Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen - 10.07.2012 COLLAGE unter MUSIK Philip Jeck: Vinyl Coda 1 OT 05 ZUSPIELUNG KAHNWEILER Picasso hatte sich nie um Politik gekümmert. Dann aber kam der Aufstand von Franco gegen die spanische Republik. OT 08 Werckmeister "Wirkung in Spanien" Nachdem das Bild nach Spanien überführt wurde, da wurde diese Rückführung ausdrücklich so inszeniert, dass beide Parteien zusammen kamen und dass diese selbstmörderische Zweiteilung der spanischen Gesellschaft in Francisten und Republikaner aufgehoben wurde. OT 10 Haacke Ja, es ist natürlich ein tolles Bild. Und ich geh gewöhnlich noch mal gucken, wenn ich in Madrid bin und bin dann immer fasziniert und verärgert, denn das ist mittlerweile ein Touristenmagnet geworden. CD YANN TIERSEN Soir de fête SPRECHER Der Eifelturm in Licht getaucht. 100 Kilometer fluoreszierende Röhren machen aus der Eisenkonstruktion eine Lichtkathedrale, verwandeln das Symbol der Industrialisierung in eine Lichterscheinung. SPRECHERIN Paris leuchtet. 1937 findet hier die Weltausstellung statt. Ihr Motto: Arts et technique dans la vie moderne. Kunst und Technik im modernen Leben. Seit 19 Jahren herrscht Frieden in Europa, zumindest zwischen den Staaten. SPRECHER Im Nachbarland Spanien tobt zwar ein blutiger Bürgerkrieg, aber weder Frankreich noch England wollen sich einmischen. Man fürchtet eine neue Auseinandersetzung nach dem 1. Weltkrieg, als die Toten zum ersten Mal in Millionen gezählt wurden. ZITATOR Everbody's Guernica - Die Geschichte des berühmtesten Bildes von Pablo Picasso Ein Zeitreise von Martin Zeyn SPRECHERIN Nicht nur der Eifelturm ist in Licht getaucht, über der Seine schweben Lichtnebel, Schweinwerfer durchschneiden den nächtlichen Himmel. Auf dem Ausstellungsgelände sind überall elektronisch gesteuerte Licht- und Wasserspiele zu finden. Im Licht Pavillon steht "La Fée Electricité", ein 624 qm großes Wandbild - und damit 25 mal größer als das auch nicht gerade kleine Guernica. SPRECHER Eine Feier des Lichts, der Industrie, der Machbarkeit. Die Weltwirtschaftskrise war noch nicht überwunden, aber es gab Anzeichen der Besserung. Zugleich aber nutzten die Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland die Ausstellung zur monumentalen Selbstdarstellung. Ihre Pavillons überragten alles. Buchstäblich. Der spanische Pavillon ist auf Fotos kaum zu sehen. Den deutschen, direkt neben dem spanischen gelegen, hatte Albert Speer entworfen, er versah den Bau mit einem extra hohen Turm, mit dem er optisch das Ausstellungsgelände dominierte. Ein Diktator lässt seine Muskeln spielen. SPRECHERIN Bodybuilderbauten. Der Kunsthistoriker Ernst Mittig nannte solche Nazibauwerke "visuellen Militarismus". SPRECHER Offenbar fanden die Zeitgenossen die potenzstrotzende Geste aber angemessen, der deutsche und sowjetische Pavillon wurden gemeinsam mit der Goldmedaille ausgezeichnet. Oder war das ein Ausdruck der Appeasement-Politik, hoffte die Jury damit die beiden totalitären Systeme zu befrieden? MUSIK CD Philip Jeck: Vinyl Coda III SPRECHER Am 26. April bombardierten deutsche und italienische Flieger die baskische Stadt Gernika, auf Spanisch Guernica. Quasi eine Übung am lebenden Objekt. Die Stadt war völlig wehrlos, besaß keine Luftabwehr, die Bevölkerung konnte in keine Bunker fliehen. Ein Terrorangriff, denn die am Rande der Stadt gelegene Munitionsfabrik blieb unversehrt. 