Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 31. Mai 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Portugals letzte Genossen: Kommunisten im Alentejo Mit Reportagen von Tilo Wagner Redakteurin m Mikrofon: Jeanette Seiffert Musikauswahl und Regie: Keno Mescher Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton-Collage: "Nach der Agrarreform haben hier in der Kooperative sehr viele Leute gearbeitet. Für mich waren das die schönsten Jahre meines Lebens. Es war gut, zu wissen, dass man für das Gemeinwohl arbeitet." "Wir hatten tatsächlich ein größeres politisches Bewusstsein. Aber damit wurden wir ja nicht geboren. Wir habe es uns selbst geschaffen. Im Zusammenleben mit anderen." "Die Position der Kommunistischen Partei ist deutlich: Wir wollen unsere nationale Souveränität behalten. Und das ist auch unsere Position gegenüber der EU: Wir wollen nicht isoliert leben, aber wir wollen das, was uns ausmacht, bewahren." MUSIK Portugals letzte Genossen. Kommunisten im Alentejo. Eine Sendung mit Reportagen von Tilo Wagner. Am Mikrofon ist Jeanette Seiffert. MUSIK Moderation Der Kommunismus in Westeuropa ist Geschichte. Spätestens mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat er als Staatsform ausgedient. Doch stimmt das? Überall in Westeuropa? Nicht ganz: In der ländlichen Region Alentejo im Osten Portugals leben die Ideale fort. Zum Beispiel in Avis: Seit Beginn der portugiesischen Demokratie vor 40 Jahren wird die Kreisstadt von der PCP, der Portugiesischen Kommunistischen Partei, regiert. Der Kommunismus, der hier zwischen Korkeichen, kargem Ackerland und Ziegenherden weiterlebt, steht aber weniger für die reine Lehre vom Klassenkampf, für eine Staatsform Marke UdSSR oder DDR - oder gar für die vom Sowjetkommunismus geprägte Vision eines "neuen Menschentyps". Sondern er steht für ein Leben in Gemeinschaft, für soziale Gerechtigkeit. Der Traum von einem anderen Leben, er wird natürlich auch gespeist von den bitteren Erfahrungen der jüngsten Finanzkrise: Auch die Menschen im Alentejo stöhnen unter den strikten Sparauflagen der "Troika". Kein Wunder also, dass die PCP von diesem Klima profitieren kann: Sie verweist auf ihr Erbe als eine der ältesten noch aktiven kommunistischen Parteien Westeuropas - und erklärt ihr Programm zur Radikalabsage an die marktkonformen Auflagen aus Brüssel. Kommunismus bedeutet hier aber auch die Erinnerung an schwere Zeiten, an kollektiven Widerstand gegen "die da oben" und die Solidarität derer "da unten". Erst das Aufbegehren gegen die Willkür der Großgrundbesitzer; später dann der Widerstand gegen das Salazar-Regime, das Ende der 1920er Jahre die Macht an sich riss. In der verarmten Landbevölkerung des Alentejo fanden die damals verbotenen Kommunisten den größten Rückhalt. Reportage 1: Leben und Liebe im Widerstand - Ursprünge des Kommunismus im Alentejo In Benavila, einem 800 Seelen-Dorf im Landkreis Avis, tragen die Straßen die Namen von großen kommunistisch beeinflussten Schriftstellern, Liedermachern oder Revolutionshelden. José Saramago, Zeca Afonso, Salgueiro Maia. Sonst erinnert nichts an die Zeit des Widerstandes. Auf der Hauptstraße spielen Kinder, Vögel zwitschern in den Obstbäumen, am Horizont glitzert das tiefblaue Wasser eines Stausees. Atmo-O-Ton "Bom dia. Faça favor. José Pina..." José Pina steht am Gartentor. Ein rüstiger 80-jähriger mit kräftigen Augenbrauen und warmem Händedruck. Er geht um das einstöckige Einfamilienhaus, an einem liebevoll gepflegten Gemüsegarten vorbei, auf eine schattige Veranda. Hier steht Laura, seine Frau, klein, etwas rundlich, mit wachen, funkelnden Augen. Atmo-O-Ton Laura "Mas ele tem mais..." Ihr Mann habe mehr Zeit zum Reden, sagt sie. Sie müsse ab und zu nach dem Mittagessen schauen. Laura verschwindet für ein paar Minuten hinter der Tür mit dem Fliegengitter. Und José lehnt sich im Gartenstuhl zurück und fängt an zu erzählen: O-Ton José: "Ich bin seit 1954 Mitglied der Kommunistischen Partei. Aber schon davor habe ich mich für Politik interessiert, zu einer Zeit, als die Unterdrückung durch das Regime stärker wurde. Ein Kamerad von mir hatte im Untergrund seine politische Arbeit mit uns Landarbeitern begonnen. Eines Tages kam die Geheimpolizei, zusammen mit anderen Polizisten, in einem Taxi aus Avis angefahren, um den Kameraden festzunehmen. Wir wurden rechtzeitig gewarnt. Also bildeten wir einen Menschenkreis um das Haus unseres Kameraden, um die Festnahme zu verhindern. Ich war 19 Jahre alt. Und von diesem Augenblick an war ich politisch aktiv." Sprecher: José lernte bei den Treffen der Kommunisten im Dorf bald eine junge Frau kennen. Laura. 