COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Menschen und Landschaften 10.06.2007 Wasserwege Leben auf Bangladeschs Flüssen Von Rainer Scholz Deutschlandradio Kultur 2007 ATMO Barber Shop ERZÄHLER Zuerst patscht mir Fazim Bey Hals und Gesicht mit Wasser ab. Dann streicht er eine Creme auf die feuchte Haut und verreibt sie mit den Wassertropfen zu einer dünnen Lotion. Seine schnellen, routinierten und dennoch sanften Bewegungen sind das einzig Angenehme meiner Arbeitstage hier. Abschluss und Belohnung zugleich. Draußen vor Fazim Beys kleinem Barbierladen schieben sich dicht an dicht die Fahrradrikschas durch die kaum zwei Meter breite Altstadtgasse, die sich nach dem Maghrib Gebet zum Sonnenuntergang schlagartig mit wahren Menschenmassen gefüllt hat. Zu dieser Stunde sind jene unterwegs, die es sich tagsüber leisten konnten, der sengenden Sonne zu entrinnen, und jene, denen die Armut jede Pause verbietet. Kurzum: Alle. Das Geklapper der Scheren und Geklingel der Rikschas sind mein tägliches Schlaflied. MUSIK Ry Cooder / V.M. Bhatt ?Ganges Delta Blues?, auf A Meeting by the River ERZÄHLERIN Landflucht und Planungsmangel haben Bangladeschs Hauptstadt Dhaka in Jahrzehnten zu einer lauten, stinkenden, verstopften Monstermetropole gemacht, von der niemand mehr zu sagen vermag, ob sie nun zehn oder 15 Millionen Menschen beherbergt, oder, besser gesagt, zu Grunde richtet. ERZÄHLER Fazim Bey schlägt einen Berg strahlend weißen Seifenschaums. Mit dem Zeigefinger verteilt er den Schaum vom Brustansatz hinauf über die Stirn bis zum Haaransatz, von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. Nur meine Lippen und die Augen bleiben frei. Schlüge ich sie jetzt auf, sähe ich eine gespensterhafte Maske im Spiegel, einen Klecks sagenhafter Sauberkeit, ein Atoll der Frische in dem Ozean aus Chaos und Dreck ringsum. Aber ich schlage die Augen nicht auf. Es gibt nichts zu sehen in Fazim Beys Salon, außer rostigen Stühlen, erblindenden Spiegeln und anderen altersschwachen Werkzeugen seiner Zunft. Ich schlafe unter Fazim Beys Händen ein. ERZÄHLERIN Wegen chronischer Überlastung des altersschwachen Stromnetzes hat die Regierung verfügt, Fabriken, Supermärkte und ähnliche Großverbraucher um 19.00 Uhr zu schließen. Der Betrieb privater Klimaanlagen wurde verboten. So soll sichergestellt werden, dass Mustafa Normalverbraucher wenigstens eine Glühlampe zum Abendreis anknipsen und ein Handwerker wie Fazim Bey sein tägliches Linsencurry verdienen kann. ERZÄHLER Der hat unterdessen kunstvoll eine Rasierklinge entzwei gebrochen und die eine Hälfte in eine Fassung mit Griff geschoben. Mit diesem Einweg-Rasiermesser schabt er jetzt durch meinen Bart. Den Schaum streicht er am linken Zeigefinger ab. Langsam und genüsslich, als handele es sich bei dieser Frucht seines Schaffens um Schlagsahne, die es hernach abzulecken gelte. Nach der ersten Rasur fühlt er nach und wiederholt die Prozedur. Fühlt erneut nach, rasiert mich ein drittes Mal, bis die Haut zu prickeln beginnt. Nicht das kleinste Härchen entgeht ihm, niemals habe ich seinen Laden ohne drei Rasuren verlassen, glatt und frisch, wie neugeboren, zurück in das Inferno da draußen. MUSIK Anila ?Dak Diachen?, auf: Variation 25.2 ERZÄHLERIN Dhaka hat keine U-Bahn. Auch keine Autobahn oder überhaupt irgendetwas, das auch