DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Nicht kampflos sterben! Jüdischer Widerstand im weißrussischen Gedächtnis von Johannes Kirsten Regie: Anna Panknin Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 24. April 2015 2014, 20.10 - 21.00 Uhr M1 Sprecherin Weißrussland. Vom Fluss Njoman oder Memel, wie die Deutschen sagen, im Westen, bis zum Städtchen Iwenez im Osten erstreckt sich auf einer Fläche von 960 Quadratkilometern ein dichtes Waldgebiet: Der Nalikbokiwald. Partisanskaja Zona. Partisanengebiet. Hütten, zu zwei Dritteln unter der Erde. Die Ritzen mit Moos verstopft und die Dächer mit Baumrinde und Laubzweigen belegt, sind sie von Hügeln nicht zu unterscheiden und erfüllen doch den Zweck kleiner Städte: Mit Krankenstation, Lagerhäusern, Bäckerei, Schuhmacherei, Schmiede und Schule. Größere Hügel verbergen das Herz des Lagers - den Kommandobunker und die Gemeinschaftsküche. Kein Baum ist gerodet. Nichts soll den Aufklärungsfliegern einen Hinweis geben. Hier, im Nalibokiwald, formten die vier Brüder Bielski die mit 1200 Menschen größte jüdische Partisaneneinheit des Zweiten Weltkriegs. Ihr Kampf ist im Jahre 2008 auch von Hollywood verewigt worden. Im Film „Defiance“ spielt James Bond- Darsteller Daniel Craig Tuvia Bielski, den Anführer der jüdischen Partisanen. Sprecher: Der Film ist in Weißrussland nie gelaufen. Das Buch, das ihm zugrunde liegt, der Bericht der jüdischen Soziologin Nachama Tec, deren Familie bei den Bielskis überlebte, ist in Weißrussland nie erschienen. Ansage Nicht kampflos sterben! Jüdischer Widerstand im weißrussischen Gedächtnis. Ein Feature von Johannes Kirsten A03 Spurwechsel/oder A07a/A08 Zug Sprecher Der Bug. Grenzfluss zwischen Polen und Weißrussland. Die einstige Westgrenze der Sowjetunion. Brest ist der erste weißrussische Halt des Zuges Berlin-Minsk. Sprecherin 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, waren die Stadt und ihre berühmte Festung schwer umkämpft. Über einen Monat hielt eine Gruppe Rotarmisten der Übermacht stand, als die deutschen Truppen schon bis nach Minsk und weit darüber hinaus vorgestoßen waren. Die Geschichte der Festung Brest kennt in Weißrussland jedes Kind. Sprecher Die Geschichte des jüdischen Widerstands wird gerade erst entdeckt. O-Ton 5 (weißrussisch) Bacharevich Man brachte uns in der Schule bei, dass die Juden nicht imstande waren, irgendwelchen Widerstand zu leisten. Sie wurden als eine Opfernation hingestellt. O-Ton 01(russisch) Vershitzka Holocaust…? Wir kannten nicht einmal dieses Wort. O-Ton 2 (englisch) Jack Kagan Die Bielskibrüder waren faszinierende Leute. Im August 1942 schleusten sie Leute ins Ghetto von Minsk und die Insassen begannen, zu den Bielskis zu fliehen. Ohne sie wäre das nicht möglich gewesen, weil nicht alle russischen Partisanenverbände Juden aufnahmen. O-Ton 3 (russisch) Michail Trejster Im Minsker Ghetto wurden früher als in den anderen Städten Weißrusslands erste Widerstandsgruppen ins Leben gerufen. A03/A04 Spurwechsel freistehend Sprecher Die Wagen des Zuges werden entkoppelt, angehoben und umgespurt. 89 Millimeter trennen die Spurbreiten Europas von denen der ehemaligen Sowjetrepubliken. Als souveränen Staat gibt es Weißrussland erst wieder seit Ende 1991. A03/A04 Spurwechsel hoch und weg Sprecherin Zwei Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion, am 24. Juni 1941, rückten die Deutschen auf Minsk vor. Ein Drittel der 240000 Einwohner waren Juden. Damit hatte Minsk eine der größten jüdischen Gemeinden der UdSSR. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder schrieb: „Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjet-Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts vierzehn Millionen Menschen. Der Ort, wo alle Opfer starben, die Bloodlands, erstreckt sich von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten“. O-Ton 4 (russisch) Trejster ov Ich heiße Michael Trejster. Ich bin ehemaliger Gefangener des Minsker Ghettos. Als der Krieg begann, war ich 14. Ich hatte mein 6. Schuljahr beendet. Wir lebten wie alle anderen um uns herum. Wir hatten keine Fragen in Bezug auf Nationalitäten, weil niemand wusste, wer welcher Nationalität war. Dann begann der Krieg gegen die Sowjetunion. Sprecherin Kein Land der Bloodlands traf es so schwer wie Weißrussland. Als die Rote Armee das Land befreite, waren von den 9,2 Millionen Einwohnern weniger als 7 Millionen übrig geblieben. Es starben 700 000 sowjetische Kriegsgefangene, über eine halbe Million Juden, 340 000 Bauern und 100 000 Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen. Sprecher Nirgendwo sonst gab es auch von jüdischer Seite einen so massiven Widerstand gegen den Vernichtungskrieg der Deutschen. M 2/ Lied Vintovka // Sprecher Trejster Wir sind zum Kampf gegen jede Armee bereit wenn es sein muss schlagen wir auch zwei Ich und du vereint Sind wir gewohnt zusammen zu siegen. Ach triff, mein Gewehr, genau und geschickt Keine