COPYRIGHT D Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genenehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Ich finde meine Figuren überall" Eine Begegnung mit Martin Amis Autor : Michael Reitz Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 31.07.2012 Besetzung : Erzähler (Kommentar), Sprecher (Zitate und OV Martin Amis) Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne und Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Deutschlandradio Kultur, Redaktion Literatur: "Ich finde meine Figuren überall" - Eine Begegnung mit Martin Amis Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Zitator: Wir leben im Zeitalter der Massenredseligkeit. Es ist nicht so, dass in Zukunft jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein wird. In der Zukunft wird jeder immerzu berühmt sein - aber nur für sich selbst. Das ist ein scheinbarer Ruhm, ein Karaoke-Ruhm. Es gibt nur eins, was er bewirken kann: er vernebelt einem den Kopf. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" O-Ton (1) Amis: Tottenham never win anything, but your heart is with your first team. But my first team is Swansea, it used to be a third-division team, but it is now in the premier, just beaten Manchester City, last Sunday. Manchester City, which is the billion team - Swansea beaten. Overvoice: Die Tottenham Hotspurs haben noch nie einen Titel gewonnen, aber dein Herz bleibt immer deiner ersten Mannschaft treu. Mein Lieblingsteam ist Swansea, das lange Jahre in der dritten Liga spielte, und jetzt in der ersten. Letzten Samstag haben sie Manchester City geschlagen. Die Milliardärs-Truppe, geputzt von Swansea! Erzähler: Der britische Schriftsteller Martin Amis, Jahrgang 1949, ist ein in jeder Beziehung leidenschaftlicher Mensch. Trotz seiner geringen Körpergröße wirkt er wie ein angriffslustiger Verteidiger im Fußball, der das tackling ebenso schätzt wie Fair-play. Ausgerechnet den englischen Clubs Tottenham Hotspurs und Swansea galt seine erste Liebe - den Heißspornen und ewigen Verlierern des englischen Fußballs. Musik noch mal hochziehen Erzähler: Das könnte auch für Martin Amis' literarisches Wirken gelten. Denn er hat sich einerseits nie davor gescheut, Unbequemes auszusprechen und andererseits seine tiefe Zuneigung für das Scheitern des Menschen zum Thema seiner Literatur zu machen. Seine mittlerweile auf über zwanzig Bände angewachsene Produktion aus Essays, Erzählungen und Romanen ist bevölkert von allen Schichten und Klassen mit ihren jeweils spezifischen Sprechweisen. Denn Martin Amis ist ein akribischer Beobachter seiner Zeitgenossen. "Ich finde meine Figuren überall", sagt er bei unserer Begegnung am Rande einer Lesereise durch Deutschland. O-Ton (2) Amis: It is just a random process, it could be someone just overhere on an underground train for five minutes, something about the use of words that stays in your mind for a while. All these things have to come in front of your mind than they are ready for use in a novel. And sometimes it is a bit like Frankenstein's monster, someone you know you give there looks to a character and someone elses mind and someone elses talent and stir it up. But the novel itself wants it's form, the mind will make demands on you and on the characters. So they are shaped by the totality of the normal. Overvoice: Das ist ein zufälliger Prozess. Es kann zum Beispiel jemand sein, den ich für Minuten in einer U-Bahn-Station sehe, seine Sprache höre, die mir dann für längere Zeit im Kopf bleibt. Wenn das dann ins Bewusstsein gerät, kann es zum Bestandteil einer Erzählung werden. Manchmal ist das ein bisschen wie bei Frankensteins Monster: Die eigenen Fähigkeiten und Sichtweisen werden einem Fremden untergeschoben und in der Figur übertrieben. Denn der Roman verlangt nach einer Form - und er hat auch seine eigenen Forderungen an