1500 Menschen starben, die Stadt versank in Schutt und Asche. SPRECHERIN Berichte über die Bombardierung gingen sofort um die Welt. Die Falangisten, die intern Terror als Kriegsmittel befürworteten, leugneten verantwortlich zu sein, behaupteten gar, die Republikaner hätten die Stadt selbst bombardiert, um die Faschisten zu diskreditieren. Daraufhin beschließt die gewählte Regierung in Madrid, ihren Auftritt bei der Pariser Weltausstellung zu nutzen, um die Weltöffentlichkeit über Guernica aufzuklären. SPRECHERIN Schon im Januar 1937, also vor der Bombardierung, hatte Picasso die Einladung erhalten, ein Bild für den spanischen Pavillon zu malen. Picasso nahm den Auftrag ernst und wollte nicht einfach ein schon vorhandenes Werk ausstellen. Er beschloss, ein monumentales Gemälde extra für diesen Anlass zu malen. Studien zu einer allegorischen Atelierszene entstanden. Aber Picasso kam nicht wirklich voran mit der Arbeit. Dann aber ging alles ganz schnell. SPRECHERIN 26. April SPRECHER Picasso erfährt von der Bombardierung Guernicas. SPRECHERIN Erster und 2. Mai 1937 SPRECHER Die ersten Entwurfszeichnungen entstehen. Darauf sind schon die Frau mit der Kerze und der Stier zu sehen, ebenso das Pferd über einem Gefallenen. SPRECHERIN 8. Mai SPRECHER Die Frau mit dem toten Kind taucht zum ersten Mal auf. SPRECHERIN 9. Mai. Kompositionsstudie. SPRECHER Eine geballte, zum Himmel gereckte Faust erscheint im Zentrum des Bildes. An diesem Motiv entzündet sich bis heute der Streit unter den Interpreten. Ist es der Gruß der Anarchisten? Der Kommunisten? Eine Siegesgeste? Und warum hat Picasso sie später verworfen? Warum fehlt die Geste später auf dem Gemälde, während zum Beispiel die Frau mit dem Licht nahezu unverändert auftaucht? SPRECHERIN 11. Mai. Dora Maar, Picassos Frau, fotografiert zum ersten Mal das Gemälde. SPRECHER Picasso hat zwei Motive zusammengefügt. Nun reckt der Gefallene die geballte Faust zum Himmel. Das traditionelle Motiv des Heldentods? SPRECHERIN Auf einem späteren Foto aus dem Mai fehlt die geballte Faust. Warum Picasso auf dieses so klare, so eindeutig definierte Motiv verzichtet, lässt sich nur vermuten. Ein Ereignis in Spanien aber könnte der Grund dafür sein. SPRECHER Am 3. Mai waren im republikanischen Barcelona Straßenkämpfe zwischen Anarchisten und Kommunisten losgebrochen. In den folgenden vier Tagen starben über 500 Menschen. Die Anarchisten unterlagen, die Kommunisten siegten. Die ideologischen Differenzen innerhalb der Franco-Gegner traten damit offen zutage. Die Vertreter des republikanischen Lagers vermochten nicht, die internen Streitigkeiten ruhen zu lassen, bis Franco geschlagen war. Ein wichtiger Grund, warum die Republik unterliegen sollte. SPRECHERIN Verwirft wegen dieser Kämpfe Picasso die Faust? Er, der unter den Anarchisten viele Freunde hatte? Viele Interpreten sagen: Ja. Vermutungen. SPRECHER 4. Juni oder kurz danach. Guernica ist fertig. Picasso hat keine fünf Wochen gebraucht, um das Bild zu vollenden. SPRECHERIN 12. Juli 1937. Der Spanische Pavillon wird eröffnet. Guernica dominiert das Erdgeschoß. Neben Picasso haben auch andere Maler den Schrecken des Bürgerkrieges geschildert. Aber Picassos Arbeit ist einzigartig. Mit den traditionellen Mitteln der realistischen Malerei versucht etwa Horacio Ferrer die Bombardierung Madrids im November 1936 durch deutsche Flugzeuge zu schildern. "Aviones negros" - Schwarze Flugzeuge zeigt eine Gruppe von Frauen vor einer Ruinenlandschaft, die sich dicht aneinander drängen, aber unversehrt sind. OT 01 Werckmeister Ich nehme an, dass er das gesehen hat, SPRECHERIN Sagt der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister, der seit fast 30 Jahren über Picassos Guernica forscht: OT 01 Fortsetzung Werckmeister [Ich nehme an, dass er das gesehen hat,] Denn ich glaube auch, dass sein Bild zugleich eine Alternative darstellen sollte zur realistische Darstellung von Bombardements. Dass er - als damals größter Vertreter der modernen Kunst - ein Bild der Bombardierung in der modernen Tradition schaffen wollte, dass man