COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt 27. März 2010, 15.05 Uhr "Tor zur Freiheit" Die Gemeinde Friedland und ihr Grenzdurchgangslager Autorin: Susanne von Schenck Redaktion: Margarete Wohlan Jingle "Deutschlandrundfahrt" Opener Musik Atmo Glocke OT Kahl Friedland kommt ja vom Frieden und deshalb passt das auch so schön zum Durchgangslager. Und die Glocken sind ja weltberühmt, die waren schon überall. Und der Name Friedland ist jedem in Deutschland, wenn nicht darüber hinaus bekannt. Musik OT Jol. Friedland 0.08 Friedland - bin ich selbst vor zwanzig Jahren aus Polen nach Deutschland gekommen - Friedland, das ist quasi meine Heimat. OT Zab. 0.0 In Friedland leben ist für mich auch ganz viel diese Landschaft hier, dieses sehr liebliche, abwechslungsreiche mit schönen Ausblicken. Musik OT MGH Riedel 14 Gemeinden Letztendlich ist für mich Friedland eigentlich die Gemeinde Friedland. Friedland mit den verschiedenen Ortsteilen, von ganz klein, kaum hundert Einwohnern bis zu den großen Ortschaften wie Groß-Schneen, Friedland und Niedernjesa. Musik 5 OT Bes. A. Fl. Friedland 0.18 Friedland steht schon für Flüchtlinge jeder Art, für Heimkehrer früherer Zeiten gleich nach dem Krieg. Ich denke, er gehört so zur Historie von Deutschland dazu, dass man ihn auf keinen Fall vergessen darf und ich denke, wir müssen auch alles dazu tun, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Musik Sprecher: "Tor zur Freiheit Die Gemeinde Friedland und ihr Grenzdurchgangslager" Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck Atmo Zug fährt ein und hält Autorin Der Bahnhof Friedland - ein schmuckes, rotes Backsteinhaus. An der Vorderseite hängt eine große Uhr. Sie zeigt zwar noch die Zeit an, aber die Türen des Hauses sind verschlossen. Keine Auskunft, keine Fahrkarten. Lediglich ein kleiner Zettel, an eines der großen Fenster geklebt, informiert: Fahrkarten gibt es zwischen 13.30 und 17 Uhr in Haus zehn im Grenzdurchgangslager Friedland. Atmo Zug s.o. Autorin Das war einmal anders. Als 1945 in Friedland auf Initiative der britischen Besatzer ein Lager für Kriegsheimkehrer und Flüchtlinge entstand, arbeiteten im ersten Jahr achtzehn Fahrkartenverkäufer Tag und Nacht im Schichtdienst, und mehr als fünfhundert Sonderzüge kamen am Bahnhof an. Atmo Zug fährt ab Autorin Heute verlassen allenfalls drei oder vier Personen, meist Einheimische, eiligen Schrittes den Bahnhof. Sie verschwinden sogleich im Ort, der sich hinter den Gleisen erstreckt. Von einem Hügel ragt das Heimkehrer- Mahnmal in den Himmel, und die zentrale Straße heißt natürlich Heimkehrerstraße. Atmo Straße (Archiv) Autorin Denn Friedland war für viele nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren die erste Station auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Und ein Ort der Hoffnung für all die, die auf die Rückkehr ihrer Familienangehörigen warteten. OT Kahl Friedland 0.33 Ich habe 1947 da gestanden und auch auf meinen Vater gewartet und dann natürlich in den 50er Jahren, der dann doch nicht gekommen ist. Autorin Dieter Kahl aus Friedland OT Kahl Friedland 0.36 ff So verbinde ich schon aufgrund meines Alters Friedland in erster Linie mit dem Lager. Ich kenn das von Anfang an, das Lager, von den ersten Nissenhütten bis heute, ich kenne die 80erJahre, wo die Boat People aus Vietnam kamen, wir hatten am Tag teilweise 2000 Ankömmlinge, die hatten zum Teil bei mir ihre Zelte aufgeschlagen, es gab nichts, es gab keine Möglichkeit mehr. Autorin Inzwischen ist Friedland Teil einer Gemeinde aus sage und schreibe vierzehn Dörfern, gelegen im südlichen Niedersachsen, nicht weit von Göttingen, - da, wo drei Grenzen aufeinandertreffen. OT Zab. 3 Grenzen 0.38 Die Grenze - es gibt verschiedene Grenzen. Autorin Ursula von Zaborowski aus dem Ortsteil Mollenfelde. Sie engagiert sich im Tourismus der Region - und der ist ein weites, aber noch ziemlich unbearbeitetes Feld. OT Zab. 3 Grenzen 0.50 ff Direkt hinterm Ort fängt also Hessen an, mit seiner eigenen Buslinie, seiner eigenen Zeitung, das ist also oft ein Problem, dass man wenn man mal eine Veranstaltung hat, das nicht wirklich zu der anderen Seite transportieren kann. Wir haben hier die Grenze nach Thüringen, das war früher die deutsch- deutsche Grenze, das finde ich auch sehr interessant, wie sich das jetzt entwickelt hat, das grüne Band, was sich entlang der Grenze auch sehr bemüht um Naturschutz und Erhalt von diesem Grenzstreifen, den man ja inzwischen überhaupt nicht mehr sehen kann. Das ist eigentlich schade. Autorin Es ist kurios: in wohl kaum einen Ort in Deutschland in dieser Größenordnung sind so viele Fremde gekommen - fast vier Millionen seit 1945 - und die Gegend selbst ist vom Tourismus relativ unbeleckt. Seit zwanzig Jahren existiert die Grenze nicht mehr, die einst die beiden Teile Deutschlands