Zeitungen, das er vom Rasen aufgehoben hatte... Wie betäubt riss Kimathi die Plastikfolie von dem Packen ab. Er schlug den Sowetan auf und überflog die Artikel, bis er auf Seite drei das Polizeifoto seines Freundes sah. Stumm las er den Text: 'Ludwe Khakhaza, Generaldirektor im Ministerium für öffentliches Bauen, wurde letzte Nacht tot in seinem Hotelzimmer des Park Hyatt aufgefunden.'" ERZÄHLERIN Der Mord an seinem alten Freund aus dem Exil ist nicht die einzige schlechte Nachricht für Kimathi. Alpträume quälen ihn, ihre Ursache bleibt ihm zunächst verborgen. Später wird ihm klar, dass ihn die Zeit im Lager "der Bewegung" in Angola, von wo aus sie in den 1980er Jahren den Widerstand gegen den Apartheidstaat organisierten, eingeholt hat. Das Exil ist das zweite große Thema in Niq Mhlongos Roman "Way Back Home": TAKE 15 (O-TON MHLONGO) A lot of credit... ...romanticized. ÜBERSETZER "Die Leute, die im Exil waren, erhalten jede Menge Anerkennung. Diejenigen, die hier Steine auf die Polizei geworfen haben, werden nicht so hoch geschätzt. Das Exil wird romantisiert." ERZÄHLERIN Die dunklen Seiten des Exils sind bis heute ein Tabu: die - mitunter tödliche - Gewalt unter den Comrades. TAKE 16 (O-TON MHLONGO) We don´t want... ...those things. ÜBERSETZER "Wir wollen nicht über das reden, was im Exil passiert ist. Was im Exil war, bleibt im Exil. Ich wollte aber über diese Dinge sprechen." TAKE 1 (MUSIK/ATMO 1: ROSEBANK MALL, "EXCLUSIVE BOOKS") ERZÄHLERIN In "Exclusive Books", Nozizwe Cynthia Jeles Lieblingsbuchladen, trinkt die Autorin einen Schluck Kaffee. Der Betrieb um sie herum scheint sie beim Interview nicht zu stören. Ihr Roman "Happiness is a Four-Letter Word" über vier Freundinnen Ende dreißig mit guten Jobs wäre vor wenigen Jahren nicht denkbar gewesen, weil es eine schwarze, finanziell gut ausgestattete Mittel- und Oberschicht in Südafrika nicht gab. Erst seit dem Ende der Apartheid können auch Menschen mit dunklerer Haut alle Schulen besuchen, sie dürfen überall studieren und wohnen und alle Berufe ausüben. <> Allerdings ist "Happiness" keineswegs ein Wort mit vier Buchstaben, und im Privatleben von Cynthia Jeles Romanheldinnen stimmt auch manches nicht. Sie wolle über Dinge schreiben, wie sie Menschen überall auf der Welt erleben, sagt die Autorin. Wer sich von ihrem Roman an eine erfolgreiche Fernsehserie aus den USA erinnert fühlt, liegt nicht verkehrt. TAKE 18 (O-TON JELE) I spent some time.... positively. ÜBERSETZERIN "Ich habe mit Ende zwanzig eine Zeit lang in den USA gelebt, und da gab es eine Serie, die hieß ‚Sex and the City', die hat mich sehr inspiriert, denn ich dachte: Hey, das sind Frauen, die sind jung, die sind frei und die versuchen einfach, ihr Leben zu leben. Und ich habe gedacht: Moment mal, wir leben jetzt auch so, dieses Leben ist gar nicht so weit entfernt von unserem. Wir haben als Land so große Fortschritte gemacht, nicht nur was die politische Gleichberechtigung angeht, sondern auch bei der wirtschaftlichen Gleichstellung. Natürlich gibt es noch Ungleichheiten, aber für viele Menschen hat sich das Leben gut entwickelt." ERZÄHLERIN Nandi, Zaza, Tumi und Princess können sich aufeinander verlassen in den Turbulenzen des Alltags. Nach der Arbeit - als Rechtsanwältin oder Buchhalterin - treffen sie sich in schicken Cafés. Und sie telefonieren häufig miteinander: wenn der Freund, ein Maler aus Zimbabwe, sich als Drogenjunkie entpuppt, wenn der Schwangerschaftstest wieder negativ ausfällt oder plötzlich ein Ex-Lover auftaucht und das mit einem neuen Mann mühsam erreichte Gleichgewicht stört. Zaza sieht besonders gut aus und hat einen bestens verdienenden Mann geheiratet, der sich mit ihr gegenüber seinen Geschäftsfreunden, wahren Big Shots, schmückt. Das klingt nach Schmonzette, und das ist es auch - einerseits. Andererseits erzählt Cynthia Jele von den Untiefen des Mittelschichtlebens zwischen Büroalltag, Kindererziehung und Beziehungsdrama in einem ganz eigenen, eben südafrikanischen Sound. TAKE 19 (O-TON JELE) So I just thought... into being. ÜBERSETZERIN "Ich habe gedacht: Gib der Geschichte einen Dreh, wie wir uns selber sehen, und dann schreib´s auf. So ist dieser Roman entstanden." ERZÄHLERIN Zaza zum Beispiel ist in ärmlichen Verhältnissen im Township aufgewachsen und will auf keinen Fall dorthin zurück. Sie besitzt eine Boutique, um Haushalt und Kinder kümmert sich Thembi, die vertraute Hausangestellte. Aber die Ehe mit Bongani verschafft ihr so gar kein Prickeln mehr, deshalb hat Zaza eine Affäre angefangen. Eines Tages erzählt ihr Thembi am Küchentisch, dass sie bei einem Besuch im Nachbarhaus Zeugin eines Dramas geworden sei. Der Ehemann sei hereingestürmt, habe seiner Frau Fotos vorgehalten, die einen Seitensprung mit einem jungen Mann beweisen sollten, und sie angebrüllt, sofort das Haus zu verlassen. TAKE 20 (MUSIK/ATMO 9) ZITATORIN "Zaza dachte lange nach bevor sie sagte:'...Was ich weiß ist, dass ein großes Haus, Autos und Geld keine Garantie für Glück sind. Manchmal hast du alles und doch nichts.' ‚Glück?' Thembi spuckte das Wort aus, als ob sie sich die Zunge daran verbrannt hätte. Dann hielt sie inne