DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 16.12.2008 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 - 20.00 Uhr "So viel Armut gab's noch nie" Die Verlierer des polnischen Wirtschaftsbooms Von Achim Nuhr Co-Produktion WDR/DLF/RB/SR/SWR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - ATMO: Arbeiter schlägt Kohle O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Die Wirtschaft boomt, aber nicht hier, sondern bei den Geschäftsleuten und den Politikern! Die kümmern sich nicht um uns. Die sind gefühllos gegenüber einfachen Leuten. SPRECHERIN 1: Polens Wirtschaft boomt: mit 6 Prozent Wachstum jährlich, rasant steigendem Privatkonsum und immer neuen Rekorden bei den ausländischen Direktinvestitionen. "Das Land marschiert weiter Richtung westeuropäisches Wohlstandsniveau", bilanziert das Institut der deutschen Wirtschaft. Polen gilt als Musterschüler unter den neuen Mitgliedern der Europäischen Union. Doch viele Bürger Polens sehen das ganz anders. Der Anteil der "extrem Armen" ist auch nach amtlichen Statistiken innerhalb eines Jahrzehnts stark gestiegen: von 5 auf 12 Prozent der Bevölkerung. 36 Prozent der Polen können sich nicht einmal an jedem zweiten Tag eine richtige Mahlzeit leisten. Ein Politikum, denn die Grundrechte-Charta der Europäischen Union sichert jedem ein "menschenwürdiges Dasein" zu - und ein Recht auf soziale Unterstützung, falls dazu die eigenen Mittel nicht ausreichen sollten. MUSIK Sprecher 3 Ansage: So viel Armut gab's noch nie - die Verlierer des polnischen Wirtschaftsbooms Ein Feature von Achim Nuhr ATMO: ruhige straßenatmo AUTOR: Ich reise durch Polen, um vor Ort zu erfahren, wie die Armen wirklich leben: Mieter, Bauern, Arbeiter werden mir Erstaunliches berichten; an Orten, die mitten in Europa liegen, aber teils so exotisch wirken wie der Orient. ATMO: schritte, verkehr AUTOR: Meine Tour beginnt an der "Aleje Jerozolimskie": Die Allee ist die Hauptachse der Warschauer Innenstadt. Wuchtige Gebäude erinnern zwar noch an realsozialistische Zeiten, doch die meisten beherbergen inzwischen führende westliche Unternehmen: Banken, Hotels, Kaufhäuser. ATMO: treppe hinauf zur mieterversammlung, stimmen, begrüßung AUTOR: Das Haus Nummer 30 ist eine Ausnahme: Hier haben Bürgerkomitees und kleine Protestparteien ihren Sitz. In dem vergammelten Hausflur hängt ein Schreiben mit dem Hinweis, dass der Vermieters wegen einer "Generalsanierung" gekündigt hat. Es ist 18 Uhr, in einem Raum hat gerade ein Treffen einer Mieterinitiative begonnen. Piotr Ikonovicz, der Rechtsanwalt der Mieterinitiative, hat das Wort: O-TON: what we experience is ... people go free. Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Ikonovicz: Wir erleben heute, wie ganz normale Mieter mal eben auf der Straße landen, auch arbeitende Menschen mit Kindern. Denn die Stadtregierung liefert sie schutzlos den Entwicklern und Spekulanten aus. Demokratie kann aber nicht funktionieren, wenn eine einzelne Person ein Haus kaufen und dann alle Bewohner einfach hinauswerfen kann. Man sagt in Polen: OK, Wohnhäuser kann man leicht kaufen, aber leider muss man dann erst mal die Mieter loswerden. AUTOR: Piotr Ikonowicz ist ein landesweit bekannter Linker. Er ist ein wuchtiger Mann, sein Holzfällerhemd unterstreicht noch seine stattliche Statur. Ikonovicz hat bereits zweimal als Kandidat der sozialistischen Partei für das Amt des polnischen Präsidenten kandidiert. Als Rechtsanwalt der Mieterinitiative hat er viel zu tun. SPRECHERIN 1: Denn auf dem Immobilienmarkt geht es sehr hektisch zu seit der "Transformation", also dem Übergang Polens vom Sozialismus zur Marktwirtschaft. Früher waren in Warschau die meisten Gebäude in öffentlichem Besitz. Die Wohnungen gehörten in der Regel der Stadtverwaltung oder staatlichen Unternehmen, die ihre Angestellten unterbringen mussten. Sie waren spottbillig und oft in miserablem Zustand. Nach der Wende wurden die meisten privatisiert. Die Wohnungswirtschaft mutierte zu einem gigantischen Monopoly für Spekulanten. Viele Wohnungen wechselten bis heute gleich mehrfach den Besitzer. Im Gesetzbuch ist das auf dem Papier alles fair geregelt. AUTOR: Aber in Wirklichkeit gäbe es einen riesigen Sumpf an Korruption und Misswirtschaft, sagen Kritiker wie Piotr Ikonowicz. O-TON: you have a building ... That is it. Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Ikonovicz: Nehmen Sie gleich hier in der Nähe das Gebäude Czerniakowska*-Straße 209: früher ein altes Haus mit 60 Wohnungen. Es gehörte der Stadtverwaltung. Zu den Verantwortlichen zählte der Beamte Tadeusz Mentus. Nach der Wende begann Mentus, parallel für ein Bauunternehmen namens Domex zu arbeiten. Sein Bauunternehmen machte ein Kaufangebot für das alte Haus, für das er bei der Stadtverwaltung selbst zuständig war. Prompt erhielt Domex das Haus, für einen lächerlichen Kaufpreis von gerade mal 200 000 Zloty, kaum 60 000 Euro. Die offizielle Begründung für den niedrigen Preis lautete: Das Gebäude sei baufällig, es müsse abgerissen werden und die Stadt hätte dafür nun mal leider kein Geld. Als Mentus das Gebäude erst einmal in Besitz genommen hatte, vertrieb er die Mieter, riss das ganze Haus ab und verkaufte das leere Grundstück. Und zwar für das 18fache des Kaufpreises, nämlich fast 1,1 Millionen Euro! So oder ähnlich läuft das hier vielerorts. *"Tschernakowska" ATMO: eröffnet versammlung, stimme laut, frau spricht AUTOR: Aber wie hat Tadeusz Mentus die Mieter damals aus den Wohnungen bekommen? Schließlich gibt es in Polen EU-konforme Mieterschutz-Gesetze. Ikonowicz lächelt milde und stellt mir Anna Kurek vor, eine ältere, stämmige Dame mit Boxernase und einer bunt gestreiften Polyester-Bluse. Frau Kurek gehörte damals zu den Mietern. O-TON: polnisch Sprecherin 2 ÜBERSETZUNG Kurek: Nachdem Herr Mentus das Gebäude gekauft und übernommen hatte, brach plötzlich Terror aus: Vor allem nachts brannte es immer wieder irgendwo im Gebäude. Mal fingen elektrische Installationen Feuer in Wohnungen, die gerade leer standen. Oder Gerümpelkammern in den Fluren. Herr Mentus wollte wohl das Gebäude nach und nach zerstören, um die Mieter allesamt zu verscheuchen. AUTOR: Frau Kurek war mir bereits während der Mieterversammlung aufgefallen, weil sie so mürrisch schaute. Doch das täuscht anscheinend: Sie ist gleich bereit, mir Auskunft zu geben und auch zu zeigen, wie sie heute wohnt. Wir fahren zu ihr, obwohl es schon auf 21 Uhr zugeht. ATMO: Kurek dirigiert den Taxifahrer AUTOR: Der Weg führt über eine Stadtbrücke nach Praga, einen rauen Stadtteil, den die Reiseführer als "nachts unsicher" beschreiben. Es ist bereits dunkel geworden. ATMO: Hund bellt hinter Tür schritte durch die Wohnung AUTOR: Frau Kurek zeigt ihre winzige Wohnung: Ein bissiger Dackel ist im Bad eingesperrt. Die Familie hat ihn nach einem Einbruchsversuch besorgt, damit er nun nachts Wache hält. In der insgesamt 47 Quadratmeter großen Wohnung leben Frau Kurek und ihr Mann, ihre beiden Kinder und der Enkel. Die neue Unterkunft ist ein krasser Abstieg: In dem alten Gebäude hatte die Familie noch in zwei Wohnungen gelebt. Frau Kurek erzählt, wie ihr Vermieter sie schließlich vertrieb. O-TON: polnisch Sprecherin 2 ÜBERSETZUNG Kurek: Zwei Jahre lang lebten wir trotz der Brände weiter in unseren alten Wohnungen. Wir rannten zu Ämtern und versuchten alles. Doch dann verlangte Herr Mentus plötzlich auch noch viel mehr Miete. Wir waren nicht einverstanden und zahlten das Geld auf ein Sperrkonto. Als nächstes drohte er, uns zu vertreiben. Er sagte, wir müssten bald unter einer Brücke leben. AUTOR: Die Großfamilie geht auf ein Angebot des Spekulanten ein: Sie könne in zwei anderen Wohnungen in Ruhe leben, allerdings in einer schlechteren Gegend. Obwohl das Viertel Praga viel unattraktiver ist, verlangt der Spekulant auch dort immer höhere Mieten. Ständig wechseln die Konten, auf die die Mieten eingezahlt werden sollen. Mentus scheint darauf zu lauern, dass die Familie irgend etwas falsch macht. Mit Erfolg: Als der Sohn arbeitslos wird, muss er zwei Monatsmieten schuldig bleiben. Der Vermieter fackelt nicht lange: Er wartet, bis gerade niemand in der Wohnung ist und lässt sie räumen. Er wechselt das Türschloss aus. Den Hausrat lässt er im Treppenflur liegen. Danach zieht der Sohn in die verbliebene Wohnung, in der wir gerade sitzen. Mentus gibt bis heute keine Ruhe: Er möchte die armen, lästigen Mieter gleich ganz loswerden und hat deshalb auch diese Wohnung gekündigt, wegen "Überbelegung": SPRECHERIN 1: Die polnischen Mietgesetze wurden in den letzten Jahren mehrfach geändert, zuletzt 2007: Seitdem dürfen Vermieter alle sechs Monate die Mieten derart anheben, dass sie nach Abzug ihrer Kosten einen "angemessenen Gewinn" erzielen. Was angemessen ist, wird nicht näher definiert. AUTOR: Die aktuelle Mietforderung für die winzige Wohnung der Kureks beträgt umgerechnet fast 500 Euro. Die Familie weiß nicht, wie sie die Summe auf Dauer begleichen soll. Deshalb bleiben die Kisten mit dem Hausrat vorsichtshalber gepackt. Die Kureks können sich vor allem nachts schlecht wehren: Da arbeiten Frau Kurek und ihr Mann für einen Wachdienst auf Parkplätzen. Der Stundenlohn beträgt gerade 1,50 Euro. Der Sohn sucht weiterhin Arbeit. Die alleinerziehende Tochter kümmert sich vor allem um ihr Kind, weil es starkes Asthma hat. Sie erhält knapp 160 Euro staatliche Beihilfe, 90 Euro zahlt ihr der Vater des Kindes. SPRECHERIN 1: Die Gewinner der neuen Zeit können die neuen Möglichkeiten für sich nutzen. Die Verlierer leiden vor allem unter Inflation und Sozialabbau. Sprichwörtlich ist deshalb die Unterteilung in "Polen 1 und 2", oder "Polen A und B" geworden. Grundbedürfnisse wie Wohnen waren vor 1990 überreguliert: Eine starre Staatsbürokratie ließ ganze Wohnviertel langsam verkommen. Doch viele Menschen mit niedrigem Einkommen waren damals trotzdem froh über ihre billige Bleibe. Nach der Transformation war der Wohnungsmarkt dann plötzlich viel freier, als er in der Bundesrepublik Deutschland jemals werden dürfte: zur Freude der Bauherren, zu Lasten vieler Mieter. Und das Wohnen ist nur ein Beispiel. Vieles wird jetzt in Polen