den realistischen Darstellung entgegen stellen konnte. SPRECHER Denn Guernica ist ein durch und durch modernes Bild, das die Abstraktion neu definiert. Der 55 jährige Picasso schöpft in diesem Bild sein ganzes Repertoire an Stilen aus. SPRECHERIN Und das ist ein großes. Kubische Aufsplitterungen, eine klassizistische Anordnung wie ein Fries, a-perspektivische, verzerrte, aber kenntliche Gesichter, stereoskopische Körper. Ein Inferno. Ohne Täter. Nur mit Opfern. SPRECHER Peter Weiss hat 1975 in seinem Roman "Die Ästhetik des Widerstands" die Schreckensvision des Bildes eindrücklich beschrieben: MUSIK CD Vinyl Coda III ZITATOR Peter Weiss: Ästhetik des Widerstands, Suhrkamp. oder OT 02 Zuspielung aus CD Hörverlag Die Körper waren nackt, zusammengeschlagen und deformiert von den Kräften, die auf sie einbrachen. Aus Flammenzacken ragten steil die Arme hervor, der überlange Hals, das aufgebäumte Kinn, im Entsetzen verdreht die Gesichtszüge, der Leib zu einem Bolzen geschrumpft, verkohlt, emporgeschleudert von der Hitze des Feuerofens. [...] Ihr aus dem Unendlichen kommendes dominierendes Gesicht drängte sich fließend aus dem Inneren eines Bauwerks, unter Dachziegeln, nach draußen, an einem weißgetünchten Mauerstück vorbei, doch in dieser Bewegung gelangte es wieder nach innen, in den langgestreckten kargen Raum, in dem das apokalyptische Geschehn sich abspielte, erhellt von der elektrischen Sonne der Küchenlampe, neben deren kalten Strahlen die Flamme der Ölfunzel mild und unberührt in ihrem Glasschirm stand. SPRECHER Picasso war 1937 der wichtigste lebende spanische Maler. Die republikanische Regierung hatte ihn zum Direktor des Prados ernannt, sie hatte gewusst, wen sie da einlud. Trotzdem geriet Guernica sofort zwischen die Linien, denn 1937 gab es eine erbittert geführte, ästhetische Debatten innerhalb der Linken, welche Freiheiten der Kunst zugebilligt werden dürften, ob sie nicht besser ein treuer Diener des Proletariats zu sein habe. Prophetisch daher die Rede des spanischen Schriftstellers und Picasso-Freunds Max Aub, die er einen Tag vor der Eröffnung des Pavillons vor Bauarbeitern hielt: ZITATOR Am Eingang rechts springt uns Picassos großartiges Gemälde ins Auge. Von diesem wird noch lange die Rede sein. Picasso hat hier die Tragödie von Gernika dargestellt. Es kann sein, dass man dieser Kunst vorwerfen wird, zu abstrakt oder zu schwierig für einen Pavillon wie den unseren zu sein, der [...] eine Manifestation des Volkes sein möchte. Denjenigen; die sich dagegen verwahren und sagen, die Dinge seien nicht so, muss man entgegenhalten, ob sie nicht zwei Augen besitzen, um die schreckliche Realität in Spanien zu sehen. Wenn das Bild Picassos einen Fehler hat, dann den, dass es zu real, zu fürchterlich wahr, abscheulich wahr ist. SPRECHERIN Abscheulich wahr. Dennoch schien 1937 erst einmal der dem sozialistischen Realismus verpflichtete Ferrer den Kampf zwischen alt und neu für sich entschieden zu haben. Otto Karl Werckmeister: OT 03 Werckmeister Aber man darf nicht vergessen, dass das Bild von Ferrer nach Aussage des Ausstellungssekretärs José Garros, das populärste Bild gewesen zu sein, während über Picassos Guernica überhaupt keine Reaktionen bekannt sind. Es ist auch nur einmal besprochen worden, in der deutschen Presse im feindlichen Sinne. Es hat in der französischen Presse keine Reaktion hervorgerufen, auch nicht in der spanischen. SPRECHER Noch ist Guernica nicht die Ikone, von der wir heute sprechen. Aber Picasso arbeitet daran, dem Bild genau diesen Status zuzuweisen. Im Herbst 1937 veröffentlicht er die Vorstudien von Guernica zusammen mit den Fotos der Entstehung in der Zeitschrift "Cahiers d' art" - ein einmaliger Vorgang im Oeuvre des spanischen Malers. Dieser Artikel ist bis heute das zentrale Material, an dem sich alle kunsthistorischen Debatten entfachen. Picasso sorgt also selbst dafür, dass dieses Gemälde Kunstgeschichte wird. CD Yann Tiersen Sur le fil SPRECHERIN Zugleich gelingt es Picasso, Guernica als das Bild des Spanischen Bürgerkriegs zu etablieren. 