Deutschlandradio Kultur KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: Literatur Titel der Sendung: "Das Heilige und der Humor" Raffaels Sixtinische Madonna im Spiegel der Literatur Autor: Edelgard Abenstein Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 22.05.2012, 19.30 Uhr Regie: Stefanie Lazai Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Edelgard Abenstein Das Heilige und der Humor Raffaels "Sixtina" im Spiegel der Literatur Sprecherin, Sprecher, Ansager, O-Töne Musik, (frei, dann im Folg. unterlegen, dazwischen jeweils hochziehen) O-Ton 1 (Gatza) Ich glaube, dass ein Schriftsteller sich für alle Künste interessieren sollte, ich glaube auch, dass er sich auch für Wissenschaften interessieren sollte. Malerei kann dann eine Passion sein, wie es bei mir der Fall ist, weil, die Malerei ist immer fortschrittlicher als die Literatur. Malerei kann spannende Impulse für die Literatur geben. Ansager Mathias Gatza, Schriftsteller, 2012 Sprecher "Und mein größtes malerisches Erlebnis ist noch immer die Sixtinische Madonna in Dresden, während ich vor unserer neuesten Malerei stehe wie der Ochs vor dem neuen Tor." Ansager Thomas Mann, 1913 Sprecherin Neben der Mona Lisa ist sie das berühmteste Bild der Welt. Auf Kalendern, Postkarten, Kaffeetassen, Geschenkpapier wird sie bis heute myriadenfach reproduziert. In diesem Jahr feiert das Original seinen 500. Geburtstag. O-Ton 2 (Feyl) Es gibt Bilder, die wirken wie ein Evangelium, und ein solches ist die Sixtinische Madonna. Ansager Renate Feyl, Schriftstellerin, 2012 O-Ton 3 (Maaz) Dieses Bild ist ein Musterbeispiel dafür, wie in der Romantik das Museum zum Religionsersatz wird. Die Museumskirche, das ist der eigentliche Gedanke, und da war Raffael natürlich auf dem Hochaltar der ästhetischen Religion. Ansager Bernhard Maaz, Direktor der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister, 2012 Sprecher "Hat denn Raffael was anders, was mehr gemalt, als eine liebende Mutter mit ihrem Ersten, Einzigen? Und war aus dem Sujet etwas anders zu malen? Und ist Mutterliebe in ihren Abschattungen nicht eine ehrgeizige Quelle für Dichter und Maler aller Zeiten?" Ansager Johann Wolfgang von Goethe, 1776 Sprecher "Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne ,Glauben' auch haben dürfen...die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt." Ansager Friedrich Nietzsche, 1880 O-Ton 4 (Osterkamp) Ich habe das Gefühl, wenn ich in den Sog des Humors bei diesem tiefernsten Bild gezogen werde, dann verfehle ich das Eigentliche. Da wir nicht mehr gelernt haben oder nicht mehr in der Lage sind, vom Ernst einer religiösen Erlösungsbotschaft uns tragen zu lassen, werden uns dort diese Engel auf einmal wichtiger. Ich meine nur, dass es letztlich eine Trivialisierung der Wahrnehmung ist. Mag aber eine protestantische Perspektive sein. Ansager Ernst Osterkamp, Professor für Germanistik, 2012 Sprecher "...ein äußerst ausgefallenes und einzigartiges Werk." Ansager Giorgio Vasari, 1568 Sprecher "Es gibt kein Bild, kein Kunstwerk überhaupt, das so volkstümlich wäre und so allgemein beliebt...In allen Schaufenstern liegt sie aus. In ganz Europa, ganz Amerika. ..Für Zahllose ist es das einzige Bild, das sie bewusst kennen. Viele...haben diese junge Mutter betrachtet mit der geheimen Sehnsucht, so zu werden wie sie...." Ansager Theodor Lessing, 1908 Musik, kurz hoch, frei. Ansager Die Sixtinische Madonna - eine beispiellose Karriere Sprecherin Raffael malte das Bild im Jahre 1512 im Auftrag von Papst Julius II. für die neu errichtete Kirche San Sisto in Piacenza. Dort hing die Darstellung der Madonna mit ihrem Kind - flankiert von zwei Heiligenfiguren, Sixtus