Deutschlandrundfahrt Demokratie wagen Pioniergeist im brandenburgischen Oderbruch Von Ursula Rütten Sendung: 29. Juni 2013, 15.05 Uhr Sprecher: Nadja Schulz-Berlinghoff Joachim Schönfeld Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Ellen Häring Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 0-Ton (unter Auftakt-Musik): Tobias Morgenstern, Theater am Rand, 10. 3. 2013 Wir freuen uns, dass Sie so zahlreich erschienen sind - der Umstand, dass sich der Mensch immer mehr von der Natur entfernt, stimmt ja oft bedenklich. Aber im Oderbruch scheint das manchmal anders zu sein. Umso mehr Danke, dass Sie gekommen sind und dabei sind und unser Experiment begleiten. Wirkliche Demokratie muss jeden Tag neu erkämpft werden. Dazu gehört auch die Meinungsfreiheit, die offen praktiziert und gelebt werden muss. (harter Schnitt) Kennmusik ANSAGE: "Demokratie wagen" Pioniergeist im brandenburgischen Oderbruch Eine Deutschlandrundfahrt von Ursula Rütten Atmo: Wind 1 Atmo: Publikum Sprecherin: "Wer Wind sät, wird Sturm ernten". Das ist das Motto an diesem Sonntagmorgen im "Theater am Rand" - Ein fantasievoll gestalteter, sichtbar selbstgefertigter Kuppelbau aus viel unbehauenem Baumholz und Wegwerfmaterial samt Freilichtbühne daneben. In Randlage gelegen, jedenfalls geografisch gesehen: wir sind an Deutschlands Ostgrenze, im Oderbruch, drüben auf der anderen Seite des Flusses liegt Polen. Das Theater gehört zu einem kleinen Weiler namens Zollbrücke - eine Brücke und eine Zollstation gibt es hier allerdings schon seit 200 Jahren nicht mehr. Stattdessen sammeln sich unter dem Dach des "Theater am Rand" besorgte und Rat suchende Bürger des Oderbruchs. Gerne nehmen sie die Einladung der Theatermacher zur sogenannten "Brandrede" an, um über die Gegenwart und Zukunft ihrer Heimat zu diskutieren. Jeder darf auf die Bühne kommen oder von den Zuschauerbänken sein Anliegen vortragen. 0-Ton: (Frau) Ich wohne am ehemaligen Bahnhof und jetzigen Radweg in Altmädewitz. Und habe, satirisch gemeint, künftig noch ein schönes Panorama rundherum: nördlich in Altmädewitz die entstehende Biogasanlage. Südlich, 400 Meter weiter, die Hähnchenmastanlage. Westlich und zwar genau da, wo mein Garten und die Gärten der Nachbarn enden, stehen die 4 oder 5 Entenmastställe, 25 Meter von meinem Haus entfernt. Dahinter beginnt dann, nach dem Willen der Gemeindevertretung, der hier heiß begehrte Windpark. Zum Gestank kommen noch Motorengesumme und Schattenwürfe hinzu. Wir alle wissen, dass in Kohlegebieten ganze Ortschaften umgesiedelt wurden. Mein Vorschlag wäre, uns ebenfalls umzusiedeln und das Oderbruch zum Energieindustriegebiet mit Massentierhaltung umzuwandeln. Sprecherin: Im Oderbruch formiert sich Protest, schon lange. Gegen die Vereinnahmung der Natur durch die Industrie. Und durch die Landwirtschaft, die überwiegend auf Quantität und nicht auf Qualität setzt. Dabei wirkt alles so idyllisch. Wir befinden uns am nordöstlichen Ausläufer des größten geschlossenen Flusspolders Deutschlands. Nahebei die Städtchen Oderberg und Bad Freienwalde. Der nur wenige Häuser umfassende Weiler Zollbrücke liegt, wie das Theater, sprichwörtlich am Rand, nur wenige hundert Meter hinter dem Deich, der die Oder bitteschön davon abhalten sollte, in ihr altes Bett kriechen zu wollen, also das Hinterland weitflächig zu überfluten. So wie es viele Male in den letzten Jahrhunderten geschah. Der Theaterleiter und Akkordeonist Tobias Morgenstern begrüßt die an diesem Vormittag zusammengekommenen Besucher, darunter einige Lokal- und Kreispolitiker, musikalisch. Heute geht es bei der "Brandrede" nicht um die unberechenbare Natur, also die hierzulande ständig präsente Furcht vor überfluteten Feldern und Kellern, sondern um unberechenbare menschliche Zugriffe auf diesen Landstrich. Musik: T. Morgenstern Gehst du zur Demo oder bleibst du zuhaus träumst du vom Ein-, Zweifamilienhaus willst du kein friedlicher Bürger mehr sein nichts bleibt geheim Lebst du im Bruch oder bist du Tourist Willst du erhalten, wie es hier ist hast du den Mut und setzt dich dafür ein nichts bleibt geheim Sprecherin: Es dauert nicht lange, und im Theater ist die Diskussion voll im Gange: Energiewende, Biogas, Mastanlagen, Windräder - die Menschen im Oderbruch bekommen von allem etwas, aber keiner hat sie je gefragt. 0-Ton: BR4 (Mann) Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Bundesgesetz, da wird durch staatliche Subventionen ein Umbau der Energiewirtschaft gesteuert. Das entscheidet hier der Landrat nicht, der Bürgermeister Wilke nicht, nicht mal der Landtagsabgeordnete, sondern dies ist ein Bundesgesetz. Stimme aus dem Publikum: Brandenburg will janz vorne liegen. Deshalb sind wir so erbost, dass wir den ganzen Mist hier haben werden, sogar im Oderbruch. ... Musik: T. Morgenstern Machst du den Mund auf und sprichst hier am Pult nennst du auch Namen, verweist auf die Schuld oder lässt du es einfach sein nichts bleibt geheim Wenn dich was stört, sprich es aus offen und ehrlich, dann hast du Applaus sag, was du denkst und präge dir ein nichts bleibt geheim 0-Ton: BR5 (Mann) Wer auf dem Land lebt, muss dort auch sein Geld verdienen. Wer also hierher zieht, um seine