den Autor, an seine Figuren. Ich finde meine Charaktere immer in der Allgegenwärtigkeit des Normalen. Erzähler: Martin Amis hat immer polarisiert, und kaum ein Autor wurde in Großbritannien so oft angegriffen wie er. Der Sohn des berühmten Schriftstellers Kingsley Amis veröffentlichte 1974 mit "The Rachel Papers" seinen ersten Roman, der auch prompt mit dem renommierten Somerset- Maugham-Preis ausgezeichnet wurde. Doch zum enfant terrible der britischen Literatur wurde er mit Romanen wie "London Fields", "Pfeil der Zeit" oder "Information". Vor allem das 2003 erschienene Buch "Yellow Dog" festigte endgültig seinen Ruhm als Rabauke und postmoderner Nonkonformist, dem Vokabeln wie literarische Schönheit oder political correctness reichlich egal sind. Wie die Musik, die er am liebsten höre: O-Ton (3) Amis: Jazz. I am quite primitive; I don't listen to classical music. I am saving it up for my old age. Jazz, definitely. It is a jazzy style, that's what I like. Overvoice: Jazz. Ich bin ziemlich gewöhnlich, was das angeht, ich höre zum Beispiel keine klassische Musik. Das spare ich mir für das Alter auf. Nein, Jazz, das Jazzig-Schmutzige, das ist es, was ich liebe. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Zitator: Xan Meo ging nach Hollywood. Und Minuten später kam Xan Meo mit rasender Geschwindigkeit und begleitet vom jaulenden Chor elektrifizierter Verzweiflung ins Krankenhaus. Resultat männlicher Gewalt. Sein Zustand glich dem des 21. Jahrhunderts: das war etwas, aus dem man aufwachen wollte. Jetzt war es ein Traum in einem Traum. Und beide Träume waren böse Träume. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Erzähler: Der Roman "Yellow Dog" erzählt mehrere Geschichten. Da ist zum einen der brutale Überfall auf den sensiblen Schriftsteller Xan Meo. Augenscheinlich eine Verwechslung, die jedoch fatale Folgen hat: er verliert nicht nur sein Gedächtnis, sondern auch seine moralische Urteilsfähigkeit und entwickelt sich zu einem sexbessenen Widerling. Eine weitere Ebene des Romans handelt von dem Schmierenjournalisten Clint Smoker, der titelgebende "Yellow Dog", im Englischen die Bezeichnung für einen hinterhältigen und skrupellosen Karrieristen. Auch der englische König spielt eine Rolle, denn ab und an werden ihm in erpresserischer Absicht Videoaufnahmen seiner halbwüchsigen Tochter zugespielt, in denen sie nackt zu sehen ist. Den letzten Erzählstrang schließlich bildet die Biographie eines Londoner Gangsters, der den Auftrag zum Überfall auf Xan Meo gab. All diese auf den ersten Blick isolierten narrativen Strängen werden nach und nach zu einem Zopf verflochten. Es geht um Pornographie, genauer gesagt, die Obszönisierung der Gesellschaft. O-Ton (4) Amis: I mean that is very objective description of the drag the society is heading in. I went up to California, the San Fernando Valley, which is the capitol of pornography, partly in preparation for that novel. This was a district of America where all the films are made. And that was in the year 2000, and before the internet (...) half of it, internet traffic is pornography. It is certainly the appropriate sexual form of the globalized interconnective world it seems to be tailor-made for the present. Overvoice: Das ist eine ziemliche sachliche Beschreibung der Misere, in die die Gesellschaft sich selber gebracht hat. Für den Roman habe ich im kalifornischen San-Fernando-Tal recherchiert. In dieser Gegend werden die meisten Pornofilme der Welt gedreht. Das war im Jahr 2000, bevor das Internet zu dem Medium der Pornografie wurde. Heute besteht mehr als die Hälfte des Internet-Verkehrs aus dem Konsumieren von Pornos - offenbar die zeitgenössische Form des sexuellen Miteinanders in einer globalisierten Welt. Geradezu maßgeschneidert für die Gegenwart. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Zitator: Vor kurzem hatte Clint einen Artikel gelesen, in dem das Entstehen eines neuen Menschentyps postuliert wurde: des hochintelligenten Schwachsinnigen. Informiert, emotionslos und ohne Einfühlungsvermögen waren hochintelligente Schwachsinnige supermodern auch insofern, als sie jedwede technologischen und kulturellen Veränderungen einfach so hinnahmen - unerschrocken und freudlos. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Erzähler: Eine soziale Formation, so Martin Amis, die keine Geheimnisse und Intimität mehr haben will, verliert den Blick für Grenzen und das rechte Maß. Dabei ist der rüde Stil, wie er beispielsweise in der britischen Boulevardgazette "The Sun" gepflegt wird, für den Schriftsteller Martin Amis ein hervorragendes Studienobjekt. Verzerrtes Abbild zeitgenössischer Sprache und sozialer Verhältnisse. Die Massenblätter unterstellen den Menschen Bedürfnisse und Haltungen, die sie nicht haben. O-Ton (5) Amis: Honestly said, you can't understand England, unless you read "The Sun" every day. I use to buy "The Sun" every day (...) The values of that paper and other papers fascinate me. They are not without wit sometimes, but it's cynicism interests me very much. It's attributing the very worst motives to everyone on every occasion. That everyone is in for the money, for sex (...) When Princess Diana died (...) they had articles saying: Princess Di fucks Muslim, on the front page. And on the back they had pictures of her as an angel (...) and then for weeks, it was her in a cloud on heaven, with a harp. Overvoice: Man kann England nicht richtig verstehen, wenn man nicht jeden Tag die "Sun" liest. Ich kauf sie mir oft, denn die Einstellung dieses Blattes und anderer Skandalblätter faszinieren mich. Die Revolverpresse ist nicht ohne Witz, und es ist vor allem ihr Zynismus, der mich beeindruckt. Sie unterstellen den Leuten die denkbar schlechtesten Motive, die sie angeblich bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausleben: aus Geldgier und Sexbesessenheit. Als Prinzessin Diana starb, stand auf der Titelseite der "Sun": "Prinzessin hat sich von einem Moslem bumsen lassen." Und auf der Rückseite dann Bilder, auf denen sie als Engel im Himmel dargestellt wurde, mit einer Harfe. Erzähler: Der Schriftstellerkollege Tibor Fischer hatte das Buch bereits vor dessen Erscheinen in übelster Weise verrissen, indem er dessen Lektüre mit öffentlicher Masturbation gleichsetzte. O-Ton (6) Amis: And once he has done that, once a novelist done that then everyone could say, whatever the hell they like about it. Not just literary reviewers, but every journalist who hold a pen was queuing up to attack it (...) It had a lot of good reviews, but the overall feeling was it had terrible reviews. It is a little bit depressing for me if they all react with hostility, but a satirical novel should shake things up. Overvoice: Wenn erstmal jemand so etwas geschrieben hat, noch dazu ein Kollege, ist das Eis gebrochen und alle können draufhauen, so wie sie wollen. Nicht nur Literaturkritiker, sondern jeder Reporter, der grade mal einen Stift halten kann, bläst zur Attacke. Dabei ging vollkommen unter, dass das Buch neben den vielen Verrissen ebenso viele gute bis hervorragende Kritiken hatte. Es macht einen schon sauer, wenn alle mit Ablehnung reagieren. Andererseits: Ein satirischer Roman sollte schon die Verhältnisse aufmischen. Erzähler: Es dauert ziemlich lange, bis man versteht, an was für einem narrativ-raffinierten Spiel Martin Amis seine Leser beteiligt. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Zitator: Was die Taxen betrifft, so gibt es bei diesem Geschäft sicherlich nichts mehr zu verbessern. Sie bezahlen einen im Voraus, ohne Fragen zu stellen. Sie wissen stets, wohin man will. Kein Wunder, dass wir ihnen am Ende sogar stundenlang einen Abschied zuwinken oder sie grüßen - diesen tollen Service begrüßen. Auf den Straßen wimmelt es von Leuten mit erhobenen Armen, die klatschnass und erschöpft den Taxen danken. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Erzähler: Alles läuft rückwärts in dieser Geschichte: Ein Mann liegt sterbenskrank im Bett, umringt von Ärzten. Doch bereits wenige Seiten später ist er kerngesund. Weitere Merkwürdigkeiten folgen: Martin Amis erzählt die Geschichte des sterbenden Mannes chronologisch - allerdings rückwärts. Bis wir schließlich als Leser an einen Punkt kommen, an dem uns der Spaß an diesem originellen Einfall vergeht: Musik: Miles Davis "Sanctuary" Zitator: Bei meiner Abreise aus Auschwitz verspürte ich Trennungsschmerz. Es war das Jahr 1942. Der Zug nach Berlin fuhr rasch und ohne Aufenthalt durch. Der Hauptbahnhof von Auschwitz war nicht nur einfach eingleisig oder ein Nebenanschluss. Er war der größte Bahnhof, den ich je gesehen habe, Direktanschluss in alle Richtungen Europas. Auschwitz war ein Geheimnis, es umfasste 7000 Hektar, und es war unsichtbar. Ich beendete einen fünfmonatigen Pflichteinsatz bei einer Waffen-SS-Einheit. Ich würde gerne glauben, dass wir ziemlich gute Arbeit geleistet haben, obwohl es im Vergleich zum KZ ziemlich dürftiger Stoff war. Musik: Miles Davis "Sanctuary" Erzähler: Um einen Völkermörder geht es hier, einen Arzt, der in den Konzentrationslagern grausame medizinische Experimente an lebenden Juden durchführte. Der von Martin Amis gewählte Modus des Rückwärtserzählens hat den Effekt, dass die Frage, wie es zu dem beispiellosen Verbrechen des Holocaust kommen konnte eben nicht mit den Mitteln des logisch-linearen Erzählens beschrieben wird. Stattdessen ist der Pfeil der Zeit rückwärtsgewandt und erzeugt so eine ganz eigene Strömung. Doch was machte es für Martin Amis so wichtig, ein Buch über den Holocaust und einen Nazi-Mörder zu schreiben? Noch dazu mit einer ebenso brillanten wie extrem arbeitsaufwendigen Konstruktionsidee? O-Ton (7) Amis: That was the only way I could approach it. (...) It gave me some distance, and the odd thing about that book is, the reader has to do all the suffering, the reader knows, was has really happened and sees it and translates it into real time (...) So, the narrator can innocently tell you the story without being involved. And that seemed to me very odd (...) And I don't believe that this is a subject that can't be dealt with in fiction. The exceptionalism of the holocaust, there is a lot that has been said about that. Beside this: soon, everyone involved will be dead. That releases the subject in another way (...) it means, it is a little bit more abstract if it is gone from living memory. Overvoice: Das war die einzige Möglichkeit, mich diesem Thema zu nähern. Es hat mir die nötige Distanz gegeben, vor allem, weil ich dem Leser einiges zumute an Mitleiden. Er weiß, was da vor sich geht und transponiert es für sich in den richtigen Fluss der Zeit. Der Autor selbst kann sich zurücklehnen. Denn der Holocaust kann mit den Mitteln des herkömmlichen, geradlinigen Erzählens nicht adäquat beschrieben werden. Über seine Außergewöhnlichkeit ist in traditioneller Prosa schon sehr viel gesagt worden. Hinzu kommt: es wird nicht mehr allzu lange dauern, und alle Beteiligten am Holocaust werden tot sein. Das entbindet die Täter in der Hinsicht, dass ein Verbrechen abstrakt wird, wenn es nicht mehr aus dem unmittelbaren Zeitgedächtnis, ohne lebende Zeugen erzählt werden kann. Erzähler: Die englischsprachige Literaturkritik ist bis heute nicht in der Lage, ein eindeutiges Urteil über Martin Amis und seine Literatur zu fällen. An ihm scheiden sich die Geister. Während die New York Times seinen Stil als "Neue Unerträglichkeit" bezeichnete, kürte ihn die englische "Times" im Jahr 2008 zu einem der fünfzig besten