und Barbara sowie den Putten zu ihren Füßen - nahezu unbeachtet über 200 Jahre. Doch der kunstsinnige sächsische Kurfürst August III. erwarb sie 1753, um mit dem "göttlichen" Raffael die königliche Gemäldegalerie aufzuwerten. Ihren Siegeszug in Köpfe und Herzen verdankt sie, einmalig in der Kunstgeschichte, dem propagandistischen Einsatz einer ganzen Phalanx von deutschen Dichtern und Philosophen. Allen voran Joachim Johann Winckelmann. Sprecher "Sehet die Madonna mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Größe, in einer seelig-ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen. Wie groß und edel ist ihre Kontur! Das Kind auf ihrem Arm ist ein Kind über gemeine Kinder erhaben, durch ein Gesicht, aus welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit hervorzuleuchten scheint." Sprecherin Bei Winckelmann herrscht das Übermenschliche. Die Putti am unteren Bildrand erwähnt er mit keinem Wort. Ihr schalkhafter Gesichtsausdruck stört ihn offenbar. Überhaupt sind Kinderdarstellungen bei ihm ästhetisch verpönt, da sich nur im reifen Menschen das zeitlos Göttliche zeige. Lediglich der Jesusknabe macht eine Ausnahme, weil durch die kindliche Unschuldsmiene seine Göttlichkeit hindurch scheine. Doch Winckelmann hatte einen Nerv getroffen. Sprecher "Ihm haben wir den verklärten Blick zu verdanken und die beredte Empfindsamkeit, die reflexhaft einsetzt vor dieser Madonna." Sprecherin Meint der Dresdner Schriftsteller Durs Grünbein, der schon in seiner Schulzeit häufig zu den Alten Meistern pilgerte. O-Ton 5 (Osterkamp) Winckelmann nimmt die Sixtinische Madonna als Beispiel dafür, wie durch die Nachahmung der antiken Kunst die moderne Kunst selbst Unnachahmlichkeit erreichen kann. Sprecherin Ernst Osterkamp, Professor für Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität untersucht bevorzugt die Wechselbeziehung zwischen Literatur und bildender Kunst, ganz besonders in der Weimarer Klassik. Dort huldigte man Winckelmanns Programm vom Vorbild der Antike und seiner Formel von der "edlen Einfalt und stillen Größe", die er aus der Betrachtung der Sixtina abgeleitet hatte. Vor allem Goethe stand zeitlebens unter dessen Bann. Sprecher "Sehen Sie hier mit den größten Meisterzügen der Welt Kind und Gott und Mutter und Jungfrau zugleich in göttlicher Verklärung dargestellt. Das Bild allein ist eine Welt, eine ganze volle Künstlerwelt und müsste seinen Schöpfer, hätte er auch nichts als dies gemalt, allein unsterblich machen!" Musik, kurz frei, dann unterlegen Ansager: Die Kunst als Religion - ein deutsches Projekt Sprecherin Um 1800 vollzog sich eine Wende in den Künsten. Man entwarf Gegenwelten zum Nützlichkeitsdenken der neuen Zeit, der allumfassenden Herrschaft des Verstandes. In der Kunst, vor allem in der Poesie sah man nicht länger ein Erziehungsmittel, sondern den Vorschein einer idealen Welt. O-Ton 7 (Osterkamp) Dann vollzieht sich etwas wie eine antiklassizistische Neubegründung der Ästhetik, und dabei spielen die Schriftsteller eine ausschlaggebende Rolle, beginnend mit den berühmten "Herzensergießungen. eines kunstliebenden Klosterbruders" von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck. Was sich dort ereignet, ist die Umpolung der großen Raffaelverehrung, die's natürlich im 17./18.Jahrhundert in ganz Europa gegeben hat, im Sinne einer kunstreligiösen Neubegründung der Ästhetik. Raffael wird bei Wackenroder quasi zum irdischen Pinselhalter des lieben Gottes, d.h. der Künstler büßt seine eigenen Intentionen ein und wird gleichsam zum Medium eines göttlichen Auftrags. Sprecherin Die "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" sind kunsttheoretische