17 Jahre alt. Schulabschluss nach der vierten Klasse. Und dann, wie die große Mehrheit der damals fast 2.000 Bewohner von Benavila, ging es aufs Feld, um als schlecht bezahlte Tagelöhnerin unter der beißenden Sonne des Alentejo ihre Arbeit zu verrichten. O-Ton Laura: "Ich habe bei allem mitgemacht. Wir trafen uns häufig nachts, um unsere Aktivitäten zu besprechen. Wenn es noch halbdunkel war, nahm ich eine Sichel mit oder irgendein anderes Werkzeug, damit die Leute dachten, ich würde nochmal aufs Feld zum Arbeiten gehen. Ich ließ meine Mutter nur wissen, dass ich spät nachts erst wiederkommen würde. Meine Mutter und meine Brüder waren alle politisch links, aber selbst denjenigen, die auch kommunistisch waren, erzählte ich nichts von unseren Geheimtreffen." Sprecher: Ende der 1950er Jahre wurde José zum Militär eingezogen. Er sollte nach Indien versetzt werden, wo Salazar den Verbleib des Überseegebiets Goa im portugiesischen Kolonialreich militärisch durchzusetzen versuchte. Die Kommunisten lehnten den Konflikt ab. José folgte den Anweisungen seiner Partei und desertierte. Er kam für fast vier Jahre ins Militärgefängnis, täglich 23 Stunden in der Einzelzelle. Ein einziges Mal durfte Laura ihren späteren Ehemann besuchen, und das nur, weil sie schon immer ein Sturkopf gewesen sei, sagt José und lächelt sie liebevoll an: O-Ton José: "Eines Tages kam meine Geliebte zum Gefängnis. Meine Laura hier. Sie wollte mich besuchen. Das wurde abgelehnt. Dann ging sie zu meinem Anwalt, der auch in der Opposition aktiv war. Und der rief den Kommandanten an und dann durfte Laura mich besuchen. Aber später bestellte sie der Kommandant in sein Büro und sagte ihr, dass sie nie wieder kommen sollte." Sprecher: José zieht einen vergilbten Umschlag hervor. Dokumente aus dem Untergrund. Eine Parteizeitung, ein Aufruf zum Arbeitskampf, eine Postkarte mit dem Bild eines ermordeten Kommunisten. Vor 50 Jahren hätten sie wegen dieser Papiere ins Gefängnis kommen können, erzählt Laura: O-Ton Laura: "Ein Kamerad von uns sollte eines Tages festgenommen werden. Er war ein ganz lieber, ein echtes Herzstück. Ich stand mit ihm auf dem Feld, als die Geheimpolizei anrückte. Ich bin sofort losgerannt, direkt zu seinem Haus, und habe nach unserem Propagandamaterial gesucht. Das mussten wir finden, bevor die Geheimpolizei das Haus auf den Kopf stellte. Ich schüttelte eine Schlafmatte aus und da fiel alles raus. Ich habe alles eingesammelt, und ich kann mich nicht mehr erinnern, aber entweder habe ich's gleich verbrannt oder mitgenommen und versteckt." Sprecher: Schließlich heirateten Laura und José. Mitte der 1960er Jahre nahm der Druck des Regimes auf die Opposition im ländlichen Alentejo immer weiter zu. Die beiden verließen Benavila und suchten ihr Glück in den Industriegürteln Lissabons. Erst nach ihrer Pensionierung kehrten sie an ihren Geburtsort zurück. Den Glauben an den Kommunismus aber haben sie bis heute nicht verloren. Atmo im Wohnzimmer Sprecher: Von einem sauber glänzenden, rustikalen Wohnzimmerschrank hebt Laura eine gläserne Büste. Atmo-O-Ton "O Lenin..." Sprecher: Lenin. Ein Geschenk von Josés Arbeitskollegen. Atmo-O-Ton "Saramago..." Der Rentner liest stolz die Titel seiner kleinen Bibliothek. Saramago, Marx und politische Schriften von Portugals Kommunistenführer Cunhal. Dann wird José unruhig - er müsse noch schnell zu Mittag essen, bevor er ums eins das Altentagesheim aufschließen muss. Bevor er von der Veranda tritt, zeigt José auf das weite Land hinter seinem Haus. Es gebe einen Grund, warum der Kommunismus im Alentejo immer so stark gewesen sei: O-Ton José: "Hier gab und gibt es leider immer noch Großgrundbesitzer. Wir wurden wirklich ausgebeutet. Den Landarbeitern im restlichen Portugal ging es nicht anders, aber die Besitztümer waren dort kleiner. Die riesigen Ländereien gab und gibt es nur im Alentejo. Wir hatten tatsächlich ein größeres politisches Bewusstsein. Aber damit wurden wir ja nicht geboren. Wir habe es uns selbst geschaffen. Im Zusammenleben mit anderen. Im gemeinsamen Beisammensein. Im Dialog." MUSIK Literatur 1 "Von jeher ging der Mensch kaufen und verkaufen. Wechselhaftes und launisches Metall, ausschwärmend wie Blumenduft oder Weingeist. Wo Geld ist, ist ein Himmel, ein Altar, hier wechseln Heilige die Namen, wie es gerade kommt. Was überdauert, ist das Latifundium. Es ist Ursprung, eine Mutter mit gewaltigen Brüsten für große und gierige Mäuler. Der Große seinerseits wird aus Gier nach Besitz zum Mächtigen, sei es durch Kauf oder durch Heirat, durch raffinierten Raub oder pures Verbrechen. Es hat Jahrhunderte gebraucht, so weit zu kommen, wer zweifelte daran, dass es für alle Ewigkeit so bleibt." Moderation Viele Jahrzehnte lang herrschten die Großgrundbesitzer über den Alentejo: allmächtige Patrone, die Heerscharen von Landarbeitern für einen Hungerlohn schuften ließen. Das Elend der verarmten Landbevölkerung hat niemand so schonungslos und sprachgewaltig beschrieben wie der Schriftsteller José Saramago. "Es gibt keine Worte, Saramago hat sie alle mitgenommen", sagte ein Mitglied der portugiesischen Regierung nach dessen Tod über den Literaturnobelpreisträger. In seiner Heimat war der überzeugte Kommunist und Atheist allerdings Zeit seines Lebens umstritten. Sein Roman "Hoffnung im Alentejo" ist eine Geschichte über die Schufterei auf den Latifundien, über das Aufbegehren der Arbeiter, über erste Streiks, Haft und Folter - und über den Traum von einer besseren Zukunft. Literatur 2 "Es kam die Republik. Die Männer verdienten zwölf oder dreizehn Vinténs und die Frauen um die Hälfte weniger, wie üblich. Beide aßen dasselbe Tresterbrot, die gleichen Kohlblätter und Strünke. Die Republik kam aus Lissabon, der Thron war gestürzt, und der Altar verkündete zunächst, dass dieses Reich nicht seine Welt war. Das