rein marktwirtschaftlich geregelt, weiß die Soziologin Maria Jarosz von der Polnischen Akademie der Wissenschaften aus eigener Erfahrung: O-TON: polnisch Sprecherin 3 ÜBERSETZUNG M.Jarosz: Die Ungleichheit wächst auch dort, wo es um Leben und Tod geht. Leute, die kein Geld haben, können sterben. Das weiß ich aus eigener Erfahrung: Mein Mann lag einmal in einem Krankenhaus nahe Warschau und wartete auf eine Operation. Ich möchte gar nicht sagen, wie viel Geld ich dem Arzt zustecken musste, damit er ihn endlich operierte. Neben meinem Mann lag ein anderer Patient, der täglich von seiner Frau und seinen kleinen Kindern besucht wurde. Die Frau erklärte dem geldgierigen Chirurgen, dass die Familie arm wäre und nur eine kleine Wohnung besitzen würde. Da sagte der Chirurg: Dann entscheiden Sie, was ihnen wichtiger ist, die Wohnung oder das Leben ihres Mannes. Da verkaufte sie die Wohnung. Ihr Mann wurde endlich operiert, aber zu spät: Er starb. Da habe ich der Witwe gesagt: Lass' dir wenigstens das Geld zurückgeben. Doch der Arzt antwortete ihr später: Haben Sie denn eine Quittung? ATMO: zugtüren schließen, 2x pfiff schaffner, zug fährt ab, lautsprecher bleiben zurück Fahrender Zug AUTOR: Ich verlasse Warschau und fahre ostwärts. Mein Zug ist uralt, ganz anders als die eleganten, viel teureren Intercity-Züge, die nach Westen Richtung Deutschland rollen. SPRECHERIN 1: Fast jeder fünfte Mensch in Polen arbeitet in der Landwirtschaft, europaweit ist es dagegen nur jeder 25ste. Viele arbeiten heute notgedrungen nur noch für den Eigenbedarf und lassen sich deshalb statistisch kaum erfassen. Sie sind über ganz Polen verteilt. Aber die meisten leben in den fünf östlichen Bezirken, an den Grenzen zu Russland, Litauen, Weißrussland und der Ukraine. Diese fünf Bezirke sind zugleich die ärmsten Bezirke der gesamten Europäischen Union, sagt deren Statistik. ATMO: hineinkommen in haus, djin dobre, tv läuft, schritte, frau ist hektisch: wurschtelt, ist außer atem, rennt umher und räumt auf AUTOR: Das Dorf Pustniki liegt in einem dieser Bezirke, Warminsko-Mazurskie. Ein Pfarrer hat mir den Kontakt vermittelt zu Teresa Zuzelska. Jetzt ist Frau Zuzelska derart aufgeregt und außer Atem, dass ich fast schon um ihre Gesundheit fürchte. Hierhin kommt selten ferner Besuch, und wenn, dann meistens gleich mit einem großen Lastwagen: Pustniki und umliegende Dörfer erhalten Hilfslieferungen mit gespendeten Lebensmitteln aus Deutschland. Dabei wirkt Frau Zuzelska sehr zupackend, gar nicht wie eine Almosenempfängerin. O-TON: polnisch Sprecherin 4 ÜBERSETZUNG T.Zuzelska: Ich bin alleinerziehend, seitdem mein Mann gestorben ist. Im vergangenen Jahr bekam ich für meine drei jüngsten Kinder zusammen 180 Euro pro Monat und von der Gemeinde noch einmal 60 Euro im Jahr hinzu. Dazu bekomme ich eine Rente: 130 Euro im Monat. Mit dem Geld muss ich alles bezahlen: Gas, Wasser, Abwasser, Strom. Uns bleiben für die täglichen Ausgaben 90 Euro im Monat, für alle vier Personen zusammen. AUTOR: Ein solches Monatsbudget gälte selbst in klassischen Entwicklungsländern wie Indien als eher knapp. Dabei sind die Preise im EU-Land Polen sehr viel höher als in Indien, und eher mit denen in Deutschland zu vergleichen. Auf dem Weg hierher bin ich an einer Filiale eines bekannten deutschen Discounters vorbeigekommen und habe bei der Gelegenheit die Preise studiert. Sie sind mit Frau Zuzelskas Einkommen nicht bezahlbar. Sie tritt als Konsumentin praktisch kaum in Erscheinung. O-TON: polnisch Sprecherin 4 ÜBERSETZUNG T.Zuzelska: Wir können kein Gemüse kaufen, aber wir haben unseren Gemüsegarten. Dann halten wir ein paar Hühner. Ab und zu können wir ein paar Eier verkaufen und damit Geld verdienen. Ich habe insgesamt elf Kinder, aber acht Söhne sind schon aus dem Haus. Einige haben Arbeit und verdienen Geld. Seitdem mein Mann tot ist, hilft uns auch unser Pfarrer sehr. Er gibt uns alte Kleider, die von einer Gemeinde auf der deutschen Insel Sylt kommen. AUTOR: Frau Zuzelskas Lebensstandard liegt irgendwo zwischen Erster und Dritter Welt: Ihre Zahnlücken, der Bollerofen, die Kleiderberge, die überall in der Wohnung verstreut liegen, sowie die abgewetzten Möbel erinnern an die Zustände in einem Entwicklungsland. Doch andererseits sind da auch noch der große Farbfernseher mitsamt Sattelitenschüssel, ein Telefon und die anscheinend ausreichenden Nahrungsmittel. Beiläufig erwähnt Frau Zuzelska immer neue Überlebensstrategien: In diesem Monat hat sie zusätzlich auch noch für die Gemeinde ein fremdes Rentnerpaar gepflegt, das weit draußen im Wald wohnt. Knochenarbeit, denn dort muss das Wasser noch aus dem Brunnen geholt werden. Die Gemeinde hat ihr für diese Halbtagsbeschäftigung gerade 87 Euro netto gezahlt, für den gesamten Monat. Abends geht Frau Zuzelska dann noch im Wald Pilze sammeln ... ATMO: frau telefoniert AUTOR: Ich rechne und rechne, verstehe aber letztlich trotzdem nicht, wie Frau Zuzelska zurechtkommen kann. Auch sie muss irgendwann schlafen. Von Brot und anderen Grundnahrungsmitteln war noch gar nicht die Rede. In ihrem