Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 7. Dezember 2013, 11.05 – 13.00 Uhr Vergessen im Land der Steine Armenien - ein Vierteljahrhundert nach dem großen Erdbeben Mit Reportagen von Christoph Kersting Redakteur am Mikrophon: Robert Baag Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Ein Hotelier, der auf die heilende Kraft der Kunst setzt: Das Erdbeben, ehrlich gesagt, will ich nicht mehr erinnern. Erdbeben war für uns ein Neuanfang. Alles, was wir erzählen, erzählen wir: Vor dem Erdbeben haben wir das gemacht, nach dem Erdbeben das. Das ist unsere „Null“, weil wir alles neu angefangen haben. Und: Eine junge armenische Lehrerin, die mit ihrem schmalen Gehalt zwar kaum über die Runden kommt, aber trotzdem nicht an Emigration denkt: Ich liebe mein Land, weil es ein altes und ehrwürdiges Land ist mit guten Menschen, die einander helfen. Ich bin ganz einfach dankbar, dass ich überhaupt noch lebe nach der Katastrophe vor 25 Jahren, und wenn ich heute ein kleines Kind durch Spitak laufen sehe, dann zeigt mir das: Wir leben noch, Armenien lebt noch und wird auch weiter existieren! „Vergessen im Land der Steine: Armenien - ein Vierteljahr-hundert nach dem großen Erdbeben.“ - Eine Sendung mit Reportagen von Christoph Kersting. - Am Mikrophon begrüßt Sie: Robert Baag. Kalt ist es an diesem Morgen in der damaligen Sowjetrepublik Armenien, heute, vor genau 25 Jahren, am 7. Dezember 1988. Und urplötzlich verändert sich in diesem Moment alles in dem kleinen Land an den Südhängen des Kaukasus-Gebirges. Noch nicht einmal eine Minute dauert der Ausbruch einer Ur-Gewalt, die aus dem Erdinneren nach oben schnellt, an der Oberfläche alles donnernd erzittern und haltlos schwanken läßt - wie bei einer rasenden Achterbahn-Fahrt. Doch selbst diese wenigen Sekunden genügen, um mindestens 25.000 Menschen in den Tod zu reißen. Von einer Sekunde auf die andere sind hunderttausende Armenier plötzlich obdachlos: Ihre einst in der Chruschtschow-Ära im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre in Leichtbauweise hochgezogenen Wohn-, Fabrik- und Amts-Gebäude stürzen zusammen wie Kartenhäuser, verschütten und begraben die Menschen unter sich. Hilfe aus der Moskauer Zentrale kommt aber nur schleppend in Gang. Und zwar trotz, manche sagen heute noch bissig: Wegen der „Perestrojka“, jener damals ebenso umstrittenen wie lebhaft begrüßten Reform-Politik von Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR. Immerhin: Ausländische Hilfe wird wenigstens diesmal gerne akzeptiert. Die UdSSR ist nach außen längst nicht mehr so abgeschottet wie noch in all den Jahren der Vor-Gorbatschow-Ära. Hilfsorganisationen - darunter auch aus Deutschland - beginnen bald zügig und professionell mit Bergungs- und Aufräum-Arbeiten. Dem kleine Armenien und seinen tief traumatisierten, trauernden Menschen schlägt eine warme Welle nationaler wie internationaler Sympathie entgegen, des Mitgefühls und der Solidarität. Doch allmählich bestimmen dann wieder andere Ereignisse die Schlagzeilen weltweit, verblasst die Erinnerung an diese zweite armenische Katastrophe nach dem Völkermord an den Armeniern durch die türkische Armee siebzig Jahre zuvor, während des Ersten Weltkriegs. Zu diesem bis heute wachgehaltenen ersten Trauma im kollektiven Bewusstsein der Armenier hat sich mit diesem Erdbeben vom Dezember 1988 nun eine zweite Katastrophe in der nationalen Erinnerung verankert. Denn auch ein Vierteljahrhundert danach sind immer noch deren Spuren deutlich zu erkennen. Vor allem Gjumri, die zweitgrößte Stadt Armeniens im Nordwesten des Landes, nahe der türkischen Grenze, steht beispielhaft dafür. Bis heute leben dort noch tausende Familien in riesigen, ursprünglich provisorisch angelegten Container-Dörfern. Und die Erinnerung an jenen 7. Dezember 1988 ist hier noch sehr gegenwärtig...: Er habe seine gesamte Familie verloren durch das Erdbeben, Frau, Eltern, drei Kinder – dann kann der Mann nicht weiter sprechen.... Das Interview mit diesem und anderen Zeitzeugen flimmert über einen Bildschirm im Kunstmuseum von Gjumri. Armenische Journalisten haben die Gespräche aufgezeichnet für eine multimediale Ausstellung, die an diesem Vormittag eröffnet wird. Fotos vom Dezember 1988 zeigen das Ausmaß der Katastrophe, die völlig zerstörte Innenstadt, hunderte Tote unter Leichentüchern. Zeitungsausschnitte erinnern an das mediale Echo weltweit: Auf einem Titelbild der Washington Post schreitet Michail Gorbatschow durch die