trennte. Die Wiedervereinigung beendete auch den Dornröschenschlaf Friedlands. Eine waldige, leicht bergige Gegend mit beschaulichen Dörfern, einst im Windschatten des Landes gelegen, wurde mit dem Fall der Mauer plötzlich von der Randlage ins Zentrum katapultiert und scheint selbst darüber erstaunt zu sein. OT Zab Tourismus 0.31 Der Tourismus ist hier noch sehr jung, der hat sich erst nach der Grenzöffnung so richtig entwickelt und wir sind noch kräftig dabei. Was wir hier zu bieten haben, ist natürlich nicht der große Berg oder Teich und das Meer, sondern es gibt hier eine ganz entspannende und sehr beruhigende abwechslungsreiche Landschaft. Hier geht aber auch ein Pilgerweg vorbei, der Pilgerweg Loccum-Volkenroda und mehrere Fernwanderwege. Musik kurz Interpret: Tom Waits Titel: Swordfishgtrombones Komponist Tom Waits Text: Tom Waits LC-Nr.: 0407, Island Records Atmo Schritte Gelände Autorin Im Grenzdurchgangslager Friedland ist immer jemand unterwegs. Menschen mit Plastiktüten kommen vom Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt, andere aus dem Unterricht, manche flanieren vom Westlager ins Ostlager, einige strömen zum Speisesaal, Kinder tummeln sich auf dem Spielplatz. Die Menschen grüßen zwar freundlich, aber ihr Augenausdruck ist häufig verloren: Die alte Heimat so fern, das neue, aus der Ferne verklärte Leben so ungewiss. OT Jol Wunder 0.22 Man hat Angst gehabt, was wird mit uns, so viele Leute, wo wollen die überall hin, was wird mit uns? Autorin fragte sich Jolanta Bednarcek, als sie vor über zwanzig Jahren aus Polen nach Deutschland kam. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Friedland. OT Jol Wunder 0.22 ff Deutschland hat das wirklich sehr gut organisiert. Manchmal wundere ich mich bis heute: wie hat das geklappt, dass die Leute so schnell Wohnung gekriegt haben und auch Arbeit. Das ist für mich wirklich ein großes Wunder. kurzer Musikakzent ca. 0.20 Interpret: Hauschka Titel: la dilettante Komponist Volker Bertelmann LC-Nr.: fatcat records, ohne LC-Angabe Autorin Ursprünglich 2600, heute noch 1000 Bettplätze auf 61/2 Hektar - das ist das Grenzdurchgangslager, das aus historischen Gründen immer noch so heißt, obwohl es längst keine Grenze mehr gibt. Es besteht aus einem Ost- und einem Westlager, und die Heimkehrerstraße trennt die beiden Teile voneinander. Eine kleine Stadt im Herzen einer 1300 Einwohnergemeinde: neben den zahlreichen, meist eingeschossigen Wohnhäusern gehören dazu auch eine Kirche, ein großer Speisesaal, eine Röntgenstation, Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, Schulräume und, und, und: OT Schüler referiert, 0.19, evt. runterziehen Autorin In Haus 40, im westlichen Teil des Lagers, versucht der zehnjährige Roman, die Geschichte, die er in der letzten Unterrichtsstunde gehört hat, zusammenzufassen. Roman ist einer von elf Schülern, die in dem großen, an einen Turnsaal erinnernden Schulraum, Unterricht haben. Die Wände zieren neben einer Deutschland- und Europakarte Bilder, die die Schüler themenbezogen gemalt haben: Deutschland: ich finde gut, ich finde schlecht, Die Umwelt, Wie spare ich Energie. Evt. OT Olga und Swetl. 0.24, evt. später einsteigen Autorin Swetlana Starikova, eine junge Frau, mit kurzem glattem dunklen Haar und adrett gekleidet ist die Lehrerin. Die Russin kam selbst vor sieben Jahren mit ihrem Mann aus Kasachstan nach Deutschland und kennt das Lagerleben aus eigener Erfahrung. Das Unterrichten ist nicht immer einfach: die Kinder haben Heimweh, vermissen ihre Schulfreunde und leiden darunter, aus ihrem gewohnten Lebenszusammenhang herausgerissen worden zu sein. OT Swetl verschlossen 0.22 Sie sind verschlossen, sie sind nicht nur verschlossen, was die Psyche angeht, sie sind nicht so offen auch in der Schule, d.h. wenn sie sich nicht gut fühlen, ist es logisch, dass sie auch nicht so gut aufpassen können, dass die Teilnahme am Unterricht nicht so intensiv ist. Autorin Im Grenzdurchgangslager laufen zwanzig Sprach- und Integrationskurse parallel. Die Teilnahme ist freiwillig. Wie eröffne ich ein Bankkonto, wie bekomme ich Medikamente in einer Apotheke, wie funktionieren die Fahrkartenautomaten in Deutschland - praktische Übungen zum Alltag im neuen Land ergänzen die Sprachkurse. Das Konzept, so Natalia Hefele, die die Sprachkurse im Lager organisiert, scheint aufzugehen. OT Hef. sinnvoll 0.48 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Jahr 2007 eine Untersuchung gemacht und die Ergebnisse sind uns noch nicht bekannt, ich glaube, es wird jetzt gerade noch ausgewertet: Wie es den Teilnehmern weiter ergangen ist, ob es geholfen hat oder nicht. Ich würde sagen, aus meiner Erfahrung mit den Teilnehmern, die jetzt seit zwei Jahren nicht mehr bei uns sind und sich immer wieder zurückmelden - sie alle sagen, 99 %, sagen, dass es die richtige Entscheidung