Gnade dem Feind Und ich werde dich dabei mit meinem scharfen Bajonett unterstützen O-Ton 5a (russisch) Trejster ov Wir wurden im patriotischen Geiste erzogen und waren uns sicher, dass der Krieg nicht auf unserem Territorium ausgetragen wird. Sprecher Michail Trejster ist Vorsitzender des „Weißrussischen Verbandes ehemaliger jüdischer Häftlinge der nationalsozialistischen Ghettos und KZs“. Ich hatte ihn im Sommer 2013 flüchtig kennengelernt. Jetzt, ein Jahr später, ist seine Stimme schwach, von Krankheit gezeichnet. Er ist 87 Jahre alt. O-Ton 6 (russisch) Trejster ov Ich habe gehört, wie die Bomben fielen. Zuerst aus der Entfernung von hundert Metern, dann näher und näher. Ich habe nur mitbekommen, wie die vorletzte Bombe fiel. Danach wurde ich bewusstlos. Als ich zu mir kam, erstickte ich von dem Backsteinstaub. In der Wohnung gab es einen Ofen aus Backstein, in dem man Brot backen konnte. Unser Schlafzimmer lag in unmittelbarer Nachbarschaft mit der Küche des Vermieters. Die Wand, an der der Ofen stand, stürzte auf uns herunter. Fragmente dieser Wand haben mich unter sich begraben. Wie lange ich so lag, weiß ich nicht. Als ich heraus kletterte, sah ich drei Paar Beine – meine Mutter, meine Schwester und den Sohn des Nachbarn. Sprecherin Wenige Tage später erreichte die Wehrmacht Minsk. Am 19. Juli 1941 befahl der deutsche Feldkommandant die Einrichtung eines Ghettos. O-Ton 7 (russisch) Trejster Dieser Bezirk wurde mit Stacheldraht umzäunt. Fünf Reihen hintereinander. Es wurde angekündigt, dass jegliches Übertreten dieses Bezirks mit Erschießen geahndet wird, entweder gleich an Ort und Stelle oder im Gefängnis. Und jeglicher Handel oder Tausch von Waren gegen Lebensmittel wurde mit Erschießen geahndet. A03/A04 Spurwechsel/ oder A07a/A08 Zug bzw. Zäsur: Minsk/Nowogrudok Sprecher In einer kleinen Stadt im Westen Weißrusslands lebte zur selben Zeit ein 12jähriger Junge namens Idel Kagan. Heute wohnt der 85 jährige als Jack Kagan in London. O-Ton 8 (englisch) Kagan (My name is Jack Kagan) Ich wurde 1929 in Nowogródek (Nowogrudek) geboren. Nowogródek bedeutet neue Stadt, aber natürlich war sie über 1000 Jahre alt. Die Juden siedelten hier seit 500 Jahren. Wir lebten in Harmonie mir den Weißrussen, einige Polen wohnten hier und Tataren. 12 000 Einwohner hatte Nowogródek, 50 Prozent waren Juden, wie in allen kleinen Orten im Umkreis. Die Situation änderte sich 1934 nach Marschall Pilsudskis Tod. Ein schlechter Wind wehte vom Westen. Antisemitismus begann. Sprecherin Am 1. Januar 1919 proklamierten die Bolschewiki die Sozialistische Weißrussische Sowjetrepublik. Im sich anschließenden Polnisch-Sowjetischen Krieg fielen die westlichen Gebiete des heutigen Weißrusslands 1921 vorerst an Polen. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 annektierte die Sowjetunion diese Gebiete. Aus dem polnischen Nowogródek wurde russisch Novogrudok. O-Ton 9 (englisch) Kagan Am 17. September 1939 kamen die Sowjets, und die Juden waren froh darüber, denn sie wussten, wozu die Deutschen in der Lage waren. Die Polen haben uns das nie verziehen. Sie sagten uns, dass wir Verräter seien, weil wir die sowjetische Armee begrüßt hatten. Nachdem die Sowjetmacht sich konstituiert hatte, änderte sich das gesamte jüdische Leben. Reiche Leute wurden nach Sibirien geschickt. Die letzten Transporte waren am 19. und 20. Juni 1941, und am 22. begann der Krieg. Sprecher An den folgenden Tagen wurde auch Novogrudok mehrfach bombardiert. Das Haus der Familie Kagan wurde von einer Brandbombe getroffen. Sie verlor all ihr Hab und Gut. O-Ton 10 (englisch) Kagan Am 4. Juli zog die deutsche Armee ein und sofort begannen die Probleme. Die Leute wurden einfach mitgenommen und es wurde gesagt, sie werden zur Arbeit gebracht. Es ging aber nicht zur Arbeit, sondern sie wurden in Litowka außerhalb der Stadt erschossen. Sprecher In Litowka fanden immer wieder Erschießungen statt. Am 7. August 1942 wurden hier 5500 Menschen, unter ihnen Jacks Großmutter und mehrere andere Mitglieder seiner Familie umgebracht. O-Ton 11 (englisch) Kagan So ging es bis zum 5. Dezember 1941. Dann kam eine Verordnung heraus, dass alle Juden sich im Gerichtsgebäude einfinden müssen Und am 7. oder 8. Dezember fand eine Selektion statt, bei der nur zwei Fragen gestellt wurden. „Beruf?“ und „Wie viele Kinder?