Trümmer von Gjumri, weitere Bilder zeigen den armenisch stämmigen Chansonier Charles Aznavour und Margret Thatcher. Die britische Premierministerin besuchte Gjumri zwei Jahre nach dem Beben, um eine wieder aufgebaute Schule einzuweihen. Auch der Bürgermeister von Gjumri ist heute ins Kunstmuseum gekommen, hält jetzt die offizielle Eröffnungsrede vor rund 100 Zuhörern. Karen Parsigyan steht in einer der hinteren Reihen, hört aber nur kurz zu und wendet sich dann ab in Richtung Ausgang. Er muss nach Hause, sein kleiner Sohn kommt gleich aus der Schule, und Karens Frau Ani liegt mit schwerer Erkältung im Bett. Auf der Straße vor dem Museum hat Karen einen Nachbarn getroffen, der Mann nimmt ihn im Auto mit nach Hause auf eine grüne Anhöhe im Norden der Stadt. - Die Fotos in der Ausstellung hat sich der 34-Jährige nur kurz angeschaut – Karen hat seine ganz eigenen Bilder der Katastrophe im Kopf, die seien eingebrannt für immer, erzählt der schmächtige, kleine Mann im spärlich möblierten Wohnraum der Familie: Ich war neun Jahre alt, als das Erdbeben passierte, wir wohnten damals in einem kleinen Ort nicht weit weg von Gjumri. Unser Haus stürzte sofort ein, ich wurde unter den Trümmern begraben. Zwei Tage lang lag ich dort und wurde doch noch herausgeholt. Ich hatte Glück, aber meine rechte Hand war schwer verletzt. Die Ärzte wollten amputieren, doch ein russischer Arzt nahm mich mit nach Moskau in eine Spezialklinik. Ich behielt meine Hand – und fing in der Klinik an zu malen, das habe ich auch schon vorher gemacht, und die Ärzte sagten: ‚Du wirst wohl nie einen normalen Beruf ausüben können mit der Hand, versuch es als Künstler!‘ - Zwei Jahre war ich insgesamt in Behandlung, danach war klar: Ich wollte malen, ich wollte Künstler werden! Seine Bilder sind heute über das gesamte Haus verteilt, zumeist abstrakt, aber auch konkrete Malerei ist dabei: eine Reihe mit Zeichnungen historischer Balkone etwa. Für sie war Gjumri vor dem Beben berühmt, und Karen versucht die letzten noch vorhandenen, aber zerfallenden Balkone zumindest für das Gedächtnis der Stadt zu bewahren. Karen kocht einen Tee für seine Frau, die im Nebenraum liegt und leise vor sich hin hustet. Auf einem Sofa im Wohnraum sitzt die fünfjährige Tochter Anaid und umklammert schüchtern ein Stofftier. Das Haus hat Karen mit seinem Vater aus Trümmern zerstörter Häuser gebaut: Zwei Zimmer, eine Küche und ein kleines Studio mit einer Staffelei und Farb-Tuben. Draußen hat die Familie einen kleinen Garten angelegt, in dem Gemüse und Weintrauben wachsen. Von der Kunst allein kann Karen seine Familie nicht ernähren, er habe noch diverse Jobs, erzählt er, unter anderem als Dozent an der Kunsthochschule in Gjumri. Die Stimmung im Haus ist gedrückt, trotzdem strahlt Karen Parsigyan eine Zuversicht aus, die nicht gespielt wirkt: Ich könnte mein Geld als Künstler besser in Amsterdam oder New York verdienen, ich habe auch schon eine Zeit in Holland gelebt und gearbeitet. Ich bleibe aber hier in Armenien, in Gjumri, weil dieser Ort eine ganz bestimmte Energie ausstrahlt. Das war schon immer so, und das hält viele Kreative in der Stadt – trotz der schwierigen Lage. Inoffiziell sind hier ja achtzig Prozent der Leute arbeitslos. Karens Schwiegermutter hat inzwischen den siebenjährigen Emil von der Schule abgeholt. Seine Eltern hätten ihn früher immer frei seinen Weg wählen lassen, sagt Karen und schaut dabei seinem Sohn ein bisschen nachdenklich hinterher. Und genauso, fügt er dann entschieden hinzu, wolle er es auch mit seinen eigenen Kindern halten: Unsere Kinder werden selbst entscheiden, ob sie im Land bleiben oder gehen. Aber sie sollen zumindest sehen: Wir, ihre Eltern, haben es hier versucht. Und ich wäre froh, wenn auch sie es versuchen. Ob ich eine Zukunft für sie sehe in Armenien? Wir selbst gestalten doch die Zukunft. Nach dem Beben, in den 90ern, war es wirklich schwierig, da hatten wir oft noch nicht mal Strom. Heute geht es uns wesentlich besser. Es ist schon verrückt: Ich bin heute Künstler, und wenn man so will, hat eine Naturkatastrophe mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Glück, Unglück, Verzweiflung, am Ende ein grausam-sinnloser Tod in Stalins GULag - Kenner und Freunde der Prosa und Lyrik des jüdisch-russischen Dichters Ossip Mandelstam nennen gerne seinen 1933 erschienenen Band „Die Reise nach Armenien“ als idealtypische Arbeit, aus der alle Facetten seiner damaligen psychischen Verfasstheit herauszulesen sind - vage Todessahnung ebenso eingeschlossen wie ein ekstatisches, wenn auch nur kurzes Glücksgefühl während einer von Moskau endlich genehmigten ausgedehnten Tour durch das majestätische Gebirgsmassiv des Kaukasus. Die Menschen Armeniens, ihre Sitten, die alte christliche Kultur des Landes und die karge, aber imposante Natur - seine scharfen wie einfühlsamen Beobachtungen haben Mandelstam zu bis in die Gegenwart gültigen Zeilen inspiriert... „Die Lebensfülle der Armenier, ihre raue Zärtlichkeit, ein edler Arbeitseifer, ihre unerklärliche Abneigung gegen jede Metaphysik und die herrliche Vertrautheit mit der Welt der realen Dinge - all dies sprach mir zu: Du bist hellwach, hab keine Angst vor deiner Zeit, verstell dich nicht. Lag der Grund dafür nicht in der Tatsache, daß ich mich im Kreis eines Volkes befand, das für seine überschäumende Tätigkeit gepriesen wird und dennoch nicht nach der Bahnhofsuhr und nicht nach der Bürouhr, sondern nach der Sonnenuhr lebt, die ich auf den Ruinen von Swartnoz gesehen habe, in der Gestalt eines astronomischen Rades oder einer in den Stein eingeschriebenen Rose?“ Als das Erdbeben die damals gut über einhunderttausend Einwohner zählende Stadt Leninakan verwüstet und in eine Ruinenlandschaft verwandelt, trifft es ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Armeniens mit einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Geschichte. Heute, in der nachsowjetischen Zeit, heißt die Stadt Gjumri. Vor knapp zweihundert Jahren war es die russische Armee, die an diesem strategisch wichtigen Ort nahe der Türkei eine Festung errichtet hatte. Teppichwebereien und Metall verarbeitende Industrie - dafür war Gjumri einst bekannt. Doch die Folgen des Erdbebens sind bis heute allgegenwär-tig, selbst im historischen Stadtkern: In einigen Nebenstraßen etwa, die vom zentralen Platz am Rathaus abzweigen, stehen immer noch mehr Ruinen als bewohnte Häuser. Und selbst in diesem Augenblick leben in Gjumri hunderte Familien weiterhin in Provisorien - eine von den Behörden inzwischen vielleicht heimlich abgesegnete Dauer-lösung? „Fontan“ heißt übersetzt: „Springbrunnen“. Und genau so, Fontan, heißt auch der Stadtteil im Nordosten Gjumris: ein verwinkeltes Viertel fast ohne Häuser und Straßennamen – denn Fontan besteht vor allem aus Stahlcontainern, scheinbar planlos nebeneinander aufgestellt, dazwischen schlammige Wege und Trampelpfade, über denen Wäscheleinen im Wind schaukeln. Hier und dort ein kleiner Gartenzaun, dahinter Kräuter- und Gemüsebeete: Die Menschen haben sich eingerichtet in dem Container-Dorf, das vor 25 Jahren als Provisorium errichtet worden ist, bald nach dem schweren Erdbeben. Seitdem lebt auch Bersabe Tanelyan mit ihrer Familie hinter rostigen Stahlwänden – wobei die Tanelyans ihren „Domik“, ihr Häuschen, wie die Container hier auf Russisch heißen, während der vergangenen Jahre um einen gemauerten Anbau erweitert haben. Gerade hat die 70-jährige Bersabe eine Ladung frisch gebackenes Brot aus dem Ofen geholt, der Geruch weht schnell und verführerisch in jeden Winkel der Behausung, lockt sogar die beiden Enkel Milena und Martin kurz vom Fernseher weg, der im Wohnraum neben der Küche vor sich hin flimmert. Sechzig Quadratmeter, zwei Zimmer, Küche, eine Toilette ohne fließend Wasser – das muss aus einem Brunnen hundert Meter von der Behausung heran geschleppt werden. Sechs Personen leben heute in dem Container mit Anbau: Eine von Bersabes Töchtern, eine Schwiegertochter, drei Enkel und sie selbst, erzählt die energische 70-Jährige mit grauer Kurzhaarfrisur: Unser Haus war unbewohnbar nach dem Beben, wir haben zwar später eine Dreizimmerwohnung zugewiesen bekommen, die ist aber viel zu klein für die ganze Familie. In der Wohnung leben jetzt meine zwei Söhne, eine Schwiegertochter, die restlichen Enkel. Eine andere Tochter lebt in Jerewan. Das größte Problem ist aber: Es gibt keine Arbeit. Die Söhne sind viel unterwegs, auch in Russland, um Geld zu verdienen. Der Älteste war dieses Jahr in Moskau, sieben Monate schwere Arbeit auf dem Bau! Und was hat er mit nach Hause gebracht? 