winzigen Dorf gibt es nicht mal einen Laden. Frau Zuzelska bemerkt meine Verwirrung und bietet an, gemeinsam zu dem Pfarrer zu fahren, der mir den Kontakt zu ihr telefonisch vermittelt hat. MUSIK ATMO: Tassen klappern, stimmen vor Beginn des Interviews AUTOR: Nun sitzt Krzysztof Mutschmann* in seinem Wohnzimmer, zwei Frauen sind gerade zu Besuch. Wir setzen uns zusammen. Als ich den Pfarrer frage, wie die Menschen aus seiner Gemeinde ein Auskommen finden, kommt er gleich auf den Punkt. *"Krischtof Mutschmann" O-TON: polnisch Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Mutschmann: Die Gemeinde hier hat etwa 5000 Einwohner. Fast jeder Zehnte benötigt Essensrationen, um zurecht zu kommen. Deshalb wurde hier ein Nahrungsmittellager eingerichtet, finanziert von der Europäischen Union. Eine fünfköpfige, bedürftige Familie bekommt zum Beispiel 250 Kilogramm Nahrungsmittel im Jahr: Nudeln, Käse, Milch und anderes mehr. Solche Hilfslieferungen gibt es in ganz Polen: überall dort, wo die Menschen Nahrungsmittel benötigen. ATMO: Polnisch: Diskussion AUTOR: Der Pastor und die drei Frauen sind sich einig: Früher habe man gut verdient, aber kaum etwas kaufen können. Heute sei es umgekehrt: Alles gäbe es zu kaufen, ganz wie im Westen. Doch leider könnten sich nun viele Menschen nicht mal mehr das Nötigste leisten. Als ich den Pastor um ein Resümee bitte, überrascht er mich: Bei aller Kritikbereitschaft solle man doch nicht gleich von "extremer Armut" sprechen, so wie es die Statistiken tun. O-TON: polnisch Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Mutschmann Ich meine, es gibt doch so viele soziale Institutionen und Leute, die helfen. Wir haben hier in der Gemeinde eine Gruppe von 50 Frauen, die Menschen betreuen. Zu Weihnachten haben sie die Kinder gefragt: Was wollt ihr vom Weihnachtsmann bekommen? Dann haben unsere Frauen eine Spende aus Warschau organisiert, und die Kinder haben bekommen, was sie sich gewünscht haben. Und dann haben wir letztens wieder gebrauchte Kleidung aus Deutschland bekommen. Da haben wir auch den Alkoholikern im Dorf Bescheid gesagt, damit sie was zum Anziehen abholen können. ATMO: milchbar, geschirrklappern, getränk einschütten, musik AUTOR: Im nahen Städtchen Olsztyn sitze ich beim Abendessen in einem Lokal in der Fußgängerzone. Die Pierrogen schmecken ausgezeichnet, doch ich muss an die Zustände in den Dörfern draußen denken: In Pfarrer Mutschmanns Gemeinde scheint zwar keiner der 5000 Einwohner wirklich zu hungern. Doch offensichtlich sind zehn Prozent der Menschen nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten - selbst wenn sie extrem hart schuften wie Frau Zuzelska. Ihr Überleben ist statt dessen mehreren glücklichen Umständen zu verdanken: Der Pfarrer wirkt sehr entschlossen und wird die Spendenlieferungen sicher gut organisieren. Außerdem liegt seine Gemeinde im früheren Ostpreußen. Hier haben viele Menschen deutsche Wurzeln und sind protestantisch - eine große Ausnahme im katholischen Polen, die die guten Kontakte zu deutschen Gemeinden begünstigt. Schließlich helfen beim Verteilen der Lebensmittel scharenweise Menschen mit. SPRECHERIN 1: In vielen anderen Gemeinden sieht das sicherlich ganz anders aus. In den Statistiken der Europäischen Union ist nachzulesen, dass drei von zehn polnischen Kindern in Armut leben. Damit hat Polen den höchsten Anteil armer Kinder innerhalb der Länder der EU. Der letzte 10 Jahres-Bericht der UNICEF bescheinigt Polen darüber hinaus den höchsten Anstieg an Kinderarmut weltweit. Mahlzeiten für hungrige Schulkinder werden inzwischen landesweit angeboten. Allerdings nicht in den Ferien - und nicht für Eltern und Geschwister. ATMO: kirchenglocke, leichtes windrauschen, leise stimmen im Hg. AUTOR: Das Bauernhaus von Jadwiga ?opata wirkt bei Sonnenschein wie ein Postkarten- Idyll: Die Mauern strahlen in frischem Weiß, das Obergeschoss ist in traditionellem Stil mit braunem Holz verkleidet. Aus den Fenstern hängt Bettwäsche zum Lüften. Auf dem Grundstück stehen Rosenbüsche, eine Gartenlaube, ein Ziegenstall und ein Lehmhaus mit einem Dach voller Photovoltaik-Zellen. Der Bauernhof "Sonnenblume" soll als erster in Polen ökologische Techniken eingesetzt haben. Hier in Stryszow, im Süden Polens, steigen auch schon mal West-Touristen mit ihren Kindern ab. Serviert wird dann Bio-Essen frisch vom Acker. Jadwiga ?opata ist bei der "Internationalen Allianz zum Schutz der polnischen Landschaft" aktiv. Von ihr möchte ich erfahren, warum es heute den meisten Bauern schlechter geht als früher. O-TON: that makes the polish countryside ... and to be supported. Sprecherin 3 ÜBERSETZUNG J.Lopata: Die polnische Landschaft ist immer noch einzigartig, weil wir hier bis heute zwei Millionen Bauernhöfe haben - sehr viel mehr als in westlichen Ländern. Die meisten sind kleine Familienhöfe wie unserer, höchstens acht Hektar groß. Wir bauen auf traditionelle Weise an. Deshalb produzieren wir Nahrungsmittel von hervorragender Qualität. Viele Bauern sind nicht einmal ökologisch eingestellt. Aber sie wirtschaften auf