“ und dann nach links oder rechts. Mein Onkel war der erste, ein Sattler, wie viele Kinder, zwei, nach links. Mein Vater folgte. Sie waren fast gleich alt, ein Jahr voneinander getrennt. Sie sahen fast gleich aus. Beruf? Sattler. Wie viele Kinder. Zwei. Nach rechts. Uns zum Leben und meinen Onkel in den Tod. Sie sortierten 5100 Leute aus. Die wurden in Dorf Skrzydlewo gebracht und im Wald erschossen. Die Bauern, die in der Nähe wohnten erzählten, dass die Erde sich noch einige Tage bewegt habe. ---- kurze Zäsur …. Sprecher In Minsk organisierten die Deutschen am 7. November 1941, am Jahrestag der russischen Revolution, eine Massenhinrichtung. Vorher mussten die Menschen, in einem sowjetischen Demonstrationen nachempfundenen Marsch, Fähnchen schwingend, durch die Straßen ziehen. Anschließend wurden außerhalb der Stad 6624 jüdische Minsker ermordet. O-Ton 12/13 (russisch) Trejster Wie wurden wir gerettet… während des ersten Pogroms am 7. November 1941 und dazu muss man sagen, dass wir in dem Teil des Ghettos lebten, der während des ersten Pogroms liquidiert wurde. Irgendwie hatte meine Mutter vorher davon erfahren. Sie weckte uns in der Nacht und wir liefen durch den tiefen Schnee über den jüdischen Friedhof in das russische Viertel. Wir kamen zu Jusja, zu einer Katholikin, unserem Kindermädchen. Am Anfang wollte sie uns nicht aufnehmen, denn darauf stand ja der Tod. Wir blieben bei ihr für drei Tage. Sie hat uns das Leben gerettet. Sprecher Um Jusja nicht länger zu gefährden, kehrte Michail mit Mutter und Schwester ins Ghetto zurück. O-Ton 14 (russisch) Trejster Um zu überleben – wir hatten ja nicht einmal etwas zum Eintauschen, denn unser Haus war ja zerstört und geplündert – haben ich mich um zwei Jahre älter gemacht und als Schuster ausgegeben. Fast zwei Jahre arbeitete ich in einer Fabrik, oder eher auf einer Militärbasis, in der man die Uniformen und Ausrüstungen reparierte. Jeden Morgen wurden wir in bewachten Kolonnen zur Arbeit gebracht. Sprecher Von seinem Arbeitsplatz im einstigen „Oktoberwerk“ geriet Trejster im Juni 1943 in ein SS-Lager im Stadtzentrum von Minsk. Diesem Lager entkommt er wie durch ein Wunder. O-Ton 15 (russisch) Trejster Aus dem Ghetto kam eine Kommission, die nach männlichen Fachkräften suchte. Die brauchten die Deutschen, um die erste Zeit zu überbrücken. 36 Männer wurden ausgesucht. Ich war zehn Tage lang in diesem Lager. Und als man diese 36 Männer aussuchte und namentlich aufrief, meldete ich mich als Naum Rosin. Ich wurde von einem Mann erkannt. Wir kannten uns aus dem Ghetto, aber er tat so, als ob er nichts bemerkte. Und da ich mich unter falschem Namen meldete, wurde ich von der Liste als „liquidiert“ gestrichen. ---- kurze Zäsur für: Nowogrodek…. O-Ton 16 (englisch) Jack Ich beschloss am 22. Dezember zu fliehen. Ich zog meine Fellstiefel an. Das Tor war offen, weil gerade eine Lieferung ankam, ich riss den gelben Stern und meine Nummer am Rücken ab und ich lief einfach raus ohne nach links oder rechts zu sehen, und als ich den Hügel auf der anderen Seite des Camps erreichte waren da schon andere Leute. Wir waren eine Gruppe von 14 Personen... es reicht, ich bin müde. Sprecher Die Flucht aus dem Ghetto von Novogrudok im Winter 1942 misslang dem 13jährigen. Mit starken Erfrierungen musste Jack Kagan umkehren, ihm mussten die Zehen amputiert werden. Er überlebte die Erschießung seiner Mutter und seiner Schwestern, weil er flach auf einer oberen Pritsche liegend nicht bemerkt wurde. Sein Vater kam in ein anderes Ghetto und starb vermutlich bei einem kollektiven Fluchtversuch. Sechs Monate vergingen, ehe Jack das erste Mal wieder auf eigenen Beinen stand. Am 26. September 1943 entfloh er dem Ghetto – durch einen einzigartigen Tunnel. O-Ton 17 (englisch) Jack Kagan 200 Meter für 232 Menschen, einige sagen 250. Tag und Nacht einen Tunnel graben, die Erde zu verstecken auf den Dachböden und einigen anderen Orten und zu fliehen. Ein Arzt, Dr. Jakobowitsch hieß er, war der erste, der auf einem extra gebauten Wagen durch den Tunnel gebracht wurde. Man hatte ihn ins Knie geschossen. Als sie ausbrachen, trugen ihn Leute auf ihren Schultern. Und er schafft es zu den Partisanen. Sprecher Den Verlauf der Flucht hat Jack Kagan in seinen Aufzeichnungen „Freiheit, Krieg und Rache. Überleben bei den jüdischen Partisanen“ festgehalten. Ein Buch, das in Weißrussland bisher nicht erschienen ist. Sprecher 2 Um etwa 21 Uhr wurde ein kleines Lüftungsloch gebohrt und die Schlange begann sich vorwärts zu bewegen. Etwa 120 Leute gingen in den Tunnel. Sie saßen an die 10 bis 15 Minuten da drin, bis das letzte Loch geschlagen wurde und die Schlange sich zu bewegen begann. Wir hatten nicht mit der Wirkung des Lichts im Tunnel gerechnet. Als die Menschen am Ende aus dem Tunnel krochen, waren sie wegen der plötzlichen Dunkelheit nach dem hellen Licht im Tunnel desorientiert und viele liefen zurück in Richtung des Lagers, auf sie schossen die Wachen. A06/MuseumVershitzka O-Ton 18 (russisch) Vershitzka Ein Drittel ist bei der Flucht umgekommen, als die Wachmänner das Feuer eröffnet hatten, und dann am nächsten Morgen, als klar wurde, dass die Menschen das Ghetto verlassen hatten, und man nach den Flüchtlingen in der Umgebung zu suchen begann. Ortsansässige sagen heute, dass diejenigen, die durch den Tunnel in den Wald geflüchtet waren, umgekommen sind. Denn dort wurde nach ihnen gesucht. Überlebt haben diejenigen, die sich in den Feldern versteckt hielten. Sprecher Die Historikerin Tamara Vershitzka vom Regionalmuseum in Novogrudok beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Geschichte des Ghettos ihrer Heimatstadt und der spektakulären Flucht durch den Tunnel. Unterstützt wird sie von Zeitzeugen wie Jack Kagan und von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. O-Ton 19 (russisch) Vershitzka Als wir 1992 unser Heimatmuseum in Nowogrudok eröffneten, wussten wir so gut wie nichts vom Schicksal der Juden hier. Das Museum wurde so konzipiert, dass zwei große Ausstellungsräume dem Krieg gewidmet waren. Kein Wort vom Holocaust. Wir kannten nicht einmal dieses Wort. Und es war für mich eine Offenbarung, als wir zunächst von Jack, dann von anderen Menschen erfuhren, dass vor dem Krieg in Novogrudok mehr als die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Sprecher Die Arbeit von Tamara Vershitzka ist im heutigen Weißrussland eine Pionierarbeit. In einem Gebäude des ehemaligen Ghettos baute sie ein Museum des jüdischen Widerstands auf. O-Ton 20 (russisch) Vershitzka Das Museum besteht aus zwei Räumen, die originalgetreu rekonstruiert wurden, und aus diesem Raum hier, der als Wohnraum diente. Hier standen ebenfalls Pritschen. Wir haben lediglich jene Pritschen rekonstruiert, unter denen sich der Eingang in den Tunnel befand. Wir erzählen von den Menschen, die hier gewohnt und den Tunnel gegraben haben, die geflüchtet sind oder die es nicht geschafft haben zu fliehen und starben. Sprecher Die meisten Schicksale bleiben unbekannt. ---- Zäsur für Minsk---- Sprecher Im Sommer 1943 floh Michail Trejster aus dem Ghetto von Minsk. O-Ton 21/21a (russisch) Trejster ov Zu dritt haben wir uns auf den Weg gemacht. Mein Altersgenosse, Michail, und Wera, eine junge Frau. Unser Ziel habe ich aber allein erreicht. Auf dem halben Weg kehrte Michail zurück. Wera kehrte kurz vor Staroje Selo um. Sie wollte den Weg erkunden, um dann ihre Familie zu den Partisanen zu bringen. Sie hatte noch Eltern und zwei Brüder. Ich blieb allein und wurde von sowjetischen Partisanen aufgegriffen. Sprecher Michail Trejster landete schließlich in der Partisanen-Einheit Nr. 106. Sprecherin Das war eine rein jüdische Einheit, aufgebaut von Schalom Sorin. Sorin war seinerseits 1941 aus dem Ghetto geflohen und hatte sich den sowjetischen Partisanen angeschlossen. Nach antisemitischen Zwischenfällen unter den Partisanen war Sorin vom Brigadekommandeur Gansenko beauftragt worden, eine eigene Einheit aufzubauen. Diese „Einheit 106“ wuchs durch immer mehr Flüchtlinge aus dem Ghetto rasch auf 800 Menschen an. Damit gab es - mit dem Trupp der Bielskis - zwei, rein jüdische Partisanengruppen in Weißrussland. Sprecher Trejster, der vermeintliche Schuster, wurde der Schuhwerkstatt des Partisanenlagers zugeteilt. Er protestierte und kam, erst sechzehnjährig, zur Kampftruppe. O-Ton 22 (russisch) Trejster Ich habe es erreicht, dass man mich als Wegeführer zurück ins Ghetto schickte. Die Tage des Ghettos waren gezählt. Denn es wurde vom 21.-23. Oktober 1943 vernichtet. Völlig liquidiert. Etwa einen Monat vor dieser Liquidierung wurde ich mit einem Auftrag nach Minsk geschickt. Ich habe eine Gruppe zusammengestellt, die ich aus dem Ghetto rausschleusen sollte. Die Kommandeure haben mir erlaubt, meine Mutter und Schwester mitzunehmen. Außerdem waren in der Gruppe noch ein Arzt und ein Apotheker, und eine Person, die Seife kochen konnte. Sprecherin Kinder und Jugendliche wurden von den Partisanen häufig als Fluchthelfer eingesetzt. Sie entwickelten ein besonderes Gespür für die Gefahr und konnten sich oft sehr gut orientieren. Historiker schätzen, dass 8000 – 10 000 Menschen allein aus dem Ghetto in Minsk geschmuggelt werden konnten. O-Ton 23 (russisch) Trejster Etwa sieben Kilometer hinter Minsk gerieten wir in einen deutschen Hinterhalt. Die Hälfte der Gruppe kam um. Der Rest konnte sich retten und kam bis Staroje Selo. Dort warteten wir auf andere Gruppen. Und dann gingen wir gemeinsam in den Wald. Sprecher: In den Nalibokiwald – ein Gebiet, so groß wie Berlin. M1 Sprecherin Im Nalibokiwald befand sich auch das Lager von Tuvia, Zus, Asael und Aron Bielski. Die 4 Brüder hatten bei dem Massaker von Skrzydlewo ihre Eltern verloren und waren in die Wälder gegangen. Tuvia, der älteste der Brüder, geboren 1906, war der charismatische Anführer. Er handelte nach der Maxime: »Es ist besser, einen Juden zu retten, als tausend Deutsche zu töten.