1000 Dollar! Bersabe selbst bezieht eine schmale Rente: 24.000 Dram, rund 45 Euro pro Monat. Diese ganze Summe gehe aber regelmäßig für die Strom- und Gas-Rechnung drauf. Schwiegertochter Kristina hat das frische Brot und schwarzen Tee serviert. Bersabe sitzt auf einer vergilbten Couch, sie ist das Familienoberhaupt der Tanelyans. Ihr Mann sei vor sechs Jahren an einer schweren Krankheit gestorben, erzählt sie. Ihr Blick wandert dabei zu dem einzigen Bild an einer Wand in dem düsteren Raum. Sein Portrait ist dort zu sehen, sonst sind die Wände schmucklos. Durch das Erdbeben hat Bersabe Schwester und Schwager verloren, einer ihrer Söhne ist seitdem Invalide... Ja, es ist hart so zu leben. Aber dafür hilft man sich gegenseitig. Die Leute hier vertrauen einander, das ist ganz wichtig. In einem der Container hier um die Ecke zum Beispiel ist ein kleiner Laden mit allem Lebensnotwendigen: Mehl, Reis usw. Wir haben ja meistens am Monatsanfang schon kein Geld mehr, aber bei der Nachbarin dort können wir anschreiben und bezahlen, wenn wieder Geld da ist. So machen das alle hier... Auf staatliche Unterstützung hofft im Containerdorf schon lange niemand mehr. Immer wieder hat die armenische Regierung unter Staatspräsident Sersch Sargsyan in den vergangenen Jahren versprochen, die Familien würden umgesiedelt in neu gebaute Wohnungen, Gjumri werde zum IT-Zentrum Armeniens umgebaut - aber: Nichts sei passiert, klagt Bersabe Tanelyan, alles leere Wahlversprechen! Vahan Tumasyan schaut heute kurz bei der Familie vorbei, will wissen, ob alle wohlauf sind. Vahan leitet eine Nichtregierungsorganisation in Gjumri. Er komme fast täglich in Fontan vorbei und versuche mit seinen bescheidenen Mitteln dort zu helfen, wo es nötig sei, erzählt Vahan draußen vor dem Container. Wir haben in Gjumri heute viereinhalbtausend Familien, die nach wie vor in Containern oder halb zerstörten Häusern leben. Wir helfen Ihnen, ihre Rechte durchzusetzen gegenüber Behörden. Die verweigern häufig Geld, das den Leuten aber per Gesetz zusteht. Wir versuchen auch ganz gezielt für Familien Wohnungen zu finden und sammeln Geld für diese Menschen. Schwierig ist vor allem der Winter, da haben wir oft minus 30 Grad hier. Auch für diese Jahreszeit sammeln wir Geld und versorgen möglichst viele Menschen mit Brennholz für ihre Öfen... Doch ausreichend Brennholz für die lange, harte Winterperiode in den Bergen des Südkaukasus hat Familie Tanelyan bis jetzt noch immer nicht bunkern können. Das Geld dafür reicht einfach nicht. Holz ist Mangelware in Armenien, dem „Land der Steine“. Das dritte Enkelkind, Nelly, ist gerade aus der Schule gekommen. Die 15-Jährige lernt sehr gut, will später gerne Wirtschaftswissenschaften studieren. Doch ihre Großmutter Bersabe sieht mit wenig Zuversicht in die Zukunft: Wir können es uns ja nicht mal leisten die beiden Kleinen, Milena und Martin, in den Kindergarten zu schicken. Wir haben die zehn Euro einfach nicht, die das kostet pro Kind und Monat. Wir können uns hier nichts aufbauen, wir können aber auch nicht weg von hier – was ist das für eine Perspektive? Die armenische Sprache - nichtabzunützen, Stiefel aus Stein. Ja, natürlich: das dickwandige Wort, Zwischenlagen von Luft in den Halbvokalen. Doch beruht etwa darauf ihr ganzer Zauber? Nein! Woher kommt denn diese Lockung? Wie läßt sie sich erklären und mit Sinn füllen? Ich habe die Freude erfahren, die es bedeutet, Laute auszusprechen, die für einen russischen Mund verboten sind, geheimnisvolle, verfemte und in einer bestimmten Tiefe vielleicht sogar beschämende. Herrliches Wasser siedet in einem blechernen Teekessel - und plötzlich wirft man eine Prise wunderbaren schwarzen Tees hinein. So habe ich die armenische Sprache erlebt. „Gyumri Technopark“ - dieser Schriftzug auf einer brüchigen Mauer am Straßenrand empfängt den Besucher, der von Süden her in die knapp 1600 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Stadt hinein fährt. Hinter dieser Mauer rotten seit dem Erdbeben zahlreiche Industrieruinen vor sich hin – ein absurder, trauriger Anblick: Ganz so, als sei die Gegend von Gott, der Welt, vor allem aber von der Regierung in der Hauptstadt Jerewan völlig vergessen und verlassen. - Dennoch: Gjumri, so die offizielle Ankündigung, soll „Techno-City“ werden, das IT-Zentrum Armeniens. Zu sehen ist davon bislang aber noch kaum etwas in Gjumri. Erst ein zweiter Blick lohnt sich: Einige junge Armenier haben sich zusammengetan. Sie wollen sich hier tatsächlich zu Computerfachleuten ausbilden lassen. Die Impulse ebenso wie das notwendige Geld für diese Initiative kommen allerdings aus dem Ausland, von reichen Exil-Armeniern... Neun Uhr morgens, die erste Unterrichtsstunde am Gyumri IT Center hat gerade begonnen. Fünfzehn Studenten im ersten Semester, alle um die zwanzig Jahre alt, sitzen vor ihren Laptops, basteln