und schien über das Wort nachzudenken. ‚Ich würde Glück jederzeit gegen Bequemlichkeit eintauschen', sagte sie mit einer Andeutung von Überlegenheit. ‚Was wird Frau Nkonyeni jetzt tun, wie wird sie ihren Lebensstandard aufrecht erhalten? Glauben Sie, dass sie jetzt glücklicher ist?' TAKE 2 (ATMO/MUSIK 2: MUSIK) - ERZÄHLERIN "Happiness is a Four-Letter Word" ist ein Erfolg. Der Roman wurde gerade verfilmt, erzählt Cynthia Jele und strahlt mit ihrem bunt gepunkteten Halstuch um die Wette. Aber man kann sie sich in ihrer ruhigen, entschiedenen Art auch gut in ihrem Brotjob als Direktorin einer Firma vorstellen, die Unternehmen bei der Integration "früher benachteiligter Bevölkerungsgruppen" berät, wie in Südafrika neuerdings Menschen mit dunkler Haut offiziell heißen. Mit ihrem Buch wolle sie unterhalten, sagt Cynthia Jele, sie habe keine politische Botschaft. TAKE 21 (O-TON JELE) Definitely I was not ... maybe believes. ÜBERSETZERIN "Ich wollte sicher nicht gegen die Meinung der Welt zu Afrika oder zu Südafrika anschreiben. Ich wollte etwas schreiben, das die Leute gerne lesen. Womit sie sich identifizieren. Aber so eine Geschichte hat immer auch andere Wirkungen - in diesem Fall zeigt sie, dass Afrika viel mehr ist als das, was die Welt zu kennen glaubt." TAKE 22 (MUSIK/ATMO 10: SCHWIMMBADREINIGER) ERZÄHLERIN Wie Cynthia Jeles Heldinnen im Roman logieren, so lebt die Krimiautorin Angela Makholwa in Wirklichkeit. "Savannah Hills" ist eine bewachte Wohnanlage nördlich von Johannesburg. Eine Mauer umgibt die Siedlung, die Zufahrt wird kontrolliert. Hinter der Absperrung großzügige Einfamilienhäuser und Villen in Beigetönen mit Doppelgarage, Autos gehobener Preisklasse vor der Tür und Swimmingpool im Garten. Angela Makholwas Schwimmbecken wird gerade von einem Unterwasserroboter gesäubert. Im Haus Marmorfußboden, mehrere Sitzgarnituren, reichlich Unterhaltungselektronik. Eine Hausangestellte mit Schürze und Haube serviert kalte Getränke. Angela Makholwa hat sich für ein Genre entschieden, in dem es Südafrikaner zu Weltruhm gebracht haben. Mike Nicol, Deon Meyer und Roger Smith liegen in den internationalen Krimicharts weit oben. Sie alle sind männlich, weiß - und bekannt für die Brutalität in ihren Büchern. TAKE 23 (MUSIK/ATMO 11: KENNUNG "GEWALT") SPRECHER Dass Gewalt in südafrikanischen Büchern eine wichtige Rolle spielt, ist kein Zufall. Die Apartheid ließ sich nur mit Gewalt aufrechterhalten. Die Nilpferdpeitsche, ursprünglich von den "Voortrekker" genannten burischen Bauern benutzt, um ihre Viehherden vom Kap ins Landesinnere zu treiben, setzten Weiße als Züchtigungsmittel gegen Schwarze ein, zum Beispiel auf Farmen. Eine Plastikversion des Sjambok verwendete die südafrikanische Polizei bei der Niederschlagung von Protesten in Townships. Townshipbewohner legten vermeintlichen Kollaborateuren mit dem Apartheidregime Autoreifen um den Hals und zündeten sie an. Und im demokratischen Südafrika werden in pogromähnlichen Gewaltausbrüchen immer wieder Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern gejagt und getötet. ERZÄHLERIN Auch Angela Makholwa, die erste schwarze Krimiautorin ihres Landes, schildert explizite Gewaltszenen: TAKE 24 (O-TON MAKHOLWA) I don´t... LACHT ...to that subject. ÜBERSETZERIN "Ich schrecke in meinen Büchern nicht vor Brutalität zurück. Denn ich glaube, Ehrlichkeit in der Kunst ist wichtig. Grundlegend. Wenn man sich entscheidet, über Kriminalität oder Gewalt zu schreiben, dann muss man diesen Weg gehen. Man muss sich dem stellen. Man muss sich ganz auf das Thema einlassen." ERZÄHLERIN Wenn Angela Makholwa den Kopf bewegt, weil sie einem Argument Nachdruck verleihen will oder lacht, schwingen ihre langen Dreadlocks mit. Für die Gewaltszenen, erzählt sie, brauche sie am längsten: für die Recherche, für das Schreiben. Auch weil sie nicht an eigene Erfahrungen anknüpfen könne, jedenfalls nicht an derart drastische. Allerdings hat sie durchaus Handgreiflichkeiten in einer frühen Beziehung erlebt. Die waren auch Anlass für Makholwas jüngsten Roman "Black Widow Society", in dem es um Gewalt von Männern gegen ihre Partnerinnen geht. Und um eine unorthodoxe Reaktion der Frauen. TAKE 25 (O-TON MAKHOLWA) I was in... at the time. ÜBERSETZERIN "Ich war Anfang 20, als es passierte. Ich habe dann alles getan, was nötig ist, wenn einen der Partner angreift. Ich bin zur Polizei gegangen, habe eine einstweilige Verfügung erwirkt, habe Anzeige erstattet. Aber nichts ist passiert, niemand hat sich darum gekümmert. Ich habe den Rechtsstaat als sehr machtlos erlebt, als er einem Menschen in einer verletzlichen Position, wie ich es damals war, helfen sollte." ERZÄHLERIN Der neueste Roman von Angela Makholwa, "Der Verein der Schwarzen Witwen", erzählt von der erfolgreichen Geschäftsfrau Talullah, die ihren Mann töten lassen will. Der bekannte Arzt und Politiker hat sie einmal mehr gedemütigt und geschlagen. Talullah heuert einen Killer an und entwickelt, nach erfolgreicher Umsetzung ihres Planes, eine Geschäftsidee: Sie gründet die Black Widow Society, eine Geheimgesellschaft, deren Mitglieder ihre brutalen, in der Regel wohlhabenden Ehemänner