Latifundium begriff sofort und blieb, was es war. Es lebe die Republik, sie leben hoch! Patrao, wie hoch ist jetzt der Tageslohn? Ach heilige Mutter Gottes, das reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben, und die Kinder, was geb ich den Kindern? Lass sie arbeiten, schick die Jungs ins Holz und die Mädchen zum Stoppeln, und jetzt leg dich hin. Ich bin die Dienerin des Herrn, sein Wille geschehe, und er ist geschehen." Moderation 1974 erst machte die "Nelkenrevolution" dem Quasi-Feudalsystem in Portugal ein Ende. Im Alentejo begann damals der Aufbruch der Bauern aus der Diktatur in eine freiere, gerechtere Zukunft. Leben und arbeiten im Kollektiv, Gemeinsinn statt Gewinnstreben - das sind für viele Landarbeiter im Alentejo keine kruden Ideen irgendwelcher Lissaboner Kaffeehauskommunisten. Vor allem für die Älteren unter ihnen war das einmal gelebte Praxis: Im Zuge einer Agrarreform wurden die Großgrundbesitzer enteignet, überall gründeten sich Kooperativen, die Landwirtschaft nach sozialistischem Vorbild betrieben. Man experimentierte mit Modellen direkter Demokratie - Portugal schien auf dem "dritten Weg zum Sozialismus". Doch schon kurz nach einer turbulenten Übergangszeit nach Ende der Salazar-Diktatur regte sich politischer Widerstand gegen die Kooperativen. Gemäßigte politische Kräfte setzten sich durch und stellten die Weichen dafür, dass sich das Land zu einer parlamentarischen Demokratie westeuropäischen Zuschnitts entwickelte. Dazu kam, dass die Landwirtschaft auf den kargen Böden des Alentejo unter den Gesetzen des Marktes niemals so richtig wettbewerbsfähig war. Spätere konservative Regierungen verfolgten eine wirtschaftsliberale Zielrichtung und nahmen die Verstaatlichungen aus der Zeit der Nelkenrevolution zurück. Bis Ende der 1980er Jahre wurden fast alle besetzten Ländereien an die Großgrundbesitzer zurückgegeben. Doch die meisten von ihnen sind in ihren Stadthäusern in Lissabon geblieben, während ihre Arbeiter im Alentejo die Stellung halten. 2. Reportage: Erinnerungen an die Agrarreform Der asphaltierte Feldweg führt an einem Kanal entlang. Dahinter erstreckt sich ein fruchtbares Tal. Heuballen liegen auf den gemähten Wiesen. Vor einer großen Scheune steht ein stämmiger Mann mit tiefen Furchen im gebräunten Gesicht und schließt ein Gatter ab. Die meiste Zeit des Jahres ist Joaquim Narciso derjenige, der das riesige Landgut im Griff hat: O-Ton Narciso: "Die Besitzer leben hier nicht. Der Firmensitz ist in Lissabon. Vor der Revolution waren sie hier, aber dann wurden die Güter besetzt und die Familie vertrieben. Mit dem Gewehr im Anschlag. Jetzt arbeiten wir hier wieder für die Familie. Wir sind zu acht und kümmern uns das ganze Jahr lang um die 2000 Rinder. Die stehen hier überall auf dem Grundstück verteilt in Herden von 350 bis 400 Tieren. Wir sähen das Heu und ernten es für den Winter, und wir bessern die Zäune aus. Das ist unser tägliches Brot." Sprecher: Seit 1988 arbeitet Joaquim Narciso auf dem 4000 Hektar großen Besitz, der unter den Kommunisten in Portugal eine große Symbolkraft hatte. Auf der "Herdade Camões" funktionierte eine der größten und am längsten aktiven Kooperativen. Atmo-O-Ton Narciso "As instalações da reforma agrária..." Hier sieht man nichts mehr von der Agrarreform, sagt Narciso. Das sei ein dunkles Kapitel gewesen. Und mit Kommunisten habe er nichts am Hut. Atmo-O-Ton: "Não, não eu não fazia parte da reforma agrária, eu não sou dessa cor." Atmo Maranhão Joaquim Narciso spricht so, als ob er seinen politischen Widersachern ganz leicht aus dem Weg gehen könnte. Doch nur ein paar hundert Meter den Hügel herauf liegt das kommunistischste Dorf Portugals. In Maranhão erreichte die PCP bei den letzten Kommunalwahlen 100 Prozent der Stimmen. Atmo Dorf Das Dorf hat bessere Zeiten gesehen: Von der kleinen Kapelle blättert der Putz ab, das Schulgebäude und ein kleiner Behandlungsraum für den Landarzt liegen seit Jahren verlassen da, und in den drei langen einstöckigen Häuserreihen leben nun nur noch knapp 90 Bewohner, früher waren es dreimal so viele. Atmo-O-Ton José Rocha: "Tomate era tudo aquilo..." Den Niedergang von Maranhão hat José Rocha am eigenen Leibe miterlebt. Der drahtige Rentner steht am Rande des Hügels, hält seine kräftige Hand gegen die Schirmmütze und blickt über ein paar Hühnerställe hinweg auf den Großgrundbesitz Camões. O-Ton Rocha: 36 sec "Nach der Agrarreform haben hier in der Kooperative sehr viele Leute gearbeitet. Um diese Jahreszeit, wenn man den Reis und die Tomaten anbaute, vielleicht drei- bis vierhundert. Und später zur Ernte waren es sogar sechshundert. Damals gab es so gut wie keine Arbeitslosigkeit im Alentejo. Und die Jungen blieben auf dem Land. Heute müssen sie wegziehen, um einen Job zu finden. Hier arbeitet niemand mehr. Das sieht man doch: Es liegt alles brach." Sprecher: Im Mai 1975 zog José Rocha mit seinen Freunden, mit Gewerkschaftsfunktionären und Soldaten los, um die Großgrundbesitzer von ihrem Gut zu vertreiben. Die Kooperative zahlte Einheitslöhne je nach Berufsgruppen - oft kamen unbezahlte Arbeitskräfte dazu, freiwillige Erntehelfer aus den Niederlanden und Deutschland: Die Agrarreform war zum Symbol der europäischen Linken geworden - ein