KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit: Reihe: Literatur Kostenträger: Titel der Sendung: Tarzan und die Hunnen Der Dschungelheld und sein Image als "Deutschenfresser" AutorIn: Christian Blees Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 21.08.2012 Regie: Besetzung: Erzählerin (Kommentar) /Zitator 1 (Burroughs/Tarzan) und Zitator 2 (diverse) O-Töne Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK: ENRICO CARUSO - LA DONNA E MOBILE darüber gelegt: SCHREIBMASCHINENGEKLAPPER ZITATOR 1 Sehr geehrter Mr. Caruso, vielen Dank für Ihre Anfrage. Ich glaube, dass meine Agentur für Auslandsrechte in London eine italienische Ausgabe meiner Bücher bereits angekurbelt hat. Ich hoffe, Sie können mit der Agentur Kontakt aufnehmen. Denn ich bin sicher, dass ein so bekannter Name wie der Ihre eine Menge dazu beitragen könnte, meine Bücher in Italien zu verkaufen. ERZÄHLERIN Der Brief des Schriftstellers Edgar Rice Burroughs an Enrico Caruso datiert vom März 1921. Der berühmte italienische Operntenor ist zu dieser Zeit nicht der Einzige, der die neuesten Abenteuer aus der Feder des US- amerikanischen Autors kaum erwarten kann. Denn Burroughs hat knapp zehn Jahre zuvor eine Figur erschaffen, die bis heute für viele Menschen kaum etwas von ihrer Faszination verloren hat. 1. O-TON: TARZAN-RADIOHÖRSPIEL (Tarzan-Schrei) Sprecher: From the heart of the jungle comes a savage cry of victory. This is Tarzan, Lord of the jungle! (dramatische Musik) Darüber gelegt: ERZÄHLERIN Heutzutage kennen die meisten Menschen Tarzan, den Affenmenschen, aus Kino und Fernsehen. Gestartet hat er seine Karriere allerdings schon viel früher: als literarische Figur. So haben seine Abenteuer ihren Erfinder Anfang der 1920er-Jahre längst zum Millionär gemacht. Neben der englischsprachigen Originalausgabe existieren zu dieser Zeit unter anderem bereits Übersetzungen ins Norwegische, Schwedische, Holländische, Russische und Arabische. Im Juli 1923 schließlich meldet die Agentur des Autors aus London: ZITATOR 2 Nach mehrjährigen Verhandlungen ist es jetzt so weit: Wir haben für Tarzan endlich einen Verleger in Deutschland gefunden. ERZÄHLERIN Was weder Edgar Rice Burroughs noch seine Agentur zu diesem Zeitpunkt ahnen können: Auf dem deutschen Buchmarkt wird Tarzan ein Abenteuer der ganz besonderen Art erleben. 1. O-TON: TARZAN-RADIOHÖRSPIEL (Fortsetzung) (klingt aus) ATMO: DRUCKMASCHINE ERZÄHLERIN Im August 1912 laufen die Maschinen des New Yorker Pulp-Verlegers Frank Munsey auf Hochtouren. Pulps - das sind auf billigem Papier gedruckte Abenteuergeschichten. Eines der Groschenhefte nennt sich "All Story Magazine". Auf dem Cover der aktuellen Ausgabe ist ein kräftiger Mann mit dunklen, langen Haaren im Lendenschurz zu sehen. Im afrikanischen Urwald stehend, hält der braun gebrannte Muskelprotz mit dem rechten Arm die Kehle eines Löwen umklammert. In seiner Linken blitzt ein langes Messer. Der Titel des Heftromans verrät, um wen es sich handelt: Es ist "Tarzan of the apes" - "Tarzan von den Affen". 2. O-TON: PETER GRAF Bei dem ersten Tarzan-Roman ist es so, dass der Vater von Tarzan ein hoher britischer Diplomat ist, der 1888 nach Britisch-Westafrika abberufen wird. ERZÄHLERIN Der Verleger Peter Graf hat zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung den ersten Tarzan-Roman noch einmal auf Deutsch herausgebracht. 