umbringen lassen. Die Anträge auf Beseitigung des gewalttätigen Partners werden genau geprüft. Denn es geht um begründete, nicht um besinnungslose Gewalt. Das alles erzählt Angela Makholwa in leichtem Ton, mit feiner Ironie, um dann aus dem Roman vorzulesen. TAKE 26A (MUSIK/ATMO 12) - TAKE 27 (O-TON LESUNG MAKHOLWA) The Black Widow Society... no way out. ÜBERSETZERIN "Der Verein `Schwarze Witwe´, kurz VSW, traf sich ein Mal im Jahr, um die frisch Verwitweten zu begrüßen und ihnen ein Gefühl von Unterstützung und Kameradschaft zu vermitteln. Das Treffen diente auch dazu, Rechenschaft über die Finanzen der Organisation abzulegen und Fragen der Mitglieder zu beantworten. Vor allem aber sollten die Zusammenkünfte daran erinnern, dass, wer der Organisation beitrat, ein Leben lang an ihren Kodex gebunden war. Ein Austritt war nicht möglich." ERZÄHLERIN Angela Makholwa hat ihre Figuren intelligent gezeichnet, auch der Killer ist vielschichtig angelegt: Er hat Gründe, warum er den Job macht. Die Geschichte überrascht mit einigen Wendungen. Sie führt in unterschiedliche gesellschaftliche Milieus. Die Chefinnen des mörderischen Vereins stammen allerdings allesamt aus besseren Kreisen. Angela Makholwa, ein Mädchen aus dem Township und heute im Hauptberuf Leiterin einer Kommunikationsagentur, findet offenbar wie ihre Schriftsteller-Kollegin Cynthia Jele Gefallen daran, das, wie sie sagt, "ausgelatschte" Bild von den armen Schwarzen in Afrika zu ergänzen. TAKE 28 (MUSIK/ATMO 13: HOTELZIMMER) TAKE 29 (O-TON HASSIM) "I´m Shafinaaz Hassim, a local writer and sociologist." ERZÄHLERIN Shafinaaz Hassim, Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. TAKE 30 (O-TON HASSIM) I consider myself... to be written. ÜBERSETZERIN "Ich betrachte mich als Vertreterin der ‚public sociology', der politischen Soziologie. Ich forsche vor allem zu Fragen, die Frauen betreffen, und zu traditionellen Gemeinschaften. Wir haben im demokratischen Südafrika so viele traditionelle Gemeinschaften, darüber gibt es wundervolles Datenmaterial und eine Menge Geschichten, die man aufschreiben kann." ERZÄHLERIN Shafinaaz Hassim hat nicht viel Zeit. Nach dem Interview bei uns im Guesthouse muss sie zu einer Diskussionsrunde. Shafinaaz Hassim, so scheint es, denkt immer an ihre Arbeit. TAKE 31 (O-TON HASSIM) Conversations... data for me. ÜBERSETZERIN "Ich führe ständig Gespräche, auf Geburtstagsparties und bei Hochzeiten, das ist alles Material für mich." ERZÄHLERIN Gleich mit ihrer ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung erregte Hassim Aufsehen: In "Daughters are Diamonds", "Töchter sind Diamanten", untersucht sie die Situation von Frauen in ihrer eigenen, der indisch-muslimischen Gemeinschaft. Der Titel greift eine Redewendung indisch-muslimischer Traditionalisten auf, mit der sie rechtfertigen, dass junge Frauen sich kaum außerhalb ihrer Familie bewegen dürfen. <> TAKE 28 (MUSIK/ATMO 13: HOTELZIMMER) ERZÄHLERIN Irgendwann wollte Shafinaaz Hassim ihre Forschungen nicht mehr nur einer Fachöffentlichkeit präsentieren. TAKE 33 (O-TON HASSIM) I think that fiction....library shelf. ÜBERSETZERIN "Literatur ist ein sehr, sehr machtvolles Mittel, um ein größeres Publikum anzusprechen. Mit Literatur kann man ausdrücken: Das sind unsere Geschichten! Die stehen nicht nur im Bücherregal ERZÄHLERIN Wer wissenschaftlich präzise formuliert, kann nicht unbedingt Romane schreiben. Doch die Soziologin ließ sich nicht abschrecken und schrieb "SoPhia". Darin spürt sie dem für Außenstehende so schwer zu begreifenden Verhalten von Frauen nach, die sich nicht von ihrem schlagenden Ehemann trennen. Die die Schuld für die Gewalt bei sich selber suchen und alles tun, um den Schein einer "erfolgreichen" Ehe aufrecht zu erhalten. TAKE 34 (MUSIK/ATMO 15) ZITATORIN "'Akram, das Abendbrot ist fertig.' 'Ich habe keinen Hunger', sagte er. 'Es tut mir Leid. Ich habe dein Auto gehört und gedacht, dass ich das Essen schnell wärme und ...' 'Ich hab´ gesagt, ich habe keinen Hunger.' Sie hätte nicht sagen sollen, dass sie Angst hatte. Sie hätte besser sagen sollen, sie sei 'erschrocken'. Und sie hätte dabei lächeln sollen, um die Wirkung abzumildern. Er musste müde sein nach seinem langen Arbeitstag. ... 'Tut mir Leid. Du musst müde sein, und wahrscheinlich hast du nichts gegessen seit dem Kaffee heute morgen.' Er drehte sich um und sah sie an. 'Zarreen, was soll das? Ich hab' gesagt, ich bin nicht hungrig.' Er näherte sich ihr. Sie ging auf den Tisch zu, um die Schüssel mit dem Curry abzustellen. Er erreichte sie in dem Moment, als sie die Reisschüssel auf der Tischplatte absetzen wollte." ERZÄHLERIN Akram schlägt seiner Frau die Schüssel aus der Hand. Dieses Mal schlägt er sie nicht. ZITATORIN "Sie fühlte sich wie ein Schaf von Wolfes Gnaden." TAKE 28 (MUSIK/ATMO 13: HOTELZIMMER) ERZÄHLERIN Gegen Ende des Romans bindet Shafinaaz Hassim Zarreens traditioneller Herkunftsfamilie mit dem weisen, gütigen Vater und der treu sorgenden Mutter allzu viele rosarote Schleifchen. Aber die Reaktionen auf das ansonsten kraftvolle Romandebüt ermutigte Hassim, weiter zu schreiben. Kürzlich wurde sie eingeladen, eine