Aufsätze und werden auch die "Urzelle der Romantik" genannt. In dem zentralen Text "Raffaels Erscheinung" wird der an seinem Madonnenbild arbeitende Maler geschildert. Erst dank einer Vision gelingt ihm die Vollendung. Sprecher "Einst, in der Nacht, da er, wie es ihm schon oft geschehen sei, im Traume zur Jungfrau gebetet habe, sei er, heftig bedrängt, auf einmal aus dem Schlafe aufgefahren. In der finsteren Nacht sei sein Auge von einem hellen Schein an der Wand, seinem Lager gegenüber, angezogen worden, und da er recht zugesehen, so sei er gewahr geworden, dass sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet, an der Wand gehangen, von dem mildesten Lichtstrahle, und ein ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sei. Die Göttlichkeit in diesem Bilde habe ihn so überwältigt, dass er in helle Tränen ausgebrochen sei. ...Was das wunderbarste gewesen, so sei es ihm vorgekommen, als wäre dies Bild nun grade das, was er immer gesucht, obwohl er immer nur eine dunkle und verwirrte Ahnung davon gehabt. ...Am andern Morgen sei er wie neugeboren aufgestanden; die Erscheinung sei seinem Gemüt und seinen Sinnen auf ewig fest eingeprägt geblieben, und nun sei es ihm gelungen, die Mutter Gottes immer so, wie sie seiner Seele vorgeschwebt habe, abzubilden." Musik Sprecherin Die Rationalität der Aufklärung und ihre Entzauberung der Welt rief die Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit wach. Alles sollte Traum sein, Symbol, Zeichen für etwas jenseits der banalen Realität. Das romantische Denken führte zu neuen sprachlichen Ausdrucksformen, die von Musik und Malerei, allem voran von der Sixtina, von Tönen und Farben inspiriert wurden. O-Ton 8 (Osterkamp) Das setzt sich fort 1799 mit den Brüdern Schlegel, die in ihrer großartig-hochmütigen Zeitschrift "Athenäum" ein Gespräch über Gemälde führen, das sich in Dresden vollzieht, an dem viele Ursprungsfiguren der Romantiker beteiligt sind. Dieses Gespräch über Gemäldevollzieht sich als eine große Annäherung an die Sixtinische Madonna, für die man eine eigene Sprache zu finden versucht. Sprecher "Wie soll man der Sprache mächtig werden, um das Höchste des Ausdruckes wiederzugeben? Das wirkt so unmittelbar, und geht gleich vom Auge in die Seele, man kommt nicht auf Worte dabei, man hat keine nötig, um zu erkennen, was in unzweifelhafter Klarheit dasteht, und gar nicht anders als es ist, genommen werden kann." Sprecherin Und doch sind Schlegels "Gespräche" der erste Versuch, eine Kunst, die man als göttlich empfindet, in Poesie zu verwandeln. Sprecher "Dir neigen Engel sich in tiefer Feier, Und Heil'ge beten, wo Dein Fußtritt wallt; Glorreiche Himmelskönigin! Dir hallt, die Gott besaitet hat, der Sphären Leier....." Musik Sprecherin Von nun an wird das Gemälde der Sixtinischen Madonna Kult, zunächst unter den Romantikern. Kaum einer, der nicht nach Dresden wallfahrtet. E.T.A Hoffmann, Ludwig Uhland, Theodor Körner, Sophie Mereau. Auch Hegel, Heine, Nietzsche, später Franz Grillparzer, Adalbert Stifter. Kaum einer unter den Denkern und Dichtern deutscher Zunge, den die Sixtina kalt ließ. Viele gießen ihre Empfindungen wie ein Gebet in Verse. Sprecher " Oft, wenn ich träumte, sah ich dich So schön, so herzensinniglich, Der kleine Gott auf deinen Armen Wollt des Gespielen sich erbarmen; Du aber hobst den hehren Blick Und gingst in tiefe Wolkenpracht zurück..." Sprecherin So Novalis in seinen "Geistlichen Liedern". Auch jenseits der Landesgrenzen fand das neue Kultbild, wie beim dänischen Lyriker Henrik Steffens, schwärmerische Aufnahme. Sprecher "Besonders wurde die Madonna als göttliche Frau mit aller Illusion der Dichtkunst verehrt, und nachdem