« M1 O-Ton 24 (englisch) Kagan Wir waren nur 15, 16 Kilometer von Novogrudok entfernt und hatten immer Angst vor neuen Anti-Partisanenaktionen. Wir hatten aber ein sehr gutes Informanten-Netzwerk, und sobald die Deutschen mehr Leute zusammengezogen hätten, wären wir ausgewichen. Dann wurde eine Order des Hauptquartiers herausgegeben, dass die Familienlager in den Nalibokiwald umziehen sollten. Das ist ein gigantischer Wald. Wir gingen dahin und bauten eine kleine Stadt. Sprecherin Mitte 1942 hatte sich die Partisanenbewegung in Weißrussland konsolidiert. Um von nichtjüdischen sowjetischen Partisanenverbänden akzeptiert zu werden, beteiligten sich kleinere jüdische Kampfgruppen an allgemeinen Partisanenaktionen. Die Familienlager dienten als Versorgungsstützpunkte für alle. O-Ton 25 (englisch) Kagan Wir hatten eine Schuhmacherei. Von den Kühen wurden die Häute abgezogen. Wir hatten Gerber, die die Häute gerbten und die Schumacher machten Schuhe daraus. Und natürlich musste man kämpfen. Man konnte natürlich nicht nur im Wald bleiben und Kartoffeln essen und das, was man den Bauern weggenommen hat. Vom Hauptquartier kamen Befehle, dass Missionen durchgeführt werden sollten. Die Kampfgruppen gingen also immer wieder auf Missionen. Hinterhalte, Gleise in die Luft sprengen usw. Sprecherin Vom 13. Juli bis zum 11. August 1943 versuchten die Deutschen in der nach Göring benannten „Aktion Hermann“ konzertiert gegen die Partisanen im Nalibokiwald vorzugehen. Durch Flucht auf eine Insel in einem der weitläufigen Sumpfgebiete des Nalibokiwaldes entkamen die Bielskipartisanen der Wehrmacht. M1 Atmo/Film „Defiance“ Sprecher Ich frage Tamara Vershitzka, ob es noch irgendwo Überreste von Partisanenlagern gäbe. O-Ton 26 (russisch) Vershitzka Ja, aber nicht vom Bielski-Lager. Es gibt ein rekonstruiertes Lager. Nach dem Krieg beschlossen ehemalige Partisanen, dieses Partisanenlager nachzubauen, um die Erinnerung an die Partisanengeschichte aufrechtzuerhalten. Ein paar Unterstände sind dort original geblieben, und ab und zu bringen wir unsere Gäste dorthin. A05 Wald Sprecher Mit Mischa, einem weißrussischen Freund, mache ich mich auf den Weg nach Tschereschlja. Hier in der Nähe soll das Lager zu finden sein. Ein paar Kilometer vor dem Dorf kommen wir an einem Wegweiser in die Ortschaft Pobjeda, also Sieg, vorbei. Immer wieder begegnen uns am Straßenrand Denkmäler aus sowjetischer Zeit. Sie sind letzte Zeugnisse der schweren Kampfhandlungen während des zweiten Weltkriegs. A05 Sprecher Auf dem anderen Ufer des Njoman, der Memel also, beginnt der Nalibokiwald, in dessen Schutz Jack Kagan und Michail Trejster überlebten. Mischa fragt im letzten Haus des Dorfes nach Familien, die Kontakt zu den Partisanen hatten. Wir werden an Wanda verwiesen, eine Frau von vielleicht sechzig Jahren. Sie gehört der polnischen Minderheit in Weißrussland an. O-Ton 27 (russisch) Wanda (Atmo/Stimmen im Hintergrund) Ja, unser Vater war Verbindungsmann. Unsere Familie wurde erschossen. Die Deutschen waren in Wereskow stationiert, und hier war der Woroschilow-Trupp stationiert. Unser Vater wurde von den Deutschen nach Nowogrudok gebracht, in ein Lager. Er konnte von dort mit Hilfe eines Arztes fliehen. Zusammen mit dem Arzt und einer Krankenschwester sind sie geflohen. Vater war Jäger und kannte sich in der Gegend gut aus. Er half den beiden zu den Partisanen zu kommen, denn sonst hätte man sie erschossen, weil sie Juden waren. Sprecher Wanda erzählt uns, dass das Haus ihrer Familie von den Deutschen zur Strafe niedergebrannt wurde. Weißrussische Polizisten hatten ihren Vater verraten. Wir folgen mit unserem Auto dem von Wanda und ihrer Tochter. Dichter undurchdringlicher Wald links und rechts. Nie hätten wir das Lager allein gefunden. Wie sehen vier Unterstände unterschiedlicher Höhe, halb in die Erde eingelassen, wie bewachsene Hügel. Wanda zeigt uns ein Grab. Hier sind polnische Gefallene beerdigt. Neben sowjetischen und jüdischen Partisanen kämpften im Westen Weißrusslands auch Verbände der polnischen Heimatarmee, die der polnischen Exilregierung in London unterstellt waren. Sie hätten sich oftmals sowohl den Deutschen als auch den sowjetischen Partisanen zur Wehr setzen müssen, sagt Wanda zum Abschied. Sprecher Jack Kagan hatte mir erzählt, dass er froh gewesen sei, nach seiner Flucht auf jüdische Partisanen zu stoßen. Ein Treffen mit der polnischen Armija Krajowa hätte er als Jude nicht überlebt. Michail Trejster erinnert sich, dass die Partisanentrupps die Dörfer unter sich aufgeteilt hatten. O-Ton 29 (russisch) Trejster Insgesamt gab es in Weißrussland etwa 370 000 Partisanen. Eine große Armee, die bewaffnet werden musste und die etwas zum Essen brauchte. Wenn ich gefragt werde, wie die Partisanen die einheimische Bevölkerung behandelten, sage ich so: Tagsüber kamen die Deutschen, nachts kamen die Partisanen. Die Partisanen haben zwar nicht alles bis zum Rest weggenommen, denn sie hatten eine Regel, aber trotzdem konnten die Bauern nicht mit Nachsicht rechnen. Zäsur? Sprecher Vom ambivalenten Verhältnis der Dorfbewohner zu den Partisanen spricht auch der Schriftsteller Alhierd Bacharevich. O-Ton 30 (weißrussisch) Bacharevich Das Wort Partisan und das Bild, das damit verbunden wird, sind für die weißrussische Identität sehr wichtig heutzutage, und alle Weißrussen wissen, was es bedeutet. In der Geschichte fast jeder Familie hat dieses Bild in irgendeiner Weise eine Rolle gespielt. Ich beobachte in letzter Zeit aber, dass es zwei Kategorien von