romantischen Gefühle zu befriedigen, der ist hier einfach fehl am Platz. Zwischenruf: Das ist ja schon wieder falsch. Musik: T. Morgenstern Willst du was ändern, dann tu es kund hier und heute, in dieser Rund' unter dem Schnee wartet Sonnenschein nichts bleibt geheim (Ende mit Beifall) Atmo: Odervögel 3 Musik: Sonus Mundi9, Theater am Rand, 4. Mai 2013 Sprecherin: Das Oderbruch: 56 Kilometer lang, im Süden vier, im Norden 16 Kilometer breit. Mit einem Gefälle von 14 Metern über dem Meeresspiegel im Süden, etwa auf der Höhe von Seelow, bis auf fast einen Meter geneigt nach Norden. Kein Wunder, dass sich da ein von Menschen gebändigter Fluss leicht Bahn brechen kann über seine Ufer hinaus und dass Winde ein leichtes Spiel haben, stehen ihnen doch weder Hochwald noch Hügel im Wege. Wie auf der polnischen Seite gegenüber. Kein Paradies für Wanderer. Es mangelt schlicht an einem Wegenetz durch die von Entwässerungsgräben und Kanälen durchzogenen, meist riesigen landwirtschaftlichen Flächen. Radfahrer dagegen haben den Vorzug, entlang der vielen Deiche und auf anderen, für Kraftfahrzeuge gesperrten Sträßchen diese ebenso schöne kultivierte wie urwüchsig-prekäre Landschaft zu erkunden und sich so ein Bild zu machen, wie eng diese Landschaft mit dem Wasser verbunden ist, wie das Wasser sie geprägt hat und welche täglichen Maßnahmen für ihre Erhaltung unternommen werden: Ebenes Acker- und Weideland, Siedlerland. Mit kleinen, verträumten Dörfern ab und an und den vereinzelt liegenden sogenannten Loose- Gehöften. Während im Land Brandenburg viele Dörfer um ihren Fortbestand fürchten müssen, weil junge Leute abwandern, entwickelt sich das im Oderbruch tendenziell in eine andere Richtung. Die einzigartige Landschaft mag ein Grund dafür sein, die günstigen Immobilienpreise ein anderer. Aber noch wichtiger sind die Menschen, die hier ein selbstbestimmtes Leben suchen, zusammenhalten und sich wehren gegen Eingriffe von außen. Was ihren Unmut hervorruft, markieren sie gerne mit Spruchbändern, überall im Oderbruch zu sehen, am Ortseingang, an Kirchen, an Privathäusern: Zitator: Wasser ist Segen, aber nicht im Oderbruch bei Regen Sprecherin: Das große Panorama aber offenbart eine Landschaft, die mit Wasser eine schier untrennbare, oft auf weite Sicht ununterscheidbare Mélange eingeht. Dann, wenn die Alte Oder ihr Eis abstößt. Wenn bei Güstebieser Loose der Zufahrtsweg zur einzigen Fähre über die Oder hinüber ans jenseitige polnische Ufer abrupt im Wasser endet und ein Fährbetrieb unmöglich ist. Wenn Verkehrsschilder, Rastplätze, ganze Baumreihen von Wasser umflutet und von brütenden Vögeln belebt sind, da und dort gut hundert Meter vom definierten Ufer entfernt. Jedes Jahr nach der Schneeschmelze. Oder nach Dauerregen. Wenn nicht mehr erkennbar ist, wo das der Oder einst künstlich zugewiesene Flussbett endet, weil sich Fluss und Hochwasser vereint wie eine Seen- und Insellandschaft in den menschlichen Wohn- und Wirtschaftsraum hineinfräsen. Sanft und übermächtig. Zitator: Das Wasser hat ein älteres Gedächtnis als wir. Als ob es sich erinnern würde, sucht es immer wieder sein altes Bett. Wir dagegen vergessen, das ist unser Talent. Musik aus Sprecherin: Wer hier lebt, wer sich, wie auch manche Menschen von außerhalb, in diese Landschaft verliebt und hierhin zieht, lebt nach wie vor in ständiger Bedrohung einer möglichen Flut. 1785, 1838, 1947, 1980/81, 1997 und 2010 sind als Schicksalsjahre für die Menschen im Oderbruch in die Geschichte eingegangen. Atmo: Aufführung Oder Bruch, Theater am Rand, 30. April 2013 (Männer-Frauen-Stimme im Wechsel, unter Musik): Wir haben viertausend Schweine gehabt, früher, davon fünfhundert Zuchtsauen. Die LPGen, die hatten Pflanzen- und Tierproduktion. Ich habe gesagt, wir evakuieren nicht. Die hatten genau so viele Tiere, wie sie mit ihren Pflanzen ernähren konnten. Plötzlich flogen die Hubschrauber hier durch, mit Sandsäcken dran. Dann kam die Anordnung: Evakuieren! Sprecherin: Die letzte große Jahrhundertflut diesseits und jenseits der Oder, 1997, verarbeitet der Theaterregisseur Tobias Rausch in einem Bühnenstück: Oder Bruch. Mitsamt den Dauerproblemen und Zukunftsaussichten, denen diese Region ausgesetzt ist und die die Menschen hier auf die Barrikaden bringen. Im "Theater am Rand" wurde in diesen Monaten die Koproduktion des Theaters Senftenberg und des Deutschen Theaters Berlin aufgeführt. Atmo: Aufführung Oder Bruch, Theater am Rand, 30. April 2013 Es gibt 27 Schöpfwerke, unter fast jedem Acker liegen Drainagerohre, die ziehn das Wasser aus dem Boden und führen es zu einem Entwässerungskanal. Jetzt heißt es, man darf die Kanäle nicht mehr entkrauten, weil dort seltene Vögel nisten. So ein Entwässerungskanal muss wie eine Autobahn sein. Das Wasser muss schnell abgeführt werden, sonst saufen wir von unten ab. 0-Ton: Anders4 Die schwierigste Herausforderung für das Oderbruch hängt zusammen mit einer veränderten Haltung des Staates zu dieser Landschaft. Das Oderbruch ist eine staatsgemachte Landschaft. Es ist unter dem Alten Fritz nicht nur entwässert, sondern auch kolonisiert worden, besiedelt worden, und es hat bis vor 20, 25 Jahren einen hohen politischen Stellenwert