Geschichte für "Africa 39" des Londoner Hay Festivals beizusteuern. In der Anthologie sind 39 Autorinnen und Autoren unter 40 Jahren aus Subsahara-Afrika vertreten. Hassims Beitrag "The Pink Oysters", Die rosafarbenen Austern, spielt im Johannesburg der somalischen Kleinkriminellen und afghanischen Philosophieabsolventen. Die Kurzgeschichte wurde hoch gelobt. Shafinaaz Hassim, die Soziologin, hat offenbar mehr als gute Forschungsarbeit geleistet: TAKE 35 (O-TON HASSIM) It was taken... in South Africa. ÜBERSETZERIN "Es wurde als Krimigeschichte wahrgenommen. Dabei ist es eine wahre Geschichte aus der südafrikanischen Diamantenindustrie." TAKE 36 (MUSIK/ATMO 16) - ERZÄHLERIN Von "SoPhia" hatten wir durch James Muruas Literatur-Blog erfahren. Der kenianische Journalist lebt in Nairobi und schreibt auch für Zeitungen. Den Blog betreibt er seit 2013. Auf diesem Wege gelangen Neuigkeiten aus Afrikas Literaturszene schnell in die ganze Welt. Bei "Exclusive Books", der Johannesburger Buchhandlung mit dem gut sortierten Regal afrikanischer Literatur, stand "SoPhia" nicht. Aber es gab eine Alternative. TAKE 37 (MUSIK/ATMO 17: BOOKDEALER, INNEN) UNTERLEGEN BIS ENDE TAKE 40 TAKE 38 (O-TON LOKETZ) We´re standing in.... squished in here. ÜBERSETZER "Wir sind hier in meinem Buchgeschäft an der 7th Street in Melville. Es ist ein kleiner Laden von ungefähr 60 Quadratmetern. Hier sind zwölf- oder dreizehntausend Bücher reingequetscht." ERZÄHLERIN Doron Loketz' Buchladen liegt an der Ausgehmeile des Johannesburger Stadtteils Melville, einem grünen Wohnviertel nicht weit vom Zentrum. Gute Restaurants, einladende Cafés und laute Bars, allesamt in bescheidenen ein- und zweistöckigen Häusern untergebracht, locken Gäste auch aus anderen Stadtteilen. Die Ladentür steht bis 22 Uhr offen, und ständig schauen Leute herein. Doron Loketz´ Angebot reicht vom Bildband über Südafrikas Tierwelt bis zu antiquarischen Liebhaberstücken. Vor allem aber scheut Doron, der sich - wie in Südafrika üblich - nur mit Vornamen vorstellt, keine Mühe, um ein Buch zu beschaffen. Er recherchiert und telefoniert, und ein paar Tage später habe ich ein gedrucktes Exemplar von "SoPhia" in der Hand. E-Books und das Internet machen dem freundlichen Buchhändler allerdings das Leben schwer. TAKE 39 (O-TON LOKETZ) Previously... find copies. ÜBERSETZER "Früher hatten wir Kunden, die suchten zum Beispiel Nathaniel Isaacs, und ich sagte dann: Ich hab sein Buch ein oder zwei Jahre lang nicht gesehen, aber geben Sie mir Ihren Namen, und wenn ein Exemplar reinkommt, rufe ich Sie an. Der Kunde hat gezahlt, was wir verlangten, er war glücklich, wir haben unseren Gewinn gemacht und konnten dem Verkäufer einen korrekten Preis bezahlen - alle waren zufrieden. Jetzt kommt der Kunde, fragt nach einem Buch und ich sage: Ich habe es ein Jahr lang nicht gesehen, aber soll ich mir Ihren Namen aufschreiben? Nein, Doron, sagt er dann, mach dir keine Mühe, ich guck selber im Internet und finde ein Exemplar." TAKE 41 (MUSIK/ATMO 18) - ZITATORIN "Als ich den Klassenraum verlasse, erinnert mich (mein Biologielehrer) Ngwarele daran, dass er mir noch etwas sagen wollte. Er hat schon lange darauf gewartet, mir dieses "etwas" mitzuteilen. Ich täusche ein Lächeln vor ... ‚Ich komme später', sage ich." ERZÄHLERIN Aus "Untitled", "Ohne Titel", von Kgebetli Moele. ZITATORIN "'Aber ich werde auch später nicht kommen, werde niemals kommen, auf keinen Fall, weil ich genau weiß, was er mir sagen will... Manchmal versuche ich zu verstehen, wie ein Mann, der zwei Jahrzehnte älter ist als ich, ein Kind wie mich ansehen und dabei an Sex mit diesem Kind denken kann... Aber egal wie sehr ich mich anstrenge, es gelingt mir nicht.'" ERZÄHLERIN In "Untitled" erzählt die 17jährige Mokgethi ihre Geschichte sexueller Belagerung durch Männer aus ihrem Umfeld: Gleichaltrige Jungs aus dem Township, Männer aus der Nachbarschaft, und Lehrer bedrängen sie. Die Geschichte endet in offener Gewalt. TAKE 23 (MUSIK/ATMO 11: KENNUNG "GEWALT") SPRECHER Gewalt gehört zum südafrikanischen Alltag. Nach dem offiziellen Ende der Rassentrennung rollte eine Einbruchswelle durch wohlhabendere Wohngebiete, die Einbrecher stehlen und zerstören immer noch. Wer ihnen in die Quere kommt, wird umstandslos vergewaltigt und getötet. Auf abgelegenen Höfen wurden früher schwarze Arbeiter und Hausangestellte misshandelt und getötet, heute sterben auch weiße Farmer und deren Familienangehörige gewaltsam. Umstritten ist, ob die Gewalttaten gegen Weiße rassistisch motiviert sind oder ob die Täter allein aus Gier töten. Und: Männer verüben zahllose Gewalttaten gegen Frauen. Gegen ihre Ehefrauen und Lebensgefährtinnen. Gegen arme Frauen und Mädchen, deren Hüttentüren sie eintreten, um sie zu vergewaltigen. Gegen Schülerinnen, deren Lehrer sie sind. ERZÄHLERIN Mokgethis Mutter ist früh gestorben, die Rolle des Vaters bei ihrem Tod bleibt unklar. Mokgethi und ihr jüngerer Bruder wachsen bei Verwandten auf, im Township der Kleinstadt Shatale, in der Nähe des Krüger Nationalparks. Von den Verwandten erhalten beide kaum Liebe und Unterstützung. Mokgethi geht gerne zur Schule. Sie will keinen