1938 schickte Picasso Guernica nach England. Mit einer Ausstellung sollen politische Spenden eingeworben werden. Mit nur mäßigem Erfolg. 1939 dann überquerte das Bild den Atlantik und soll dort wieder für die gute Sache werben, diesmal für die in Frankreich internierten Spanienkämpfer, die nach der Niederlage ins Nachbarland geflohen waren. SPRECHER 1940 stellte es den Höhepunkt der ersten großen Retrospektive Picassos dar, die im Metropolitan Museum in New York stattfand. 62.000 Menschen besuchten die Ausstellung. Zwei Kaufhäuser, Bonwit Teller und Bergdorf Goodman, dekorierten ihre Schaufenster im Stil von Picasso. Dort, im New Yorker MOMA, so entschied Picasso, sollte Guernica hängen bleiben, bis Spanien wieder zur Demokratie zurückgekehrt war. CD Tiersen Pas si simple SPRECHERIN 1944 tritt Picasso in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, die 28 Prozent der Stimmen bei den Wahlen 1946 erhielt. In einem Interview begründete er seinen Eintritt vor allem mit der Rolle der Kommunisten in der Résistance: ZITATOR PICASSO Mein Beitritt zur Kommunistischen Partei ergibt sich logisch aus meinem Leben, meinem Werk und verleiht ihnen einen Sinn. Mittels Gestaltung und Farbe habe ich die Welt und die Menschen tiefer zu ergründen versucht, damit dieses Wissen uns befreien möge. Auf meine eigene Weise habe ich immer gesagt, was ich für das Wahrhaftigste, Gerechteste und Beste halte und daher für das schönste. Doch während der Unterdrückung und des Aufstands hatte ich das Gefühl, dass das nicht genug sei, dass ich nicht nur mit meiner Malerei, sondern mit meiner ganzen Person kämpfen müsse. SPRECHERIN Aber ist der Picasso von 1944 identisch mit jenem von 1937? War er schon damals ein Parteigänger der Kommunisten? Otto Karl Werckmeister hält das für eine ahistorische Überblendung, hier würden zwei Dingen zusammengemixt, die nicht zusammen gehören: OT 04 WERCKMEISTER PICASSO Das ist wiederum eine neue Phase von politischer Identifikation, Selbstidentifikation. Diese ganze Epoche an der Friedenskampagne der kommunistischen Partei und auch der internationalen, der Cominform, ist ja eine höchstproblematische Phase von Picassos politischen Überzeugungen, die ja noch gar nicht vorauszusetzen ist in der Zeit, in der Guernica gemalt wurde. Damals war er mit Breton befreundet, eng befreundet, der bekanntermaßen ein Gegner des stalinistischen Systems und der kommunistischen Partei war. SPRECHER Trotz seiner eindeutigen Positionierung nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde Picasso aber nicht als Parteisoldat wahrgenommen - SPRECHERIN Außer vom amerikanischen Inlandsgeheimdienst FBI, der, obwohl Picasso kein Staatsbürger war, eine umfangreiche Akte über ihn anlegte. 187 Seiten, darunter der Vorwurf, Picasso sei ein sowjetischer Spion. SPRECHER Den allermeisten aber, darunter selbst Weggefährten, galt Picasso eher als unpolitisch, wie etwa ein Interview zeigt, dass 1955 sein Galerist Daniel-Henry Kahnweiler [dt.] anlässlich einer Retrospektive in München gab: OT 05 ZUSPIELUNG KAHNWEILER Picasso hatte sich nie um Politik gekümmert. Dann aber kam der Aufstand von Franco gegen die spanische Republik. Und Picasso begeistert sich mit vollem Herzen für seine Republik und die Freiheit. Und als die arme Stadt Gernika als erstes Opfer der Bombenangriffe unterging, schuf er dieses Bild für die Republik, es stand ja im Hause der Spanischen Republik in der