Tieck, August Wilhelm Schlegel und Novalis ihr die poetische Weihe erteilt hatten, sah man alle jungen Dichter vor dem Altar der Madonna knien." Sprecherin Inzwischen war die Sixtinische Madonna so bekannt, dass dort, wo von "Raffaels Madonna" oder gar nur der "Madonna" als Gemälde die Rede war, die Sixtinische gemeint war. Man fühlte sich, wie Novalis 1797 in einem Brief an Caroline Schlegel, als gehörte man einer großen Glaubensgemeinschaft an. Sprecher "Die Madonna erhalte Sie gesund und beschütze unsere Freundschaft." Sprecherin: Noch 50 Jahre später huldigt Friedrich Hebbel der Sixtinischen Madonna als dem vollkommenen Inbild des Religiösen: Sprecher "Das hätt' ein Mensch gemacht? Wir sind betrogen! Das rührt nicht her von einer ird'schen Hand! Das ist entstanden, wie der Regenbogen, Und auch, wie er, ein göttlich Unterpfand !..." Sprecherin Ein paar Jahre später allerdings räumt Hebbel schon halb belustigt ein: Sprecher "Tränen lockt mir Dein Bild ins Auge, Du himmlischer Maler; aber ist das Dir auch recht? Weinende Augen können nicht sehn!" Musik Ansager Die Sixtina - eine Projektionsfläche O-Ton 9 (Osterkamp) Die Neubegründung der Bedeutung bildender Kunst aus dem Geiste der Religion konnte überhaupt kein Bild finden, das so sehr diesem Programm angemessen war wie die Sixtinische Madonna. Unangefochten bleibt das natürlich nicht. Gerade, weil dieses Bild von einer stupenden Spiritualität ist, konnten die Betrachter, die sich persönlich gemeint fühlen von dieser Vision, das Bild mit ihren eigenen Intentionen aufladen. Sprecherin Schopenhauer etwa in einem Gedicht, in dem er den Blick des Kindes direkt auf sich und seine pessimistische Philosophie bezieht. Sprecher " An die Sixtinische Madonna Sie trägt zur Welt ihn: und er schaut entsetzt In ihrer Greu'l chaotische Verwirrung, In ihres Tobens wilde Raserei, In ihres Treibens nie geheilte Torheit, In ihrer Qualen nie gestillten Schmerz - Entsetzt: doch strahlet Ruh' und Zuversicht Und Siegesglanz sein Aug', verkündigend Schon der Erlösung ewige Gewißheit." O-Ton 10 (Osterkamp) Sie haben das Gefühl, er erklärt sich in diesem Gedicht den tiefen Ernst des Blickes des Christusknaben genau daraus, dass der Knabe beim Blick auf Schopenhauer erkannt hat, dass das der künftige Autor der Welt als Wille und Vorstellung sein wird. Sprecherin Schon ein gutes Jahrzehnt später jedoch stellt Schopenhauer in sich gewisse Abnutzungserscheinungen fest. Auch die Sixtina-Euphorie ist kein Gefühl für die Ewigkeit. Sprecher "Jetzt, da ich alt bin und es mir allmählich an Begeisterung für den Himmel mangelt (heute bin ich 38 Jahre alt), kann es geschehen, dass ich vor Raphaels Madonna stehe, und sie sagt mir nichts..." Musik Ansager Das Heilige und der Humor - ein deutscher Spezialfall? O-Ton 11 (Gatza) Ich hab davor gestanden das erste Mal, und ich musste lachen. Mich interessieren Muttergottesdarstellungen sehr, ich habe in meinem Buch ein längeres Kapitel über Bellinis Madonnen, und das, was dort an Idealisierungen stattfindet, das habe ich bei der Sixtina auch gefunden. Ich hab dann gedacht, das ist so merkwürdig, dieses Bild. Was machen denn diese Knaben da unten eigentlich, sitzen da und langweilen sich. Das ist ein Bild des Herumschweifens der Gedanken. Sprecherin Der Berliner Autor Mathias Gatza streifte für seinen Roman "Der Augentäuscher" über einen Dresdner Maler der Barockzeit tagelang durch den Semperbau, um die Alten Meister zu studieren. Er stellt mit der Madonna eine tiefenpsychologische Interpretation an und erklärt damit die sonderbare Immunität deutscher Schriftsteller gegenüber dem auch komischen Potential, das dem einstigen Kultbild eigen ist. O-Ton 