2. O-TON: PETER GRAF (Fortsetzung) Aber es kommt auf dem Schiff, auf dem er unterwegs ist mit seiner schwangeren Frau, zu einer Meuterei und sie werden auf einer verlassenen Insel abgesetzt. Dort fängt Lord Greystoke, wie er heißt, an, eine Hütte zu bauen. Seine Frau stirbt aber nach der Geburt, auch er wenig später, und Tarzan als Säugling bleibt alleine zurück und wird von einer Affendame namens Kala aufgenommen und großgezogen. URWALDGERÄUSCHE/MUSIK ZITATOR 1 Hoch oben in den Zweigen des mächtigen Baumes drückte sie das schreiende kleine Kind an die Brust, und sehr bald schon drang jener Instinkt, der dieses wilde weibliche Wesen ebenso beseelte wie vormals die zarte, schöne Mutter des Kindes - der Instinkt der Mutterliebe - in das kaum entwickelte Verständnis dieses winzigen Menschenkindes, und es begann, sich zu beruhigen. Dann beseitigte der Hunger die zwischen ihnen bestehende Kluft, und der Sohn eines englischen Lords und einer englischen Lady wurde von Kala, der gewaltigen Affenmutter, gestillt. MUSIK hoch Es dauerte nahezu ein Jahr, von dem Tag an gerechnet, als der kleine Kerl ihr in die Hände geriet, ehe er allein gehen konnte. Und wie unbeholfen er sich beim Klettern anstellte! Kala unterhielt sich ab und zu voller Hoffnung mit den älteren Weibchen über ihr Junges, aber keine der anderen konnte sich erklären, warum dieses Kind so langsam war und sich so ungeschickt verhielt, als es lernen sollte, für sich selbst zu sorgen. Es konnte nicht einmal Nahrung für sich finden, dabei waren nun schon über zwölf Monate vergangen, seit Kala es gefunden hatte. ERZÄHLERIN Trotz aller Skepsis beschließt Kala, die Affendame, den kleinen Burschen weiter großzuziehen. Sie und ihr Affen-Gatte nennen den Findling Tarzan. In der fiktiven, von Burroughs erdachten Affensprache bedeutet dies "Weißhaut". Tarzan beginnt schon bald damit, sich im Dschungel von Ast zu Ast zu schwingen - so, wie es ihm seine Adoptiveltern vormachen. Im Alter von zehn Jahren ist Tarzan genauso kräftig wie ein durchschnittlicher Mensch mit dreißig. Doch eines Tages wird ihm bewusst, dass er irgendwie anders ist als seine Spielgefährten, die Affen. URWALDGERÄUSCHE/MUSIK ZITATOR 1 In dem Hochland, das sein Stamm häufig aufsuchte, lag ein kleiner See, und hier erblickte Tarzan zum ersten Mal sein Spiegelbild im klaren, stillen Wasser einer Bucht. Es war ein schwüler Tag in der Trockenzeit, so dass er und einer seiner Vettern zum Ufer gingen, um zu trinken. Als sie sich über die reglose Wasserfläche beugten, wurden ihre Gesichter widergespiegelt; die wilden und furchteinflößenden Gesichtszüge des Affen neben denen des aristokratischen Sprosses aus altem englischen Haus. Tarzan war entsetzt. Nicht genug, dass er unbehaart war, dazu nun noch so eine Erscheinung! Er wunderte sich, dass die anderen Affen ihn überhaupt ansehen konnten. Dieser winzige Schlitz von Mund und die kümmerlichen weißen Zähnchen! Wie jämmerlich wirkten sie neben den mächtigen Lippen und grimmigen Eckzähnen seiner glücklicheren Brüder! Und die kleine, zerquetschte Nase! Sie war so dünn, dass sie wie verkümmert aussah. Er lief rot an, als er sie mit den prachtvollen, breiten Nasenlöchern seines Gefährten verglich. Was hatte der für eine beeindruckende Nase! Sie nahm fast die Hälfte seines Gesichts ein! Es muss bestimmt ein schönes Gefühl sein, so hübsch auszusehen, dachte der arme kleine Tarzan. Aber als er dann noch seine Augen sah, gab ihm das den Rest! Winzige braune Punkte, graue Kreise und dann das blanke Weiß! Entsetzlich! Nicht einmal Schlangen hatten so hässliche Augen wie er. ERZÄHLERIN Die Geschichte vom Menschenkind, das von Affen im Urwald großgezogen wird, entpuppt sich auf Anhieb als Verkaufserfolg. Peter Graf findet das im Rückblick wenig überraschend. 