Sex, sie will lernen. Denn Bildung, hofft sie, werde ihr helfen, aus der bedrückenden Umgebung hinaus zu kommen. Die Männer, die Mokgethi bedrängen, wollen ihr "Nein" nicht akzeptieren. TAKE 42 (MUSIK/ATMO 19: TERRASSE LUCKY BEAN GUESTHOUSE) UNTERLEGEN BIS ENDE TAKE 47 TAKE 43 (O-TON MOELE) "Even though the book is characterized as fiction it´s a true story." ERZÄHLERIN Sein Roman "Untitled", sagt Kgebetli Moele, erzähle eine wahre Geschichte. TAKE 44 (O-TON MOELE) It´s based... call it fiction. ÜBERSETZER "Sie spielt in meinem Township. Alle männlichen Figuren kann man wiedererkennen. Bei allem, was passiert, kann ich genau sagen: Der hat dies getan, der hat das getan. Aber weil das nicht erlaubt ist, nennen wir es Literatur." ERZÄHLERIN Kgebetli Moele schrieb "Untitled" Mitte der 1990er Jahre. Damals ging er noch zur Schule, war kaum älter als seine Romanheldin. Der Autor erzählt Mokgethis Geschichte mit Feingefühl und beschreibt recht treffsicher die jungen Frauen. TAKE 45 (O-TON MOELE) When I walk... listening. <> ÜBERSETZER "Wenn ich im Township unterwegs war und hinter ein paar Mädels her ging, hörte ich einfach zu, ganz ruhig, worüber sie reden, wie sie reden, wie sie reagieren, was sie tun. Ich wollte ihnen keine Fragen stellen, ich wollte sie sprechen hören. Ich habe zum Beispiel so getan, als würde ich auf dem Handy spielen - ich war nahe genug dran, aber sie sollten nicht den Eindruck bekommen, dass ich da bin und zuhöre. <> ERZÄHLERIN Die von Männern sexuell bedrängten jungen Frauen und Mädchen finden keine Unterstützung. Nicht in ihren Familien, nicht bei der Polizei. Nicht, wenn sie vergewaltigt werden, nicht, wenn sie schwanger geworden sind. Der Roman endet in offener Gewalt. Ein junger Mann aus Mokgethis Nachbarschaft, der sie schon länger verfolgt, nimmt sie in seinem Auto mit in seine Wohnung. Sie ist wie gelähmt, dann wehrt sie sich - ohne Erfolg. Er vergewaltigt Mokgethi. TAKE 46 (MUSIK/ATMO 20: ATMO-AKZENT TERRASSE FÜR ZÄSUR) ERZÄHLERIN Kgebetli Moele ist gerade zu Besuch in Johannesburg. Vor Jahren hat er einmal in der Metropole gelebt. Unter der Apartheid durften nur Weiße in der Stadt wohnen. In den Innenstadtquartieren Hillbrow und Yeoville konnten sie sogar unbehelligt von der rigiden Polizei offen homosexuell leben. Nach dem Ende der Rassentrennung zogen Nichtweiße in großer Zahl ins Stadtzentrum, in überfüllte Wohnungen und besetzte Häuser. Sie kamen aus den Townships, vom Land, aus dem afrikanischen Ausland. Für sie bedeutete Johannesburg Aufbruch, Abenteuer. Trotz der Gewalt, die sich ausbreitete. Unter den Neuankömmlingen war Kgebetli Moele. TAKE 47 (MUSIK/ATMO 21) - ERZÄHLERIN Er kam gleich nach seinem Abitur. Voller Pläne. Er wollte zur Uni. Er wollte schreiben. TAKE 48 (O-TON MOELE) And the city was shining... Room 207. ÜBERSETZER "Und die Stadt glänzte. Und dann plötzlich ist die Realität, die du vorfindest, nicht das, was du erwartet hast. Du fängst an zu kämpfen, du bekommst einen Job, du machst den Job, aber die Dinge entwickeln sich nicht richtig. Mit all dieser Enttäuschung und Verwirrung, mit diesen gescheiterten Träumen verlasse ich eines Freitagnachmittags mein Apartment und will meine Freundin besuchen. Aber sie hatte offenbar genug von diesem armseligen Mann und ging weg. Da bin ich zurück in mein Apartment, enttäuscht, ohne Geld, und habe gedacht: Ich spiele eine Runde, vielleicht hilft das. Aber es funktionierte nicht. Dann habe ich ein Word-Dokument geöffnet, und dann kamen die Worte - daraus wurde `Room 207´." ERZÄHLERIN Bis zum nächsten Morgen, erzählt Kgebetli Moele, war die Erstfassung größtenteils fertig. In Zimmer 207 leben sechs junge Männer. Auf engstem Raum müssen sie sich miteinander arrangieren. Und mit den Niederlagen fertig werden, die ihnen die Stadt beibringt. Sie bekommen Besuch von ihren Freundinnen, sie ziehen gemeinsam los und feiern. Letztlich scheitern sie alle in eGoli, der Stadt des Goldes - wie Johannesburg in der Sprache der Zulu heißt. Als das Buch des bis dahin völlig unbekannten Autors erscheint, wird es begeistert aufgenommen - als ein Roman, der Lebensgefühl und Realität junger Schwarzer in Johannesburg, genauer: junger schwarzer Männer auf den Punkt bringt. ERZÄHLERIN Es dauerte allerdings lange, bis der junge Schriftsteller einen Verlag für "Room 207" gefunden hatte. Zwei weitere Manuskripte lagen noch in seiner Schublade und erscheinen in den folgenden Jahren: "The Book of the Dead", "Das Buch der Toten", die erschreckende Geschichte eines jungen Mannes, der vielfach ungeschützten Sex hat, obwohl er weiß, dass er mit HIV infiziert ist. Und "Untitled", "Ohne Titel". Der Roman wurde nicht nur begeistert aufgenommen: Er falle hinter "Room 207" zurück. Das überrascht nicht, denn in der Tat ist das Buch älter und wurde von einem damals sehr jungen Mann geschrieben. Alle drei Romane sind stark von Kgebetli Moeles eigenen Erfahrungen geprägt. Es scheint, als ob die Bücher förmlich aus ihm herausbrechen. TAKE 49 (MUSIK/ATMO 22: KENNUNG "SPRACHE") - EINSETZEN BIS ENDE TAKE 51 ERZÄHLERIN Dass einer der beiden Liebhaber von Mokgethis Großmutter in "Untitled" Afrikaans spricht