Zeichen, dass selbst in Westeuropa kommunistische Ideen umgesetzt werden können: O-Ton Rocha: "Für mich waren das die schönsten Jahre meines Lebens. Es war gut, zu wissen, dass man für das Gemeinwohl arbeitet. Insgesamt herrschte eine feierliche Stimmung, denn die Leute waren zufrieden. Wenn wir das machen, was uns Spaß bringt, dann fühlen wir uns gut. Die Arbeit ist dann nicht so schwer und wir sind glücklicher. Vor und nach der Agrarreform habe ich nur für andere gearbeitet. Nicht für das Gemeinwohl. Und das macht den Unterschied." Sprecher: José Rocha trat nach der Nelkenrevolution der Kommunistischen Partei bei. In seinem kleinen Dorf war er 12 Jahre lang Ortsvorsteher. Er empfing die großen Parteiführer aus Lissabon, die sich gerne im roten Maranhão blicken ließen. Gehirnwäsche habe es in seiner Familie trotzdem nicht gegeben: Atmo-O-Ton Rocha: "Na minha casa há democracia." Sprecher: In seinem Haus herrsche Demokratie, sagt er, und da fällt ihm eine Anekdote ein: O-Ton Rocha "Mein jüngster Sohn ist jetzt 23 Jahre alt. Er war zweimal hier wählen. Als er das erste Mal wählen ging, habe ich ihm natürlich nicht gesagt, wo er sein Kreuzchen machen soll. Das Ergebnis wurde später publiziert, und da kam raus: alle hatten hier wieder die Kommunistische Partei gewählt, also folglich auch mein Sohn. Da habe ich zu meinen Kumpels gesagt: ‚Schaut mal, der hat noch nicht rebelliert. Der trägt weiter unsere Farben." Sprecher: Der Kommunismus ist für José Rocha keine starre politische Ideologie. Es ist mehr ein Protest gegen ein scheinbar immer ungerechteres Europa und gegen den Abbau des Sozialstaates in Portugal. Am wichtigsten ist ihm jedoch die Erkenntnis, dass sich die Menschen im Kapitalismus voneinander abwenden: O-Ton Rocha: "Wir hatten hier zur Zeit der Kooperative eine offene Gesellschaft. Und heute ist nicht mehr so. Wir waren damals wie durch eine Freundschaft verbunden. Wir haben zusammen gearbeitet und in der Mittagspause Späße gemacht. Mal war der eine dran, dann der andere. Und heute? Die Leute sprechen kaum noch miteinander. Sie denken nur noch an sich selbst. Und wer trägt die Schuld? Die politischen Veränderungen." Sprecher: Wenn José Rocha über das Ende der Agrarreform spricht, dann nimmt er das Wort Konterrevolution in den Mund. Die konservativen Kräfte hätten am Ende gesiegt, die Großgrundbesitzer ihr Land zurückerhalten. Dass in Wahrheit auch andere Faktoren für das Scheitern verantwortlich waren - etwa, dass viele Kooperativen pleite gingen und Portugal Teil des europäischen Binnenmarkts wurde - blendet er lieber aus. Fest steht: für José Rocha ging Ende der 1980er Jahre ein Traum zu Ende. Und wenn er heute auf das ehemals besetzte Land blickt, dann zieht sich ein dünner Wasserfilm über seine dunklen Augen: O-Ton Rocha: "Die Kooperative war wie ein Sohn für uns. Wir waren alle bei der Geburt dabei. Und dann kam es wie im echten Leben: Es ist doch unendlich traurig, einen Sohn zu verlieren, oder? Als wir die Kooperative schließen mussten, mögen vielleicht ein paar froh darüber gewesen sein, aber die große Mehrheit, vielleicht 70 oder 80 Prozent, war einfach sehr, sehr traurig." MUSIK Literatur 3 "Zwei Gruppen Landarbeiter stehen sich gegenüber, zehn kurze Schritte trennen sie voneinander. Die aus dem Norden sagen, es gibt Gesetze, wir wurden eingestellt und wollen arbeiten. Die aus dem Süden sagen, ihr erniedrigt euch und verdient weniger, ihr kommt und schadet uns, verschwindet wieder dahin, woher ihr gekommen seid. Feldmäuse seid ihr, Mäuse, die kommen, unser Brot zu fressen. Sagen die vom Norden, wir haben Hunger. Die vom Süden, wir auch, aber wir beugen uns diesem Elend nicht, wir verdienen nichts, wenn ihr bereit seid, für diesen Lohn zu arbeiten. Die vom Norden sagen, das ist eure Schuld, seid nicht so stolz, nehmt an, was der Patrao euch bietet, besser weniger als nichts. Die aus dem Süden sagen, das ist ein Irrtum, man will uns alle täuschen, wir dürfen diesem Lohn nicht zustimmen, vereinigt euch mit uns, dann muss der Patrao uns allen mehr zahlen. Die vom Norden sagen: Jeder ist sich selbst der Nächste." Moderation Die Kooperativen, die Pläne für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nach dem Vorbild des Ostblocks: All das blieb ein kurzes Experiment in der Geschichte Portugals. 1986 trat das Land schließlich der Europäischen Gemeinschaft bei - es war eine politische Honorierung für die Überwindung der Diktatur. Doch das hatte seinen Preis - fortan galten die Gesetze des europäischen Marktes. Dennoch blieb die kurze sozialistische Episode prägend für das politische Bewusstsein im Alentejo. In der Landbevölkerung herrscht überwiegend Konsens darüber, dass die europäische Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte die Landwirtschaft kaputtgemacht hat: Weil das meiste Geld aus den EU-Töpfen in die Taschen der Großgrundbesitzer floss, oft dafür, dass sie die Olivenbäume ausgerissen und riesige Flächen in Brachland verwandelt haben. Gerade die kleinen Bauern auf dem Land ächzen unter den Sparvorgaben aus Brüssel, die ihre Regierung in Form einer rigiden Steuerpolitik an sie weitergibt. Manche sind mittlerweile allen Ernstes der Ansicht, man sei wieder in einer Diktatur gelandet: einer Finanzdiktatur der "Troika" aus EZB, IWF und EU-Kommission. Portugals kommunistische Partei PCP bezeichnet die Europäische Union ohnehin als Instrument des Großkapitals gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung: Und so befördert die EU-Skepsis unserer Tage die anachronistische Klassenkampf-Rhetorik von einst. Eine brisante Mischung, von denen die PCP auch bei den jüngsten Wahlen zum Europaparlament profitiert hat - ihr Wahlbündnis errang ein zusätzliches Mandat. Die Kommunalpolitik im ländlichen Alentejo wird ohnehin von den Kommunisten bestimmt. 