3. O-TON: PETER GRAF Es gab, glaube ich, ein großes Interesse an diesen Stoffen. Es gab jede Menge Pulp-Magazine, die sehr hohe Auflagen erzielten. Es gab Radioshows, wo solche Abenteuergeschichten wöchentlich erzählt wurden. Und ich denke, dass Burroughs mit seiner Tarzan-Figur da einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. ERZÄHLERIN Bis dahin hat sich Edgar Rice Burroughs jahrzehntelang mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten. Unter anderem hat er als Goldgräber gearbeitet, als Viehtreiber und Polizist bei der Eisenbahn. 1911, im Alter von 35 Jahren, landet Burroughs in einer Firma für Bleistiftanspitzer. Eines Tages blättert er in einem Pulp-Magazin, in dem er eine Werbeanzeige für seine Firma schalten soll. Da kommt ihm eine Idee. ZITATOR 1 Wenn Leute für solch einen Mist bezahlt wurden, den ich in diesen Heften zu lesen bekam, dann konnte auch ich solch einen Mist verfassen. Obwohl ich bis dahin nie irgendeine Geschichte geschrieben hatte, war ich absolut sicher, dass ich etwas schreiben konnte, das mindestens genauso unterhaltsam war. ERZÄHLERIN Tatsächlich gelingt es Burroughs, gleich sein erstes Manuskript an den Herausgeber des Pulp-Heftes "All Story Magazine" zu verkaufen. Für die krude Geschichte über die Prinzessin eines fernen Planeten bekommt er 400 Dollar ausbezahlt. Für Burroughs ist das eine Menge Geld. "Tarzan von den Affen" - das zweite Manuskript, das ihm der Verlag abnimmt - bringt es sogar auf 700 Dollar. Burroughs' Lektor bestätigt seinem neuen Autor: ZITATOR 2 Unter allen Schreibern, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, sind Sie zweifellos derjenige mit der größten Phantasie. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass ich mich besser nicht in Ihre Handlungsentwürfe einmischen sollte. Stattdessen lasse ich Ihnen und Ihrem Vorstellungsvermögen lieber freien Lauf. ERZÄHLERIN Vor allem die originelle Idee von Tarzans Ursprung scheint es den Lesern angetan zu haben: ein von Affen großgezogener Mensch aristokratischer Herkunft, der die Natur des afrikanischen Dschungels gegen fremde Eindringlinge verteidigt - so etwas hat es bis dahin in den Pulps noch nicht gegeben. Edgar Rice Burroughs weiß, dass beim Pulp-Roman keine große literarische Qualität gefragt ist. Und trotzdem gibt er sich Mühe, keinen reinen "Mist" zu schreiben, wie er es vielen seiner Kollegen zuvor unterstellt hat. 4. O-TON: PETER GRAF Man kann, wenn man etwas will, vielleicht sogar die Vorbilder durchschimmern sehen: das Dschungelbuch, ein bisschen Darwin, Afrika Reportagen der Zeit. All das vermischt sich dann zu diesem ersten Tarzan- Roman. Also ich finde, dass er vom Ton her durchaus ein gut geschriebener Unterhaltungsroman ist mit all den Elementen, die man da erwarten darf. Und es ist vielleicht eine Stärke von den Geschichten von Burroughs: es werden eigentlich die ganz großen Tabus immer auch behandelt, also: Kannibalismus, Inzest - all diese großen Themen der Menschen werden da in irgendeiner Form verhandelt. Und Tarzan und all die Figuren, die da mitspielen, durchleben eben all das stellvertretend für die Leser. ERZÄHLERIN Schon bald folgen der Abdruck des ersten Tarzan-Heftromans als Fortsetzungsgeschichte in einer Tageszeitung sowie eine richtige Buchausgabe. Von da an können die amerikanischen Leser von Tarzan gar nicht mehr genug bekommen. Also schreibt Edgar Rice Burroughs von 1913 bis 1917 pro Jahr jeweils ein weiteres Abenteuer mit seinem Dschungelhelden. 