an einer Webseite herum. Dozent Wolodja Awetisyan hat per Beamer das Ziel des Kurses an die Wand projiziert: So soll er einmal aussehen, der Internet-Auftritt eines amerikanischen Auftraggebers aus der Baubranche: schlicht, aber edel, viel Blau, übersichtliche Links. In der ersten Reihe sitzt die Studentin Ani Terpinyan - zierlich, zwanzig Jahre alt, lange schwarze Locken - und hat noch zu kämpfen mit der Aufgabe für diesen Tag. Vor allem mit der Programmiersprache Java hat sie sich noch nicht angefreundet. Für Ani ist es schon die zweite Ausbildung, sie hat bereits einen Bachelor in „International Relations“ in der Tasche. In einer Unterrichtspause berichtet sie deshalb auch lieber auf Englisch von ihrem Leben in Gjumri: Mit meinem ersten Studienabschluss ist es schwierig einen Job zu finden in Gjumri oder anderswo in Armenien. Mit Computer-Design sieht es da ganz anders aus, darum mache ich die Ausbildung hier am GITC. Ich bin hier in Gjumri geboren und würde gerne dableiben und arbeiten. Ani holt sich noch schnell einen Tee aus dem Aufenthaltsraum, ihr IT-Kurs fängt gleich wieder an. Draußen auf dem Flur hat es auch Amalya Jeghoyan eilig: Übermorgen besucht eine Delegation armenischer Unternehmer aus Jerewan das GITC, und Amalya muss noch Einiges vorbereiten für das Treffen. Die 28-Jährige in Jeans, weißen Turnschuhen und Rollkragen-Pulli würde immer noch gut als Studentin durchgehen – doch Amalya ist die Direktorin des GITC. 2005 hat sie als Assistentin hier angefangen, obwohl sie mit IT zunächst nicht viel am Hut hatte. Für mich war das schwierig am Anfang, ich hatte ja Englisch studiert, wollte Lehrerin werden, und dieser ganze Computer-Kram war für mich wie eine Fremdsprache. Aber die Atmosphäre war gut, wir haben bei null angefangen mit fünf Computern in einem Raum, der durch Vorhänge abgetrennt war. Inzwischen haben wir über einhundert Absolventen; wir bilden nicht nur aus, sondern finanzieren uns inzwischen selbst über Aufträge für Webdesign, die wir vor allem aus den USA und aus Russland bekommen. Die kommerzielle Abteilung des Instituts liegt eine Etage über den Kursräumen, dort arbeiten zwölf Webdesigner, alle Absolventen des GITC. Hinter dem Institut steht die Stiftung eines reichen Exil-Armeniers aus den USA - nicht untypisch für Armenien: Geschätzt ein Drittel des gesamten Bruttoinlandsprodukts machen Finanzmittel aus, die von außen ins Land gepumpt werden. Allein in Russland sollen weit über zwei Millionen Armenier leben. Amalya jedenfalls ist stolz auf das, was mit dem IT-Center in Gjumri entstanden ist: Das Problem ist doch: Bei uns wird viel zu viel gejammert! Auch unser Projekt hatte viele Gegner in der Stadt: „Das wird nicht funktionieren, gebt das Geld lieber denen, die nichts haben“, hieß es. Natürlich geht es vielen nicht gut in Armenien. Dafür wollen die Leute aber nie selbst verantwortlich sein, immer sind andere schuld. Wenn die Leute Müll auf die Straße werfen, rufen sie nach ihrem Präsidenten. Da ist immer noch ganz viel sowjetisches Denken im Spiel. In der Hauptstadt Jerewan hat sich da schon einiges geändert. Hier fängt es erst an. Gehen Sie mal in Gjumri ins Rathaus: Da sitzen dreißig Sekretärinnen mit rot gefärbten Haaren vor Block und Bleistift. „Computer brauchen wir nicht“, heißt es. Da ist alles noch wie vor dreißig Jahren. Amalya ist in Fahrt gekommen, dieses Thema treibt sie hörbar um. Inzwischen ist auch Anis Kurs zu Ende, und die Studentin steht mit Freunden auf dem Institutsflur. Alle unterhalten sich lebhaft. Und: Auch die 20-Jährige sieht lieber positiv in die Zukunft als sich zu beklagen: Natürlich ist die Lage schwierig, in meinem Fall ist es so, dass mein Vater alleine die fünfköpfige Familie ernährt, er arbeitet gerade als Fahrer in Moskau. Also habe ich entschieden, dass ich meine Familie unterstützen muss. Ich dachte immer, dass ich dafür ins Ausland gehen muss. Jetzt sehe ich das anders. Durch die IT-Ausbildung hier habe ich neue Hoffnung, dass ich hier in Gjumri bleiben kann, um Geld für die Familie zu verdienen. Es ist mir gelungen, das Ritual der Wolken am Ararat zu beobachten. Da gab es die sinkende und aufsteigende Bewegung der Sahne, wenn sie in ein Glas roten Tee einfällt und in lockigen Knollen zergeht. Im übrigen bereitet der Himmel über dem Land des Ararat Zebaoth wenig Freude: Er wurde von einer Meise erdacht, im Geiste eines uralten Atheismus. Der Postkutscherberg, glitzernd vom Schnee, ein kurzes Feld, wie zum Spott