und nicht übersetzt wird, findet der Autor ganz selbstverständlich. "So redet er nun mal", sagt Moele. Als er den Roman schrieb, wenige Jahre nach dem Ende der Apartheid, war Afrikaans als "die Sprache der weißen Unterdrücker" verpönt - obwohl die Burensprache auch für manche Nichtweiße Muttersprache ist. MUSIK KURZ HOCH ERZÄHLERIN Eine andere Sprache des vielsprachigen Südafrika spielte bei Kgebetli Moeles Weg zur Literatur eine wichtige Rolle. TAKE 50 (O-TON MOELE) There is ... dances with you. ÜBERSETZER "Es gibt ein afrikanisches Buch, das D.H. Bopape in der Sprache des Nördlichen Sotho geschrieben hat. Es wurde als Abiturlektüre empfohlen. Mein Bruder war damals in der zwölften Klasse, er hat es gelesen und auf dem Tisch liegen gelassen. Ich war in der siebten Klasse, mir war langweilig, und ich habe mir das Buch genommen. Seitdem, seit 1989, habe ich es ein Dutzend Mal mit großem Vergnügen gelesen. Die Art, wie Bopape die Sprache benutzt, lässt sie von den Buchseiten aufstehen, sie greift dich an, sie tanzt mit dir." SPRECHER Die Sprache des Nördlichen Sotho wird von einer recht kleinen Gruppe gesprochen. Aber weil der Apartheidstaat nach dem Prinzip "Teile und Herrsche" regierte, sortierte er die Menschen nicht nur nach Hautfarbe, sondern in der Kategorie der sogenannten "Schwarzen" auch noch nach Sprachgruppen. Das Ziel war, die überwältigende Mehrheit aufzusplittern und gegeneinander auszuspielen, so dass sie der weißen Minderheit nicht als homogener Block gegenüber treten würde. Um sein Ziel zu erreichen, sorgte der Apartheidstaat dafür, dass selbst kleine Sprachen Radiosendungen und Bücher erhielten. ERZÄHLERIN Die Sprachenpolitik des Apartheidstaates führte unabsichtlich dazu, dass Kgebetli Moele die Kraft der Literatur entdeckte. SPRECHER Heute gibt es in Südafrika elf offizielle Landessprachen. Dabei macht sich die Regierungspartei ANC für den Vorrang des Englischen stark. Es ist eine bittere Ironie, dass einige weitere Sprachen, die nur von kleinen Bevölkerungsgruppen gesprochen werden, unter der Apartheid gefördert wurden - und es nun im demokratischen Südafrika schwer haben. TAKE 51 (O-TON MOELE) With the democracy... unofficially. ÜBERSETZER "Mit der Demokratie wurden unsere Sprachen abgeschafft. Nicht offiziell, sondern inoffiziell." TAKE 42 (MUSIK/ATMO 19: TERRASSE LUCKY BEAN GUESTHOUSE) ERZÄHLERIN Kgebetli Moele sitzt auf unserer Terrasse, der Mittdreißiger wirkt erschöpft. Er hat mehrere Manuskripte in der Schublade, aber eine Veröffentlichung ist nicht in Sicht. Und er muss Geld verdienen. Denn Stipendien oder Lehraufträge sind viel rarer als etwa in Deutschland. TAKE 52 (O-TON MOELE) I got a job...dead writer. ÜBERSETZER "Ich hatte einen Job und habe unentwegt gearbeitet. Dann war ich wieder unglücklich, ich habe Gewicht verloren. Ich wollte schreiben. Ich ließ den Job also sausen, habe wieder geschrieben, ich verdiente etwas Geld und dachte: Ich kauf´ ein Taxi. Ich hatte also ein Taxi - aber das klappte nicht. Jetzt bin ich wohl ein toter Schriftsteller." TAKE 53 (MUSIK/ATMO 23: WUSSOW AUßEN) ERZÄHLERIN Zehn Gehminuten von unserer Unterkunft in Melville entfernt wohnt Indra Wussow, wenn sie in Johannesburg ist - in einem schönen Haus mit viel Kunst an den Wänden: Wussow ist Mäzenin, Gründerin der Sylt Foundation, die Stipendien mit Aufenthalt auf Sylt oder in Johannesburg an Kunstschaffende vergibt, und Herausgeberin einer Reihe afrikanischer Literatur im Wunderhorn Verlag. Heute Abend hat sie einige Künstlerinnen und Künstler zum Braai eingeladen, dem südafrikanischen Nationalgericht, bei dem man jede Menge Fleisch und Würste auf den Grill legt. Viele Bücher in Indra Wussows Afrika-Reihe stammen aus der Republik am Kap. TAKE 54 (O-TON WUSSOW) "Südafrikanische Literatur ist wahrscheinlich deswegen so extrem vertreten bei uns, weil sie ein unglaublich hohes Niveau hat und sehr viele interessante Geschichten erzählt. Und die südafrikanischen Verlage viel präsenter und Bücher einfach besser zugänglich sind." ERZÄHLERIN Trotz Qualität und großer Vielfalt - die Verbreitung der Werke sei mangelhaft, beklagt Indra Wussow. Auch wenn manches der verkauften Exemplare durch viele Hände geht. Die Literaturfreundin freut sich über zusätzliche Verbreitungswege: TAKE 55 (O-TON WUSSOW) "Es gibt zum Beispiel das Goetheinstitut hier, das versucht, `Mobile Literature´ mehr und mehr in den Fokus zu stellen. Dass man Literatur auf Mobiltelefonen, die hier jeder hat, zur Verfügung stellt und das auf einem hohen literarischen Niveau. Die `Mobile Literature´ wird etwas sein, was möglicherweise im Moment noch marginalisierten Literaturen die Möglichkeit gibt, auch in ihren eigenen Sprachen veröffentlicht zu werden." TAKE 56 (MUSIK/ATMO 24: ATMO TROYEVILLE HOTEL) UNTERLEGEN BIS ENDE TAKE 59 ERZÄHLERIN Ein ausgezeichneter Kenner der südafrikanischen Literaturszene ist Ivan Vladislavic. Der Endfünfziger hat sein Geld viele Jahre als Herausgeber und Lektor südafrikanischer Belletristik und von Büchern über Architektur und Kunst verdient. Für das gemeinsame Mittagessen hat Ivan Vladislavic das Troyeville Hotel vorgeschlagen. Er kennt sich aus im