3. Reportage: Die Partei als Familie - die Parteifunktionärin Atmo Treppe Sprecher: Eine abgewetzte Holztreppe führt in den ersten Stock eines Altbaus im historischen Zentrum von Avis. Es riecht muffig, die Feuchtigkeit des nassen Winters steckt noch in den Wänden. Atmo Radio Leonor Xavier sitzt an der Breitseite eines rechteckigen, aus kleinen alten Pulten zusammengesetzten Besprechungstischs. Papiere liegen vor ihr, Handy und Telefon sind griffbereit, ein kleines Taschenradio sendet die neusten Nachrichten. (27 sec) O-Ton Xavier: "Als ich 1981 hierher kam, war das schon die Zentrale der kommunistischen Partei. Uns gehört das Gebäude nicht, aber wir mieten es. Der Mietvertrag läuft ungefähr seit 1978 oder 79." Sprecher: Der Raum hat den Charme eines Klassenzimmers aus den 1950er Jahren. Kahle, beige gestrichene Wände. Dunkler Steinfußboden. An den hohen Fenstern hängen schwere Vorhänge. An einer Wand erkennt man doch, dass dies die Parteizentrale der seit fast 40 Jahren in Avis regierenden Kommunisten ist. Atmo-O-Ton Xavier: "Isto foi feito por um..." Leonor Xavier steht vor einem großen Gemälde. Das habe ein Künstler aus Avis gemalt, sagt sie und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: ein Autodidakt. Das Bild zeigt Álvaro Cunhal, Portugals charismatischen Kommunistenführer, der bis zu seinem Tod im Jahr 2005 die Linien der Partei über ein halbes Jahrhundert lang bestimmt hatte. Cunhal lehnte jede Reformbestrebungen wie den Eurokommunismus ab und weigerte sich, ein Regierungsbündnis auf nationaler Ebene mit den gemäßigten Sozialisten einzugehen. Auf dem Wandporträt in der Parteizentrale in Avis wirkt er unnatürlich verzerrt: Das Gesicht sehr lang, die Hände übergroß, der Körper verschwindend klein. O-Ton Xavier: "Das Bild hing hier lange Zeit gar nicht. Denn Cunhal war gegen jeden Personenkult. Jetzt haben wir es aufgehängt. Wir müssen schließlich gegenüber unseren Sympathisanten eine gewisse Sensibilität zeigen. Sie schenken uns Sachen, damit wir sie aufhängen. Da können wir schlecht nein sagen." Sprecher: Man merkt Leonor Xavier trotzdem an, dass sie auf die übliche kommunistische Folklore in ihrem Büro lieber verzichtet hätte: Auf das Cunhal-Gemälde ebenso wie auf das Lenin-Poster, das daneben hängt, und auch auf den rot bemalten und mit Sichel und Hammer verzierten Flaschenkürbis, der an einer Stange baumelt. Die kräftige Frau mit den schneeweißen, dichten Haaren und einer großen Brille auf der Nase mag es gerne schlicht. Das passt zu ihrem Leben: O-Ton Xavier: "Nach der vierten Klasse begann ich auf dem Feld zu arbeiten. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Die Leute dachten nicht, dass ich das packen würde. Ich war damals so dünn wie ein Strohhalm. Aber ich mochte die Arbeit auf dem Feld. Wir pflanzten Weizen, und weil es keine Chemikalien gab, rupften wir das Unkraut in den Weizenfeldern. Und wir halfen bei der Olivenernte und sammelten Holz. Das Leben war schon ziemlich hart." Sprecher: Vom Ende des autoritären Regimes erfuhr Leonor Xavier, als sie auf dem Feld stand. Der Nachtexpress von Madrid nach Lissabon, der sonst täglich an ihr vorbeisauste, kam nicht. Irgendetwas war passiert. Später lernte sie mehr über die Revolution, hörte sich Reden der Politiker an, die in die Dörfer kamen, und sie begann Karl Marx zu lesen. Dann schloss sie sich einer Gruppe von Landarbeitern an, die ein verlassenes Gut besetzten und eine Kooperative gründeten. Sie engagierte sich in einer neu gegründeten Gewerkschaft und trat 1977 der Kommunistischen Partei bei. Doch die Agrarreform begann zu scheitern, Besitztümer wurden zurückgegeben, die Landarbeiter mussten wieder bei den alten Großgrundbesitzern anheuern. Und wer politisch auf der falschen Seite stand, dem blieb nur die kommunistische Hochburg Avis: O-Ton Xavier: "Als unsere Kooperative sich auflöste, war ich arbeitslos. Keiner wollte eine Landarbeiterin aus der Gewerkschaft, weil die Arbeitgeber ja dann all die Forderungen hätten erfüllen müssen, die uns eigentlich zustanden. Aber mit Mitte dreißig konnte ich doch nicht arbeitslos sein. Da blieb mir nur Avis. Denn hier gab es noch Kooperativen, und hier fand ich Arbeit." Sprecher: Mitte der 1980er Jahre setzte auch der Zerfall der Kooperativen in Avis ein. Als Leonor Xavier ein Job in der Partei angeboten wurde, zögerte sie nicht. Seit über 20 Jahren nennt die alleinstehende Frau den Altbau im historischen Zentrum ihr zweites Zuhause. Hier hat sie den Untergang des Kommunismus in Osteuropa mitverfolgt, den Rückzug von Álvaro Cunhal aus der Politik und den Verlust von sozialen Rechten in der jüngsten Wirtschaftskrise. Der Kreis Avis hat wie so