gehabt, bis zum Ende der DDR. Sprecherin: Der Kulturwissenschaftler Kenneth Anders hat seine Liebe zum Oderbruch quasi zu seinem Lebensinhalt gemacht. Er ist einer der führenden Moderatoren im Diskurs um den Kulturraum Oderbruch und darum, wie man diesen Raum so nutzt und gestaltet, dass Mensch und Natur sich hier wohlfühlen können ohne Schaden zu nehmen. Anders betreibt mit seinem Kollegen Lars Fischer das sogenannte Büro für Landschaftskommunikation in Neutornow, unweit der einzigen Landverbindung über die Oder nach Polen im oberen Winkel des Oderbruchs gelegen, bei Hohenwutzen. Im Internet firmiert diese Initiative unter dem Begriff Oderbruchpavillon. Unter dieser Adresse kann sich jeder ausführlich über alles informieren, was diese Region so verwundbar macht und was die Bewohner des Oderbruchs bekümmert. Ebenso finden sich Anregungen, es besser, anders zu machen, als es die Politik und Wirtschaft vorgeben wollen. 0-Ton: Anders4 Es war klar, dass sich der Staat um diese Landschaft kümmert. Jetzt wandelt sich aber das Verhältnis von Landes- oder Bundesregierung zum ländlichen Raum überhaupt. Deswegen gibt es diese ganzen Gutachten, weil die Politiker oftmals gar nicht wissen, wie sie mit den sehr starken ökonomischen Veränderungen umgehen sollen, wie sie die Energiewende in diesen Räumen gestalten sollen usw. und weil immer weniger politische Eliten vom Land kommen. ... Das heißt: die Fremdheit zwischen Stadt und Land nimmt zu und auch die Fremdheit zwischen einer urban geprägten Politik und dem Land. Sprecherin: Das schließt zum Beispiel auch Auffassungen über das Zukunftsprojekt Energiewende ein, über Windparks, Biogas- und Photovoltaikanlagen. Themen, die in der Region Zündstoff sind, in vielen Facetten. Eben weil dieser Raum so überschaubar klein und mit gerade mal gut 50.000 Menschen dünn besiedelt ist, wollen die Menschen hier mitbestimmen - nicht nur über die Landnutzung, sondern auch über die Wirtschaftskreisläufe und auch über das ästhetische Erscheinungsbild der Region. Energiewende wird zunehmend im weiteren Sinne verstanden: als Aufgabe, sich persönlich und gesamtgesellschaftlich mit seinen Konsumbedürfnissen und Verhaltensweisen zu wandeln. Die Politik trifft im Oderbruch auf Landbewohner, die wissen, worüber sie sprechen - die kenntnisreich und klug sind. Die Fäden laufen im Büro für Landschaftskommunikation und bei Kenneth Anders zusammen. 0-Ton: Anders3 Ganz wichtig ist die Bildung. Wenn wir von kulturlandschaftlichen Diskursen sprechen, Diskurse auch zur Qualifizierung einsetzen, dann meinen wir, dass wir uns selbst qualifizieren, dass wir selbst durch das Gespräch über die Landschaft schlauer werden wollen, wollen, dass andere daran teilhaben. Sprecherin: Eine große Rolle spielt dabei die Zusammenarbeit mit Fachhochschulen, zum Beispiel in Eberswalde und Osnabrück. Jedes Jahr bietet das Büro Sommerschulen an über Themen wie Selbstversorgung, Wasserwirtschaft, Hochwasserproblematik, Naturschutz usw. Deren Ergebnisse werden im "Theater am Rand" der Öffentlichkeit vorgestellt, gewöhnlich gefolgt von wochenlangen, oft kontroversen Debatten. Anders und seine Mitarbeiter bringen solche Themen aber auch als Vortragende in die Schulen vor Ort. Musik 1: "Atomic Swing" Interpret: Schnuckenack Reinhardt Quintett Komponist: Schnuckenack Reinhardt Label: RBM Records, LC-Nr. 02888 Atmo: Odervögel 2 Atmo: Frösche Zitator: Stoppt die nasse Enteignung - Zukunft heißt Widerstand Sprecherin: Wer ins Oderbruch fährt, wird das Angekommensein nicht nur am irgendwie immer da und dort stehenden oder fließenden Wasser erkennen. Mehr oder weniger große Wasserlachen weisen auf Binnenwasser hin, das nur sehr langsam versickern kann, weil der fette Auenlehmboden wenig porös ist und erst recht nicht das Drängewasser von der Oder aufnehmen kann. Angesprochen darauf, wie es sich hier lebt, nach Erwerbsmöglichkeiten, nach kulturellem Leben zeigen sich die Menschen hier durchweg offen und antworten zum Teil mit ganzen Lebensabschnittserzählungen. Und das mit auffallend viel Sachkenntnis über die lokale Geschichte, über die wirtschaftliche und soziale Struktur, über Ursachen und Wirkungen des Umgangs mit der Natur und der kultivierten Natur im Oderbruch. Atmo: Schwalben im Stall 0-Ton: Korn1 Mein Name ist Hartmut Korn, geboren in Neugaul. Das ist bei Wriezen. Wir betreiben einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb, hauptsächlich mit Anbau von Gemüse und Obst, ein paar Tiere in der Haltung, Hühner, Kaninchen, ein paar Pferde, zwei Esel, dann kommt immer noch, ab Mai, ein Schwein dazu für die Selbstversorgung. Ansonsten fahren wir mit dem Gemüse auf den Markt, versuchen, es dort zu verkaufen, Frankfurt, Wriezen und Berlin. Atmo: Esel Atmo: Ziegen 0-Ton: Rubin1 Mein Name ist Michael Rubin. Ich habe hier den Ziegenhof Zollbrücke. Wir haben die weiße deutsche Edelziege, die Ziegenmilch verarbeiten wir zu Ziegenkäse. Sprecherin: Die Betriebe von Hartmut Korn und Michael Rubin sind Kleinstbetriebe im Oderbruch. Mit gerade mal 10 Hektar Land, das der Gemüsebauer bewirtschaftet, die restlichen hat er an einen Nachbarn verpachtet. Michael Rubin stehen siebzehneinhalb Hektar zur Verfügung. Weideland für seine 110 Ziegen. Seine Produkte verkauft er im Hofladen oder an die regionale Gastronomie. 