nur entfernt nach Massentransportmittel oder Verkehrsplanung aussähe. Nichts als ein ausuferndes Netzwerk überwiegend maroder Pisten. Da die meisten Bengalen kein Geld für Autos oder Mopeds haben und einen Job ohnehin dringender brauchen, sind die meisten Fahrzeuge Fahrradrikschas. Das schafft Arbeitsplätze und Staus. Und da Kraftfahrzeuge ebenfalls in diesen Staus stecken, rangiert die Luft von Dhaka unter den Top Ten der weltweiten Verpestung. ERZÄHLER Nach der Rasur zieht mir Fazim Bey das Hemd über den Kopf und seine Klinge unter meinen Achselhöhlen entlang. Ein guter Muselman ist auch hier rasiert. Danach knetet er meinen Rücken, zieht mir das Hemd wieder an, walkt meine Arme, die Hände, jeden Finger einzeln, schließlich den Nacken. Meinem Kopf verpasst er einen Ruck nach rechts, einen nach links, bis das Genick knackt, erst dann ist es gut. Jetzt noch einen Schuss Wasser ins Haar, den Kamm durchziehen, das Gewand zurechtzupfen. Einen Tee hinstellen, eine Zigarette daneben, auf einem Schälchen serviert mit Zündhölzern. Perfekt. Fazim Bey strahlt vor Stolz. Ich blitze vor Frische. Macht 50 Taka. Umgerechnet 60 Cent für eine gute Arbeitsstunde. Damit zählt Fazim Bey bereits zur Mittelschicht. ERZÄHLERIN Einstmals ein lockeres Geflecht aus Moscheen, Palästen und Geschäftshäusern, hat die Altstadt auch Bauspekulanten angelockt. Mauer an Mauer wachsen Mietskasernen empor, sechs-, acht-, zehnstöckig, oft nur erreichbar durch Gassen, die kaum einen Meter breit sind. Mit lichtlosen Ein- und Zwei-Zimmer Wohnungen und einem einzigen Gemeinschaftsbad für ein Stockwerk oder ein ganzes Haus. Weil die Mieten so hoch wie die Einkünfte niedrig sind, zwängen sich meist vielköpfige Familien und Wohngemeinschaften in ein solches ?Appartement?. ATMO Straßenlärm ERZÄHLER Es ist fast 23.00 Uhr, als ich in die Gasse vor Fazim Beys Salon trete. Ich war der letzte Kunde. Mit seinen beiden Kollegen putzt er den Drei-Quadratmeter-Laden, der denen nachts als Schlafkammer dient. Dann macht sich Fazim Bey auf den Heimweg zu einem Wohnsilo am Hafen. Es ist nicht weit, aber mit jedem Schritt nimmt der Gestank zu. Aus zehntausend Rinnsalen und Röhren fließen ungeklärte Abwässer in den Padma, einen Arm des riesigen Gangesdeltas, an dem Dhakas Flusshafen liegt. Neben dem Hafen haben sich Müllverwerter und Gerbereien niedergelassen. Die Dämpfe aus den Gerbereien stinken noch erbärmlicher als der Müll, und die Chemikalien, die sie in den Padma leiten, noch schlimmer als die Abwasserröhren. Deshalb liebt Fazim Bey die Arbeit in seinem Salon. Sie hat mit sauberem Wasser zu tun, stiftet Frische und Duft, eine Oase der Ruhe in einer Welt, die systematisch an ihrem Dreck erstickt und an ihrem Krach ertaubt. MUSIK Ry Cooder / V. M. Bhatt ?Ganges Delta Blues?, auf: A Meeting by the River ERZÄHLER Der Sonnenaufgang gibt Dhaka die Farben zurück. Nur das Wasser des Padma bleibt in jedem Licht pechschwarz. Es ist merkwürdig zähflüssig. In einer windschiefen Blechhütte am Hafen lebt Ali. Angeblich zwölf Jahre alt, sieht er aber eher aus wie acht. Ich erspähe ihn auf dem Gipfel eines Müllberges, aus dem er Plastiktüten zieht. O-TON Ali SPRECHER 2 Ich helfe meinen Verwandten. Bis voriges Jahr konnte ich noch zur Schule gehen. Aber dann hat das Geld nicht mehr gereicht. ATMO Bolzplatz am Hafen ERZÄHLER