viele andere Orte im ländlichen Portugal damit zu kämpfen, dass die Jungen keinen Job finden und nur die Alten dableiben. Eine Lösung für diese Probleme findet Leonor Xavier auch in ihren Parteibüchern und kommunistischen Manifesten nicht, aber wenn sie ein bisschen darüber nachdenkt, dann landet die ehemalige Landarbeiterin automatisch bei einer neuen Agrarreform: O-Ton Xavier: "Wir müssen wieder in die Landwirtschaft investieren. Jahrelang haben wir Geld bekommen, damit wir gar nichts produzieren. Geld für Jeeps oder sonstigen Schnick-Schnack, aber nichts für den Anbau. Wir müssen Zukunftsperspektiven schaffen. Es gibt viele junge Leute, die auf dem Land arbeiten wollen. Irgendwie müssen sie an Land kommen. Vielleicht müssen die brach liegenden Äcker nicht unbedingt nationalisiert werden, aber sie sollten an junge Bauern übergeben werden, die davon leben wollen." Sprecher: Die Mehrheit der knapp 500 Mitglieder der kommunistischen Partei in Avis ist bereits im fortgeschrittenen Alter. Doch um Nachwuchs müsse sich die Partei trotzdem keine Sorgen machen, sagt Leonor Xavier und geht hinüber in ein Nebenzimmer, um einen jungen Mann vorzustellen, der an einem Laptop sitzt: Atmo Vorstellung - Gespräch Als er drei Jahre alt war, erzählt Leonor, habe der Kinderarzt ihn gefragt, für welchen Lissabonner Fußballclub er sei: Benfica oder Sporting? Der kleine Junge aus Avis habe nur mit dem Kopf geschüttelt: Keins von beiden. Ich bin Kommunist. Atmo-O-Ton "E então o médico perguntou..." MUSIK Literatur 4 "Es ziehen Männer durchs Latifundium, zu dritt oder zu viert treffen sie sich an geheimen Orten, in der Einöde, manchmal mit aller Vorsicht in verlassenen Häusern, manchmal im Schutz eines Tales, zwei von hier, zwei von da, und sie führen lange Reden. Immer spricht einer, und die anderen hören zu. Wer sie von weitem sähe, würde sagen, das sind Landstreicher, Zigeuner sind es, Ketzermönche, und wenn sie fertig sind, verschwinden sie in der Landschaft, und tragen Papiere und Entschlüsse mit sich fort. Das Ganze nennen sie Organisation, und Pater Agamedes ist vor Wut rot im Gesicht, verflucht seien sie, ihre Seelen sollen in der tiefsten Hölle schmoren, gefährliche Infektion, nur darauf bedacht, euer Leben zu verschlechtern. Erst gestern sagte mir während eines Gesprächs der Senhor Ratspräsident, passen sie auf, die fatale Krankheit hat unser Städtchen schon angesteckt, es muss irgendetwas gegen die verderblichen Reden unternommen werden. Undankbare, wisst ihr nicht, dass uns die anderen Nationen um unser Land beneiden, um diesen Frieden und diese Ordnung?" Moderation Der Alentejo ist seit Jahrzehnten eine beliebte Gegend für Aussteiger. Das dünn besiedelte Land verspricht Einsamkeit, Ursprünglichkeit und Freiheit in einem Maße, wie es in kaum einer anderen Region Europas möglich scheint. Im Süden des Alentejo ließen sich schon in den 1970er Jahren ganze Hippiegemeinden nieder. Damals war es vermutlich die romantische Sehnsucht nach einem Leben ohne Luxus und Konsum, nach gemeinschaftlichem Arbeiten und Solidarität, die Aussteiger aus ganz Europa anzog. Heute, in der jüngsten Wirtschaftskrise, zieht es vor allem junge Portugiesen aufs Land, die der Arbeitslosigkeit und dem tristen Alltag der Städte den Rücken kehren wollen. In Avis haben sich zwei junge Großstädter niedergelassen und versuchen mit einem in Portugal relativ unbekannten Konzept ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Die "Permakultur" ist so etwas wie der Kommunismus in der landwirtschaftlichen Nutzung. 4. Reportage : Die neuen Kommunisten in der Landwirtschaft Das Gras zwischen den alten Olivenbäumen ist bis auf Hüfthöhe angewachsen. Grillen zirpen, Schmetterlinge flattern vorbei, wilde Mohnblumen schaukeln im Wind. Hinter einem großen Feigenbaum steht das einzige Haus weit und breit. Inmitten dieser Idylle lebt António Matias. Der stämmige junge Mann mit dem dunklen Backenbart steht auf seiner schattigen Veranda und zeigt auf einen Stapel Holz: Atmo-O-Ton António "Isto são os troncos..." Eukalyptus-Stämme, erklärt António, auf denen später Pilze wachsen. Auf der Veranda herrscht Chaos - aber eines mit System. Dutzende winzig kleine Pflanzen, Blumentöpfe, ein ausgerollter Gartenschlauch und zwischendrin ein Rudel Hunde - Antónios kleine Pflanzenzucht. O-Ton António: "Hier setzen wir die Samen in die Blumentöpfe, denn es ist schattig hier. Im Sommer setzt die Hitze im Alentejo den Pflanzen ziemlich zu. Aber auf unserer Veranda ist es angenehm kühl." Sprecher: Wenn man António zuhört, könnte man meinen, er stamme aus einer altehrwürdigen Familie von Alentejo-Bauern. Fachwissen sprudelt aus ihm heraus, doch der Eindruck täuscht: Der 29-jährige war sein Leben lang Großstädter. Erst vor zwei Jahren hat er sich im Kreis Avis niedergelassen und zusammen mit seinem Kumpel Rui Lopes einen landwirtschaftlichen Betrieb gegründet. Neben der Pilzzucht und einem Olivenhain mit 300 Bäumen bauen António und Rui vor allem Kräuter an, mit einem nachhaltigen Konzept: O-Ton António: "Für Permakultur-Bauern geht es vor allem um den Boden. Wir schaffen fruchtbaren Boden. Wir machen alles so, wie es die Natur auch tut. Der Boden soll bedeckt sein, und nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, und