0-Ton: Korn 7+8 Im Oderbruch ist es so, dass viel Agrarindustrie ist, dass viele Mastbetriebe sind. Es gibt nur noch wenige kleine Betriebe, die Gemüse anbauen, ein bisschen Obst. Darum ist es auch sehr schwer, sich zu behaupten. Man muss einfach diese Lückenschiene ausfahren. Das wichtigste, was ich festgestellt habe, ist das Vertrauen der Menschen zu schaffen. Es muss nicht Bio sein, sondern es muss einfach gesund sein. Atmo: Hühner Sprecherin: Bauer Korn hat dem ersten Augenschein nach eine Nische gefunden in der globalisierten und von politischen und wirtschaftlichen Kartellen dirigierten Warenwelt und kann damit zufrieden leben. Ein Hof mit freilaufenden Hühnern, zwei Eseln auf der Koppel, einem Bienenhaus auf der Wiese, um das sich sein Besitzer, ein befreundeter Imker, kümmert; seine Stuten lässt er in Polen bei einem Züchter natürlich besamen - keineswegs üblich in der modernen Pferdezucht. Während Hartmut Korn mit sich im Reinen zu sein scheint und sich mit dem, was um ihn herum passiert, arrangiert, ist Michael Rubin vom Ziegenhof Zollbrücke unzufrieden: 0-Ton: Rubin4 Wir könnten unseren Weizen, den wir zu Schrot verarbeiten, selber herstellen. Geht aber nicht, weil se hier in unserer Gegend im Oderbruch nicht mehr einen Krümel gepachtet kriegen, weil die Preise so explodiert sind in den Pachten, weil der, der am meisten bezahlt, der kriegt die Flächen auch. Und wenn ich vom Staat ne Menge kriege, hier sind die Agrogenossenschaften im Oderbruch, die kriegen 1,5 Millionen von Brüssel geschenkt. Da kommen wir nicht ran. Wir kriegen keine Wiese mehr gepachtet. ... Wenn jetzt jede Gemeinde im Oderbruch - es zeigt Ihnen ja auch keener ne Karte, wo alle Biogasanlagen eingezeichnet sind, die es schon gibt, bzw. die noch im Bau sind oder in der Planung. Dann heißt es aus meiner Sicht, wir haben bald keine Flächen mehr, um Nahrungsmittel herzustellen, weil eine Biogasanlage im Schnitt, so wie sie bei uns gebaut werden, die brauchen ca. 600 ha Ackerland. Oder andersrum gesagt, 35.000 Tonnen an Mais das Jahr über. Zitator: Mahnwache Letschin - keine CO2- Forschungs- und Endspeicher Sprecherin: Biogasanlagen, Mastbetriebe. Große Teile der Infrastruktur der abgewickelten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR wurden von den Nachfolgeunternehmen übernommen. Eigentlich gibt es in ganz Brandenburg viel Platz für solche Betriebe. Das reichlich vorhandene Ackerland hat manchen Bauern gereizt, seinen Besitz an Windpark- oder Photovoltaikbetreiber zu verpachten. Biogasanlagen und die größeren Mastbetriebe liegen durchweg am Rand von Wohngebieten, wie auch die mehr oder weniger großen Ansammlungen von Windrädern, die sich indes, bis jetzt, in der großzügigen Landschaft eher verlieren. Biogasanlagen fördern das Schrumpfen von Artenvielfalt durch den hohen Bedarf an sortengleichen Pflanzen. Hier sind es vorwiegend Mais und Raps. Viele Anlagen verfügen jedoch nicht über die erforderlichen Lagerkapazitäten für das sogenannte Input-Material. Oft muss es Dutzende Kilometer weit antransportiert werden. Mächtige Trecker wälzen sich dann von Hier nach Dort durch die ländliche Idylle und machen die schmalen Straßen mit den alten Baumbeständen beiderseits noch mehr kaputt. Michael Rubin regt sich auf: 0-Ton: Rubin4 Das ist ja dann gar nichts mehr mit Einsparung. Was auf der einen Seite Bio gepredigt wird, wird auf der anderen Seite mit Verfahren von Diesel und CO2- Ausstoß in die Luft gepulvert. Sprecherin: ... und Hartmut Korn sorgt sich um das Image der Landschaft und einen anderen Wirtschaftsfaktor: 0-Ton: Korn10 + 9 Es gibt zwei Seiten: Biogasanlagen, Windanlagen. 1990 sind die ganzen Tourismusvereine entstanden: Wir wollen das Oderbruch touristisch. Heute ist man vom Tourismus abgegangen ein bisschen. Man sagt, wir leben mit Biogas, wir leben mit Wind, wir leben mit Broileranlagen, mit Mastbetrieben. Jetzt muss man einfach wissen: wie kann ich das gemeinsam aufbauen, gemeinsam vermarkten? Und das ist das Schlimme, wie ich das sehe, dass das Touristische wegbleibt und wir im Oderbruch so ein bisschen verdrecken. Wir haben riesige Fahrradwege gebaut, und jetzt fehlen uns die Leute, die sie rechts und links pflegen oder die Deichanlagen pflegen. Atmo: Aufführung Oder Bruch, Theater am Rand, 30. April 2013 (Männer-Frauen-Stimme im Wechsel, unter Musik): Es muss ein sehr hoher Aufwand betrieben werden, um überhaupt menschliches Leben hier möglich zu machen. Und jetzt haben die Umweltschützer den Biber angesiedelt. Das Oderbruch ist eine künstliche Landschaft. Der durchlöchert den Deich, das ist kein Spaß. Das Hochwasser, was hier ankommt, ist kein Naturhochwasser. Die Polen jagen den Biber, aber hier darf dem Tier kein Haar gekrümmt werden, sondern ein künstlich vom Menschen gestaltetes. Soll ich deswegen mit dem Betrieb absaufen? Ist es überhaupt sinnvoll, dass dieser Polder besiedelt ist? Sprecherin: Mit Bibern hat Rubin mit seinem Ziegenhof in Zollbrücke keine Sorgen. Dafür hat er andere. Im Vorjahr, zum Beispiel, sind ihm nachweislich durch den Einsatz chemischer Spritzmittel