Familien in Weißrussland gibt: Die eine hält die Partisanen für Helden, die andere für Kriminelle. Sprecher Der 1975 geborene Bacharevich ist einer der bekanntesten weißrussischen Prosautoren seiner Generation. O-Ton 31 (weißrussisch) Bacharevich Meine Großmutter erzählte mir, dass die sowjetischen Partisanen Kriminelle waren, die kamen und den Menschen das Letzte im Namen irgendeiner zweifelhaften Ideologie nahmen. Meine Großmutter war gegenüber den Partisanen sehr negativ eingestellt, sie hasste sie. Sie war noch ein kleines Kind und behielt alles gut in Erinnerung, vor allem, wenn die Partisanen kamen und diejenigen umbrachten, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. Den Bauern nahmen sie das Letzte weg: Speck, Pferde, Schweine und Hühner. Wenn jemand der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt wurde, wurde sein Haus in Brand gesetzt. M4 Musik/NRM Partisanskaja Sprecherin Das offizielle Bild vom sowjetischen Partisanen als einer Heldengestalt begann bereits in den späten 1980er Jahren während der Perestroika zu bröckeln. Als dann 1991 die Sowjetunion zerfiel, erfuhr Weißrussland unter Präsident Schuschkewitsch, dem Vorgänger des Autokraten Lukaschenko, eine kurze Phase der freiheitlichen Selbstbestimmung. Sprecher Endlich wagten die Überlebenden der Kämpfe, die Wehrmacht, Rote Armee und Partisanen auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen hatten, ihren Enkeln ungefilterte Erlebnisse mitzuteilen – Das beflügelte die vom sowjetischen Partisanenmythos genervte Enkelgeneration, den „Partisanenbegriff“ subversiv umzudeuten, erzählt der 40jährige Alhierd Bacharevich. O-Ton 32 (weißrussisch) Bacharevich (laut Stimmen im HG) Im heutigen Weißrussland sind alle, die mit dem Staat nichts am Hut haben, Partisanen. Das Leben dieser Weißrussen,… verläuft sozusagen parallel zum Staat. Die Menschen versuchen möglichst wenig mit dem Staat in Berührung zu kommen. Sie haben ihr eigenes Leben, ihre Familie, ihre Sippe und dafür kämpfen sie, nicht für den Staat. Sprecher Auch der Philosoph Valentin Akudowitsch, Jahrgang 1950, nimmt in seinem bei Suhrkamp erschienen Sachbuch „Der Abwesenheitscode. Ein Versuch Weißrussland zu verstehen“ auf den Partisanenmythos Bezug. O-Ton 33 (russisch) Akudowitsch Wolksi mit seiner Rockband NRM verwendet die Partisanenthematik. Oder nehmen Sie die Zeitschrift von Artur Klinau „p-ART-isan“. bei der ich auch mitarbeite. Das ist ein Versuch, und zwar ein erfolgreicher, den Partisanenmythos in der Kunst zu verwenden. Es fällt mir schwer zu erklären, was mit der Kunst los ist, wenn man bedenkt, dass sie vom Staat nicht anerkannt wird. Kunstaktionen werden weder genehmigt noch abgesagt. Fest steht, dass all diese kulturellen Partisanen-Konstrukte die Macht nicht bekämpfen. Man bedient sich ihrer, um zu überleben. Kunstaktionen, die keine Ideologie verfolgen. Sie sind nicht explizit gegen Lukaschenko gerichtet. M 3a Musik/ Lesnaja Pesnja (traditionell) Sprecherin Wehrmacht und SS machten auf dem Gebiet des heutigen Weißrusslands 628 Dörfer dem Erdboden gleich. Es sollten tote Zonen geschaffen werden, um den Partisanen die Versorgungsbasis zu entziehen. Im Frühjahr 1943 fielen sämtliche Bewohner des Dorfes Chatyn einem Rachefeldzug der SS zum Opfer – Vergeltung für einen Partisanenangriff auf eine deutsche Militärkolonne. Sprecher Die Gedenkstätte, die an das niedergebrannte Dorf Chatyn erinnert – nicht zu verwechseln mit dem russischen Katyn - existiert seit 1969. Von den Holzhäusern blieben nur die Schornsteine stehen. In dem ehemals weitauseinandergezogenen Dorf ragen die gemauerten Zeugnisse des Massakers mahnend in den Himmel. Glocken an ihrer Spitze läuten permanent. A01 Glocken von Chatyn (freistehend) Sprecherin Einheimische Besucher von Chatyn wissen, wessen sie gedenken: Der eigenen Leute, Opfer der Faschisten. Es gibt aber einen Ort in Weißrussland, der nicht so einfach ins überlieferte sowjetische Geschichtsbild einzupassen ist: Maly Trostenez vor den Toren von Minsk. Hier war ein Vernichtungslager, das einzige, das die Nazis auf sowjetischem Boden betrieben. Sprecher Alhierd Bacharevich, der in Sichtweite von Maly Trostenez aufwuchs, wusste in seiner Jugend nichts von dem Lager. Auch Valentin Akudowitsch lebte schon lange in Minsk, bevor er erstmals von der Existenz des Minsker Ghettos und später von Maly Trostenez erfuhr. O-Ton 35 (russisch) Valentin Akudowitsch Es ist ziemlich merkwürdig, dass der Holocaust in unserem Bewusstsein keinen Platz gefunden hat. Immer noch nicht. Schauen Sie, es sind siebzig Jahre seit dem Ende des Kriegs vergangen. Und erst jetzt, siebzig Jahre später gedenkt man in Trostenez der Opfer – und Lukaschenko ist seit zwanzig Jahren an der Macht. A 09 Baustelle Trostenez/Novikau (vielleicht Baustelle/Archiv nehmen?) Sprecher In Maly Trostenez ist eine Gedenkstätte geplant. Der Historiker Sergej Novikau ist Leiter des Lehrstuhls für Geschichte und