1918 kommt sogar der erste, noch stumme Tarzan- Spielfilm in die Kinos. Der Streifen ist auch außerhalb der USA zu sehen. Dies zieht erste fremdsprachige Übersetzungen der Bücher nach sich. Tarzan wird zum Massenphänomen. 5. O-TON: TARZAN-HÖRSPIEL Forscher: Who is he? Guards! Tarzan: You need no worries. Tarzan means you no harm. Frau: Tarzan! Forscher: It's alright, Kula. Never mind the guards. You should have told us right away that you are Tarzan. Tarzan: You know my name? Forscher: The fame of Tarzan has spread to many countries. Frau: No one ever said how handsome you are. Tarzan (lacht): My ape mother thought that I was ugly because I was different from the other balus of the tribe. Forscher: We've heard your story from the adaption by the apes, Tarzan. It's incredible! Frau: Not as incredible as those muscles! I've never seen anyone like you, Tarzan. ERZÄHLERIN Im Frühjahr 1924 erscheinen die Tarzan-Abenteuer erstmals auch auf Deutsch. Die entsprechenden Rechte gesichert hat sich der Stuttgarter Verleger Carl Dieck. Die beiden ersten deutschen Tarzan-Bände verkaufen sich, wie von Dieck erhofft, prächtig. Begeistert schreibt dieser an Burroughs einen Brief. ZITATOR 2 Wir bereiten gerade die Veröffentlichung des dritten Bandes vor. Für diesen liegen uns bereits 40.000 Vorbestellungen vor. ERZÄHLERIN Erst sechs Monate sind seit der Deutschland-Premiere von "Tarzan bei den Affen" vergangen - und schon hält Edgar Rice Burroughs den höchsten Scheck in der Hand, den ein US-amerikanischer Autor für einen vergleichbar kurzen Zeitraum jemals von einem ausländischen Verleger ausgestellt bekommen hat. Eigentlich könnte es immer so weiter gehen. Doch dann, im Oktober 1924, droht plötzlich Ungemach. Carl Dieck teilt dem Tarzan- Erfinder mit: ZITATOR 2 Ende des Monats werden wir den vierten Band, "Tarzans Sohn", auf den Markt bringen. Allerdings scheinen in letzter Zeit einige Schriftsteller und Verleger neidisch zu werden, was den Erfolg unserer Tarzan-Romane anbelangt. Fast täglich erscheinen in den Zeitungen Artikel, in denen über den Wert der Tarzan-Bücher diskutiert wird. Wir sind dabei, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass die Bücher zwar keinesfalls authentische Schilderungen der natürlichen Bedingungen enthalten, wie sie im Dschungel herrschen. Aber wir vertreten auch klar die Meinung, dass die Tarzan-Bücher gute moralische Grundsätze vertreten, die auch von ernsthaften Kritikern nicht geleugnet werden können. ERZÄHLERIN Tatsächlich gelingt es dem Dieck-Verlag, die Kritiker vorerst zum Schweigen zu bringen. So kommen die fünf Tarzan-Romane, die bis Ende 1924 auf Deutsch erscheinen, auf die phantastische Zahl von bis zu 150 Druckauflagen - und zwar pro Band! Weltweit verkauft Edgar Rice Burroughs von seinen Tarzan-Büchern innerhalb weniger Jahre sogar mehrere Millionen Exemplare. Bei aller Popularität hält er seine öffentlichen Auftritte stark in Grenzen. So auch im Unterhaltungsmedium Nummer Eins, dem Radio. 6. O-TON: TEXACO STAR THEATER Moderator: Ladies and gentlemen, we have with us tonight the man who conceived a character who holds front rank in the popular fiction of our time. The creator of Tarzan, Edgar Rice Burroughs! (Beifall) Burroughs: Thank you, Ken. Moderator: Well, Mr. Burroughs, it isn't very often that we have the most popular writer of the world on our program. Burroughs: Well, Ken, I'd hardly call myself that. Moderator: Oh - 25 million copies can't be wrong! It must a tough life you lead, scouting around the African jungle, looking for material... Burroughs: Confidentially, Ken - I've never