auf benachbarten Feldern 33 Ziegen vergiftet worden. Der Schaden von etlichen Tausend Euro wurde ihm nicht ersetzt. Als Bürger der Gemeinde Großaue engagiert sich Rubin in einer lokalen Interessengemeinschaft gegen ein nicht nur ihm verdächtiges Projekt, das die gesamte Gegend betrifft: eine neue Biogasanlage: 0-Ton: Rubin 5 + 7 Wer finanziert das? Nachhaltigkeit? Wo kommt das Input-Material her? Wer ist der Betreiber? Wie wird das finanziert? Wie ist es, man muss ja irgendwann auch mal daran denken, wenn man an seine Enkel denkt, dass diese Anlagen auch mal rückgebaut werden müssen. Die sind ja irgendwann mal verschlissen. Wann ist das? 30, 40, 50 Jahre? Was ist es fürn Abfall? Ist es recyclebar oder nicht? Das sind alles Fragen, wo wir die Gemeindevertretung löchern. Ich kann nur von unserer Gemeinde ausgehen und will sie auch nicht über einen Kamm scheren, aber kurioserweise ist es immer so, dass die, die so was bauen, auch immer die Gemeindevertreter sind. Oder zumindest in enger Verwandtschaft eines Gemeindevertreters sind. Zitator: Bildet Genossenschaften zur dezentralen Energieerzeugung! 0-Ton: Korn10 + 9 Ich hab nichts gegen Großbetriebe. Die müssen sein, denn wir Kleinstbetriebe schaffen es nicht, 70 Millionen Menschen zu ernähren. Großbetriebe wie Mastbetriebe wird es immer geben, und die gab es schon immer. Und sie haben auch ein Recht, zu produzieren. Bloß man sollte auch ein bisschen nachdenken: muss der Streit zwischen Großbetrieben und Bürgern sein? Jeder sollte auf jeden ein bisschen zugehen, jeder sollte sich mal sagen: muss ich unbedingt 400.000 Broiler machen, reicht es nicht mit 200.000? Diesen Kompromiss zu finden, ist sehr schwer. Meine Meinung ist: das Sprechen miteinander ist das Wichtigste. Sprecherin: Und daran hapert es wohl zwischen "oben" und "unten". Im Gefälle von Politik und Wirtschaft hin zu Kommunen und der Bürgerschaft. Am Informationsaustausch. An Transparenz. An Aufklärung. Abgesehen von Grundsatzfragen wie solchen zur Massentierhaltung und zur eher totgeschwiegenen Möglichkeit, den Hebel nicht zuletzt am Energieverbrauch anzusetzen wenn es um Maßnahmen zur Energiewende geht. Zitator: Das Oderbruch ist nicht die Müllkippe von Vattenfall & Co! Sprecherin: In der Diskussionsreihe "Brandreden" im Theater am Rand diskutieren die Bürger über das Für und Wider von Sonnenkollektoren, Biogasanlagen und Windrädern. Über Pflanzenschutzmittel und die Qualität der vor Ort produzierten Lebensmittel. Über Kleinbauern und Agrarindustrie. Und immer wieder über das ständig präsente Thema "Wassermanagement". Musik: Oderbruch-Hommage, T. Morgenstern, Theater am Rand, live Tzch tzsch ... ist ne ganz alte Sprache Sprecherin: Tobias Morgenstern vom Theater am Rand führt musikalisch sowohl durch die Ortschaften als auch durch die Probleme des Oderbruchs: Musik: Oderbruch-Hommage, T. Morgenstern, Theater am Rand, live Kienitz, Rüdnitz, Wriezen Altlewin, Alttrebbin, Neulewin, Altbarnim, Neubarnim, Zechin, Letschin Mädewitz, Altreetz, Gaul, .... Ortwig, ...Manschnow, Malnow, Wulnow, Golzow, Seelow und anderswo Eichwerder, Bienenwerder, Thöringswerder, Kienwerder, Zäckericker Loose, Güstebieser Loose ... Zitator: Wider die Energiemonopolisten! Stromnetze zurück in Bürgerhand!! 0-Ton: Wilke12 (plattdeutsch) Herzlich willkommen in Neulietzegöricke , dem ältesten Kolonistendorf im Oderbruch. Sie sind heute zu uns gekommen und wollen ein bisschen das Dorf sehen und ein bisschen durch das Dorf laufen und ich soll Ihnen was dazu erzählen ... Sprecherin: Horst Wilke ist ehrenamtlicher Bürgermeister von Neulewin, samt Ortsteil Neulietzegöricke. 203 Einwohner. Wilke, im Hauptberuf Eisenbahner, ist stolz auf sein Dorf, auf dessen lange Geschichte, stolz auch darauf, wie gut es erhalten worden ist und sogar attraktiv ist für junge Familien, die hierher ziehen. Gerne pflegt er Neuankömmlinge im regionalen Dialekt willkommen zu heißen. Auch legt Wilke Wert darauf, sie zu beraten, wie sie hier ihr Leben einrichten können. Im Oderbruch und wohl auch über dessen Ränder hinaus ist dieser Bürgermeister ein Begriff: als ebenso aufrichtiger wie streitbarer Demokrat. 0-Ton: Wilke8 ... Es gibt ja so ne gemeinsame Planung Berlin-Brandenburg, da waren diese Windgebiete nicht eingezeichnet. Wir wurden ja damals auch mitbeteiligt als Kommunen. Wir hatten uns damals dagegen aufgelehnt. Es war, glaube ich, eine Begrenzung von 10 %, was die Dörfer nur wachsen dürften, mehr sollte nicht zugelassen werden. Das haben wir abgelehnt. Was jetzt neu gekommen ist, die strategische Ausrichtung vom Land Brandenburg, dass wir Energieland werden sollen und dass die Windparks soundsoviel % erneuerbare Energien abgesichert werden sollen. Die würden den Leuten mehr oder weniger übergestülpt. Wer das persönlich machen will, Kommunen, die das machen wollen, das muss man ihnen frei stellen, aber da, wo die Bürger mehrheitlich dagegen sind, und wir haben selber darüber beraten, denn um Neulewin, da sollte auch so ein Windpark entstehen, und die Neulewiner wollen das nicht. Da muss man das als Bürgermeister zur Kenntnis nehmen: Jawohl, das akzeptieren wir und wir werden das auch unterstützen, das nicht zu machen. Sprecherin: Lieber arm, selbstbestimmt und naturbelassen. Bürgermeister Wilke beugt sich dem mehrheitlichen Bürgerwillen. Sicher mit einem weinenden Auge, denn das bedeutet auch, dass die lukrative Aussicht für eine Kommune verbaut wird, durch die Ansiedlung von Anlagen für erneuerbare Energie auch Geld in die klammen Kassen der Gemeinde fließen zu lassen. Aber auch diese Aspekte sind ihm wichtig, weil sie längst zu dem gehören, was die Menschen im Oderbruch suchen: 0-Ton: Wilke7 + 6 Ich denke, auch das mit der Windradgeschichte ist ne interessante Sache, aber man muss die Mindestabstände, die sollten weiter von der Bebauung sein, einhalten, dass die Leute durch die Geräusche, die da entstehen, nicht so stark belästigt werden. Wer auf dem Dorf wohnt, will Ruhe haben. Ich weiß, dass Neulietzegöricke recht gut bekannt ist, auch die Gemeinde Lewin mit Güstebiester Loose ..., und als Neulietzegöricker Bürgermeister wollte ich eigentlich immer Künstler haben, und mit den neuen Gemeinden Neulewin habe ich auch Künstler, die sich hier für das Dorf, für die Gemeinde, einsetzen. Atmo: Aufführung Oder Bruch, Theater am Rand, 30. April 2013 (Männer-Frauen-Stimme im Wechsel, unter Musik): In zwei Jahren, 2015, ist die Sperrfrist für die Böden vorbei, dann stehen die Investmentfonds bereit, die Flächen einzusacken. Dann wird nicht beackert wie bisher, sondern es geht um Bioenergie- und Futtermittelgewinnung. Riesige Flächen nur mit Mais. Und das ist die reale Bedrohung, realer als es das Hochwasser ist. Wenn auf den Feldern kein Fruchtwechsel stattfindet, Tiefwurzler, Flachwurzler, dann sind in zwei oder drei Jahren die Äcker so wie ein Flugplatz, und das Wasser versickert nicht mehr. Es muss ständig entwässert werden. Das Wasser drückt unter dem Deich in das Bruch. Man sieht es nicht, aber es ist da. Sprecherin: Kleinbauern, Großbauern, Investmentfonds. Selbst einen Großbauern wie Hans- Georg von der Marwitz macht es betroffen, dass die Realität die düstere Prognose des Theaterregisseurs Tobias Rausch, Autor des Stücks Oder Bruch, bereits eingeholt hat. Musik: Globalisierungstango (Wenzel, im Theater am Rand) - nur Auftakt! 0-Ton: Marwitz 3 + 24 ... Ich lebe seit 1990 mit meiner Familie, meiner Frau Dorothee und meinen vier Kindern am Rande des Oderbruchs. Ich bin Landwirt, 52 Jahre alt und habe nach der Wende den alten Marwitzschen Familiensitz, der über 8 Generationen in der Familie war, zurückkaufen und zurückpachten können. Seit 1991 haben wir uns dann auch den Lebensmittelpunkt hier in Friedersdorf gesetzt. Auf den sogenannten Seelower Höhen. Von unserem Wohnsitz ist das Oderbruch gut 1000 Meter entfernt, dann kommt die sogenannte Bruchkante, dann komm ich in die Weiten des Oderbruchs. 50 % meiner Flächen liegen im Oderbruch, knapp 500 ha. Sprecherin: Wald, Grünland, Gewässer, Wege. Und ein stattliches, repräsentatives Gutshaus. Insgesamt umfasst der landwirtschaftliche Betrieb von Hans-Georg von der Marwitz knapp 900 ha. Ein Vielfaches also an Landbesitz im Vergleich zum Gemüsebauern Korn und dem Ziegenbauern Rubin. Ein markanter Unterschied, was den Spielraum der persönlichen Lebensgestaltung betrifft, aber entscheidend für die Zukunft des Oderbruchs ist, ist die Gesinnung, mit der sich ein Landbewirtschafter in diese Region einbringt und den Boden bestellt. Der Gutsherr Von der Marwitz vereint mehrere Produktionsstränge in seinem Familienbetrieb: ökologischen Landbau nach den Richtlinien von Bioland und, um abgesichert wirtschaftlich zu arbeiten, konventionelle Landwirtschaft und eine Biogasanlage. Außerdem steht der Name von der Marwitz im Oderbruch für die Initiative und ein enormes persönliches Engagement des Ehepaares für die sogenannte Dorfgesellschaft Friedersdorf. Ein Verein, der sich der Selbstorganisation des Dorfes, wie etwa dem Wiederaufbau der Kirche, aber auch der Kunst und Kultur der Region verschrieben hat. Samt Laden und Gastronomie. Im Kunstspeicher, einem markanten Gebäude gegenüber dem Landsitz der Familie, finden das ganze Jahr über Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen von hohem Niveau statt. Musik: Globalisierungstango 0-Ton: Marwitz 27 Die Agrarstrukturen waren bis 1945 sehr vielschichtig. Wenn Sie heute durchs Oderbruch fahren, sehen Sie noch sehr viele schöne Hofanlagen, die leer sind, die einen trostlosen Eindruck machen, aber man sieht ihnen noch an, welche Dynamik hinter diesen Höfen steckte. Es waren alles Betriebe über 100 ha, die dann nach 1945 im Zuge der Enteignung und der Zwangskollektivierung verschwunden sind. Es gibt Ortschaften, da sind bis zu 80 % der Landbevölkerung bzw. der Bauern haben Haus und Hof verlassen. Nach 1989 hat es aufgrund der politischen Entscheidung, Entschädigung vor Rückgabe, keine Neugründungen von Betrieben gegeben, also die Umstrukturierung von LPGen in Gesellschaften. Nur wenige haben sich aufgemacht, um einen neuen Familienbetrieb zu gründen und aufzubauen. Das hat dazu geführt, dass letztlich die Betriebe in der Größenordnung weitergeführt wurden und dass die ursprünglichen sozialen Bindungen in den Dörfern und die Verantwortung, die ursprünglich die Genossenschaften in der DDR hatten, dass die in vielen Fällen