war, hier zu bleiben, weil: ohne Kenntnisse, ohne Grundinformationen und ohne Hilfe, die hier angeboten wird, hätten sie sich nicht so gut einleben und orientieren können Autorin Sechs Monate Lagerleben - das ist eine lange Zeit, und die meisten haben nach der Hälfte genug davon, beengt in einem Zimmer zu wohnen, im Kollektiv zu essen. Sie möchten endlich ihr eigenes Leben im neuen Land aufbauen. Sinkt die Stimmung, dann organisiert Natalia Hefele Kinobesuche, Städtetouren und Ausflüge in die Umgebung. Maria Shetzter hat viele Monate im Lager verbracht, die meiste Zeit in Haus 54. Davor wohnte sie in St. Petersburg - bis sie sich entschloss, fast siebzigjährig, ihr Leben noch einmal vollkommen zu verändern. OT Maria Traum 0.30 Mein Traum, war Deutschland zu sehen. Hier wohnt in Hannover meine Schwester und ich wollte auch in diesem Land wohnen. Das gelang mir. Ich habe das Institut für Fremdsprachen in Kasachstan absolviert und mein Traum ging in Erfüllung. Ich habe Deutschland gesehen und die deutsche Sprache im Lager erfrischt. Autorin Es hat lange gedauert, bis die ausgebildete Deutsch- und Englischlehrerin eine kleine Wohnung in Rosdorf fand, einem Vorort von Göttingen. Jetzt ist sie dabei, ihre Sachen zu packen. OT Maria Göttingen 0.25 Göttingen gefällt mir. Wenn ich spazieren ging so schien es mir, als ob ich dort geboren wurde. Weil wir im Institut sehr viel über deutsche Schriftsteller gelernt haben, ihre Werke analysiert und ich habe dort bekannte Ortschaften gesehen und Denkmäler, und das war wunderschön, das war wunderschön. Musikakzent s.o Autorin In der Küche des Grenzdurchgangslagers laufen währenddessen die Vorbereitungen für das Mittagessen auf Hochtouren. Essen für so viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen - da müssen sich Köchin Claudia Becker und ihre Kollegen auch auf neue Geschmacksrichtungen einstellen. OT Becker Wünsche 0.30 Es ist in den letzten Jahren angesprochen worden in den Deutschkursen, was die Leute gern essen würden und was umsetzbar ist. Wir haben uns schon etwas umgestellt, auf die Wünsche etwas einzugehen, allerdings kann man es halt nicht immer allen Recht machen. Und es ist auch eine Frage des Geldes und der Zeit. Zum Beispiel so kleine Pfannkuchen selbst zu machen für die Anzahl der Menschen ist irgendwo nicht möglich. Autorin Vor allem die Spätaussiedler mögen diese Pfannkuchen. Sie essen auch das Fleisch, das Claudia Becker normalerweise im Eintopf verkocht, lieber separat. Die irakischen Flüchtlinge hingegen lehnen Schweinefleisch ab. Überhaupt: über die irakische Küche musste sich die Köchin erst informieren. Das wenigste davon kann sie allerdings hier servieren. OT Becker Bulgur 0.13 So wie wir das gelesen haben, essen die halt viel Bulgur und Ziege und Kamelfleisch und Kamelmilch, was man hier nicht so kennt, und viel Weißbrot, dann Getreide. Musik kurz Interpret: Julie Delpy Titel: Je t'aime tant Komponist Julie Delpy Text: Julie Delpy LC-Nr.: 8126, Milan Autorin In einer anderen Küche, wenige Kilometer von Friedland entfernt, im Ortsteil Groß-Schneen, hat Matthias Müller das Mittagessen fast fertig. Atmo Küche mit OT Koch 0.38 Hier mach ich gerade Spätzle mit ,nem bisschen Rosenkohl, dazu haben wir einen Schweinebraten... und ne leckere Soße dazu. Bitte schön, guten Appetit! Autorin Schon kommen die ersten Gäste. Es ist genau 11.30 Uhr, als Henny Merker erwartungsvoll an der Essensausgabe steht. OT Merker 0.15 Ich bin ja gebürtig aus Gross-Schneen, bin ne waschechte Groß Schneenerin. Ich bin ja allein, ich hab niemanden und für 3.50 Euro kann ich nicht billiger kochen, da haben unsere Kinder gesagt, ich soll hierhin gehen und essen. Und hier hat man mal ne Unterhaltung, es kommt mal jemand dazu. Autorin Henny Merker, fast achtzig Jahre alt, kommt beinahe täglich zum Mittagessen, hält gern ein Schwätzchen mit dem Koch, bevor sie mit ihrem Tablett auf einen der hellbraunen Tische zusteuert. Atmo Essen in Kantine Autorin Das Mehrgenerationenhaus, eine ehemalige Jugendbildungsstätte, liegt an Groß-Schneens so genannter "Sozialmeile" - in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schulen, Bank, Gemeindeverwaltung und Kindergarten. "Meile" ist für die Bönnikerstraße mitten im Ort allerdings ein bisschen hoch gegriffen. Groß-Schneen, das sich schon durch seinen Namen vom Nachbarort Klein-Schneen abgrenzt, hat nämlich gerade mal 1800 Einwohner. Es ist aber der größte Ort der Gemeinde Friedland, einer von vierzehn. Das berühmtere, aber kleinere Friedland gab den Namen, dafür erhielt Groß-Schneen den Sitz die Gemeindeverwaltung. In der arbeitet auch Andrea Riedel-Elsner, die das Mehrgenerationenhaus betreut. OT Riedel Haus 0.31 Wir haben nach einer Begegnungsstätte gesucht, wo jung und alt zusammen kommen können, ähnlich, wie es früher mal war und jetzt ein Dach für