12 (Gatza) Meiner Meinung nach sind diese Knaben da unten, die auch noch leicht obszöne Züge haben, die gucken unter den Rock von der Barbara, die haben auch schon daran Interessen - das finde ich sehr lustig an dem Bild. Man muss eigentlich annehmen, dass in den Köpfen von den beiden Engelchen die Vision stattfindet, diese idealisierte Mama-und-Sohn-getrennt. Die Mutter angezogen, Sohn nach vorne gerichtet, nicht mehr auf die Mutter. Sie kommen in diesem Zustand der Langeweile und des Ausprobierens und des Spiels, aus diesem Zustand, wo man nur mit sich selbst identisch ist und ausschließlich Kind, Kind, Kind ist, da kommt man plötzlich raus. Das ist ein Witz an diesem Bild. O-Ton 13 (Maaz) Der Bildwitz, der Humor hat in der Wahrnehmung wenig Raum gehabt. Das hängt sicher zusammen damit, dass der Klassizismus von jedweder Malerei einen hohen Ernst forderte: Der Mensch sollte gebildet werden, die Frömmigkeit sollte allenfalls noch vertieft werden, die Moral galt es zu vermitteln. Georg Forster, der Raffael sehr genau wahrgenommen hat, schreibt: Sprecher "In Dresden sah ich Raffaels (Madonna). ...Sie schwebt nicht, sie steht, mehr sinnend als froh. Die Göttliche verlässt eine Welt, zu welcher sie nie gehörte. Die anbetenden Engel jauchzen nicht. Die Himmel feiern." O-Ton 14 (Maaz) Keine Turbulenzen, keine Ausgelassenheit, selbst das Augenzwinkern, die Nachdenklichkeit, das Aufschauen der beiden Engel wird umgemünzt in einen Satz wie ,die Himmel feiern'. Und da sind die Deutschen ganz besonders deutsch, nachdenklich, gewichtig, mitunter auch etwas bleiern. Musik Sprecher: "Lassen Sie mich von den himmlischen Kindern sprechen, die halb über den unteren Rand des Bildes hervorragen. Seht, das ist nun die kindliche und die englische Andacht. Sie beten nicht, weil Kinder und Engel um nichts zu bitten haben: sie betrachten nur in ihrem wonnevollen, unschuldigen Sinn. ...Ja, ...es gibt viele Engel, die geistiger noch und geistlicher sind, und wenn Sie wollen, weit mehr Engel sind: aber so irdisch und himmlisch zugleich sind mir noch keine vorgekommen." Sprecherin Nur wenigen Schriftstellern gerieten die kleinen Engel, die Lümmel von der ersten Bank, überhaupt in den Blick. Schlegel zollt ihnen immerhin Tribut, indem er sie als "irdisch-himmlische" Zwitterwesen ansieht. Und Achim von Arnim verknüpft in seiner, mit phantastischen Elementen durchsetzten Künstlernovelle "Raffael und die Nachbarinnen" die gewohnte Traumerzählung von der Madonnenvision mit einem verblüffend weltlichen Accessoire. Er schenkt dem angebeteten Genie eine Geliebte samt zwei Kindern, die aus dieser Verbindung hervorgegangen waren. Sprecher "'Ich habe zwei Söhne, denk dir mein Glück. Ich habe sie heute gemalt, ohne es zu wissen - ...Du bist verwundert! Ja, herrliche Knaben sind es, du kannst sie sehen auf dem Bilde der Madonna mit dem heiligen Sixtus; unten, wo mich der leere Raum ärgerte, da stehen sie übergelehnt hinaufblickend mit bunten Flügeln. Ich fand sie vor dem Bilde, sie riefen meine Jungfrau als Mutter an und blickten gerade so über eine Stuhllehne. Ich kannte sie nicht, aber sie gehörten zum Bilde, ich malte sie mit einem Hauche." Sprecherin Den beiden Engelchen am unteren Bildrand gibt Achim von Arnim so eine eigene Rolle. Die meisten seiner Zeitgenossen übersahen sie geflissentlich. Lümmelnde Knirpse passten nicht zur edlen Einfalt, sie störten die Andacht. Schon dem ersten Direktor der Dresdner Galerie, Carl Heinrich von Heinecken, waren sie so wenig geheuer, dass er sie kurzerhand als spätere Einfügung erklärte. In seinen Augen konnten sie "unmöglich von Raffael" stammen. Ein anderer habe sie gemalt - eine Ansicht, die noch in neuerer Zeit immer wieder vertreten wurde. 