sich auflösten. Zum einen, weil die Betriebe immer weniger Mitarbeiter brauchten. Sie müssen sich vorstellen, dass heute ein Betrieb von 1000 ha von 3 Mitarbeitern bewirtschaftet werden kann. Sprecherin: Während der Großbauer Von der Marwitz sein persönliches Ethos und das wirtschaftliche Interesse seines Familienbetriebes mit den strukturellen und sozialen Bedürfnissen seines Umfeldes in Einklang zu bringen sucht, ticken die Uhren der eigentlichen agrarindustriellen Betriebe im Oderbruch eher im neoliberal globalisierten Takt. Wobei das Gemeinwohl kaum mitzählen dürfte. Und hier dürfte auch das Ende der Fahnenstange der Besorgten und Protestierenden im Oderbruch sein: 0-Ton: Marwitz 28 In meinem Umfeld habe ich eine börsennotierte Aktiengesellschaft. Ich habe eine große Gesellschaft, in der mehrere Investoren drinstecken, die mehr als 18.000 ha bewirtschaftet, allein in meinem Landkreis Märkisch-Oderland. Das sind Größenordnungen, die 15 Dörfer umfassen. Die Durchschnittsgemarkung liegt bei 1000 ha. Also können Sie sich vorstellen, dass so ein aktiengeführtes Unternehmen diese Betriebe so rationell wie möglich bewirtschaftet, mit möglichst wenig Mitarbeitern und dann auch noch Gewinne abziehen muss, um Aktionäre zu bedienen. Da entwickelt sich momentan etwas hier im ländlichen Raum, dass mir fast das Herz umdreht. Ich bin bäuerlich in vielschichtigen Strukturen geprägt und davon überzeugt, dass Eigentum vielschichtig verteilt sein muss, um auch eine Lebendigkeit in der Region zu erhalten. Sprecherin: Die Spruchbänder und farbfrischen Graffiti im Oderbruch zeugen trotzdem von großem zivilen Selbstbewusstsein und ungebeugtem Widerstandsgeist: Zitator: Zeigt der Regierung eure Zähne!! Wir sind das Volk!! Musik: Globalisierungstango Refrain: Wer so reich ist und satt, der ist so gerne Demokrat Sprecherin: Wer reich ist und satt, ist so gerne Demokrat, singt der Musiker Wenzel im Theater am Rand. Die Bewohner des Oderbruchs dürften wahrscheinlich alle satt werden, denn der Grad der Selbstversorgung aus eigenen Gärten oder mit handwerklichen Talenten und im Tausch mit Nachbarn ist hoch und müsste neben den Einkaufsläden sogar ausreichen, die relativ wenigen Mietparteien der Plattenbauten in den Kleinstädten mit regionalen Produkten ernähren und mit anderen Dienstleistungen versorgen zu können. Man ist hier offenkundig selten reich, aber mehrheitlich gerne Demokrat beziehungsweise sozial aktiver Bürger oder aktive Bürgerin. Kenneth Anders vom Oderbruchpavillon liefert die Erklärung: 0-Ton: Anders3 Der gesamtgesellschaftliche Diskurs behauptet ja immer: ländliche Räume, strukturschwach, ... klar, keine Arbeitsplätze, Wegzug, keine jungen Leute, Arme, Alte, Arbeitslose. Wenn man sich aber anguckt, wovon die Leute leben, was sie arbeiten und wie sie ihr Tagwerk einrichten, dann merkt man, dass das alles sehr individuelle Lösungen sind, und dass diese Lösungen oft sehr attraktiv sind. Das sind Leute, bei denen Hobby und Arbeit und Freizeit oftmals sehr verschränkt sind, die sich sehr stark engagieren, die bürgerschaftlich eine Menge unternehmen, die Teil einer Bürgerinitiative sind, die zivilgesellschaftlich sehr vital ist. Das fordert natürlich eine gewisse Aktivität. Also mit einer Konsumhaltung kann ich nicht befriedigend im Oderbruch leben. Aber wenn ich eine aktive Haltung einnehme, in einem Raum, in dem ich lebe, dann kann ich hier sogar sehr gut leben. ... Atmo: Gänse Atmo: Hunde 2 oder 5 Sprecherin: Sehr gut leben können hier vor allem Menschen, die sich in ihren Bedürfnissen an Konsum und Komfort und an PS-starker Mobilität gerne zurücknehmen und auf andere Werte im Leben setzen. Verzicht auf Luxus, eine Abkehr von der Haltung "schneller, weiter, höher" - das ist ein erster Schritt, weniger Energie zu verpulvern. Im Oderbruch lebt man das gerne vor. Auch eine Form von Pioniergeist. Und so steht das Oderbruch längst nicht nur für Probleme von Wutbürgern mit der Agrar- und Energieindustrie. Die Landschaft wird auch durch Kunst geprägt. Kunst im weiteren Sinne: Lebenskunst, bildende Kunst, Handwerkerkunst, Gartenkunst, die Kunst, sein Dorf schön oder seinen Hof attraktiv zu gestalten. Viele Besucher kommen eigens angereist zu den sogenannten Kunst-Loose-Tagen einmal im Jahr, zu Tagen der Offenen Gärten, wo Privatleute in ihre kleinen grünen und blühenden Paradiese einladen, zu Hoffesten mit kulinarischen Köstlichkeiten aus eigener Produktion. Die Initiatoren kennen sich meist alle. Sie mögen sich, aber das fällt niemandem von alleine zu, vor allem wenn man zugereist ist, womöglich noch aus der alten BRD. Man muss sich schon, wie Barbara Brunat vom Erlenhof in Kienitz, um sein soziales Umfeld selber bemühen in der Abgeschiedenheit, in der man lebt. Frau Brunat zog mit Familie von Berlin hierher, engagierte sich eigens für einen Frauengesprächskreis, riskierte, gewagte Frucht- und Gewürzkombinationen zu Marmeladen zu verarbeiten, lernte Schafe zu züchten, zu spinnen und die Wolle zu verarbeiten. Schließlich eröffnete sie einen kleinen Hofladen. 