been to Africa in my life. Moderator: Now, wait a minute - you mean you write about places you've never been to? Burroughs: Ken, I'm ashamed of it. I fell like an old "stay-at-home". ERZÄHLERIN Wohl keiner seiner Fans nimmt es Edgar Rice Burroughs wirklich übel, dass dieser noch nie in Afrika war, um Fakten und Hintergründe seiner Dschungelgeschichten vor Ort zu recherchieren. Dafür wird in Deutschland plötzlich eine ganz andere Art von Kritik laut. Es geht um zwei Burroughs- Bücher, die bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Und das aus gutem Grund, wie der Hamburger Tarzan-Experte Detlef Lorenz weiß. Er hat vor über 30 Jahren das Buch "Alles über Tarzan" geschrieben. 7. O-TON: DETLEF LORENZ Der erste Roman, in dem die Deutschen sehr, sehr negativ dargestellt werden, war kein Tarzan-Roman, sondern der Roman" The Land, that time forgot" - "Das Land, das die Zeit vergessen hat." Der spielt im Ersten Weltkrieg, und da wird durch ein deutsches U-Boot, mit einem Monokel tragenden Kapitän natürlich, ein friedliches amerikanisches Passagierschiff versenkt, und der Kapitän lässt dann nachher auch noch auf die Schiffbrüchigen schießen. Und das macht er wohl mit sadistischem Vergnügen, weil er eben ein typischer Deutscher ist. ERZÄHLERIN Ohne Schurken, das weiß Edgar Rice Burroughs nur zu gut, kann er keine spannenden Bücher schreiben. Die Geschichte vom Land, das die Zeit vergessen hat, ist im Original zum ersten Mal als Fortsetzungsroman in einem Pulp-Magazin erschienen - und zwar im Herbst 1918. Burroughs, der als junger Mann ursprünglich von einer Karriere beim Militär träumte, stand zu dieser Zeit noch ganz unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs - und damit auch unter dem Einfluss der US-amerikanischen Kriegspropaganda. Darum hatte er auch keinerlei Hemmungen, aus den Bösewichtern in seinem Roman Deutsche zu machen. Zumal Burroughs und seine Bücher in Deutschland damals noch völlig unbekannt waren. ZITATOR 1 Beim Schreiben meiner Geschichten war ich immer darum bemüht, möglichst wenige meiner Leser zu beleidigen oder zu verletzen. Darum habe ich viele Bösewichter in den Romanen aus solchen Ländern kommen lassen, in denen meine Bücher vergleichsweise wenig gelesen wurden, beispielsweise Belgien oder Schweden. Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, dass ich die Menschen in diesen Ländern nicht hätte leiden können. ERZÄHLERIN In Deutschland stößt dieses Argument bei den Tarzan-Kritikern auf taube Ohren. In mehreren Zeitungen erscheinen Artikel über Burroughs' Deutschen-Feindlichkeit. Verärgert schreibt der Tarzan-Erfinder daraufhin in einem Brief an seine Londoner Agentur: ZITATOR 1 Die Haltung der deutschen Presse hat rein gar nichts mit Patriotismus oder verletzten deutschen Gefühlen zu tun. Sie speist sich stattdessen ganz offensichtlich aus dem Neid deutscher Buchverleger, die mit der ökonomischen Voraussicht eines Carl Dieck nicht mithalten können. ERZÄHLERIN Das zweite Buch, das den Unmut der Tarzan-Kritiker erregt, hat Burroughs ursprünglich unter dem Arbeitstitel "Tarzan and the Huns" geschrieben - "Tarzan und die Hunnen". Erschienen ist es schließlich als "Tarzan, the Untamed", "Tarzan, der Ungezähmte". 