traditionelle Weise, was der ökologischen Landwirtschaft nahe kommt. Von Zeit zu Zeit setzen sie vielleicht Chemikalien ein, aber meistens nur sehr kleine Mengen. Das ist eigentlich ein großer Vorteil der polnischen Landwirtschaft, und eine Chance für die Bauern. Etwas, wofür es sich lohnt zu kämpfen. AUTOR: Das sollte nicht einmal nötig sein, wenn man die Webseiten der Europäischen Kommission in Brüssel anschaut: Dort kann man nachlesen, dass "die Ziele des biologischen Landbaus" sowie "die Förderung der ländlichen Entwicklung" zu den "strategischen Kernzielen" der Europäischen Union gehören würden. Gemäß diesem Selbstverständnis der EU müsste man davon ausgehen, dass Brüssel die kleinen Bauern auch praktisch fördert. Hinzu kommt, dass auf den polnischen Bauernhöfen bis heute sehr viele Menschen Beschäftigung finden, die anderenfalls arbeitslos wären. In Polen gibt es mehr als sechsmal so viele Bauernhöfe wie in Deutschland. Und das, obwohl Polen nicht einmal halb so viele Einwohner hat. Julian Rose, Vorsitzender der Allianz der polnischen Landschaftsschützer, hat aber mit den Agrarstrategen der Europäischen Union ganz andere Erfahrungen gemacht: O-TON: just before Poland joined ... supply the supermarket chains. Sprecher 3 ÜBERSETZUNG J.Rose: Kurz bevor Polen 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde, besuchten wir in Brüssel das EU-Komitee, das für den Übergang der polnischen Landwirtschaft verantwortlich war. Wir wollten auf die strukturellen Unterschiede zwischen Polen einerseits und Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland andererseits hinweisen. Doch nachdem wir das getan hatten, stand die Vorsitzende des EU- Komitees auf und meinte: Ich denke, Sie haben die Agrarpolitik der Europäischen Union nicht verstanden. Wir wollen die Landwirtschaft so lange restrukturieren, bis die Bauern so viel verdienen wie Angestellte. Kleinbauern können das nicht schaffen und deshalb interessieren sie uns nicht. Wir interessieren uns nur für mittlere und große, sehr effiziente landwirtschaftliche Betriebe, die Supermarktketten beliefern können. AUTOR: Die Auswirkungen der Brüsseler Politik sind auf Jadwiga ?opatas Hof zu erkennen. Sie wirtschaftet fast nur noch für den Eigenbedarf: Ein paar Ziegen erfreuen vor allem die Kinder der Touristen. Eine einzige Kuh liefert ein bisschen Milch für den Eigenbedarf. Um stattdessen mit einer Groß-Molkerei ins Geschäft zu kommen, müsste der Hof auf den Kopf gestellt werden: Zuerst wäre da ein Riesenstall zu bauen. In dem müssten dann mindestens 30 Kühe sehr viel Milch produzieren. Für deren Futter würden auf Riesenfeldern spezielle Maissorten angebaut und mit Pestiziden geschützt. Die derart gemästeten Kühe gäben besonders viel Milch, allerdings auf Kosten der Qualität. Früher fanden Jadwiga ?opata und ihre Nachbarn auf andere Weise ihr Auskommen: Sie ließen ein paar Kühe auf einer normalen Wiese grasen und verkauften deren hochwertige Milch an eine kleine lokale Molkerei, die nur die nähere Umgebung belieferte. Doch diese alten Strukturen sind heute größtenteils verschwunden, weiß Jadwiga ?opata: MUSIK SPRECHERIN 1: Boguslaw Zietek ist Vorsitzender der Bergarbeiter-Gewerkschaft "August 80". Der gesetzliche Mindestlohn liegt unter 300 Euro. Wer diesen Mindestlohn verdient, erhält für seinen Vollzeitjob also noch weniger Geld als ein deutscher Hartz 4- Empfänger. Zieteks Gewerkschaft fordert das 2,5fache als Mindestlohn: 750 Euro. Das würde auch vielen Mitgliedern seiner Gewerkschaft helfen, denn selbst Grubenarbeiter verdienen nach Jahrzehnten Knochenarbeit oft gerade mal 650 Euro im Monat. Das reicht kaum noch zum Überleben, wenn in einer Familie nur einer arbeitet. ATMO: Vorgespräch AUTOR: Ich bin nach Katowice ins schlesische Industrierevier gereist, um Zietek zu treffen. Seine Gewerkschaft August 80 ist klein, aber als kämpferisch und unabhängig bekannt. Das hat sie kurz vor meiner Reise erneut bewiesen: O-TON: polnisch Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Zietek: Unser letzter Streik für einen höheren Lohn war der längste Bergarbeiter-Streik überhaupt in der Geschichte Polens. Er hat 46 Tage gedauert. Und auch in anderen Branchen kommt es gerade zu Protesten: 2005 gab es in Polen nur ein paar Streiks mit 6000 Beteiligten. Aber allein in der ersten Jahreshälfte 2008 kam es schon zu Tausenden Streiks mit insgesamt mehreren Hunderttausend Teilnehmern. Das liegt daran, dass weder diese Regierung noch ihre Vorgänger die wichtigsten sozialen Probleme gelöst haben. Die Leute hören immer wieder, dass die Wirtschaft boomt. Aber sie fragen sich: Wann werden wir endlich davon profitieren? Früher hörten sie, dass die wirtschaftliche Lage schlecht sei. Jetzt ist sie gut, aber es kommt immer noch nichts bei den Leuten an. SPRECHERIN 1: Streikwellen in Polen - das erinnert an die Gewerkschaft Solidarnosc und deren Kämpfe Anfang der 80er Jahre. Damals hatte sich ein Großteil der Bevölkerung gegen die kommunistische Regierung erhoben. Die verhängte das Kriegsrecht und setzte später sogar Schusswaffen gegen