verschiedene Gruppen bietet, wir haben einen Seniorenbeirat, wir haben eine Nachbarschaftshilfe, wir haben Spielnachmittage. Und all das fand an verschiedenen Orten statt, mehr oder weniger gut besucht, und dadurch, dass es jetzt zentral angeboten wird, kommen die Leute aus den Ortschaften auch zusammen. Also tatsächlich eine Begegnung für die verschiedenen Ortschaften, und das wird ganz gut angenommen. Atmo Kinder Autorin Generationenmix beim Mittagessen? Inzwischen sind ungefähr vierzig Kinder der nahe gelegenen Grundschule in den hellen Speisesaal gekommen, und Henny Merker hat die Flucht ergriffen. Ihr sei das zu turbulent, sagt sie noch schnell, bevor sie geht. Auch die junge Restauratorin, die für ein paar Tage aus Hildesheim gekommen ist, um das Kircheninnere des Ortes nach einem Brand vom Ruß zu befreien, packt am Nachbartisch ihre Tasche und verlässt den Raum. Dabei sind die Kinder äußerst diszipliniert. Anna zum Beispiel isst den Teller leer, obwohl ihr das Essen nicht besonders schmeckt. OT Anna 0.30 Ja wir sind hier in der Grundschule, ich bin in der zweiten, die größer sind, sind in der dritten und vierten. Ich komme jeden Tag, ich hab mich auch so, dass ich jeden Tag komme, angemeldet. Man muss sich erst bei der Betreuung anmelden. Die (Eltern) haben mich angemeldet, weil sie auch mal allein sein wollen und so was. Autorin Jeder kann ins Mehrgenerationenhaus kommen und dort essen, Menschen treffen und auch die Nachmittags- und Abendkurse besuchen. Etwa 500 solcher Einrichtungen gibt es in Deutschland. Das Haus in Groß-Schneen wurde vor zwei Jahren eröffnet. Neben betreutem Wohnen und einer Kindertagesstätte gehört auch Nena zum Mehrgenerationenhaus. So steht es jedenfalls an der Tafel am Eingang des Hauses. Wer bitte ist Nena? OT Szene 2 klopfen und Reden 0.19 wegen Geländer Autorin In Mollenfelde, einem Ortsteil der Gemeinde Friedland, wartet Hubert Henzelt vor einem braunen Hoftor. Eine zierliche alte Dame öffnet: Hilde Bertram. Sie geht am Stock und freut sich über den unerwarteten Besuch. Hubert Henzelt, vor zehn Jahren von Göttingen nach Mollenfelde gezogen, ist ein gefragter Mann: er hat Zeit, ist technisch begabt und hilft gern. Vor allem kümmert er sich um bedürftige ältere Menschen in seiner Nachbarschaft. Denn fast die Hälfte der 260 Einwohner Mollenfeldes sind Rentner, wie er übrigens auch. OT HH Idee dahinter 0.39 Heute sind ja viele Familien weit auseinander gestreut. Es gibt nicht mehr das Mehrgenerationenhaus im Sinne von Familie, deshalb sind dann viele junge Leute ohne Oma oder ältere Leute ohne Kinder, die ihnen helfen können und so speziell auch in der Gemeinde Friedland. Auch wir sind extra hierher gezogen, weil wir hier unseren Lebensabend verbringen wollen. Und so ist in der Gemeinde Friedland das demographische Problem da, dass mehr alte Leute da sind. Und natürlich - die jungen Leute wandern dahin ab, wo es die Arbeit gibt und die alten Leute wandern dahin ab, wo es die Ruhe gibt. Autorin Nena steht für "Netzwerk Nachbarschaftshilfe": Fahrdienste zum Arzt, technische Hilfe, Kinderbetreuung, Einkaufen und was sonst alles noch unter Nachbarschaftshilfe fallen könnte. OT Szene HH und Hilde 0.16 Ist denn eigentlich dein Badezimmerhocker - ist alles gut - das funktioniert noch? - alles gut, was du gemacht ist alles schön, jetzt freue ich mich auf den Handlauf, das wird bestimmt auch schön. - Und dein Kühlschrank funktioniert auch noch? - Alles läuft wie geschmiert. Autorin Bei Hilde Bertrams Treppe will Hubert Henzelt demnächst ein neues Geländer anbringen. Er zückt sein Maßband und misst die Abstände. OT Szene 3 Abschied Also dann Tschüss, ich komme nachher wieder und mache dir das dran - gemessen hast du schon - ja, dann Tschüss. Interpret: The Velvet Underground Titel: Sunday Morning Komponist Lou Reed, John Cale Text: Lou Reed, John Cale LC-Nr.: 0309, Polydor Atmo Glocke Autorin Diese Glocke ist Legende. Seit über sechzig Jahren läutet sie nun in Friedland im südlichen Niedersachsen. Atmo Glocke geht über in Zitator Wo die schlichten Hütten stehn im frischen Grün, wo als Gruß der Heimat tausend Blumen blühn, ruft die Friedland-Glocke in die Welt hinaus: lasst die deutschen Brüder heim ins Vaterhaus." Autorin Ihre Klänge waren angeblich auch via Radio im tiefsten Osten zu hören - sie wurden zum Symbol der Hoffnung für dortige deutsche Kriegsgefangene. OT Hörn Glocke 2, 0.25 Es ist so, dass früher die Friedlandglocke bei der Ankunft von geschlossenen Heimkehrertransporten immer geläutet hat. Dieses tut sie seit langer Zeit nicht mehr, da die Menschen grundsätzlich hier zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten ankommen, also nicht mehr in geschlossenen Transporten. Sie läutet aber noch regelmäßig zum Beginn des Gottesdienstes. Autorin Heinrich Hörnschemeyer, lässig und jovial, leitet seit