britischen Schriftsteller nach 1945. An der Universität Manchester hatte er sogar bis 2011 einen Lehrauftrag als Professor für kreatives Schreiben inne. Doch bei einer Etikettierung sind sich fast alle Medien einig: Martin Amis ist das, was man einen postmodernen Schriftsteller nennt. Obwohl dies alles Mögliche bedeuten kann: mangels Talent auf Effekte setzen. Die Stile vermischen, weil man als Autor keinen eigenen hat. Und schließlich: die Welt in ihrer Zersplitterung mit einer völligen Wahllosigkeit des eigenen Figurenensembles zu karikieren. Für seine frühen Veröffentlichungen, so Martin Amis, habe das vielleicht zugetroffen. Heute jedoch sei ihm vor allem eines wichtig: Struktur. O-Ton (8) Amis: That becomes more and more important as you get older. When I look at my first novel, I think (...) where is no form? (...) The form, the structure becomes your crutch, it is what you depend on, more than anything as you get older and your writing gets more formal (...) Genius is the god-given gifts perception and articulacy. The talent is technique, it's that what the novel keeps going along and the novel becomes more like a locomotive. It is not as static and essayistic and as meditative as it used to be (...) History speeded up in the last generation and the novel naturally reflects that. Overvoice: Das wird umso wichtiger, je älter man wird. Wenn ich mir heute mein erstes Buch ansehe, frage ich mich: Wo ist die Form? Die Struktur einer Erzählung wird mit der Zeit zu einer Krücke, auf die man sich verlässt. Begabung besteht aus den Gottesgeschenken Wahrnehmung und Artikulationsfähigkeit. Talent ist Technik. Und das ist es, was einen Roman zum Selbstläufer macht, zu einer Lokomotive, die, einmal angestoßen, ihren Weg geht. Erzählen ist nicht statisch, nüchtern oder meditativ. Unsere Welt hat sich beschleunigt, und der Roman spiegelt das wider. Erzähler: Doch was bedeutet das Label "postmodern" nicht aus literaturkritischer, sondern literaturwissenschaftlicher Sicht? Elisabeth Gilbert, Dozentin für Englische Sprache und Literatur an der Universität Köln, nennt einige der Kriterien, die auch auf Martin Amis zutreffen. O-Ton (9) Gilbert: Es gibt meines Erachtens viele verschiedene Details. Das eine ist relativ augenscheinlich dieses Selbstironische oder das dauernde Selbstkommentierende, das immer die Ebenen switcht, die Erzählebenen, in der die Geschichte entwickelt wird, in der die Charaktere vorgestellt werden. Und gleichzeitig immer wieder dieser Hinweis auf die Metanarrativen, also auf wie das ist, kreativ zu sein, wie das ist, ein Publikum zu haben, wo er selber kommentiert, ob er die Charaktere stereotypisch zeichnet oder ob die round oder flat character sind. Dieses ganze Selbstkommentierende und immer so ein bisschen Ironisierende. Musik: Miles Davis "Bitches Brew" O-Ton (10) Gilbert: Meines Erachtens das erste Mal, dass die Kreativen (...) angefangen haben, einfach viel radikaler das Ungelöste zu ihrem Thema zu machen, oder dass eben nicht nur alles nur schwarz und weiß ist, dass nicht immer alles nur ein tolles Ende hat, sondern mehr darauf zu gucken, wie viel der Leser selber mit rein bringt in diesen kreativen Prozess, aus Buchstaben eine Geschichte entwickeln zu lassen. Ich glaube, das hat denen auch unheimlich viele neue Möglichkeiten gegeben. So, als wäre man übersättigt und wüsste nicht mehr, worüber man eigentlich noch schreiben soll. Es ist eigentlich schon geschehen. Und jetzt geht es weniger über das Worüber, sondern es geht mehr um das Wie. Wie bringe ich eine Geschichte wieder ganz neu zum Leben? Oder wie bringe ich es dazu, dass der Leser wieder ein neues Interesse hat, sich damit auseinanderzusetzen. Erzähler: Typisch postmodern, so Elisabeth Gilbert, sind dabei meist die Romananfänge des Martin Amis. Denn nur dort taucht für einen einzigen kurzen