alles verändert sich." Atmo Pflanzen Rui hat sich hingekniet und schneidet dichtes, stachliges Unkraut ab, das neben einem Thymianfeld wächst. Die Wurzel bleibt im Boden, das Stachelkraut fällt neben die aromatischen Kräuterpflanzen und bleibt dort liegen. Das Leben auf dem Feld ist für alle gleich, gemeinsam und miteinander wächst etwas heran. Rui nennt es "Kommunismus in der Pflanzenwelt": O-Ton Rui: "Wenn wir hier das ganze Unkraut rausrupfen würden und in einem Monat wiederkommen, wäre das Unkraut wieder da. Denn die Thymianpflanze braucht das Unkraut. Sonst heißt es immer, dass die Pflanzen gegeneinander kämpfen. Das mag in einer ersten Phase so sein, aber irgendwann ist ein Gleichgewicht erreicht. Und dann verwandelt sich der Konkurrenzkampf in eine Kooperation, bei der jede Pflanze weiß, was für den Boden am besten ist." Sprecher: Das Konzept einer friedlich mit einander kooperierenden Flora stößt schon kurz hinter dem vier Hektar großen Grundstück auf Widersacher. Ein portugiesisch-spanischer Großproduzent hat einen riesigen Olivenhain angepflanzt mit ineinander verwachsenen strauchartigen Kleinbäumen, die in geraden Linien dicht aneinander stehen. O-Ton António: "Die verspritzen hier ihre Gifte so, dass das Zeug zu uns rüber weht. Und wir sind machtlos. Es gibt kein Gesetz, das sie daran hindert, Rücksicht auf Kleinbauern wie uns zu nehmen. Und das ist ein großes Problem. Wir würden unsere Pflanzen gerne als Bio-Produkte zertifizieren lassen, aber wir haben keine Garantie, dass bei Stichproben nicht irgendwelche Pestizide auftauchen, die wir gar nicht gespritzt haben. Das würde unseren Ruf sofort schädigen." Sprecher: António und Rui kämpfen aber nicht nur gegen die unerwünschten Nebeneffekte der intensiven Landwirtschaft. Als sie das Haus und Grundstück von Antónios Vater zu nutzen begannen, hatten sie gehofft, dass das kommunistische Erbe in Avis den Einstieg irgendwie erleichtern würde. Doch das Gegenteil war der Fall: O-Ton António: "Die Leute haben hier Schwierigkeiten, sich gemeinsam für etwas zu engagieren. Es fällt uns nicht leicht, Menschen zu finden, die uns nicht einfach nur als verrückt gewordene Großstadtjungs abstempeln, die ihre komischen Ideen umsetzen wollen. Die Leute sind misstrauisch und pessimistisch, was die Zukunft anbetrifft. Es kann schon sein, dass das an ihrer Vergangenheit liegt." Sprecher: Noch fehlt es den beiden Neu-Landwirten in Avis an Gleichgesinnten. In den Krisenjahren hat insbesondere ihre Generation unter Massenarbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven gelitten. In Portugal und in ganz Europa. Deshalb glaubt António Matias, dass es nicht mehr lange dauern werde, bevor die nächsten Großstädter nach Avis kommen: O-Ton António: "Ich will einfach daran glauben, dass noch mehr Leute von dem Leben in Lissabon oder anderswo in Europa satt haben. Dann kommen sie vielleicht hierher, wo der Preis für ein Stückchen Land niedrig und die Lebensqualität sehr hoch ist." Sprecher: António und Rui schlendern über ihr Grundstück zurück zum Haus. Der Wassertank leckt, ein improvisiertes Gewächshaus ist bei einem Sturm in sich zusammengefallen, die Kräuter trocknen provisorisch im Wohnzimmer. Noch können sie von ihrer Permakultur nicht leben und sind auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Ihre Vision vom Kommunismus in der Pflanzenwelt steht in Avis noch auf wackeligem Boden. Moderation Schon Mitte der 1980er Jahre schrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz "Ach, Europa!" über den Alentejo: Er müsse zugeben, dass die Ruhe, die dort herrsche, "von der Verzweiflung schwer zu unterscheiden ist". Das gilt heute vielleicht mehr denn je: Der Alentejo ist zunehmend entvölkert, auf einem Drittel der Fläche Portugals leben weniger als fünf Prozent seiner Einwohner. Der Kreis Avis gehört zu den Gegenden in Portugal, in denen der demographische Wandel am stärksten zu spüren ist. Seit Jahrzehnten ziehen die Jungen aus dem nördlichen Alentejo in die Städte entlang der Küste Portugals - die Sparpolitik im Zuge der Euro-Krise tut ein Übriges. Statistisch gesehen kommen zurzeit in Avis auf jeden Jugendlichen drei Rentner. Kommunistische Denkschablonen alten Musters führen nicht mehr weiter. Lokalpolitik bedeutet hier vor allem: ein neues Gleichgewicht zwischen Alt und Jung zu finden. Eine jüngere Generation von Politikern will die Grabenkämpfe zwischen Kommunisten und Konservativen endlich hinter sich lassen. Ihnen geht es um pragmatische Politik, die Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft findet - ganz unabhängig von politischen Ideologien: 5. Reportage: Links, aber nicht kommunistisch - Lokalpolitik ohne Ideologie Anabela Pires hängt mal wieder am Mobiltelefon. In einem Gemeindesaal ist eine Sicherung durchgebrannt, eine Gruppe Senioren sitzt im Dunkeln und Pires soll jetzt jemanden vorbeischicken, der das Licht zurück in den Saal bringt. Atmo-O-Ton "O Sr. Manuel já aí passa..." Es ist Freitagnachmittag. Die schlanke, kleine Frau mit den langen schwarzen Haaren und dem kurz geschnittenen Pony sitzt in ihrem winzigen Büro in der Ortsverwaltung von Avis, unterschreibt ein paar Briefe und bespricht sich mit ihren Mitarbeiterinnen. Mit