8. O-TON: DETLEF LORENZ Da überfällt eine Abteilung deutscher Soldaten die Farm, auf der Tarzan lebt mit seiner Frau, mit seiner Familie. Der Anführer dieser deutschen Truppe, der steckt die ganze Farm in Brand und weil er ziemlich perfide ist - er ist ja ein Deutscher - steckt er einer verkohlten Leiche, einer afrikanischen Bediensteten auf der Farm, den Ring von Jane an. Als Tarzan nach Hause kommt, sieht er die Leiche, die verkohlte, die natürlich völlig entstellt ist, und erkennt aber an dem Ring, dass es Janes Ring ist und dreht nun völlig durch. URWALDGERÄUSCHE/MUSIK ZITATOR 1 Allmählich gebar sein tiefer Schmerz ein anderes Gefühl; ein Gefühl so real und fast greifbar in seiner Realität, dass es schien, ein Gefährte wandle ihm zur Seite. Es war Hass - und dieser Hass brachte ihm einigermaßen Trost, denn es war ein heiliger Hass, der ihn adelte, so wie er seither unzählige Tausende geadelt hatte: der Hass gegen Deutschland und die Deutschen. Er bezog sich natürlich zunächst auf die Mörder seiner Gefährtin, erstreckte sich aber auch auf alles, was deutsch war, ob Lebewesen oder nicht. ERZÄHLERIN Tarzan glaubt zu wissen, wer Jane, seine Ehefrau, getötet hat: Fritz Schneider, gewissenloser Kommandant einer deutschen Truppeneinheit, die im afrikanischen Dschungel gegen die Briten kämpft. So ist seine Mission klar: Tarzan wird sich am vermeintlichen Mörder seiner Frau rächen. URWALDGERÄUSCHE/MUSIK ZITATOR 1 Hatte er einmal mit diesem abgerechnet, dann konnte er sich auf das ihm weniger wichtige Töten aller Deutschen verlegen, die seinen Pfad kreuzten. Und er hatte allerdings die Absicht, dafür zu sorgen, dass möglichst viele seinen Pfad kreuzten, denn er wollte die Jagd auf sie betreiben - genau so, wie professionelle Jäger die Jagd auf die großen, menschenfressenden Raubtiere. ERZÄHLERIN Ende Januar 1925 wendet sich Verleger Carl Dieck in einem Brief an Burroughs. ZITATOR 2 Jemand ist darauf gekommen, dass Sie während des Krieges "Tarzan, der Ungezähmte" geschrieben haben und dass die Deutschen darin als sehr grausam dargestellt werden. Vielleicht könnten Sie einen Artikel für Ihre hiesigen Leser verfassen, der Ihre freundschaftliche Gesinnung den Deutschen gegenüber zum Ausdruck bringt? ERZÄHLERIN Edgar Rice Burroughs begreift zwar, dass die Lage ernst ist. Zwar hat er eigentlich kein Interesse daran, sich für die deutschfeindlichen Passagen in seinen früheren Büchern zu rechtfertigen. Andererseits will er es nicht riskieren, auf Carl Diecks üppige Tantiemen verzichten zu müssen. Also wendet er sich in einem offenen Brief tatsächlich an sein deutsches Publikum. Darin heißt es unter anderem: ZITATOR 1 Die antideutschen Äußerungen aus den zwei betreffenden Romanen spiegeln das wider, was ich zu jener Zeit fühlte und dachte, als ich sie geschrieben habe. Und weil dies eine Tatsache ist, kann ich für meine ehrliche Überzeugung auch nicht um Entschuldigung bitten - so sehr diese von manchen auch missverstanden worden sein mag. ERZÄHLERIN Eine der Ursachen für die einstige Abneigung des glühenden Patrioten Burroughs allem Deutschen gegenüber ist an ein konkretes Datum gekoppelt: Am 7. Mai 1915 versenkt ein deutsches U-Boot vor der irischen Küste das britische Kreuzfahrtschiff Lusitania. 1200 Passagiere kommen ums Leben. Unter ihnen befinden sich 124 US-Amerikaner. Für die Regierung in Washington ist dies letztlich der Anlass, Deutschland den Krieg zu erklären. SONG: HERBERT STUART - WHEN THE LUSITANIA WENT DOWN darüber gelegt: ERZÄHLERIN Wenige Wochen nach dem Untergang der Lusitania wird in New York ein Lied zu Ehren der getöteten Passagiere aufgenommen: "The day the Lusitania went down". Gesungen wird es unter dem Pseudonym Herbert Stuart von einem gebürtigen Deutschen Namens Albert Wiederhold. SONG: HERBERT STUART - WHEN THE LUSITANIA WENT DOWN ERZÄHLERIN Acht Jahre nach der Kriegserklärung an Deutschland - und