Moment das Erzähler-Ich auf - um sofort wieder hinter den Figuren zu verschwinden. Musik: Miles Davis "All Blues" Zitator: Nächtliche Städte, das ist meine Empfindung, sind voll von Männern, die im Schlaf weinen, und dann sagen sie: Nichts! Es war gar nichts. Flöge man tief über die Häuser im Tränenschiff, mit den Schluchzscannern und den Heuldetektoren, dann könnte man sie alle ermitteln. Frauen - und das können Gattinnen sein, Geliebte, hagere Musen, dicke Krankenschwestern, Obsessionen, verschlingende Mütter, Verflossene, Rachefurien - erwachen und drehen sich zu diesen Männern hin und fragen: "Was ist denn?" Und die Männer sagen: "Nichts. Nein wirklich, war gar nichts." Robert Tull weinte im Schlaf. Musik: Miles Davis "All Blues" Erzähler: "Information" - so der Titel des 1995 erschienenen Romans - ist die Geschichte einer Rivalität zwischen einem erfolgreichen und einem permanent scheiternden Schriftsteller. Es ist eine gepfefferte Parodie auf den Literaturbetrieb - und ohne dass es beabsichtigt gewesen wäre, wurde das Buch Anlass für eine Posse innerhalb der dichtenden Zunft. Denn Martin Amis hatte während des insgesamt fünfjährigen Schreibprozesses einen Vorschuss von annähernd 500.000 Pfund erhalten, selbst für einen etablierten Autor eine ungeheure Summe. Die Folge: Viele seiner Schriftstellerkollegen neideten ihm diese hohe Dotierung. Als Martin Amis dann auch noch seine Agentin Patricia Kavanagh entließ, war er in den Augen vieler britischer Autoren endgültig größenwahnsinnig geworden. Mit seinem langjährigen Freund Julian Barnes, Ehemann der entlassenen Agentin, kam es zu einem bis heute andauernden Zerwürfnis. Wie unter Zwang habe er damals geschrieben, sagt Martin Amis, denn er hatte eine für ihn sehr bedrückende Lebenserfahrung gemacht: O-Ton (11) Amis: That's a novel about the midlife and the midlife crisis and realizing that you gonna die. We don't realize that until we are 45. You accept it intellectually. You look in the mirror and you think: clever you, you are an exception to this rule. When that feeling goes, that's the end of your youth. When you look in the mirror and you see death. And that was what I wanted to write about. And the rivalry (...) it was just a way of that I could address it from the point of view of failure on the one hand and the undeserved success on the other, injustice. It was the novel, I found hardest to write of all my novels (...) and I almost abandoned it. Overvoice: Das ist ein Roman über die Krise in der Lebensmitte. Wenn man sich plötzlich der eigenen Sterblichkeit bewusst wird. Das kapieren wir nämlich nicht, bevor wir 45 sind. Auf der intellektuellen Ebene akzeptieren wir das. Aber wir schauen lange Zeit in den Spiegel und sagen uns: Für dich gilt diese Regel nicht. Wenn dieses Gefühl verschwindet, ist es das definitive Ende der Jugend. Von da ab sieht man beim Blick in den Spiegel den Tod. Darüber wollte ich schreiben. Und über Rivalität. Das konnte ich am besten ausdrücken, indem ich das Scheitern des einen Menschen dem völlig unverdienten Erfolg des anderen entgegenstellte. Die Ungerechtigkeit, die darin liegt. Es ist dieser Roman, der mir am schwersten fiel. Einige Male war ich drauf und dran, ihn aufzugeben. Erzähler: Fünf Jahre später sorgte Martin Amis erneut für Schlagzeilen, als er mit einem Projekt an die literarische Öffentlichkeit trat, das in der Regel erst am Ende eines Schriftstellerlebens in Angriff genommen wird: mit knapp fünfzig Jahren legte Martin Amis unter dem Titel "Die Hauptsachen" seine Autobiographie vor. Heute beschreibt er diese Arbeit als eine notwendige Selbsttherapie: O-Ton (12) Amis: It felt the right time to do it, and it was, the reason, I just did then, was my father just died. And I always meant to write about him (...) what is really unique is I think my father and I are