fast zwanzig Jahren die Geschicke des Grenzdurchgangslagers. Musikakzent ganz kurz Interpret: Hauschka Titel: Paddington Komponist Volker Bertelmann LC-Nr.: Fatcat records, o. LC-Angabe Zitator "Das Flüchtlingslager Friedland (Leine) dient der Durchschleusung und der ersten Betreuung von Evakuierten und Flüchtlingen." Autorin So bestimmte das britische "Military-Goverment" 1945 die Aufgaben des Lagers. Drei Besatzungszonen stießen in Friedland aufeinander: die britische in Niedersachsen, die sowjetische in Thüringen und die amerikanische in Hessen. Der kleine Ort an der Leine war einer der Punkte, an denen sich die Flucht- und Wanderungsbewegungen nach dem Krieg verdichteten. OT Hörn. Briten 0.12 Damals ging es in erster Linie dass sich das britische Militär einen Überblick verschaffen wollte über die Menge der Menschen, die in den britischen Sektor gekommen ist und haben sie insofern einfach registriert." Musikakzent s.o Autorin Die ersten Ankömmlinge verbrachten die Nächte noch notdürftig in den Kuhställen eines Versuchsguts. Bald wurden sie von Blechbaracken, so genannten Nissenhütten, abgelöst. Eine aus grünlichem Wellblech ist auf dem Gelände des Lagers stehengeblieben. Sie beherbergt ein kleines Museum, zu dem Heinrich Hörnschemeyer die Tür öffnet. OT 17 Hörnsche. Kalt-warm, Hütte 0.24 Es ist ein dünnes Wellblech ohne Dämmung, und man erlebt im Prinzip die Wärme und die Kälte anders. Wenn die Sonne da drauf scheint im Sommer, ist es brütend heiß, im Winter ist es bitterkalt, weil nicht gedämmt und die Eiszapfen hängen oben an dem Wellblech und es war, glaube ich, alles andere als luxuriös, wie die Menschen hier in den ersten Jahren untergebracht wurden. Autorin Ein Bett, ein Medizinschrank, Koffer, ein paar Vitrinen. An den Wänden hängen historische Photos: Menschen, die am Bahnhof Friedland auf den Zug warten, winkende Heimkehrer, ausgemergelte Gestalten wie ein 45jähriger, der aussieht wie siebzig, mit verlauster Pelzkappe und Augen, die von den Schrecken zeugen, die der Mann erlebt hat. Auf einem anderen Photo kniet ein Paar im Schnee und küsst den Boden. In einer Vitrine liegt eine Petition an den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder. Denn 1999 drohte dem Lager die Schließung. Aber es regte sich Widerstand - mit Erfolg. OT Hörnschemeyer Erhalt des Lagers 0.34 Es gab in der Region hier immerhin knapp 15.000 Unterschriften innerhalb kurzer Zeit, Das zeigt, denke ich auch, dass die Region zu dieser Einrichtung steht, und das ganz deutlich. Darüber hinaus gab es auch über Parteigrenzen hinweg, egal ob im Gemeinderat, im Kreistag, deutliche Voten für den Erhalt des Grenzdurchgangslagers. Musikakzent kurz Interpret: Hauschka Titel: Kleine Dinge Komponist Volker Bertelmann LC-Nr.: Fatcat records, o. LC-Angabe Autorin In der strukturschwachen Region ist das Lager mit rund dreihundert Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber. Der Bund und das Land Niedersachsen sind die Betreiber. Allerdings ist es seit einigen Jahren nur noch spärlich belegt: die Zahl der Spätaussiedler ist stark zurückgegangen. Heinrich Hörnschemeyer ist jedoch davon überzeugt, dass Friedland, inzwischen das einzige deutsche Erstauffanglager, auch in Zukunft seine Bedeutung behalten wird. OT Hörn. Provisorium, 1.02 Im Jahre 1945 hätte sich niemand träumen lassen, dass es diese Einrichtung im Jahre 2010 gibt mit dieser Aufgabenstellung. Friedland war ein ewiges Provisorium, was Zugangszahlen angeht, gab es ständiges Auf- und Ab, die Zugänge waren ja häufig abhängig von der großen Politik. Kamen viele Menschen, dann hat man über eine Erweiterung nachgedacht, dann wurde der Zustrom plötzlich deutlich geringer, man hatte an Rückbau gedacht, die ersten Schritte unternommen, und schon ging es wieder in die andere Richtung. Wir leben bisher, seit über sechzig Jahren, ganz gut mit diesen Diskussionen: braucht man die Einrichtung, braucht man sie in der Größenordnung. Wir haben, glaub ich, unter Beweis gestellt, dass wir flexibel sind, uns auf andere Größenordnungen und auf andere Aufgabenschwerpunkte einzustellen. Das wird auch in Zukunft nötig sein. Autorin In den Schubladen des niedersächsischen Landtags liegen auch weitere Pläne für Friedland. Das Auswanderermuseum in Bremerhaven vor Augen, denkt man nun in Niedersachsen an ein Gegenstück: ein Einwanderermuseum. Die Archivbestände des Lagers sind groß und werden gerade aufgearbeitet. Erinnerungskultur als Tourismusmagnet? Musik Interpret: Sergej Rachmaninow Titel: Spinning Song op. 67 Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy LC-Nr.: 5307, Telarc OT 9 Campe einsam 0. 