sieben Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs - ist Edgar Rice Burroughs' Abneigung gegenüber den Deutschen längst abgeklungen. Doch seine Beteuerungen verhallen weitgehend ungehört. Schuld daran ist vor allem ein Buch mit dem Titel "Tarzan, der Deutschenfresser". Geschrieben hat es der deutsch- österreichische Autor und Verleger Carl Stephenson. Im Vorwort kündigt dieser vollmundig an: ZITATOR 2 Kolportage-Kitsch ist weniger gefährlich, solange er sich offen als das dokumentiert, was er ist. Die Gefahr bei den Tarzan-Geschichten liegt in ihrer literarischen Aufmachung. Hier wird auf das Geschickteste durch große Worte der minderwertige Inhalt verschleiert und Kinodramatik als Heldenhaftigkeit, Rohheit als Natur dokumentiert. "Tarzan" ist der charakteristische Literaturbluff, ein geschickt mit Natur-Aroma durchtränkter Kolportage- Roman. Die Tarzan-Flut hat heute derartige Formen angenommen, dass ich die Möglichkeit begrüße, durch diese Zeilen dem deutschen Publikum ein wenig die Augen zu öffnen. ERZÄHLERIN Im Folgenden zieht Stephenson auf knapp 90 Druckseiten über Edgar Rice Burroughs und dessen Tarzan-Romane her. Dabei konzentriert er sich vor allem auf das Buch "Tarzan, der Ungezähmte". Dass Burroughs dieses schon sieben Jahre zuvor geschrieben hat, erwähnt Stephenson nicht. So müssen seine Leser den Eindruck gewinnen, dass es sich bei "Tarzan, der Ungezähmte" um einen aktuellen Titel handelt. Und damit auch, dass der darin zu Tage tretende Hass des Tarzan-Autors gegen alles Deutsche nach wie vor aktuell ist. Genüsslich zitiert Stephenson längere Passagen des Originals. Darunter befindet sich auch jene, in der Tarzan sich in Gegenwart eines jungen Mädchens an Hauptmann Fritz Schneider rächt. URWALDGERÄUSCHE/MUSIK ZITATOR 1 Tarzan packte den Mann bei der Kehle und zog sein Jagdmesser. Schneiders Rücken lehnte an der Wand, so dass er, trotzdem ihm seine Knie wankten, vom Affenmenschen aufrecht gehalten werden konnte. Tarzan setzte das Messer an des Deutschen Unterleib an. "So hast du meine Gefährtin geschlachtet", zischte er mit schrecklicher Stimme. "So sollst auch du sterben!" Das Mädchen wankte vorwärts. "O Gott, nein!" rief sie. "Nicht so. Sie sind ein tapferer Mann, sie können nicht so ein Vieh sein!" Tarzan wandte sich ihr zu. "Nein", sagte er, "Sie haben recht, ich kann es nicht tun - ich bin kein Deutscher", und er hob die Spitze seiner Klinge und versenkte sie tief in das schmutzige Herz Hauptmann Fritz Schneiders. ERZÄHLERIN Carl Stephensons Gesamturteil über "Tarzan, der Ungezähmte" fällt eindeutig aus. ZITATOR 2 Wenn Deutschland nur ein einziges Hetzwerk von gleich niedrigem Schlag aufweisen könnte, so hätte weder in England noch in Frankreich es jemand wagen dürfen, die betreffende Bücher-Reihe oder überhaupt irgendein Werk dieses Autors dem Publikum zu bieten. Nachdem dies aber nun einmal bei uns geschehen ist, gäbe es nur einen Weg: Den Namen des Mr. Burroughs ebenso wie seine Werke in Stillschweigen und Vergessen sinken zu lassen. Eine weitere Überflutung mit den Büchern des Mr. Burroughs wäre ganz einfach unwürdig und würdelos für die von ihm beschimpfte Nation. ERZÄHLERIN Stephensons vernichtende Analyse zeigt Wirkung. Die deutsche und auch die österreichische Presse berichten wochenlang über den angeblichen Deutschenhass des Tarzan-Autors. Die Buchhandlungen beginnen, den Verkauf von Tarzan-Romanen zu boykottieren. Frustriert schreibt Carl Dieck an Burroughs: ZITATOR 2 Tarzan ist praktisch vom deutschen Buchmarkt verschwunden. Die Bücher werden uns von den