Johannesburger Stadtteil Troyeville, bis vor wenigen Jahren hat er hier gewohnt. Das Hotel ist ein etwas altbackenes Haus, bekannt für seinen guten Fisch. Für das Interview ziehen wir um in den Veranstaltungssaal, vor ein Wandgemälde mit grell lachsfarbenen Flamingos. Auf das offizielle Ende der Apartheid im Jahr 1994 reagierte die südafrikanische Literatur zunächst kaum. TAKE 57 (O-TON VLADISLAVIC) In the Apartheid years ... politics of race. ÜBERSETZER "Unter der Apartheid und auch zuvor war die Literatur sehr realistisch orientiert. Es gibt eine starke realistische Tradition, die auch daher rührt, dass wir unsere Vorbilder größtenteils in der britischen Literatur finden. Es gab außerdem einen starken Druck auf die Autoren, auf die sozialen und politischen Umstände zu reagieren. Das war besonders ausgeprägt während der Apartheid, als wir eine sehr politisierte Literatur entwickelt haben. Eine Literatur, die sich selbst klein gemacht hat, weil sie einen engen Fokus auf politische Fragen richtete, und speziell auf die Rassenpolitik." ERZÄHLERIN Ivan Vladislavics Muttersprache ist Englisch. Aber mit den Freunden in Pretoria, wo er aufwuchs, sprach er oft Afrikaans. An der Johannesburger Wits Universität schrieb er sich für Afrikaanse Literatur ein. Obwohl damals die Hochzeit der Apartheid war und ihre härtesten Verfechter afrikaanssprachige Weiße waren. Aber im afrikaansen Studiengang standen moderne Werke auf dem Lehrplan. Im Department für Englische Literatur hätte sich Ivan Vladislavic dagegen vor allem mit Shakespeare und Co. beschäftigen müssen. TAKE 58 (O-TON VLADISLAVIC) It´s true... ordinary people. ÜBERSETZER "Es stimmt, Afrikaans war die Sprache der Unterdrücker. Aber auch in jenen Jahren war es außerdem die Sprache vieler Unterdrückter. Afrikaans als Sprache der Unterdrücker zu bezeichnen, war politisch motiviert. Afrikaans entwickelte sich aus der Sprache, die Einwanderer und Sklaven mitbrachten. Die Sprache war also immer größer als das Unterdrückungssystem, dem sie dienen musste. Sie war und ist widerstandsfähig. Es gab außerordentliche Autoren, die Afrikaans gegen das System benutzten. Und natürlich war es die Sprache vieler einfacher Leute." ERZÄHLERIN Heute ist Afrikaans eine der elf offiziellen Landessprachen. In Buchhandlungen stehen Bücher auf Afrikaans, auch neue Romane. Aber wer jenseits der Landesgrenzen Erfolg haben will, schreibt nicht auf Afrikaans, und erst recht nicht auf isiZulu oder Northern Sotho - sondern auf Englisch. Langsam erweitert sich auch das Themenspektrum der südafrikanischen Belletristik. Es brauchte ein Jahrzehnt, bis das Leben in den Townships und die "Black Diamonds" genannten neuen Wohlhabenden des Landes - die "Schwarzen Diamanten" - zum Thema literarischer Werke wurden. Jetzt erkennt Ivan Vladislavic Bewegung: TAKE 59 (O-TON VLADISLAVIC) The sort of shackles... more experimental. ÜBERSETZER "Nach dem Ende der Apartheid haben sich die Fesseln gelöst. Schriftsteller werden experimentierfreudiger." TAKE 60 (MUSIK/ATMO 25) - ERZÄHLERIN Südafrikanische Autorinnen und Autoren entdecken neue Themen. So wie Niq Mhlongo, in dessen jüngstem Roman "Way Back Home" erstmals Übersinnliches und mystische Traditionen eine Rolle spielen. Henrietta Rose-Innes hat sich dagegen noch nie besonders um Themen wie Rasse, politischer Kampf oder Geschlecht gekümmert. Die Mittvierzigerin ist eine Meisterin des subtilen Grauens. Schon vor Jahren hat sie erzählt, dass es sie reizt, ihre Geschichten an Zwischenorten anzusiedeln: TAKE 61 (O-TON ROSE-INNES) The places are ... dangerous spaces. ÜBERSETZERIN "Das sind Orte am Übergang zwischen Stadt und der Wildnis, die die Stadt umgibt. Es sind unsichere Orte, schwer einzuordnen. Meine Figuren geraten oft zufällig an solche Orte. Man weiß nicht, ob sie sicher sind oder gefährlich werden können." ERZÄHLERIN Ein solcher Ort ist in Henrietta Rose-Innes´ jüngstem Roman "Green Lion", "Grüner Löwe", ein fiktiver Zoo am Hang des Tafelberges. Unten liegt die Stadt, oben, hinter einem Zaun, die Wildnis. Im Zoo ein Löwenpaar, schwarzmähnig, das letzte seiner Art weltweit. Der Löwe greift einen Wärter an, verletzt ihn schwer und wird getötet. Con, ein Freund des Wärters aus Kindertagen, soll auf Bitten der Mutter die Sachen des Verletzten aus dem Zoo abholen. Bald übernimmt er den Job als Wärter der Löwin und gerät allmählich in den Bann des Raubtiers. Henrietta Rose-Innes´ unheimlicher Roman erzählt vom naiven Verhältnis moderner Stadtbewohner zur Wildnis - die in Südafrika ein wenig präsenter ist als in Mitteleuropa. Als die Löwin eines Tages aus dem Käfig verschwindet, eskaliert die bedrohliche Situation. Con begibt sich auf der Suche nach dem Raubtier in die Tafelberg-Wildnis, dorthin, wo er in seiner Jugend einmal Schreckliches erlebt hat. ZITATORIN "Con lag auf dem Rücken, ihm brannten die Füße und sein Gesicht lag auf Eis. Der Wind schnitt durch seine ruinierte Kleidung - seine Geiger-Hose und das Hemd - und in sein Fleisch. Er schien am Rande einer Gletscherspalte zu liegen. Der nächtliche Berg verströmte hier oben seine ganz eigene Dunkelheit; als würfe er einen Schatten in den