0-Ton: (Brunat) Das hat mir große Freude gemacht, und ich stricke gerne. Da ist so ne richtige Sockenmanie draus entstanden. Man kann natürlich nicht 100 Socken für sich stricken. Also legt man sie in den Laden. Dann kommen Leute, ah, selber gestrickt, da freut man sich innerlich.... So hat sich das entwickelt nach und nach. ... Wobei die Frauen mir am Anfang, auch hinterher, gesagt haben, also weißt Du Barbara, als Du mit Deinen Marmeladen angefangen hast, da haben wir gedacht, ne, hier auf dem Dorf Marmelade kochen, das wird noch nüscht, aber es ist was geworden. Sprecherin: Inzwischen kann man sogar in Schäferwagen auf dem Hofgelände übernachten. Die Künstlerin Antje Scholz kam aus Rostock ins Oderbruch und zog auf ein Loose- Gehöft bei Ortwig. Sie ist eine der Initiatorinnen der sogenannten offenen Ateliers: 0-Ton: Scholz 4+5+6 Offene Ateliers nennen wir bei uns die Kunst-Loose-Tage. Loose mit oo geschrieben. Das kommt daher, weil viele Orte heißen hier Loose: Güstebieser Loose, Zäckericker Loose, das sind die Gemarkungen oder die Flurstücke, die mal verlost wurden. Und so entstanden die Höfe auf diesen losen Fluren, könnte man sagen. Und da auch ganz viele Künstler und Handwerker außerhalb wohnen, wohnen die meistens auf diesen Loosen. ... Jedenfalls heißt es deshalb Kunst-Loose-Tage, was immer wieder Verwirrung stiftet. Na ja, weil "kunst-los" - ist da nun Kunst oder ist da keine Kunst oder was? Seit '98 machen wir das. Da bieten so zwischen 25 und 35 Ateliers ihre Kunst an. Musik 2: "Atomic Swing" Interpret: Schnuckenack Reinhardt Quintett Komponist: Schnuckenack Reinhardt Label: RBM Records, LC-Nr. 02888 Sprecherin: So buchstäblich naheliegend das Nachbarland Polen auch liegt, für die Menschen hier beiderseits der Oder gibt es dennoch viele trennende Momente: 0-Ton: Scholz 12 Man denkt oft hin, nach Polen, wenn man an der Oder ist. Ich bin auch gern auf der anderen Seite, Fahrradfahren auf der polnischen Seite, und man versucht auch gerne diese Fähre zu nehmen, die aber eigentlich fast nie fährt, nach Polen. Mit nem wunderschönen Schild vorne dran: wenn der Motor nicht geht, wenn es regnet, wenn die Sonne scheint, also eigentlich fährt sie einfach nicht. Sprecherin: Die Fähre, die nicht funktioniert, ist Sinnbild für das nicht ganz einfache Verhältnis zum Nachbarn auf der anderen Seite der Oder. Man lebt nebeneinander, aber man kommt nicht wirklich zusammen, weiß Antje Scholz: 0-Ton: Scholz 12 Wenn wir Projekte machen wollten mit Polen, weil das natürlich auch besser gefördert wird, haben wir uns sehr mühen müssen. Sie sind nicht so sehr aufgeschlossen, bzw. haben einen ganz anderen Stil. Man muss sehr viel Geduld haben, miteinander was zu organisieren. Da sind wir irgendwie zu Deutsch, zu schnell und wollen es abrechenbar machen, und die wollen einen kennenlernen und sind anders, und da will ich auch nicht sagen, was nun gerade besser ist von beiden. Aber es kommt schlecht zustande. Und wenn man das ein paar Mal erlebt hat, dann wird man müde und macht es nicht mehr. Musik: Präsentation der Ergebnisse der Sommerschule Landschaftskommunikation "Fassungslose Landschaft - Das Oderbruch als Handlungsraum" am 19. September 2012 im Theater am Rand Sprecherin: Im September 2012 präsentierten Studierende der Sommerschule vom Büro für Landschaftskommunikation die Ergebnisse ihrer Recherchen zum Thema "Fassungslose Landschaft - Das Oderbruch als Handlungsraum" im Theater am Rand. Offenbar hat ihnen gefallen, wie der Theaterleiter und Akkordeonist Morgenstern gerne sein Publikum animiert: mit Musik und einschlägigen Texten zum anstehenden Thema. Sie folgten seinem Beispiel: Eine Stunde Oderbruch wagen wir doch den Versuch Jede Woche eine Stunde, einmal schauen in die Runde Schließen ab das eigne Haus, sehen übers Dorf hinaus, auf das, was wir alle teilen - eine Stunde nur verweilen! 0-Ton: Marwitz 31 Das Oderbruch ist eine Kulturlandschaft, deshalb bin ich auch sehr argwöhnisch mit all diesen Renaturierungsforderungen. Das ist für viele Teile Deutschlands oder Europas ohne weiteres zu fordern, aber das Oderbruch, das Mitte des 18. Jahrhunderts mit großem Aufwand kultiviert wurde, wodurch sich Dörfer und wichtige Wirtschaftsräume entwickelt haben, wenn wir die erhalten wollen, brauchen wir Menschen, die hier eine Basis haben und auch leben können. Es gibt wenig Räume, die so vielfältig kulturell aber auch wirtschaftlich gestaltet werden, allerdings eben nicht mehr von der Landwirtschaft, sondern von - ich nenne das mal vorsichtig - Raumpionieren, also von Menschen, die aufgrund der Liebe zur Region ihren Lebensmittelpunkt hierher versetzen und dann überlegen, wie sie diesen Raum gestalten. Musik: Präsentation der Ergebnisse der Sommerschule Landschaftskommunikation .. Eine Stunde Oderbruch, heute stelln wir ein Gesuch an die Zukunft der Region. Maisbestanden ist sie schon, Windrad, Photo auf der Fläche, alle zahlen eine Zeche für den schnellen Wirtschaftsboom - lasst uns was gemeinsam tun. Kennmusik ABSAGE: "Demokratie wagen" Pioniergeist im brandenburgischen Oderbruch Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Ursula Rötten Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff und Joachim Schönfeld Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Ellen Häring Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1