mit steinernen Zähnen besät, numerierte Baracken auf den Baustellen und eine mit Passagieren vollgestopfte Konservendose - da habt ihr die Umgebung von Eriwan. Armenien, das rohstoffarme „Land der Steine“, wie es poetisch und mit schroffer Nüchternheit zugleich oft umschrieben wird, hat während des vergangenen Jahrhunderts einen steinigen Weg durch seine Geschichte zurücklegen müssen. Bedrängt und verfolgt, sogar in seiner Existenz bedroht von seinen muslimischen Nachbarn, der Türkei und Aserbaidschan, hat es sich - wohl mangels geopolitischer Alternativen - schließlich an Russland als Schutzmacht angelehnt: Zunächst unter den Zaren, dann aber, seit Mitte der zwanziger Jahre, vereinnahmt als südkaukasische Sowjetrepublik innerhalb der UdSSR. Zwar gibt es die UdSSR schon seit über zwei Jahrzehnten nicht mehr. Doch Russlands amtierender Präsident Putin ist augenblicklich dabei die alten an der Peripherie gelegenen Ländereien aus Sowjetzeiten wieder näher an Moskau zu binden. Jüngst erst kam er auch zu Besuch nach Jerewan und sprach dort mit seinem Amtskollegen Sersch Sargsyan über den geplanten Beitritt Armeniens zu einer von Russland dominierten Zollunion. Die verarmte Ex-Sowjetrepublik hat sogar noch einige Tage vor der Ukraine ebenfalls auf ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union verzichtet - auch hier übrigens zum Ärger vieler Bürger im Land. Auf Hilfe von außen wollen sich allerdings nicht alle Armenier verlassen. Sie versuchen sich einzurichten, der weit verbreiteten Niedergeschlagenheit entgegenzuarbeiten: Alexan Ter-Minasyan steht auf dem zentralen Platz Gjumris und hat eine deutsch-österreichische Touristengruppe um sich geschart. Von Mai bis September etwa führt er ein-, zwei Mal pro Woche ausländische Gäste durch seine Heimatstadt – in diesem Jahr aber seien viele Besucher ausgeblieben, hat er festgestellt. Die einzige armenische Fluglinie Armavia hat im März Insolvenz angemeldet, seitdem gibt es zumindest von Deutschland aus vorerst überhaupt keine Direktflüge mehr nach Armenien. Alexan ist abgebogen vom Hauptplatz in eine der kleinen Seitenstraßen. Vor einem der Häuser bleibt der großgewachsene 51-Jährige stehen und setzt seine randlose Brille ab. An der Fassade ist eine überdimensionale Nähnadel befestigt, die in einem Gewirr aus dünnen Seilen hängt. Die Seile halten scheinbar einen der vielen Risse in der Wand zusammen. Die geflickte Fassade ist das Werk eines einheimischen Künstlers, ein fester Programmpunkt bei fast jedem seiner Stadt-Rundgänge. Und: Es ist auch das Lieblingsobjekt von Alexan Ter-Minasyan. Das ist ein Symbol der Gjumri-Biennale von Albert Wartanyan, ein Künstler, er hat das einfach genäht, also auch die Häuser brauchten Hilfe, es heißt „Surgical Operation“. Die riesige geflickte Wunde in der Hauswand könnte auch ein Symbol sein für Alexans eigene Arbeit in der Stadt. Eigentlich ist er gelernter Maschinenbau-Ingenieur. Um DDR-Fachbücher lesen zu können, hat Alexan schon als Student Deutsch gelernt – und deshalb nach dem Erdbeben in Gyumri die ersten ausländischen Helfer des Berliner Roten Kreuzes betreut. Eine halbe Stunde später sitzt Alexan in dem winzigen Büro seines kleinen Hotels, fünf Gehminuten vom zentralen Platz in Gjumri entfernt. Sein Mobiltelefon ist pausenlos in Betrieb: In dieser Woche eröffnet einer der bekanntesten Künstler Armeniens, Hakob Hovhannesyan, eine Ausstellung im Nebentrakt des Hotels, und Alexan muss noch einiges organisieren bis dahin. Der ehemalige Ingenieur leitet das Hotel mit 15 Zimmern, einem kleinen Restaurant, einem Seminarraum. Auf diesem Grundstück hatte nach dem Beben ein Rotkreuz-Team aus Berlin eine Poliklinik aufgebaut, der Hotelanbau folgte 1995. Seitdem führt das Hotel einen Teil seiner Gewinne über eine Stiftung an die Klinik ab. Klinik, Hotel, sein Job als Direktor – all das ist eng verbunden mit dem Jahr 1988, und genau deshalb habe nicht nur für ihn persönlich nach der Katastrophe eine neue Zeitrechnung begonnen: Das Erdbeben, ehrlich gesagt, will ich nicht mehr erinnern. Erdbeben war für uns ein Neuanfang. Alles, was wir erzählen, erzählen wir: Vor dem Erdbeben haben wir das gemacht, nach dem Erdbeben das. Das ist unsere „Null“, weil wir alles neu angefangen haben. Eine französische Reisegruppe checkt gerade im Hotel ein, Alexan begrüßt jeden Besucher kurz persönlich. Die Tür gegenüber der Rezeption ist geöffnet, zwei Mitarbeiter tragen Bilder für die Ausstellung herein, einige Arbeiten