Weltausstellung 1937. SPRECHER Vielleicht hat der Kunsthändler Kahnweiler allerdings auch ganz bewusst diesen Aspekt heruntergespielt, denn ein Kommunist zu sein, war Mitte der 50er Jahre nicht gerade verkaufsfördernd. Guernica begann sich schon hier von einer Parteinahme zu einem Anti-Kriegsbild zu wandeln. SPRECHERIN Tatsächlich ist die Zahl seiner Werke, die politisch sind, überschaubar. Der böse Bilderbogen "Traum und Lüge Francos" , ein Stalinporträt, einige allegorische Blätter über den Krieg, das Gemälde "Massaker in Korea" - das aber trotz des Titels eher kunsthistorisch wirkt. SPRECHER Dem gegenüber stehen Tausende Frauenbildnisse und -Akte. Der Kunstschriftsteller John Berger hat einmal lakonisch festgestellt, dass Picassos enorme Schaffenslust an seine Potenz gebunden war. SPRECHERIN War Picasso politisch? Die Frontlinie läuft überraschenderweise quer durch die politischen Lager. Für die Stalinisten war das Bild zu modern, zu kubistisch. Es deformiere die Menschen, anstatt sie zu heroisieren. Also bloß ein Ausdruck einer bourgeoisen Künstlerpersönlichkeit. Für Konservative durfte große Kunst nicht durch Politik befleckt werden, durfte das Bild nicht Stellung beziehen in einem konkreten Konflikt. SPRECHER Also wurde links wie rechts gefragt: Ist Guernica ein direkter Kommentar zur Bombardierung der baskischen Stadt oder ist es Ausdruck einer "privaten Mythologie"? SPRECHERIN Private Mythologie. So hatte der Kunsthistoriker Carl Einstein schon früh Picassos ganz eigenwilliges Bestiarium genannt, wie etwa den Stier, den Minotaurus und das Pferd. Ein Pferd, das in Guernica tödlich getroffen erscheint, den Kopf unnatürlich überstreckt, das Maul wie von Schmerz aufgerissen. Während der Stier am Rand steht, verstört. SPRECHER Stier und Pferd stünden für Spanien, hat Picasso einmal in einem Interview über Guernica gesagt. Was den italienische Kunsthistoriker Carlo Ginzburg vor einigen Jahren zu einer sehr steilen These animierte, es gehe in dem Bild gar nicht um die Bombardierung der baskischen Stadt. Guernica sei erst nachträglich von Picasso so benannt worden und sei in Wahrheit eine typische Arbeit des Malers, in der er Bilder der Kunstgeschichte mit seiner eigenen Bildwelt vermischte. SPRECHERIN Guernica als zeitloses, überhistorisches Anti-Kriegsbild. Hier kündigt sich an, was heute die Wahrnehmung bestimmt. Heute! Denn fast 50 Jahre lang war Guernica eine Ikone für viele Linke. Zurückblickend sagt Otto Karl Werckmeister, der sich immer noch als linker Kunsthistoriker versteht, das war ein Fall von Überidentifikation und Idealisierung: OT 06 Werckmeister Bei der vorausgesetzt wurde, dass die spanische Republik ein Idealstaat war, an dem nichts auszusetzen war, bei dem die problematischen, ja kriegsverbrecherischen Aspekte der republikanischen Kriegsführung unter der sowjetischen Führung, die wurden damals sehr kleingeschrieben. Und nur deshalb konnte Guernica so lange als Ikone dienen, als es Teil einer linken Kultur mitgeschleppt wurde. Ich selbst habe auch noch daran teilgenommen, die Spanische Republik war gut, Franco war schlecht und in diesem Schwarz-Weiß-Bild hatte Picasso natürlich einen Platz auf der richtigen Seite. [CD Tiersen La redécouverte Länge: 1:13 SPRECHER Einen Nebenschauplatz zwischen diesen beiden Lagern stellten die Angriffe von Clemens Greenberg dar. Der Kritiker war der Promoter der jungen amerikanischen gegenstandslosen Kunst, deren Vertreter sich gerade anschickten, die USA zur Großmacht in der Kunst zu machen. Und dafür musste Picasso, als Vertreter des Old Europe, vom Platz gefegt werden. Und damit auch dessen berühmtestes Bild: ZITATOR Dieses riesige, vollgestopfte und sich verziehende Gemälde erinnert an eine Schlachtszene auf einem