Anfang dreißig fing Pires an, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren. Seit 2009 ist sie Ortsvorsteherin. Bei den letzten Kommunalwahlen stand sie auf der Wahlliste der Kommunisten und wurde wiedergewählt. Natürlich. Denn seit 40 Jahren regiert in Avis keine andere politische Kraft. O-Ton Pires: "Ich bin unabhängig und gehöre keiner Partei an. Doch bei den Kommunalwahlen muss ich zwangsläufig auf die Liste einer Partei. Die Konkurrenz hat mich auch gefragt, ob ich bei ihnen kandidieren will. Doch das Programm der Kommunisten hat am besten zu mir gepasst. Hier bei uns zählt auf lokaler Ebene zwar die Partei, aber die Personen sind genauso wichtig. Wir wollen für und mit den Menschen arbeiten. Wir versuchen uns um das zu kümmern, was wirklich notwendig ist. Und wir glauben fest daran, dass wir das mit einer starken öffentlichen Hand am besten erreichen können." Sprecher: Die 40-jährige Juristin weiß, wovon sie spricht. In ihrer Gemeinde sind die Bezirksverwaltung und andere öffentliche Einrichtungen die mit Abstand größten Arbeitgeber. Fast ein Viertel aller Wahlberechtigten in der Kleinstadt Avis steht auf der Gehaltsliste lokaler Behörden. Auch Anabela Pires, die in der Bezirksverwaltung für Rechtsfragen zuständig ist - aber oft ist sie auch einfach "Mädchen für alles". Atmo Gespräch im Auto Auf dem Weg zu einem Vereinsheim fährt Pires in ihrem Kleinwagen durch die engen Gassen der Altstadt von Avis. Sie bleibt vor einem einfachen Häuschen stehen. Hier sei sie groß geworden, sagt sie. Sie habe in den Straßen gespielt und von den älteren Bewohnern viel gelernt. Später ging Anabela in die Universitätsstadt Coimbra, um Rechtswissenschaften zu studieren. O-Ton Pires: "Ich gehöre zu der Generation, die nach der Nelkenrevolution aufgewachsen ist und davon profitiert hat. Meine Eltern kommen aus einfachen Verhältnissen. Sie hatten nie viel Geld. Und trotzdem war es mir möglich, an einer Uni zu studieren. Heutzutage ginge das nicht mehr, mit den ganzen Kürzungen im Sozialbereich und dem Einkommensverlust der Familien. Und das ist schade, dass die Jüngeren nicht mehr die gleichen Chancen haben, wie ich das hatte." Sprecher: Vor dem Vereinsheim - ein vertrautes Bild: Alte Männer mit Hut und Stock sitzen auf einer Bank im Schatten. Atmo Begrüßung, Gespräch Vereinsheim. Die Senioren freuen sich über den Besuch. Anabela kennt sie alle beim Namen, fragt, wie es der kranken Frau gehe, wer beim Kartenspielen gewinnt oder ob jemand am Abend noch zu dem Fest kommt, das in der Altstadt von Avis gefeiert wird. Atmo Laden Neben dem Vereinsheim ein kleiner Laden, der Produkte aus der Region anbietet. Anabela Pires glaubt zwar an die heilende Wirkung des Staates, aber sie weiß, dass die Impulse für eine dynamischere Entwicklung im Alentejo aus der Privatwirtschaft kommen müssen: O-Ton Pires "Es ist nicht ganz einfach hier. Man spürt immer noch sehr viel Beklemmung, Frust und Misstrauen. Ich versuche gerade die jüngere Generation zu ermutigen, selbst etwas anzupacken, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Es gibt hier so viele Nischen und Chancen, aber man spürt, dass viele Leute Angst haben, etwas zu riskieren. Ich glaube, dass liegt auch an unserer Vergangenheit, an dem Scheitern eines gemeinschaftlichen Projektes. Das hat tiefe Spuren hinterlassen." Atmo Fest / Musik Sprecher: Am Abend ist von der Melancholie, die den Ort Avis im Alltag zuweilen befällt, nichts mehr zu spüren. Im historischen Zentrum wird ein Mittelalterfestival gefeiert. Mit Holzbuden, Ritterspielen und Straßentänzen. Das Motto passt: Schließlich ist Avis der Sitz des gleichnamigen Ritterordens gewesen, der im 14. Jahrhundert die zweite portugiesische Königsdynastie begründete. Anabela Pires sitzt mit ein paar Freunden an einem langen Holztisch und trinkt Bier aus einem Tonkrug. Passt das? Die Kommunisten von heute feiern den Adel von damals? Die junge Lokalpolitikerin lacht: O-Ton Pires: "Lass' uns nicht vergessen, dass es damals nicht nur den Adel gab, sondern auch das Volk. Aber mal im Ernst: Die Position der Kommunistischen Partei ist deutlich: Wir wollen uns die nationale Souveränität bewahren. Und das ist auch unsere Position gegenüber der EU: Wir wollen nicht isoliert leben, aber wir wollen das, was uns ausmacht, bewahren. Gerade wir hier im Alentejo und in Avis glauben, dass es nur so gehen kann. Wir müssen unsere Identität bewahren: die Natur, die Kultur, die Geschichte, und daraus eine nachhaltige Entwicklung fördern." Atmo Fest Sprecher: Anabela Pires schenkt sich noch ein Bier ein - gleich soll es noch ein Feuerwerk geben. Ein paar Parteifreunde setzen sich dazu. Wer die Gruppe so beieinander sitzen sieht, dem wird klar: Der Alentejo überlebt als eigenständige Region nicht nur wegen seiner Steineichen, Volkswaisen und Ritterburgen, sondern auch wegen seiner ganz einzigartigen Form von Kommunismus. MUSIK Portugals letzte Genossen: Kommunisten im Alentejo. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Tilo Wagner. Musikauswahl und Regie: Keno Mescher. Die Literaturauszüge hat Simon Roden gelesen. Für Ton und Technik waren Oliver Dannert und Petra Pelloth verantwortlich. Und am Mikrofon verabschiedet sich Jeanette Seiffert. 21