16 Wenn wir hier spazieren gehen, treffen wir keine Fremden. Das ist eben doch ein Vorteil. Wenn man mal zwei Stunden unterwegs war, ohne einen Menschen gesehen zu haben hier in diesen schönen, ausgedehnten Waldgebieten - das ist Luxus. Autorin Am liebsten wäre Gustav von Campe heute in die Natur gegangen, auf eine Anhöhe in der Nähe seines Hauses. Aber der Nebel liegt so dicht über dem Dorf Ballenhausen, einem Ortsteil der Gemeinde Friedland, dass kaum etwas zu sehen ist. Gustav von Campe, Philosoph und ein großer Leser, ist darüber nicht allzu betrübt. Er erklärt die Gegend stattdessen anhand einer Landkarte. OT Campe Skandinavien 0.38 Das Leinetal macht genau dort, wo die Grenze zu Thüringen und Hessen ist, einen Knick. Wenn Sie also von Friedland nach Eichenberg mit der Bahn fahren, und Sie haben dann von der Bahn aus den Blick auf die hessischen Berge und auf das Werratal, eine vollkommen veränderte Landschaft. Und ein Schriftsteller, Jürgen von der Wense fragt sich: Warum ist die Werra nicht in die Leine geflossen? Wieso begegnen sich Leine und Werra da überhaupt nicht? Das ist also eine geographische Sperre, die sozusagen Norddeutschland und Süddeutschland voneinander trennt. Autorin Dann holt er ein dickes Buch des besagten Jürgen von der Wense: "Wanderungen" heißt es. Der Komponist und Schriftsteller, Jahrgang 1894, führte ein ruheloses Leben, bis er sich schließlich in der Nähe von Göttingen niederließ. Von 1930 an frönte der vielseitige Künstler, der auch Geologe, Heimatforscher und Meteorologe war, einer weiteren Leidenschaft: dem Wandern. Möglicherweise hat er sich dabei auch ein wenig verzettelt. Jedenfalls durchquerte er unermüdlich Westfalen, Hessen und Niedersachsen, kartographierte, photographierte. Und er war natürlich auch in der Gegend um Friedland unterwegs. OT Campe Messtisch 0.23 Er nahm sich immer so ein Messtischblatt vor, also so eine Karte, die die Höhenlinien genau verzeichnet und dieses Messtischblatt war für ihn, da er ja Musiker gewesen war, wie eine Partitur, die er bewanderte. Gucken wir mal eben, was hier unter dem Messtischblatt Reinhausen steht, 272 Musik unterlegen Interpret: Brandenburg. Staatsorch. Frankfurt Titel: Capricci op. 21 Komponist Eduard Erdmann LC-Nr.: 8492, cpo Zitator "Das Blatt umfasst den südlichsten Zipfel von Niedersachsen im Übergang zu Thüringen und Hessen, also die engste Berührungs- und Übergangsstelle von Nord- und Mitteldeutschland, im weitesten Sinne von Nord und Süd; wie Humboldt im Scherze nicht unrecht gesagt hat, in Witzenhausen ende Skandinavien und begänne Italien. Es ist also Grenzland und daher voll Spannung und Modulation: wie in einem Musikstück beginnt in einer kühnen melodischen Kurve hier eine neue Tonart, ein anderer Rhythmus." Musik hoch Autorin Wahrscheinlich ist auch Gustav von Campe ein Außenseiter wie es Jürgen von der Wense war. Er lebt spartanisch auf seinem Hof mit der alten Kastanie in der Mitte. Hier ist nichts und niemand dem Renovierungswahn verfallen, vermutlich fehlen dazu auch die Mittel. Der schlanke, große Mann ist ein begnadeter Heimatforscher-Philosoph. Sein Traum: auf dem Dachboden seiner alten Scheune wieder eine Tanzperformance zu veranstalten. Zwei haben dort schon stattgefunden. OT Wense Performance 0,41 Also ich meine, dass die Begriffe Land und Performance ganz eng was miteinander zu tun haben. Da fällt mir übrigens auch ein, dass Joseph Beuys in der kritischen Zeit, als er eine Persönlichkeitskrise gehabt hat, auf dem Land gelebt hat, auf dem Land gearbeitet hat und auch dort gesundet ist. Es war für ihn eine Therapie. So ein Satz wie ,Jeder Griff muss sitzen' ist nicht unbedingt der Satz eines feinsinnigen Künstlers. Und diese Beziehung des ländlichen Lebens mit der Performancekunst, die scheint mir ganz einleuchtend zu sein, und ich wäre froh, wenn das nach meinem Ableben irgendwann mal bekannt werden könnte. Autorin Einstweilen kümmert sich Gustav von Campe um die "Stiftung Scheidemann". Dahinter verbirgt sich eine kleine, feine Bibliothek, die sein Großvater, ein bibliophiler Landwirt, ins Leben gerufen hatte: alte Lexika, historische Reiseliteratur, Militaria, Musenalmanache. OT Campe Bibliothek 0.23 Es ist im Grunde so, dass diese Bibliothek im Grunde eben doch recht schön und auch wertvoll ist und die hat mein Großvater am Ende seines Lebens in die Stiftungsform gebracht. Das bedeutet, sie ist kein Privateigentum mehr und dient Interessierten, die an den Büchern arbeiten möchten. Und ich habe es so ausgelegt, dass ich in diesem Raum, der seine Ausstrahlung hat, Tagungen veranstalte. Musik Interpret: Bob Dylan Titel: I feel a change coming on Komponist Bob Dylan Text: Bob Dylan LC-Nr.: 6868, Sony Music Autorin Jeden, den man in Friedland fragt, was denn in dieser ländlichen Region einen Besuch lohne, fragt: Waren Sie schon in Besenhausen? Atmo Auto Autorin Also auf nach Besenhausen. Das liegt an der Straße, die von Friedland nach Niedergandern führt. Besenhausen ist ein altes Gut, seine Anfänge reichen bis ins späte 17. Jahrhundert