roughly the same, same number of novels and I just wanted to say how that was like. And he was a very interesting an amusing man (...) I didn't feel like writing fiction and it didn't take long to write, almost 400 page. When you write a memoir, half of it is done for you; because you don't have to make anything up (...) A memoir comes to you twice as fast. I didn't want to write fiction in order to absorb the death of my father. So, it didn't feel too early. Overvoice: Es war der richtige Zeitpunkt, diese Arbeit in Angriff zu nehmen. Der Hauptgrund dafür war der Tod meines Vaters, über den ich immer ein Buch schreiben wollte. Denn in unseren Karrieren als Autoren waren wir uns merkwürdigerweise sehr ähnlich - bis hin zur gleichen Anzahl von Veröffentlichungen. Und ich wollte erzählen, wie es mir damit ging. Darüber hinaus war er ein sehr interessanter und humorvoller Mensch. Das Schreiben ist mir leicht gefallen, wie eine Erholung, ich habe nicht gemerkt, dass es plötzlich vierhundert Seiten waren. Wenn man seine Autobiographie schreibt, ist das meiste ja schon da. Man muss nichts erfinden, es geht doppelt so schnell wie das fiktionale Schreiben. Ich wollte den Tod meines Vaters nicht durch eine erfundene Geschichte für mich erträglicher machen - insofern war meine Autobiographie nicht verfrüht. Musik: Miles Davis "Bitches Brew" Zitator: Falls das Ergebnis gelegentlich abgehackt, ziellos, fahrig wirkt, kann ich nur sagen, dass es auf meiner Seite des Schreibtisches genauso aussieht. Jemand ist nicht mehr da. Der Fürsprecher, der Vater, der Mann, der zwischen Sohn und Tod steht, ist nicht mehr da, und nichts wird mehr sein wie früher. Musik: Miles Davis "Bitches Brew" Erzähler: Leicht hat es ihm der Vater und erfolgreiche Schriftsteller Kingsley Amis nie gemacht. Den ersten Roman seines Sohnes "Das Rachel-Tagebuch" hatte er sogar in dessen Beisein vor Wut im hohen Bogen durch die Küche geworfen. Und in der Tat hatte Martin Amis auf der literarischen Ebene andere Vorbilder als seinen Vater. Neben Saul Bellow und James Joyce prägte ihn vor allem Vladimir Nabokov. Wie hält er es mit zeitgenössischen Schriftstellern? O-Ton (13) Amis: No. Except they are friends. I read my friends and I read my young friends. Will Self and Sadie Smith. But I read dead people, really. This is a more economical way of reading. You don't want to read people who didn't stood the test of time. And the test time is the only thing we have, it is the only way of judging art. Every other thing is rhetoric, saying this is a great book. Bullshit, it doesn't mean anything. If it is still there in a hundred's year time, that's the stamp of value. I read 20th century writers, but they are all dead (...) I read D.H. Lawrence very much. Overvoice: Lese ich nicht. Es sei denn, es sind Freunde. Will Self oder Sadie Smith. Am liebsten lese ich verstorbene Autoren, das ist für mich effektiver. Ich will keine Schriftsteller lesen, die nicht durch das Prüfverfahren der Zeit gelaufen sind, denn das ist das einzige Kriterium, nach dem man Kunst beurteilen kann. Alles andere ist Rhetorik. Zu sagen: "Das ist ein großes Buch." Völliger Blödsinn, hat nicht das Geringste zu bedeuten. Erst wenn es nach hundert Jahren noch da ist, hat es sein Gütesiegel verdient. Ich mag Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, aber die sind alle tot. D.H. Lawrence zum Beispiel, den ich mir immer wieder vornehme. Erzähler: Der britische Autor D.H. Lawrence. Pionier einer Literatur, die das Sexuelle als wichtigsten Motor gesellschaftlicher Veränderung wie künstlerischer Inspiration sah. Neben anderen stand er Pate bei Martin Amis' Roman "Die schwangere Witwe", erschienen im Frühjahr 2012. Thema ist die sexuelle Revolution der 1960er und 70er Jahre. Schauplatz der Geschichte ist jenes Schloss in der italienischen Campania, in