Weißrusslandkunde an der staatlichen linguistischen Universität in Minsk. Er geht mit seinen Studenten regelmäßig auf Exkursion nach Maly Trostenez. O-Ton 37 (russisch) Novikau Der Präsident wird den Grundstein zu diesem Memorial legen. Es sind drei Linien geplant. Die eine wird dort oben verlaufen, die zweite hier durch das Tor des Todes, dann kommt die Straße des Todes. Sprecher Vom Lager Trostenez ist nichts mehr zu sehen. Einzig eine Allee, die der damalige Lagerkommandant Strauch hat anlegen lassen. Sie wird vor dem Präsidentenbesuch in großer Eile mit hellen und dunklen Formsteinen gepflastert. O-Ton 38a (russisch) Novikau Im Zentrum legt man einen schwarzen Kreis an, in dem eine Skulptur aufgestellt wird. Von dort aus wird die Straße nach Schaschkowka führen, in einen Ort, in dem 1943/44 viele Menschen vernichtet wurden, nachdem Blagowschtschina aufgelöst wurde. Sprecher Blagowschtschina heißt ein Waldstück neben einer heute stillgelegten Müllkippe. Ein kleiner Gedenkstein erinnert an diesen Todesort. Hier, nicht weit von Trostenez entfernt, wurde ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung von Minsk umgebracht und verscharrt. Sergej Novikau spricht von 150 000 ermordeten Partisanen, Untergrundkämpfern, Kriegsgefangenen und weißrussischen und europäischen Juden. Auf Anordnung der Sipo und des SD wurden Ende 1943 die Massengräber in sogenannten Enterdungsaktionen geöffnet und die Toten verbrannt. Man wollte alle Spuren vor der vorrückenden Roten Armee beseitigen. Sprecherin Eine sowjetische Untersuchungskommission hat für den Komplex „Maly Trostenez“ 206.500 ermordete Menschen ermittelt. A 10 (Natascha, davor Probengeräusche) auch O-Ton 39 (Atmo) Schülerin Natascha (nicht übersetzen) Meine Urgroßmutter und ihr kleiner Sohn wurden von den Nazideutschen in Trostenez verbrannt. Dieser Schmerz des Verlustes ist nicht verklungen. Er ist immer noch in den Herzen meiner Familienangehörigen. Sprecher Ich bin mit Sergej Novikau zwei Tage vor der Grundsteinlegung für die geplante Gedenkstätte vor Ort. Eine Schülerin probt ihren Auftritt vor dem Präsidenten: Sie berichtet von Familienangehörigen, die von den Nazis in Trostenez getötet wurden. Der Schmerz bleibe ewig in ihrem Herzen. Im Hintergrund hört man noch die Schweißarbeiten für eine Gedenktafel. A 10 Sprecher Das offizielle Programm mutet „sowjetisch“ an – aber im heutigen Weißrussland deutet die präsidiale Zeremonie gerade hier darauf hin, dass vielleicht etwas in Bewegung gekommen ist. Sprecherin Die Initiative für einen Gedenkort in Maly Trostenez ging von einer privaten Stiftung aus, dem in Dortmund ansässigen Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk. Gemeinsam mit der Frankfurter Bethe-Stiftung hat das IBB 300 000 Euro für den Bau gesammelt. Auch wenn einige der eingeladenen deutschen Politiker der Grundsteinlegung am 8. Juni 2014 fernblieben –– nahm Präsident Lukaschenko die Gelegenheit wahr, sich als europäischer Staatsmann zu präsentieren. A07 Rede Lukaschenko Sprecher Für den Historiker Novikau ist Maly Trostenez ein Symbol dafür, dass Weißrussland seine ganze Geschichte in den Blick nimmt. Nicht nur die Legenden der Helden im Großen Vaterländischen Krieg, sondern auch die Schicksale der Opfer. Aller Opfer. Ein Anfang. Novikau glaubt, dass es sich nicht nur um eine präsidiale Laune handelt. O-Ton 40 (deutsch) Novikau Und hier in Trostenez ganz wichtig für uns dieses Denkmal wird. Weil bis dahin hatten wir fast keine Führung, organisierte Führung in dieser Richtung, Trostenez. Jetzt freue ich mich, kann ich jedes Jahr meine Exkursion meine Führung durch diese neue Exponate durch diese neue konkrete Tatsachen führen und zeigen für Studenten. ganz wichtig, das ist diesen jungen Menschen diesen Anstoß geben heute an unsere Geschichte denken und unsere Geschichte im Kopf zu halten, stark zu halten, das ist ganz wichtig. Nicht eine Erinnerung. Ständige Haltung in unserem Kopf, diese Ideen von Vergangenheit. Vielschichtige Geschichte brauchen wir heute. Nicht einschichtig, vielschichtig. O-Ton 41 (russisch) Trejster Es gibt Menschen, die gegen Lukaschenko sind. Aber er spricht –kraft seiner Autorität - einige Sachen an, die wahr sind. Dabei geht es natürlich nicht um sein eigenes Schicksal und seine Karriere. Aber dank ihm wird nun Mascha Bruskina gewürdigt. Sprecher Michail Trejster meint die Partisanin Mascha Bruskina, deren Hinrichtung 1941 Wehrmachtssoldaten auf sieben Fotos festhielten. Um ihren Hals hat sie ein Schild hängen. Auf dem steht, Deutsch und Russisch „Wir sind Partisanen und haben auf deutsche Soldaten geschossen“. Erst seit kurzem wird sie neben ihren männlichen Leidensgenossen auch namentlich erwähnt und erst seit kurzem spricht man von ihr als jüdischer Widerstandskämpferin. O-Ton 42 (weißrussisch) Bacharevich Vom jüdischem Widerstand habe ich erst in den letzten Jahren durch „BelSat“ erfahren. (Forts. ohne O-Ton) BelSat ist die einzige unabhängige