Giebelfeld, das von einer defekten Dampfwalze platt gewalzt wurde. SPRECHER Erschienen ist die geifernde Polemik 1956, anlässlich des 75. Geburtstag des spanischen Malers. SPRECHER Greenberg stand mit seiner Position allerdings ziemlich allein - denn die von ihm geförderten jungen amerikanischen Künstler schätzen Picasso sehr. Jackson Pollock etwa setzte sich immer wieder vor Guernica und fertigte Studien davon an. SPRECHERIN Der Aufstieg von Guernica zu einem der wichtigsten Bilder der Moderne schritt unaufhaltsam voran. Zeitgenössisch war Picassos Umgang mit der Perspektive, den er schon im Kubismus erprobt hatte, seine Malweise, der die Gegenstände zwar kenntlich ließ, aber sie völlig neu präsentierte: Bei Picasso war Deformation auch Ausdruck der persönlichen Beteiligung. Diese damals auch schon über 20 Jahre alten künstlerischen Mittel verband er mit seiner aktuellen neo-klassizistischen Malweise, seiner intensiven Suche nach den Möglichkeiten eines anderen Realismus. In Guernica hält eine Mutter ein sterbendes Kind - ein wahrhaft klassisches Antikriegsmotiv. Modern waren seine mythischen Figuren, die für ihn Schlüssel darstellten, um die Welt mit Bildern zu erklären: der Minotaurus, das Pferd, der Stier. Durch all diese Elemente entstand etwas völlig Neues - ein moderner Realismus. Picasso gelang mit Guernica etwas scheinbar ganz Unmögliches: mit modernen Mitteln gegenständlich zu sein. SPRECHER Selbst in Spanien begann man zu begreifen, es gab keine Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne dieses Bild. Schon unter Franco meldeten sich Stimmen, die die Überführung des Bildes nach Madrid forderten. Dieses Vorhaben stieß auf erheblichen Widerstand, noch 1981 polterte ein Kommentator in der Zeitung "El Pais": ZITATOR Die Vorstellung, dieses Gemälde könne nach Spanien kommen, ist eine Beleidigung für den Patriotismus. Obwohl dieser zunehmend außer Mode kommt, ist er tief in unserem Herzen verwurzelt. Diese Aktion zeugt von einem völligen Mangel an Respekt gegenüber denjenigen, die starben, damit die Nation weiterleben konnte [...]: Ohne Guernica und ohne Picasso haben wir in Frieden gelebt, und wir haben weder nach dem einen noch dem anderen Sehnsucht. SPRECHERIN Tatsächlich aber gab es diese Sehnsucht doch. 1967 trugen die Demonstranten in Barcelona Abbildungen von Guernica vor sich her. Die spanische Regierung begann Geheimverhandlungen mit Picassos Anwalt. Man hoffte ihn zur Heimkehr bewegen zu können. Die Verhandlungen kamen aber zu keinem Ergebnis, weder Picasso noch Guernica kehrten zurück. Erst 1981, also sechs Jahre nach Francos Tod, verließ das Bild das MOMA in New York und kam nach Madrid, als sichtbares Zeichen für die Demokratisierung des Landes. SPRECHER Aber nicht als Siegesbanner der republikanischen Sache. Guernica hatte sich zum spanischen Nationaldenkmal gewandelt, zu einem Bild über den Schrecken des Bürgerkriegs, auf das sich links und rechts einigen konnten. OT 07 Rückkehr Prado Ich glaube, dass dies der Versuch ist, beide Spanien miteinander zu versöhnen. Es könnte sein, dass bei der Betrachtung dieses Kunstwerks der Schrecken des Krieges vergegenwärtigt werden kann, den dieses Volk damit erlitten hat. Und vielleicht kann es helfen, dass sich so etwas nie wieder wiederholt. SPRECHERIN So 1981 einer der ersten spanischen Besucher im Prado, der Guernica in Augenschein nehmen konnten. Für den Picassokenner Otto Karl Werckmeister markiert das eine neue Phase der Wirkungsgeschichte: OT 08 Werckmeister "Wirkung in Spanien" Nachdem das Bild nach Spanien überführt wurde, da wurde diese Rückführung ausdrücklich so inszeniert, dass beide Parteien zusammen kamen und dass diese selbstmörderische Zweiteilung der spanischen Gesellschaft in