streikende Bergarbeiter ein. Die Streiks der Solidarnosc galten als Anfang vom Ende des Sozialismus in Polen. Seither nahm der Einfluss der Gewerkschaften allerdings stark ab: Nicht mal jeder fünfte Arbeiter oder Angestellte ist überhaupt Gewerkschaftsmitglied. Die Zechen gelten zwar weiter als Hochburgen der Gewerkschaften, weil dort die Mehrheit der Arbeiter gewerkschaftlich organisiert ist. Doch die Mitglieder sind in fast 200 Betriebsgewerkschaften aufgespalten: Die relativ größten sind Solidarnosc und OPZZ, die frühere kommunistische Gewerkschaft. Auf beide ist Boguslaw Zietek nicht gut zu sprechen: Vor allem Solidarnosc habe sich von den Zechenbetreibern kaufen lassen. O-TON: polnisch Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Zietek: Solidarnosc sabotiert viele Streiks, weil diese Gewerkschaft in den Betrieben inzwischen ihre eigenen Geschäfte macht. Sie betreibt dort zum Beispiel oft die Kantinen vor Ort. Viele Gewerkschaftsführer von Solidarnosc und OPZZ sind von den Betriebsleitungen finanziell abhängig: Sie leiten gleichzeitig dubiose Sportvereine, die von den Unternehmen viele Millionen Zloty erhalten. So fördert der größte Zechenkonzern Polens, JSW, den Sportklub Jastr?bski-Kohle mit mehr als 3,5 Millionen Zloty jährlich, also fast eine Million Euro. Die Verwendung dieser Gelder wird nicht kontrolliert, drei Solidarnosc-Funktionäre sind dort im Vorstand oder Aufsichtsrat. Hier in Katowice empfängt der Boxklub "Champion" Millionenbeträge, um Jugendliche zu fördern. Journalisten gingen hin und fanden vor Ort heraus, dass die angeblichen Übungsräume leer stehen. Sie sind regelrechte Ruinen, in denen überhaupt kein Training möglich ist. ATMO: vor budrykzeche: autos, moped startet und fährt ab, fahrrad fährt vorbei, auto startet durch AUTOR: Boguslaw Zietek ist parteiisch. Doch dieselben Vorwürfe gegen die heutige Führung der Solidarnosc-Gewerkschaft werde ich später in polnischen Zeitungen wie "Trybuna Robotnicza? und internationalen Blättern wie "Le Monde" lesen. Wie in der Zeche Budryk in Ornontowice stimmte eine Mehrheit der Bergarbeiter für den letzten Streik. Dennoch rief Solidarnosc gemeinsam mit Politikern und Unternehmern dazu auf, nicht zu streiken. Als der Streik dennoch begann, forderten einige Solidarnosc- Führer im Internet-Nachrichtenportal wiadomosci24.pl., den Einsatz der Polizei gegen Arbeiter: wie Marek Szolc, der gleichzeitig Vorstandsmitglied von ATTAC ist, ohne Erfolg: Die Bergarbeiter streikten so lange, bis sie ihre Lohnerhöhung durchsetzen konnten. O-TON: polnisch Sprecher 2 ÜBERSETZUNG Zietek Ich habe keine Zweifel, dass die Zeiten vor der Transformation besser waren. Nicht, dass ich das alte System vermissen würde. Es hatte auch viele schlechte Seiten. Aber es war günstiger für uns. Und auch einfacher. Seit dem Systemwechsel verschwinden nach und nach alle sozialen Errungenschaften. Das Traurige ist: Beraubt werden ausgerechnet diejenigen, die für den Systemwechsel gekämpft haben. Dabei wäre ohne sie der Neuanfang gar nicht möglich gewesen. ATMO: im auto unterwegs, er erzählt geschichten, polizeisirene zieht vorbei, verlässt auto AUTOR: Boguslaw Zietek empfiehlt mir noch einen Besuch in Walbrzych. Das ehemals deutsche "Waldenburg" liegt nahe des Grenzdreiecks mit Tschechien und Deutschland. Bücher und selbst der aktuelle Wikipedia-Eintrag bezeichnen die Stadt mit ihren 130 000 Einwohnern noch immer als "das Zentrum des niederschlesischen Steinkohlereviers". Dabei sind längst alle Zechen geschlossen. Als ich mit einem Mietwagen morgens in das Zentrum von Walbrzych fahre, wirkt die Stadt zunächst wie eine Kulisse für einen Nachkriegsfilm: Der Putz blättert an den Fassaden der Bürgerhäuser. Das Straßenpflaster ist an vielen Stellen aufgeplatzt. Das deutsche Görlitz ist keine 100 Kilometer Luftlinie von hier entfernt. ATMO: Treppensteigen AUTOR: Auch die Fassaden an der ruhigen Dmowskiego-Straße wirken ruiniert. Hier suche ich einen ehemaligen Bergarbeiter, von dem ich in einem polnischen Internet-Blog erfahren habe. In der Nummer 18 versperren alte Kisten das Treppenhaus. Das Flurlicht brennt nur schwach. Ich kann nur mühsam erkennen, dass an den Wänden Illustrierten-Fotos hängen. ATMO: in der wohnung, getränk eingiessen, löffel klappern AUTOR: Ich bin mit Roman Janiszek verabredet. Er ist mittleren Alters, hat ein freundliches, aufgeschlossenes Gesicht und trägt recht scheußliche Klamotten: geflickte Jeans, ein graues Sweatshirt und darüber eine ballonseidene Jacke in den Farben lila und blau. Den Nutzen der fleckigen Jacke werde ich erst später begreifen. Ich habe kaum mein Mikrofon ausgepackt, da ist Janiszek schon nicht mehr zu bremsen. O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Bis in die 90er Jahre gab es für uns Bergarbeiter eine 150prozentige Jobgarantie. Wir arbeiteten in drei Schichten. Zugegeben, die Arbeitsbedingungen waren grauenhaft: Wegen des Kohlenstaubs konnten wir gerade mal zwei Meter weit sehen. Nur wenn die Manager vorbeischauten, war plötzlich alles anders: Dann wurde der Staub weggesprüht