welchem Lawrence mit Frieda von Richthofen eine Zeit lang lebte. Bei Martin Amis hat sich dort eine libertär-laszive Truppe von Frauen und Männern zusammengefunden, die dem Ideal der freien Liebe folgt und damit die Welt verändern will. Der Titel geht zurück auf ein Statement des russischen Literaturwissenschaftlers Alexander Herzen. O-Ton (14) Amis: He was talking about revolutions, political revolutions (...) and he says: the end of the old order is rather to alarm the soul, but what is frightening us, is that the vanishing values will leave behind is not a child but a pregnant widow. Between the death of the one and the birth of the other, much water will flow by a night of chaos and desolation - which is a very beautiful way to say, a revolution is always violent and always leaves casualties, something goes and something stays, these are revolutions. Overvoice: Er sagte sinngemäß über politische Revolutionen: das Ende der alten Ordnung wird zwar unsere Herzen erfreuen. Aber was uns gleichzeitig Angst machen wird, ist die Frage, ob die alten abgestoßenen Werte statt eines Kindes eine schwangere Witwe zurücklassen. Denn zwischen dem Verschwinden eines alten Regimes und der Geburt einer neuen Zeit könnte viel Chaos und Unordnung entstehen. Damit hat Alexander Herzen die Wahrheit aller Revolutionen auf den Punkt gebracht: dass sie immer Gewalt bedeuten und dass etwas geht und etwas bleibt. Musik: Miles Davis "Bitches Brew" Zitator: Das ist die Geschichte eines sexuellen Traumas. Er war in keinem zarten Alter, als ihm all das widerfuhr. Er war in jeder Hinsicht erwachsen; und es geschah mit seinem Einverständnis - mit seinem völligen Einverständnis. Ist Trauma denn wirklich das Wort, das wir suchen, von griechisch "Wunde"? Denn seine Wunde, als sie ihm zugefügt wurde - sie tat kein bisschen weh. Musik: Miles Davis "Bitches Brew" Erzähler: Bereits kurz nach Erscheinen in Großbritannien ein großer Verkaufserfolg und als Buch des Jahres gefeiert, ist der Roman vor allem eines: die illusionslose literarische Aufarbeitung einer angeblichen Revolution, die nichts anderes war als die Revolte gelangweilter Kinder des gehobenen Mittelstandes. Während D.H. Lawrence und weitere Libertins des 20. Jahrhunderts im Sex etwas Heiliges und Aufbrechendes sahen, das dem künstlerischen Schaffen verwandt ist, hat sich laut Martin Amis ein paar Jahrzehnte später eine grundlegende Wandlung vollzogen: Die Liebe trennte sich vom Geschlechtstrieb. Das Personal des Romans denkt, handelt und fühlt in denselben Kategorien wie das Establishment: Konkurrenz, Neid, Besitzansprüche und Gier. Martin Amis nennt die 1970er Jahre die Ich-Dekade: der Narzissmus und erbarmungslose Ich- Sucht des gegenwärtigen rücksichtslosen Turbo-Kapitalismus habe dort seine Wurzeln. Und die werden in der "Schwangeren Witwe" bloßgelegt. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Zitator: Finde einen Spiegel, der dir gefällt und dem du vertraust, und bleibe dabei. Korrektur. Finde einen Spiegel, der dir gefällt. Das mit dem Vertrauen ist nicht wichtig. Dafür ist es zu spät - für Vertrauen ist es zu spät. Halte zu diesem Spiegel und sei ihm treu. Schau nie in einen anderen. Musik: Miles Davis "My funny Valentine" Erzähler: Martin Amis provoziert - nicht um Erfolg über den Treibriemen des Klamauks und des literarischen Eklats zu haben, sondern weil er die Welt als einen Ort sieht, an dem sich der konstruktive Streit lohnt. Wer ihn im Gespräch erlebt, hat es mit einem ausgesprochen sensiblen und höflichen Menschen zu tun, der feinfühlig auf sein Gegenüber eingeht. Und zwischendurch erzählt er mit leuchtenden Augen von seinen Kindern - vier an der Zahl aus zwei Ehen. Das entspricht so gar nicht dem Bild eines Rüpels, der die publikumswirksame Show liebt. Trotzdem: stromlinienförmig wird er nie zu haben sein. 1