zurück. Bevor man auf den großen Hof gelangt, in dessen Mitte eine alte Linde steht, bleibt der Blick an einem imposanten, mehrgeschossigem Gebäude hängen - einer ehemaligen Zuckerfabrik. Atmo Café Autorin Zucker gibt es heute allenfalls im Erdgeschoß im Café, dazu gehört auch ein Ausstellungsraum mit vielen bunten Kissen, Decken und Schals. Die entstehen in der oberen Etage, in der "Handweberei im Rosenwinkel". Martina Gottschalk verwaltet diesen sozialen Betrieb, in dem benachteiligte Frauen arbeiten. OT Go -Material 0.28 Wir verwenden ausschließlich Naturmaterialien wie Leinen, Baumwolle, Wolle, Seide und Ramie. Die Materialien, die wir beziehen, unsere schönen Wolldecken, das ist finnische Wolle, weil die Schafe aus Finnland die beste Qualität liefern. Die wird hier gefärbt und auch aufgeraut, gereinigt und wieder bearbeitet, falls die Decken mal nicht mehr so schön sind, also es ist quasi was fürs Leben. Atmo Webstuhl Autorin Die Weberei ist wunderschön: hell flutet das Licht durch die zahlreichen Fenster in den gut fünf Meter hohen Raum. Vierzehn Webstühle stehen in Reih und Glied. An einem sitzt die türkischstämmige Bedri Sahin. OT Was sie webt 0.11 Also ich webe jetzt Geschirrhandtücher, die Kette ist Baumwolle, Leinbaumwolle ist, ist Wolle gemischt, und dann wird ich damit schießen. Atmo Webstuhl hoch, geht über in Atmo Café Autorin Im Café im Erdgeschoss sind fast alle Tische besetzt. Aber im Vergleich zum Sommer, wo die Menschen manchmal warten müssen, um auf dem Hof einen der 120 Plätze unter der Linde zu ergattern, ist es ruhig. Vorsaison eben. Da hat auch die Betreiberin des Hofcafés Zeit. OT A. Flechtner stellt sich vor 0.37 Ich bin Antoinette Flechtner, und ich bin hier in Besenhausen groß geworden, führe das Leben einer Landfrau, wie sich das gehört mit allem drum und dran. Inzwischen sind die fünf Kinder raus, aber es ist trotzdem immer noch ziemlich viel. Zum Beispiel haben wir seit dem Jahr 2000 ein Hofcafe, das ist gegründet worden im Zuge der Expo in Hannover, und wir waren eine Außenstelle für dieses Projekt, und da musste ein Café her, und da haben wir das ziemlich schnell mit einem Freund zusammen aus der Taufe gehoben. Autorin Das hätte sie nicht gedacht: dass sich ihr Hofcafé so etablieren würde. Aber da es sonst wenig Attraktionen in und um Friedland gibt, wird es dankbar angenommen: von den Radlern, die auf dem Leine-Heide Weg unterwegs sind, von Tagesausflüglern, von Göttingern, die eineTour aufs Land machen möchten. OT Fl. Welt in Ordnung 0.21 Ich glaube, dass die Menschen einfach unser Ambiente unheimlich lieben. Mein Schwiegervater pflegte immer zu sagen. In Besenhausen ist die Welt noch in Ordnung und ich glaube, er hat nicht ganz Unrecht. Zumindest sagen mir das die Menschen auch, dass sie sehr glücklich hier sind, und wenn sie nur unterm Baum sitzen und die Enten auf dem Teich beobachten oder nur die Ruhe genießen. Autorin Im Gutshaus, einem wohl proportionierten Gebäude aus der Barockzeit, sitzt Antoinette Flechtners Mann Detlev beim Tee. Der Landwirt kam vor vierzig Jahren nach Besenhausen. OT D. Fl. bedrückende Grenzlage 0.21 Als ich hierher kam, war natürlich die Grenze da, es waren Zäune, Stacheldraht, Minen, Hunde, Soldaten. Es war natürlich wie auf dieser ganzen, 1400 km langen innerdeutschen Grenze überall dasselbe. Es war erschreckend, es war abschreckend, und es war am Anfang auch etwas bedrückend. Bedrückend ist es immer geblieben. Autorin Solange, bis die Grenze fiel und Besenhausen plötzlich mitten in Deutschland lag. Dass das Gut damals nach der Teilung Deutschlands nicht in den sowjetischen Sektor fiel, ist nur dem Engagement von Detlev Flechtners Schwiegervater zu danken. Denn eigentlich waren die Grenzen schon gezogen. Aber dem Landwirt gelang es, die Russen zu einer kleinen Korrektur zu bewegen. Und so wurde Besenhausen dem Westen zugeschlagen, die DDR begann direkt hinterm Hof. Wenig später zogen Flüchtlingsströme auf dem Weg nach Friedland durch Besenhausen. OT D. FL. Ströme von Flüchtlingen (2 Mill) 0.35 Es sind hier an dem Gut vorbei von 1945 bis 54 etwa 2 1/2 Millionen Menschen vorbeigekommen, und fast alle zu Fuß, mit Bollerwagen, mit kleinerem Gepäck, mit größerem Gepäck, Kindertransporte, Gefangenentransporte, die entlassenen Kriegsgefangenen, die damals nach Adenauers Besuch in Moskau freigelassen wurden sind zum Teil über Herleshausen, zum Teil über Besenhausen angekommen. All das ist auf dieser Straße von Besenhausen nach Friedland gezogen. Musik (Auszug) Interpret: Rabih Abou-Khalil Titel: Mourir pour ton décolleté Komponist Rabih Abou-Khalil LC-Nr.: 03126, enja Autorin Friedland ist ein Kreuzungspunkt unterschiedlicher Biographien, an dem das Schicksal seine Fäden zu weben scheint. Der Ort im südlichen Niedersachsen ist für viele das Eingangstor zu einem neuen Leben in