und wir standen alle schön aufrecht im höchsten Stollen. Das Ganze war einfach nur lächerlich. Aber unter uns Arbeitern gab es eine große Solidarität. Und wir bekamen viel, neben frischem Wildschwein auch sogenannte "Trink's und vergiss es"-Pakete. So hießen die damals. Da waren 24 Zloty drin, ein Stück Wurst und ein Viertelliter Wodka. Wurst und Wodka hauten wir in fünf Minuten weg und dann hieß es weiterschuften. ATMO: wurschtelt in der küche, macht tee, raschelt mit papier, packt ausrüstung AUTOR: Der Hausfassade nach zu urteilen hatte ich eine Bruchbude erwartet. Doch Janiszeks Wohnung sieht anders aus: Die Wände sind frisch und hübsch in Pastellfarben gestrichen. An den Wänden hängen Reisesouvenirs, darunter Bergsteiger-Äxte. O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Als der Beschluss gefallen war, sämtliche Minen in Walbrzych zu schließen, gehörte ich zu den ersten, die gehen mussten. Sie schauten uns nicht mal an, sondern sagten einfach: 'raus'. Wir bekamen noch drei Monatsgehälter als Abfindung. Manche waren darüber sogar glücklich und kauften sich ein Auto oder Möbel. Ich renovierte meine Wohnung. Doch nach und nach wurden in Walbrzych alle Zechenarbeiter gefeuert: 15 000 Mann. Danach fingen die Raubüberfälle und Diebstähle an. Viele ehemalige Kumpel begannen, aus Langeweile zu trinken. Die Polizei hatte immer mehr zu tun. ATMO: Schlüsselklappern, murmelt vor sich hin AUTOR: Janiszek will mir zeigen, wie er sich "etwas Geld dazuverdient". Ich willige ein, ahne aber noch nicht so recht, worauf ich mich dabei einlasse. Er drückt mir eine verschlissene graue Weste in die Hand, die ich anziehen soll. Nun sehen wir beide aus, als würde uns draußen bald die Polizei anhalten. Meine ganz in Weiß gekleidete Dolmetscherin schaut missvergnügt. Janiszeks Bemerkungen helfen da auch nicht gerade. O-TON: when we go out ... he wants you to hide it. Sprecherin 4 ÜBERSETZUNG Dolmetscherin: Wenn wir jetzt hinausgehen, bittet er Sie, Ihr Mikrofon zu verstecken. Die Nachbarn sollen erst gar nichts von uns mitbekommen. Verstecken Sie es einfach. ATMO: Treppensteigen, licht an / gang über gras, stimmen polnisch AUTOR: Die Kommune und die Touristeninformation werben heute für "Ruhe, Erholung, die saubere Natur und den nahen Kontakt zur Umwelt". Inmitten der Industrie-Ruinen wirkt das auf mich absurd. Der Natur begegne ich gerade zum ersten Mal: Wir gehen über eine ungemähte Wiese mitten im Stadtzentrum. Im Hintergrund speit ein Chemiewerk rötlichen Dampf aus. Erst dahinter erkenne ich am Horizont ein paar bewaldete Hügel. ATMO: räumt bretter vor loch ab, zieht seine lampe auf AUTOR: Schließlich bleibt Janiszek mitten auf der Wiese vor einem Gerümpelhaufen stehen. Nacheinander greift er eine alte Türe, Kisten, gefüllte Müllsäcke und räumt sie beiseite. Langsam wird ein Loch erkennbar. Dahinter liegt eine Höhle, die zuerst wie ein Fuchsbau aussieht. Das Loch reicht mir etwa bis zu den Knien. Janiszek greift nach einer mitgebrachten Lampe. Sie hat einen kleinen Generator, den er an einer Handkurbel aufzieht. ATMO: steigt hinein, kisten schleifen, murmelt beim checken, ruft nach draußen AUTOR: Janiszek leuchtet mit der Funzel kurz in das Loch, doch der Generator ist wohl zu schwach: Schnell geht das Licht wieder aus. Im nächsten Moment zwängt sich Janiszek auf allen Vieren in das dunkle Loch hinein. Ich sehe noch, wie er mit dem Rücken an die Deckenwand stößt, dann ist er drinnen verschwunden. Er ruft nach mir. Ich soll ihm hinterher kriechen. Aber ich zögere. Der Boden der Wiese ist weich, auch direkt über dem schmalen Eingang. Seit dem Vorabend hat es fast pausenlos genieselt. Ich habe Angst vor einem Erdrutsch, der uns lebendig begraben würde. Janiszek versteht meine Sorge nicht. O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Ich fühle mich wohl hier unten, wie in einer Therme. Natürlich muss man sich hier ab und zu mal strecken. Aber dann geht es wieder. Den Schacht hier haben die Preußen eingerichtet. Anfangs hatten die natürlich mehr Ahnung vom Kohleabbau als wir. Aber dann haben sie es uns beigebracht und irgendwann waren wir dann schließlich besser als sie. ATMO: s.o. MUSIK AUTOR: Derart herausgefordert traue ich mich in die stockdunkle Höhle, notgedrungen ohne Licht. Auch ich muss auf allen Vieren krabbeln. Nun freue ich mich über die geliehene Weste, meine Hose schreibe ich schon mal gedanklich ab. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Die Enge ist physisch spürbar: Ich stoße ständig irgendwo an und bleibe nach den ersten drei Metern erst mal flach auf dem kalten Erdboden liegen. Janiszek ist irgendwo vor mir in dem schmalen Schacht, vielleicht zehn Meter weiter. Ich halte meine Kamera auf gut Glück mitten ins Stockdunkle, in die Richtung, aus der Janiszeks Stimme kommt, und fotografiere mit Blitzlicht. Danach zeigt der Kameramonitor eine bizarre Aufnahme: Die Grube verzweigt sich und reicht anscheinend viel weiter als mein Blitzlicht. Pfeiler und Balken sollen die Grubendecke abstützen, aber sie sind aus morschem Holz. Die Pfeiler ragen gerade einen halben Meter hoch. Solche Gruben habe ich noch eine halbe Stunde zuvor in dem Museum gesehen: auf gemalten Bildern vom Kohleabbau im 17. Jahrhundert. Ich bleibe, wo ich bin und bewege mich vorsichtshalber gar nicht mehr. Janiszek meldet sich wieder aus dem Dunkeln. O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: In Gängen wie diesem hier arbeite ich heute. Aber nur von Herbst bis Frühling: Dann, wenn man die Kohle gleich zum Heizen braucht. Früher hatten wir ein Kohlelager, das wir auch im Sommer befüllen konnten. Aber dann haben uns Nachbarn an die Polizei verpfiffen. Heute gibt es jede Menge solcher alter Kohlegruben. Mehr, als man zählen kann. In dem Loch hier war ich schon länger nicht mehr. Ich denke, dass hier in Walbrzych mindestens 400 oder 500 Menschen unter Tage arbeiten. Das ist illegal. Deshalb arbeiten die meisten nachts, wenn die Polizisten schlafen. Die Polizisten würden die Löcher gerne zerstören, aber das schaffen sie nicht: Wenn man eine Ecke zuschüttet, kann man das Labyrinth irgendwo anders gleich wieder aufmachen. Die Gänge verzweigen sich. Viele sind 25 oder 30 Meter lang. Da nützt nicht mal Dynamit. AUTOR: Janiszek ist zufrieden mit der Grube, die er gerade kontrolliert: Hier kann er sofort wieder anfangen, Kohle abzubauen. Dabei arbeitet er mit Kollegen in einem Viererteam: Zwei Männer schlagen mit Schaufeln und Pickeln die Kohle von den Wänden ab. Ein dritter füllt sie in Kästen. Der vierte schiebt draußen Wache und zieht die gefüllten Kästen an einem Seil aus der Grube. Wir krabbeln wieder hinaus. Ich bin sehr erleichtert und stelle fest, dass ich es da drinnen gerade mal acht Minuten ausgehalten habe. O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Wir graben hier seit ungefähr zehn Jahren auf eigene Rechnung. Seither sind nur sieben Menschen gestorben. Und von denen würden drei noch leben, wenn die Polizei uns in Ruhe gelassen hätte. Aber eine Zeit lang verfolgte sie uns ständig. Sie verboten sogar den Holzhändlern, uns das Holz zu verkaufen, mit dem wir die Grubendecken abstützen wollten. Deshalb mussten wir eine Zeitlang im Wald selbst Bäume fällen. Klar, dass uns dann auch die Forstbehörde auf dem Kicker hatte. Und die Stadtverwaltung. Später auch die Gerichte. Von allen Seiten gingen sie auf uns los. Drei von uns starben, nachdem sie wegen des Holzmangels nicht genügend Stützpfeiler errichten konnten. AUTOR: Der illegale Kohleabbau unter mittelalterlichen Bedingungen ist den Behörden ein Dorn im Auge: Er passt nicht zum Traum von Walbrzych als Touristenziel. Janiszek hat mit anderen Arbeitern inzwischen einen Verein gegründet und eine offizielle Schürflizenz für die alten Kohlegruben beantragt. Doch sie werden wohl kaum eine Genehmigung erhalten: Die mittelalterlichen Erdlöcher widersprechen natürlich jeglichen EU-Bestimmungen zu Bergbau und Arbeitssicherheit. SPRECHERIN 1: Die Zechenarbeiter waren früher das Rückgrat der gesamten Industrie von Walbrzych und hatten bombenfeste Arbeitsverträge. Heute schlagen sie sich mit illegalen Jobs durch. Sie sind arm geworden und überflüssig. Wie den Zechenarbeitern ergeht es vielen Polen: Trotz jahrelangem Wirtschaftsboom bleiben sie außen vor und leben wie in einem Entwicklungsland. Die Weltbank geht nach jüngsten Zahlen davon aus, dass ein Fünftel der Polen sogar unter der internationalen Armutsgrenze lebt. Diese Grenze liegt bei einem Einkommen von 3 Euro und 15 Cent am Tag. Da sie eigentlich für Entwicklungsländer entwickelt wurde, beschönigt die Statistik die Situation in Polen noch. Denn dort sind die Preise für Lebensmittel wie Essen, Kleidung und Miete viel höher als in Indien, Nigeria oder Brasilien. Der polnischen Regierung ist es trotzdem gelungen, diesen Maßstab noch weiter zu unterbieten: In einem "Armutsbericht" an die Europäische Kommission teilte sie mit, dass jeder achte Pole "am Existenzminimum" leben würde. AUTOR: Am Ende meiner Reise schaue ich in diesem Armutsbericht nach, wie die polnische Regierung das Existenzminimum für ihre Bürger definiert: Es ist "der Konsumlevel, der biologische Auszehrung gerade noch verhindert". ATMO: Grube O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Seit dem Jahr 2000 habe ich kein Geld mehr vom Staat bekommen. Einmal im Monat erhalte ich ein wenig Zucker, Mehl, Reis, Nudeln und eine Flasche Speiseöl. MUSIK O-TON: polnisch Sprecher 1 ÜBERSETZUNG Janiszek: Alle, die hier früher richtige Jobs hatten, haben verloren. Nun ziehen wir von Ort zu Ort, und leben von Tag zu Tag. Nur die Oberen haben gewonnen. MUSIK Sprecher 3 Absage: Soviel Armut gab´s noch nie Die Verlierer des polnischen Wirtschaftsbooms Ein Feature von Achim Nuhr Es sprachen: Edda Fischer Hans Detlef Hüpgen Jochen Kolenda Claudia Matschulla Anja Niederfahrenhorst Simon Roden Ilse Strambowski und Andreas Grothgar Technische Realisation: Wolfgang Mertens Regie: Sascha von Donat Redaktion: Marita Knipper Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2008 mit dem Deutschlandfunk, Radio Bremen, dem Saarländischen Rundfunk und dem Südwestrundfunk. 25