Buchhandlungen zurückgeschickt. Diejenigen, die sie noch nicht zurückgeschickt haben, weigern sich, die Rechnungen zu bezahlen. Wenn Sie Ihre Bücher weiter in Deutschland verkaufen wollen, dann müssen Sie auch die Originalausgabe von "Tarzan, der Ungezähmte" in den englischsprachigen Ländern vom Markt nehmen. ERZÄHLERIN Burroughs bekommt es offenbar mit der Angst zu tun. Denn tatsächlich bittet er seine Auslandsagentur darum, "Tarzan, the Untamed" nicht weiter verbreiten zu lassen. Auch bietet er an, die kritischen Passagen des Romans so umzuschreiben, dass sich hoffentlich niemand mehr durch das Buch verletzt fühlt - allen voran die Leser in Deutschland. 9. O-TON: DETLEF LORENZ Also, um von seinen deutschfeindlichen Intentionen loszukommen, hat Burroughs selbst in Amerika seinen Roman "Tarzan, the Untamed", Anfang der 30er soweit verändert oder verändern lassen, dass ein gleichzeitig laufender Comic-Strip, der diesen Roman "Tarzan, the Untamed", beinhaltet, das verändert, dass die deutschen Kolonialtruppen plötzlich zu sogenannten Reds mutiert wurden. Es kommen plötzlich russische Namen drinnen vor, und die Bösen sind also eindeutig Rote, also Russen. Also Burroughs hat diese deutschfeindlichen Tendenzen völlig rausgenommen aus dem Roman, hat ihn komplett umgeschrieben und die Bösen waren plötzlich die Russen. ERZÄHLERIN Um sein deutsches Publikum endgültig zu besänftigen, geht Burroughs sogar noch einen Schritt weiter. In seinen nächsten beiden Tarzan-Abenteuern lässt er erneut - und diesmal ganz gezielt - Deutsche auftreten. Diesmal fällt deren Charakterisierung allerdings deutlich freundlicher aus als noch Jahre zuvor. 10. O-TON: DETLEF LORENZ: Kurzerhand hat er einfach plötzlich Deutsche zu Gutmenschen erklärt. Tarzan reist in einem Roman zu dem Mittelpunkt der Erde: also die Hohlweltheorie, wo im Mittelpunkt der Erde kein flüssiger Kern ist, sondern eine weitere Welt existiert. Das macht er mittels eines Luftschiffes, das in Friedrichshafen natürlich gebaut ist, weil die Deutschen ja die besten Luftschiffkonstrukteure sind. Einer seiner guten Freunde wurde plötzlich Erich von Harden, ein Deutscher, und zwar in dem Roman "Tarzan and the lost Empire". Da findet Tarzan mitten in Afrika ein vergessenes Römerreich. Also Burroughs versucht mit allen Mitteln, plötzlich Deutsche positiv in den Vordergrund zu schieben in den Tarzan-Romanen. ERZÄHLERIN Die Bemühungen des Tarzan-Erfinders kommen zu spät. Noch bevor die beiden Bücher ins Deutsche übersetzt werden können, zieht der Dieck-Verlag die Reißleine. 1926 und 1927 erscheint zwar jeweils noch ein Tarzan-Roman auf Deutsch, doch dann ist endgültig Schluss. Nach nur drei Jahren und acht Bänden ist die literarische Karriere des Dschungelhelden in Deutschland für's Erste beendet. Bis heute hat kein Verlag sämtliche Tarzan-Romane in deutscher Übersetzung herausgebracht. Und auch beim Verlag Walde und Graf, der im Jubiläumsjahr einen Schuber mit gleich drei Tarzan-Titeln veröffentlicht hat, hält man sich in dieser Hinsicht bedeckt. Verleger Peter Graf: 11. O-TON: PETER GRAF: Wir werden weitermachen, wenn wir den Erfolg haben, der nötig ist, um das dann auch verlegerisch zu rechtfertigen. Es gibt insgesamt 25 Tarzan-Romane. Wir haben jetzt drei noch mal herausgebracht. Und ich glaube nicht, dass wir alle 25 verlegen werden. Das wird nicht möglich sein. Aber in Zeiten des E-Books gibt es möglicherweise einfach andere Formen, all diese 25 Bände dann zukünftig wieder zugänglich zu machen. 12. O-TON: TARZAN-HÖRSPIEL (Tarzan-Schrei, Musik) ABSAGE 1