Deutschland. Musik Rabih Abou-Khalil noch mal kurz hoch Autorin Die meisten Menschen, die nach Friedland kommen, sind Spätaussiedler. Seit einem Jahr ist das Lager aber auch Durchgangsstation für Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Irak. Deutschland hat sich in einem EU Abkommen bereit erklärt, 2500 von ihnen aufzunehmen. Die meisten sind Christen oder Angehörige einer verfolgten Minderheit. Sie alle haben den Irak bereits verlassen, erklärt Sahinan Jacob. Er stammt aus Syrien, lebt mit seiner Familie in der Nähe von Göttingen und betreut die ankommenden Iraker im Lager. OT Jacob arab. Lager 1 Die Leute waren seit sechs Jahren in Jordanien und Syrien. Alle waren in einem Lager dort, nicht gleich unsere Lager. Unser Lager hier in Friedland ist sehr sauber, sehr gut und sehr bequem. Deshalb haben die Leute Probleme in Bagdad, Mussol, im Irak, deshalb vor sechs Jahren alle verloren die Bekannten, die Wohnung, den Job. Und jetzt, die EU hat gesagt, die Leute können kommen und alle sagen: Ja, wir kommen von Dunkel nach Licht, weil 100% das Leben ist anders als in meiner Heimat. Die Leute haben viel Ordnung und dort keine Ordnung, tut mir leid. Autorin Über Syrien kam auch die irakische Familie von Jalal Sulaiman nach Deutschland. Sie gehört zu einer religiösen Minderheit im Irak. Der feinsinnig aussehende Mann mit den großen dunklen Augen, die warmherzig und zugleich sorgenvoll blicken, ist Mitte vierzig. OT Jalal bedroht 0.53, synchronisieren Wir leben seit 36 Jahren im Irak, aber nach der amerikanischen Besatzung des Irak war das Leben einfach nicht mehr sicher. Dann ist es zu Religionskonflikten gekommen. Ich hatte einen Laden, in dem ich alkoholische Getränke verkaufte und ich weiß nicht wer von den Milizen meinen Laden zerstört hat. Ich wurde indirekt bedroht, weil ich Jeside bin und weil ich Alkohol verkaufte. Meine Frau wurde beleidigt, weil sie kein Kopftuch trägt, mein Sohn wurde in der Schule unter Druck gesetzt - weil wir Jesiden sind. Das wurde immer schlimmer, und deshalb flohen wir erst in den Norden des Irak und von dort nach Syrien. Autorin Dreieinhalb Jahre verbrachte die Familie in Damaskus. Aber ihr Aufenthaltsstatus dort war begrenzt. In den Irak konnten und wollten sie nicht zurück. Dann kam das Angebot, nach Deutschland zu gehen. Jalal Sulaiman und seine Frau May zögerten nicht lange. OT Jalal Deutschland 0.34, synchronisieren Im Irak wird sich die Lage vermutlich nicht bessern. Für uns war Sicherheit wichtig. Nach Deutschland kamen wir vor allem wegen der Menschenrechte. Wir haben gehört, dass sie hier respektiert werden. Uns war klar, dass wir nicht mehr in den Irak zurückkönnen. In Syrien zu bleiben, war auf Dauer nicht möglich. Autorin Als sie von Damaskus aus auf dem Flughafen in Hannover landeten, lag noch Schnee. Dann kamen sie nach Friedland - nach Bagdad und Damaskus ein weiterer Einschnitt im Leben der Familie. Nun wohnen sie vorerst in einem Zimmer mit drei Doppelstockbetten. Überall stehen Koffer und Taschen, mit denen die Familie dann nach Goslar weiterziehen wird. OT May Gepäck 0.13, synchronisieren Ich habe vor allem Kleidung mitgebracht, das meiste, sogar Photos von unserer Hochzeit, habe ich in Syrien gelassen, weil ich keinen Platz hatte. Die Haushaltssachen habe ich an die Nachbarn verteilt. Autorin Bei der Erinnerung an ihrer Heimat Irak kommen May die Tränen. Und auch die Kinder werden still und schlucken. Dann sagt der 14jährige Nawres mit einem Lächeln: OT Nawres dt. lernen, Aquar. 0.12, synchronisieren Natürlich freue ich mich, dass ich Deutsch lernen kann, für mich es eine Ehre, diese Sprache zu lernen. Was ich vermisse? Ich musste mein Aquarium zurücklassen, jetzt wünsche ich mir von Deutschland ein Ersatzaquarium. OT Gottesdienst dt. Autorin In der katholischen St. Norbert Kirche hat die Abendandacht begonnen. Die Kirche liegt direkt an der Heimkehrerstraße zwischen dem westlichen und östlichen Lager. Davor steht der "Heimkehrer", eine vier Meter hohe Skulptur, die erhobenen Hauptes den Stacheldraht niedertritt. OT Gottesdienst 2 arab. Gesang, 1.10 Autorin Pater Romuald Greh gestaltet den Gottesdienst gemeinsam mit dem Syrer Sahinian Jacob. Denn der ist auch Diakon - für die Iraker, die meistens Christen sind. Sie machen an diesem Tag auch den größten Teil der Gottesdienstbesucher aus. Sahinan Jacob wundert das nicht. OT Jacob Beten 0.27 Orientalische Leute haben viel Glauben, weil ich sehe, kleine Kinder und alte Oma und junge, und Opa, alles, wenn sie hören die Glocke der Kirche, kommen alle zusammen kommen zum Beten. Weil die Leute immer Glauben haben. Und Beten ist wie ein Medikament für diese Leute, ja. Jingle Kennmusik Sprecher vom Dienst "Tor zur Freiheit Die Gemeinde Friedland und ihr Grenzdurchgangslager" Das war eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck. 1