hängen schon an der Wand. Es sind zumeist Ölgemälde in düsteren Grautönen. Für Alexan ein sehr treffender Ausdruck für die weit verbreitete Ernüchterung der meisten Menschen in Armenien. Ihre ursprüngliche Hoffnung auf eine günstige Perspektive für die Zukunft, auf ein lebenswertes und gerechtes Land hätten viele inzwischen längst verdrängt: Wir haben wirklich ein Licht gehabt, und man konnte das sehen: ein sehr interessantes Land bauen mit vielen Möglichkeiten. Und dieses Licht gibt es leider heute nicht. Man kann wahrscheinlich ein bisschen mehr Glanz sehen als damals, ein bisschen mehr gebaute Häuser. Aber heute ist eine Wand! Und es ist nicht zufällig so, dass unser Künstler hier mit der Ausstellung: Seine Malerei sind alles Wände heute, nur Mauern, und überall sind Mauern. Im Kopf ist auch eine Mauer. Ich bin ein Optimist, viele denken auch: ein Idiot-Optimist. Aber ich kann heute dieses Licht nicht sehen, und wir sind alle unzufrieden, und es ist schon Revolution – aber innen, jeder in sich hat Revolution! Korruption und Vetternwirtschaft - das sind für Alexan die Hauptübel, unter denen das Land leidet. Hinter den Kulissen werde es von einer Handvoll Oligarchen regiert – wer Politiker und wer Geschäftsmann ist, das sei schon lange nicht mehr klar in Armenien, klagt der 51-Jährige. Ihrem Unmut über die herrschenden Verhältnisse haben viele Armenier im vergangenen Frühjahr schließlich offen Luft gemacht: Wochenlang gingen damals in Jerewan zehntausende Anhänger des Oppositionsführers Raffi Hovhannisyan auf die Straße, um gegen die in ihren Augen manipulierten Präsidentschaftswahlen vom Februar zu protestieren. Umsonst: Sersch Sargsyan, der alte Präsident ist auch der neue und weiterhin im Amt. Alexan ist vor allem froh, dass die Unruhen nicht eskaliert sind – wohin ein vermeintlicher „politischer Frühling“ führen könne, zeige sich ja am Beispiel vieler arabischer Länder. Nachdenklich blickt Alexan auf die Exponate im Ausstellungsraum. Für ihn sind vor allem Künstler die wahren Oppositionellen. Denn: Sie schaffen eine bleibende Form der Kritik an der Realität, findet er: Die machen viel mehr als viele Politiker alle zusammen, ein Künstler kann viel mehr erzählen, sagen von der heutigen Situation... Ich werde dich nie wieder sehen, Du kurzsichtiger Himmel Armeniens - Keinen blinzelnden Blick mehr hinüber Zum Reisezelt, dem Ararat... Und nie mehr in der Bibliothek Jener Töpfer-Autoren werd ich es öffnen: Dieser herrlichen Erde hohlleibiges Buch, Lehrbuch der ersten und ältesten Menschen Die Provinzhauptstadt Gjumri hat während des schweren Erdbebens von 1988 vor allem aufgrund ihrer Größe mit knapp 150.000 Einwohnern die meisten Todesopfer zu beklagen, doch das Epizentrum dieser Naturkatastrophe liegt in Spitak, einer Kleinstadt, ungefähr vierzig Kilometer entfernt von Gjumri. Ein Drittel der Einwohner von Spitak kommt damals ums Leben, und weil die Stadt so völlig zerstört worden ist, hat man sie an anderer Stelle komplett wieder neu aufgebaut. Doch selbst hier, an diesem spezifisch armenischen „ground zero“, herrschen nicht nur Depression und Hoffnungslosigkeit sondern leben junge Armenierinnen und Armenier, die an eine bessere Zukunft für ihr kleines, rund drei Millionen Einwohner zählendes Land glauben wollen - auch wenn sich das Trauma des 7. Dezember gerade in Spitak immer noch nach vorne zu drängen scheint: Ashkhen Babayan sucht das Grab ihres Bruders. Seit über einem Jahr ist sie nicht mehr hier gewesen, auf dem riesigen Friedhof von Spitak – obwohl die junge Frau gerade mal einen Kilometer entfernt von hier wohnt. Die zierliche, fast fragil wirkende 26-Jährige stöckelt auf hohen Stiletto-Absätzen über schmale, unebene Treppenstufen durch lange Gräberreihen. Auf fast jedem Grabstein ist immer wieder dasselbe Datum eingemeißelt: 7. Dezember 1988, einige Inschriften halten sogar die genaue Uhrzeit der Katastrophe fest: Elf Uhr vierzig. Ashkhen hat nun den höchstgelegenen Punkt des Friedhofs erreicht. Dort steht eine kleine blechverkleidete Kirche, errichtet unmittelbar nach dem Beben mit Spendengeldern aus den USA. Erst von hier oben werden die riesigen Ausmaße des Friedhofs fassbar: Ich mag diesen Ort nicht. Ich komme nicht oft hierher, nur wenn ich sehr traurig oder sehr glücklich bin. Und nur alleine, ich kann es schlecht ertragen meine Eltern am Grab zu sehen. Den Friedhof gab es auch vorher schon, aber die meisten Grabmäler sind nach dem Erdbeben aufgestellt worden. Damals