Himmel und verberge sich vor den Blicken der Stadt, versteckte sogar das Firmament." TAKE 62 (O-TON ROSE-INNES) I think I´m drawn... explosion. ÜBERSETZERIN "Ich fühle mich angezogen von der Atmosphäre der Verstörung, der Bedrohung und der Spannung unmittelbar vor einer Explosion." TAKE 63 (MUSIK/ATMO 26: ATMO AUF HÖHENRÜCKEN) ERZÄHLERIN Ivan Vladislavic ist mit uns auf einen Hügel in Johannesburg gefahren. Vladislavic ist nicht nur ein Kenner der südafrikanischen Literaturszene, sondern auch selber ein ausgezeichneter Schriftsteller. Ausgezeichnet im Wortsinn: Für seinen jüngsten Roman "Double Negative" erhielt er 2015 den mit 150.000 Dollar dotierten Windham-Campbell-Preis der US-amerikanischen Yale-Universität. Nun lässt er die Arbeit als Lektor ruhen, um sich ganz dem eigenen Schreiben zu widmen. "Double Negative" ist seit kurzem auch auf Deutsch zu lesen. TAKE 64 (O-TON VLADISLAVIC) We are on a koppie, yah, we are... as we call it. ÜBERSETZER "Wir sind hier auf einem Hügel, einem Koppie, der so ähnlich ist wie der Hügel des Langermann-Höhenrückens. Und da unten ist das Bez-Tal, wie wir es nennen." ERZÄHLERIN Vom Hügel des Langermann-Höhenrückens blickt Neville Lister, Ivan Vladislavics Hauptfigur in "Double Negative", ins Bez-Tal hinab. Der junge Mann, den alle Nev nennen, weiß nicht so recht, wie sein Leben weitergehen soll. Vor kurzem hat er sein Studium abgebrochen. Er opponiert gegen die Privilegien der Weißen - es ist das Südafrika der frühen 1980er Jahre, das Land der staatlich verordneten Rassentrennung. Saul Auerbach, ein bekannter Johannesburger Fotograf und Freund von Nevs Eltern, ist mit dem jungen Mann den Hügel hinauf gefahren. Er schlägt Nev ein gemeinsames Experiment vor, das sein Schöpfer Ivan Vladislavic so zusammenfasst: TAKE 65 (O-TON VLADISLAVIC) They go up there... random choice. ÜBERSETZER "Von dort oben wählen sie zufällig Häuser aus. Dann fahren sie hinunter ins Tal und klopfen bei den ausgewählten Häusern an, ob jemand da ist. Sie wollen herausfinden, ob der Fotograf ein gutes Bild machen kann angesichts der völlig zufälligen Auswahl." ERZÄHLERIN In einem der zufällig ausgewählten Häuser wohnt Mrs. Ditton, eine Weiße. Ihr Sohn, erfahren Nev, der Fotograf und der sie begleitende Journalist Gerald Brookes, war als Soldat gegen die ANC-Kämpfer im Einsatz. TAKE 66 (MUSIK/ATMO 27) ZITATOR "Mrs. Ditton trottete schwerfällig vor uns durch den Flur, schwankte bei jedem Schritt und streifte fast die Wände, wenn sie einen Schenkel am anderen vorbeischob. Wir folgten ihr in das Wohnzimmer. Das Zimmer war mit Kommoden und Vitrinen vollgestellt und machte trotz des Gerümpels einen eigenartig verschüchterten Eindruck. Wie das wenig benutzte Nebengebäude eines Museums..." "Ein Gegenstand stach aus der Düsternis hervor: ein niedriger Teetisch mit gesprungener Platte. ‚Ist die aus einem Lastwagen?', fragte Brookes ungläubig und schob eine Zinnurne auf einem Platzdeckchen beiseite. Jetzt sah ich auch, woraus der Tisch eigentlich bestand: aus einer Windschutzscheibe, an allen vier Ecken an Granatkartuschen geschweißt. ‚Einem Hippo', antwortete sie. Das Fleisch an ihren Armen zitterte vor Lachen. ‚Militärfahrzeug', erläuterte Auerbach. ‚Truppentransporter.' Nach einem kurzen Blick auf den Tisch wandte er sich wieder dem Aufstellen des Stativs zu. ‚Sie sind mit Jimmy über eine Landmine gefahren.' ‚Jimmy?' ‚Meinem Sohn.' (...) ‚Ist er ums Leben gekommen?' ‚Nein, Gott sei Dank. Ich sage immer zu ihm, Jimmy, Gott hat dir den Arsch gerettet.' ERZÄHLERIN Ivan Vladislavic ist ein präziser, feinsinniger Beobachter. Was er aus der Realität aufnimmt, spinnt er weiter, spitzt es zu und gibt ihm einen Dreh ins Bizarre. Auf diese Art betrachtet er seit über zwanzig Jahren vor allem seine Heimatstadt Johannesburg und fasst deren Absurditäten in Kurzgeschichten und Romane. In "Double Negative" begleitet Vladislavic seine Hauptfigur in politisch sehr unterschiedlichen Jahrzehnten. TAKE 67 (O-TON VLADISLAVIC) It´s very much.... through time. ÜBERSETZER "Das Buch zeigt Johannesburg zu drei verschiedenen Zeiten: zuerst auf dem Höhepunkt der Apartheid, dann während der Übergangsperiode in den 1990er Jahren und schließlich das heutige Johannesburg. Es sind also drei Querschnitte durch die Zeit." ERZÄHLERIN Der dritte Teil spielt in der Gegenwart. Neville Lister, inzwischen selber Fotograf, verfolgt ein von Zufällen abhängiges Projekt wie einst Saul Auerbach: Er fotografiert Menschen neben ihren Briefkästen. Dabei kommt er auch in Häuser von wohlhabenden Schwarzen - in eine der neuen Welten Südafrikas. (ATMO/MUSIK 2: MUSIK) - ERZÄHLERIN Bei "Exclusive Books" in der Johannesburger Rosebank Mall hat die Buchhändlerin einen Moment Zeit, an der Kasse hat sich die Schlange aufgelöst. Afrikanische, vor allem südafrikanische Literatur verkaufe sich recht gut, erzählt sie. Das Land entwickelt sich rasant. Es verändert sich, und mit ihm ändern sich Themen und Erzählweisen. Den Schriftstellern der neuen südafrikanischen Welten - Ivan Vladislavic, Nozizwe Cynthia Jele, Niq Mhlongo, Angela Makholwa, Shafinaaz Hassim und Kgebetli Moele - wird der Stoff nicht ausgehen. 2 1