1805 wurden sie erstmals aus dem Bild ausgekoppelt dargestellt und machten seither separat eine Weltkarriere. O-Ton 15 (Feyl) Mit den Engeln gab es immer Probleme. Viele haben gesagt, die sind ja gar nicht von Raffael, die passen gar nicht ins Bild. Da haben sie aber den Raffael in seiner Spannung nicht begriffen, die gehören dazu, denn das Bild endet unten mit dem Balken und da beginnt die Erde. ...Und deswegen guckt ja auch die Hl Barbara erstmal runter, was passiert da unten. Vielleicht hat Goethe und die anderen, die davor standen, hochgeschaut, viel zu sehr hochgeschaut. Vielleicht waren sie so "übertäubt", dass sie das andere gar nicht mehr wahrgenommen haben. Sprecherin Renate Feyl ist Autorin zahlreicher historischer Romane über intellektuelle Frauen, die im deutschen Geniekult des 18./19.Jahrhunderts keine Chance hatten. Die Gottschedin, die einst den Hanswurst von der Bühne verdammt hatte, Caroline von Wolzogen, Schriftstellerin, und deren Kollegin Sophie von LaRoche. Zuletzt hat sie die Rokokomalerin Vigée-Lebrun porträtiert, immer mit einem kräftig ausgebildeten Sinn für untergründigen Witz. Doch die Engel scheinen geradezu eine Schicksalsfrage aufzuwerfen, bei den Engeln scheiden sich die Gemüter. O-Ton 16 (Gatza) Es ist so evident, dass das ein Witz ist, ein tiefsinniger Witz. Ich würde beinah sagen, der Tiefsinn des Witzes wurde nicht erkannt, das ist sowieso: Tiefsinn und Witz wird gerne auseinander genommen. Man geht immer davon aus, wenn die Sachen mit traurigen Bergsteigerstiefeln in der Prosa daherkommen, alles schlecht, es gibt keine Wunder. Das wird gerne als tief wahr genommen in der Kunstreligion, anstatt zu sagen, nein, der Witz ist klug und der Witz ist schnell und der Witz ist tiefsinnig. ... ich glaube, das hat viel mit dem Verdacht, dass Witz oberflächlich ist, zu tun. O-Ton 17 (Osterkamp) Es ist unsere Wahrnehmung, die gewissermaßen diesen beiden Engeln den Ernst austreibt.... Wir übertragen die Gestik, dieses Sich-Aufstützen, die eine Gestik ist, die in einer großen ikonographischen Tradition steht, nämlich die des Melancholikers, wir übertragen das in unsere Niedlichkeitsschemata. Musik Ansager Die Sixtina-Dämmerung Sprecher "Im Huldigungschore zu Ehren der Sixtinischen Madonna tönen die Stimmen der Romantiker am hellsten, und so lange deren Herrschaft währte, thronte sie als Kaiserin der Himmel hoch über jeder anderen regina coeli. Dann setzten ...Predigten ein gegen den ,schalen Glanz', gegen das ,Gift' Raffaelesker Kunst, und zornig wandte sich der Puritaner von der schwarzäugigen Madonna di San Sisto, vor der ein junges Mädchen, ungestört durch Andachtsempfindungen, Schokolade trinken könne; ...(man) verspottete mit klingendem Rokoko-Lachen den ,Marienmaler für Kammerzofen', ... verachtete ihn als ,sourde mediocrité', die Kunst ging andere Wege, eine Sixtina-Dämmerung..." Sprecherin Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Zeitgeist sich gewandelt. Manche Urteile fallen jetzt vernichtend aus. So das Resümee des Kunstschriftstellers Emil Schaeffer, der 1927 eine Anthologie mit literarisch-essayistischen Texten über die die Sixtinische Madonna zusammenstellte. Der erste tiefe Sturz der Madonna aber ereignet sich bereits gegen Ende des 19. Jhs, im Zeitalter des Naturalismus. Man ist jeder Art von Verehrung und Adoration gründlich überdrüssig. Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Soziale Themen, das Hässliche und Ungeschliffene werden literaturfähig. "Die Moderne" wird als Kampfbegriff gegen "die Antike" eingeführt. Schönheit und Anmut haben vorläufig ausgedient, schon gar die Wallfahrten nach Dresden. O-Ton 18 (Maaz) An dem Bild wird viel exemplifiziert. Es geht gar nicht immer nur allein um Raffael, sondern es geht immer darum, dass dieses kanonisierte Bild auch dazu dient, dass man sich über Kunst verständigt und über die Welt verständigt. Weil es jeder kannte, konnte auch jeder verstehen, was damit gesagt wurde. Sprecherin Bernhard Maaz, Direktor der Dresdner Gemäldegalerie ,Alte Meister', ruft dafür als Kronzeugen den Schriftsteller Richard Dehmel auf, der in einem Brief erstmal restlos Schluss machte mit jedweder Sixtina-Idealisierung. Dehmel, der sich mit der rüde- "erotischen Rhapsodie Venus Consolatrix" eine Verurteilung wegen "Verletzung religiöser und sittlicher Gefühle" eingehandelt hatte, donnert kurz vor 1900 eine Philippika an seinen ebenfalls naturalistischen Dichterfreund Detlev Liliencron. Sprecher "Raffael war kein Phidias, Raffael war ein schwindsüchtiger Höfling, der glänzendste Poseur, der je gelebt hat. Ich hasse ihn." O-Ton 19 (Maaz) Poseur, das meint, wie Raffael sich selbst dargestellt hat, als schöner, erfolgreicher Künstler, aber er meint auch die Posen der Figuren in den Bildern, also das Inszenierte der Malerei. Dehmel ist extrem kompromisslos. Er tritt ihn, wie man heute sagen würde, in die Tonne. Sprecher "Was Raffael vom Weibe gibt, ist nichts als das willfährige Geschlechtstier, aber nicht etwa in seiner Natürlichkeit, sondern er schminkt es mit Göttlichkeit." O-Ton 20 (Maaz) So verdonnert Dehmel dieses Bild. Er will damit den Kanon der Kunstgeschichte zertrümmern und er will auch all diejenigen verletzen, die sich an dieser idealen Kunst erbauen. Sprecher "Die vielgerühmten Mutteraugen der Sixtina - noch nie hat ein Künstler raffinierter die Welt getäuscht. Es sind die Augen einer Hirschkuh. Gott erhalte sie den höheren Töchtern Deutschlands... Und Raffael ist der Falschspieler Oberster." O-Ton 21 (Maaz) Wer dieses Bild verletzte, wie es Dehmel tut, der wollte das Bildungsbürgertum erschrecken, der wollte sich von aller Ätherik und Ästhetik distanzieren, und der wollte hiermit der Wirklichkeit jenes Mäntelchen herunterreißen. Musik Ansager Wie es mit der Sixtina und der Literatur weitergehen könnte... Sprecherin Legenden über Raffael und seine Sixtina sind viele in Umlauf. Zu deren festem Bestandteil gehört die Frau, die der Madonna ihre Gesichtszüge lieh. Sie heißt Margherita Luti, zumindest wurde das von dem Malerkollegen und ersten Künstlerbiographen Giorgio Vasari vermutet. Sie war das bevorzugte Modell des Malers und wohl auch seine Geliebte. Er porträtierte sie mehrfach, als Donna Velata, "die Frau mit dem Schleier" und als La Fornarina, "die kleine Bäckerin". Das gleichnamige Bild zeigt eine Dame mit entblößtem Oberkörper, die als einziges Schmuckstück am Oberarm einen Reif trägt, in den der Maler seine Signatur einarbeitete. Viel mehr ist über die Frau an Raffaels Seite nicht bekannt. Erstaunlich aber doch, dass sie die schriftstellerische Phantasie bisher kaum angeregt hat. O-Ton 22 (Feyl) Ich habe viele Frauen getroffen, die wichtig waren für das Leben der Männer, die um sie herum waren, die sie begleitet haben, die eine kolossale Wirkung auf Männer hatten und trotzdem im Unsichtbaren geblieben sind, die nie Gegenstand der Geschichtsschreibung waren. Sprecherin Es wurden stets die altbekannten Legenden um eine Verführerin mit losem Lebenswandel variiert, die Achim von Arnim mit seiner Künstlernovelle befeuert hatte. Musik Sprecherin Die reale Figur hinter der Madonna zum Leben zu erwecken, die Lücken in der Überlieferung literarisch zu füllen, das wäre für Renate Feyl, die Autorin zahlreicher historischer Romane, eine reizvolle Vorstellung. Musik 18