lebten 20.000 Menschen in Spitak, 6000 sind umgekommen. Es gibt keine einzige Familie hier, die nicht mehrere Tote zu beklagen hatte damals. Am Fuß des Friedhofs, Richtung Norden, liegt das neue Spitak; in gleicher Richtung, doch weiter entfernt, sind noch Überreste des komplett zerstörten alten Spitak zu sehen. Ashkhen schaut suchend um sich, erkennt dann die Grabstelle ihres Bruders. Wieder zurück, über ausgetretene Treppenstufen die Anhöhe hinunter, biegt sie schließlich rechts ab, weiter durch einen kleinen Durchgang und steht nun vor dem Grabhügel von Mikael. Ein Portraitbild ihres Bruders, er war damals sieben Jahre alt, ist auf dem Grabstein abgebildet – ein weit verbreiteter Brauch bei den armenisch-orthodoxen Christen. Ashkhen steht etwas verloren vor Mikaels Grab, der Wind spielt sacht mit ihren langen schwarzen Haaren. Sie hat Mikael nie bewusst kennen gelernt - denn sie war erst ein Jahr alt, als die Erde gebebt hat in Spitak: Mikael war in der Schule, als das Erdbeben kam. Das Gebäude stürzte sofort ein, es gab kaum Überlebende. Aus Mikaels Klasse hat nur ein Mädchen überlebt, mein Großvater hat es aus den Trümmern gezogen. In Spitak gab es damals einige Fabriken, alles in schlampiger Sowjet-Bauweise, die Leute waren an diesem Morgen ja alle bei der Arbeit: Dort gab es dann die meisten Toten... Ashkhen möchte jetzt wieder gehen, schlägt vor zu einer Neubausiedlung am Stadtrand zu fahren. Parpetaz heißt das kleine Viertel auf einer Anhöhe, der Friedhof ist immer noch in Sichtweite. Rund zweihundert kleine Häuser stehen hier, die Straßen sind frisch geteert, alles wirkt solide, sauber und aufgeräumt. Nur: Menschen sind hier nirgendwo zu sehen, hinter einigen Fenstern brennt zwar Licht, dennoch wirkt die Siedlung fast wie eine Geisterstadt. Viele der Häuser stehen tatsächlich leer, eine absurde Situation. Die Stadtverwaltung erlaubt vielen Familien nicht hier einzuziehen, weil sie angeblich noch nicht dazu berechtigt seien, schon Wohnungen oder Häuser zu bekommen. Dabei leben sie in Wirklichkeit immer noch in Containern oder halb zerstörten Häusern. Und, fügt Ashkhen hinzu, auch hier halten sich die meisten Männer zwei Drittel des Jahres nicht bei ihren Familien auf sondern sind im Ausland, arbeiten dort. Auch ihr Vater und ein weiterer Bruder verdienen den Unterhalt für die Familie im Augenblick auf einer Baustelle nahe der russischen Olympiastadt Sotschi. Ashkhen selbst ist als Lehrerin in Spitak angestellt, bekommt als Gehalt aber gerade einmal umgerechnet 120 Euro im Monat. Doch immer nur über die Vergangenheit zu klagen – das halte niemand aus, sagt Ashkhen bestimmt. Genauso wenig wollten sich die Menschen allerdings bevormunden lassen, ob, wann und wie sie persönlich die Erinnerung an das Beben, an ihr Trauma, an die große Katastrophe wach halten möchten: Bis vor zwei Jahren war der siebte Dezember Volkstrauertag in Armenien, dann hat die Regierung gesagt: Ihr müsst irgendwann einmal aufhören zu trauern. Seitdem muss offiziell wieder gearbeitet werden an diesem Tag. In Spitak aber arbeitet auch heute noch niemand am siebten Dezember. Trotz der schwierigen Lage in Spitak und in ganz Armenien: Ashkhen lebt gerne hier. Und: Auch ihre weitere Zukunft sieht sie nur in ihrer Heimat im Südkaukasus: Ich liebe mein Land, weil es ein altes und ehrwürdiges Land ist mit guten Menschen, die einander helfen. Ich bin ganz einfach dankbar, dass ich überhaupt noch lebe nach der Katastrophe vor 25 Jahren, und wenn ich heute ein kleines Kind durch Spitak laufen sehen, dann zeigt mir das: Wir leben noch, Armenien lebt noch und wird auch weiter existieren! Du Staat des schreienden Gesteins - Armenien, Armenien! Rufst zu den Waffen die heiseren Berge - Armenien, Armenien! Ewig zu Asiens Silberposaunen hinfliegendes Armenien, Armenien! Persisches Sonnengeld freigebig hinschenkendes Armenien, Armenien! Vergessen im Land der Steine: Armenien - ein Vierteljahr-hundert nach dem großen Erdbeben. Das waren die „Gesichter Europas“ an diesem Samstag. Eine Sendung mit Reportagen von Christoph Kersting. – Die Literaturauszüge stammen aus der 2005 im Frankfurter Fischer-Verlag veröffentlichten Anthologie „Armenien, Armenien“ von Ossip Mandelstam, vom Russischen ins Deutsche übertragen von Ralph Dutli. Gelesen wurden sie von Axel Gottschick. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Gunter Rose und Angelika Brochhaus. - Und am Mikrophon verabschiedet sich Robert Baag. ************ 25