Francisten und Republikaner aufgehoben wurde. SPRECHER Ein hehres Ziel, um eine neue Gesellschaft zu bauen. So nötig Kitt zwischen den verfeindeten Lagern benötigt wurde, für Werckmeister bedeutet dies, dass die Verbindung zur konkreten historischen Entstehung von Guernica verblasst: OT 09 Werckmeister Interessant zu lesen in dem Band, der 2006 anlässlich des 20 jährigen Jubiläums der Überführung Guernica veröffentlicht wurde, da wird ein junger Spanier zitiert, endlich kann ich Guernica ansehen, ohne an den spanischen Bürgerkrieg denken zu müssen. Das ist der Endpunkt der Kanonisierung des Bildes als universales Meisterwerk der modernen Kunst. SPRECHER Vielleicht ist ja erst jetzt, über 30 Jahre nach Francos Tod, jetzt, da die allermeisten Kombattanten tot sind, Spanien in der Lage das Kunstwerk gemeinsam mit seiner Entstehung zu sehen. MUSIK CD 13 & God: Death minor OT 11 Powell Saddam Hussein is guilty. SPRECHER Am 5. Februar 2003 hält Außenminister Colin Powell vor laufenden Fernsehkameras eine Rede im UN-Gebäude, im Foyer des Sicherheitsrats. Dort hängt "Guernica", nicht das Original, sondern eine von Picasso autorisierte Replik als Wandteppich, die der Sammler Nelson A. Rockefeller in Auftrag gegeben hatte. Powell erläuterte die Gründe, warum die USA dem Irak den Krieg erklärten - dort halte man Massenvernichtungswaffen versteckt. OT 12 Powell New human sources tell us, that the Irak move weapons of mass destruction to keep them for being found by inspectors. SPRECHER Offenbar empfanden die Verantwortlichen Guernica als Bildhintergrund für einen Präventivkrieg als unpassend. Sie verhängten den Wandteppich mit einem blauen Tuch, auf die Aufschrift Sicherheitsrat zu lesen war. Was ist ein besserer Beweis für die anhaltende Wirksamkeit eines Bildes? Seine Botschaft - Krieg ist ein Massaker - war auch nach fast 60 Jahren für jedermann lesbar. SPRECHERIN Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte den Vorgang. ZITATOR Im Vorkrieg der Medien fürchten Politiker noch immer die Macht von Bildern, die sich ihrer Kontrolle entziehen ... Es sei, so ein Diplomat, kein ,angemessener Hintergrund', wenn Powell oder der Botschafter der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen, John Negroponte, über Krieg redeten und dabei von schreienden Frauen, Kindern und Tieren umgeben seien, die das durch Bombardements verursachte Leid zeigten. MUSIK CD 13 & God: Unyoung [Anfang bis 1:02 frei, hat ein cold end] SPRECHERIN Was aber sagt Guernica uns heute? Unsere Kriegsbilder sind schneller, zeitnäher, aber sind sie auch realistischer? Im ersten Irakkrieg wurden zu 90 Prozent konventionelle Bomben eingesetzt, der "chirurgische Krieg", bei dem es nur Volltreffer gab, war also nur Kriegspropaganda. Wir haben heute andere Bilder, authentischer sind sie aber nicht. SPRECHER Was ist Guernica? Ein 75 Jahre altes Bild. Aber eben auch mehr als ein Bild. Pablo Picasso hat eine Anti-Kriegs-Ikone geschaffen. Ein Bild, das unabhängig von den konkreten Bedingungen eines Konflikts die Gräuel des Krieges beschwört. Bis heute hält diese Wirkung an. Es gibt nicht viele Künstler, denen das gelang, Goya vielleicht mit seinen "Desastres de la guerra". Die konkrete Entstehungsgeschichte mag dabei in den Hintergrund geraten sein - aber Guernica ist verständlich, lesbar auch ohne das Wissen um den Spanischen Bürgerkrieg. Und doch ist es mehr als ein Peace- Zeichen, schnell benutzt und schnell vergessen. Es bewahrt in sich den Schrecken eines brutalen Massenbombardements, die Erinnerung an die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika. Und es beweist eindrücklich, dass auch in der Moderne Bilder entstehen, die zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses werden. 1