weißrussische Fernseh-Station - sie sendet von Polen aus. Sprecher 2001, zur feierlichen Neueröffnung der Gedenkstätte im ehemaligen Minsker Ghetto, hatte Lukaschenko erstmals vom jüdischen Beitrag im „Großen Vaterländischen Krieg“ gesprochen. Damit war das Thema „jüdischer Widerstand“ nicht länger Tabu. In seiner permanenten Schaukelpolitik zwischen Russland und der EU wollte Lukaschenko so vor dem Westen punkten. Aber, sagt Sergej Novikau, in Weißrussland sitze die sowjetische Nicht-Erinnerungskultur tief. O-Ton 44 (deutsch) Novikau In der Sowjetzeit war in der Sowjetunion diese Antisemitismuspolitik und durch diese Politik kamen wir zur Situation als viele viele Menschen kein Wort über Juden als Normale hörten. Wir hörten, dass Juden sind nicht gute Menschen, dass diese Menschen standen immer gegen Stalinismus und gegen Sowjetunion und das sind Feinde, unsere Feinde und durch diese Politik bekamen wir diese Folgen mit Erinnerungskultur zu Juden. Sprecher Michail Trejster, der bei den Bielski-Partisanen das Morden überlebte, bekam unmittelbar nach dem Krieg Probleme wegen „Andersdenkens“. Er zweifelte an der Schuld der jüdischen Ärzte, die eine Verschwörung gegen Stalin geplant haben sollen und verlor seinen Posten als Komsomolsekretär. Später eckte er mit seiner publizistische Tätigkeit an - seinen Aphorismen forderten die Partei heraus. Sprecher Trejster Antisemitismus: das einzige Thema, bei dem Partei und Volk einig sind. Zäsur/ M4 Lied NRM Partisanskaja Sprecherin In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1944 sprengten die Partisaneneinheiten Weißrusslands in einer gemeinsamen Aktion Straßen, Bahnstrecken und Verbindungswege der Heeresgruppe Mitte. Zeitgleich griff die Rote Armee auf breiter Front an. Die deutschen Truppen waren nicht in der Lage, sich schnell genug zurückzuziehen oder Nachschub zu bekommen. Diese „Operation Bagration“ bereitete der deutschen Wehrmacht eine ihrer größten Niederlagen. O-Ton 45 (russisch) Trejster Wir hatten am 6. Juli 1944 unseren letzten Kampf. Minsk wurde ja am 3. Juli befreit. Wir waren westlich von Minsk stationiert. Sechs unserer Männer kamen um. Der Kommandeur des Trupps verlor ein Bein. Sprecher Am 9. Juli traf die Partisanen-Einheit von Michail Trejster auf Verbände der Roten Armee. Wer volljährig war, wurde in die Truppen eingegliedert. Trejster war zu diesem Zeitpunkt erst 17. Für ihn war der Krieg beendet. Auch für Jack Kagan war mit der Befreiung Weißrusslands der Krieg zu Ende. Er hatte bei den Bielskis seinen sieben Jahre älteren Cousin Berl Kagan wiedergetroffen. O-Ton 46 (englisch) Kagan 1945 haben wir uns entschieden, Russland zu verlassen. Wir gingen erst nach Polen. Ich landete schließlich in einem Camp für displaced persons in Landsberg am Lech. Mein Cousin war in Bad Reichenhall. Ich hatte eine Cousine hier in London, die mir Papiere besorgte. Am 23. Juni 1945 kam ich nach England. Sprecher Jack Kagan wurde in England ein erfolgreicher Unternehmer. 2012 war er das letzte Mal in Novogrudok. Ehemalige Ghettohäftlinge waren zusammengekommen, um mit Hilfe von Freiwilligen den genauen Verlauf des Tunnels zu rekonstruieren, der Jack die Flucht zu den Partisanen ermöglichte. Der oberirdisch mit Steinen markierte Tunnel soll immer an diese einzigartige Rettung erinnern. Regelmäßig telefoniert Jack mit Tamara Vershitzka, der Leiterin des Museums des jüdischen Widerstands von Novogrudok. Michail Trejster arbeitete 45 Jahre als Ingenieur in der Energiewirtschaft. Seit dem Ende der Sowjetunion kümmert er sich um die Erinnerung an den Holocaust und um die Belange Überlebender. Anfang 2014 war er in Deutschland und hat Schülern von seinen Erlebnissen erzählt. M3 Musik O-Ton 47 (weißrussisch) Bacharevich Die Kluft zwischen den Generationen ist groß. Diejenige Generation, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist, stützt sich auf die sowjetische Vergangenheit und die Bilder, die in Weißrussland bis heute funktionieren. Meine Generation ist da skeptischer. Wir sind Leute um die vierzig und wuchsen zur Zeit des Umbruchs auf: Niedergang der Sowjetunion, Perestrojka, Unabhängigkeit und dann das Lukaschenko-Regime. Sprecher Inzwischen, sagt der Schriftsteller Bacharevich, gebe es eine Generation, die nur die Regierung Lukaschenko kenne. O-Ton 47a (weißrussisch) Bacharevich Diese Generation glaubt an niemanden und an nichts – weder an die sowjetischen noch an die nationalen Mythen noch an die neuen Mythen. Die Geschichte existiert für sie nicht. Absage: Nicht kampflos sterben! Jüdischer Widerstand im weißrussischen Gedächtnis. Ein Feature von Johannes Kirsten Es sprachen Jonas Baeck, Hildegard Meier, Klaus-Dieter Pittrich, Ernst-August Schepmann, Anne Esser Ulrich Marx, Agnes Pollner Richard Hucke und Christoph Wittelsbürger. Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jutta Stein Regie: Anna Panknin Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2015 1