Kinder wie Ali leben zu Tausenden in Dhaka. Sie tragen Kleidung, die aus dem Müll stammt, sie wohnen in Verschlägen aus Abfall, sie atmen aus der Wolke des Gestanks, die über allem hängt. Nur an einer Stelle ist der weiße Sandstrand des Padma erhalten geblieben. Dort befindet sich der Bolzplatz der Müllkinder. ERZÄHLERIN Bangladesch hat über 140 Millionen Einwohner. Die Analphabetenrate beträgt etwa 60 Prozent. Ungefähr fünf Millionen Kinder zwischen fünf und 15 Jahren gehen unterbezahlten, gefährlichen und besonders schweren Arbeiten nach. In einem ihrer weltweit größten Projekte vermittelt die Kinderhilfsorganisation UNICEF landesweit eine Grundschulausbildung für 200 000 Kinder. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Doch als Faustregel gilt, jedes Kind erhält mit jedem Jahr zusätzlicher Ausbildung eine erhöhte Chance, diesem Leben zu entkommen - und sei es auch nur, weil es rechnen gelernt hat und nicht mehr übers Ohr gehauen werden kann. ATMO Bootssiedler ERZÄHLER Manche entfliehen den Verhältnissen in der Hauptstadt zu Wasser. Einige Kilometer flussaufwärts stöbere ich eine Kolonie von Bootssiedlern auf. Ihre Kähne sind sechs bis acht Meter lang, kaum kleiner als die Altstadtwohnungen, aber mit einem Verdeck aus Blättern, natürlichem Licht und einer Kochstelle im Heck. In Reih und Glied sind sie entlang des Ufers vertäut. Faruk ist der Bootsbauer. O-TON Faruk SPRECHER 1 Die Leute hier sind schrecklich arm. Sie haben kein eigenes Land, kein Geld, keinen Beruf, nichts außer den Booten. Sie müssen sich als Tagelöhner verdingen. Sie leben hier bereits seit 25 Jahren. Einige Familien, glaube ich, sogar schon seit 100 Jahren. Sie haben sich an dieses Leben angepasst. Sie baden sogar in dem Wasser. Neuankömmlinge wie ich können das nicht, ohne krank zu werden. Wir brauchen Brunnenwasser zum Baden. Aber das reicht nicht für alle. ERZÄHLERIN Bangladesch ist eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Erde. In den zurückliegenden 50 Jahren hat sich die Einwohnerzahl vervierfacht, einen Quadratkilometer teilen sich vier Mal so viele Menschen wie in der Bundesrepublik. Bangladesch ist auch eines der wasserreichsten Länder der Erde. Tausende von Flüssen bilden das gewaltige Delta von Ganges und Bramaputra. Weil Bangladesch fast gänzlich aus diesem Delta besteht, sind Wasserfahrzeuge noch immer das wichtigste Transportmittel. ATMO Hafen ERZÄHLER Da viele Passagiere nicht lesen können, werden am Hafen Ziele und Fahrpreise von professionellen Ausrufern skandiert. Sie haben den bequemen Job. Den harten haben Kinder. Sie schleppen das Gepäck der Reisenden durch ein Labyrinth aus rostigen Laufstegen, wippenden Planken, überfüllten Pontons, mit Frachtgut verstellten Durchgängen, vorbei an fliegenden Nusshändlern, aufdringlichen Quacksalbern und reizbaren Bootsleuten. Sie schleppen auch mein Gepäck. MUSIK Ustad Shahadat Hossain Khan ?Flowing Streams?, auf: Ripples in Meadows ATMO Oystrich ERZÄHLER PS Oystrich. Der ?Straußenvogel?. Gebaut 1929 in Kalkutta. 1996 generalüberholt. Die Oystrich ist einer von vier noch in Betrieb befindlichen Schaufelraddampfern aus der britischen Kolonialzeit. ?Rockets?, Raketen wurden sie dereinst getauft, ihrer Schnelligkeit wegen. Nach heutigen Maßstäben zeichnen sie sich vor allem durch Ehrwürdigkeit aus. Für Passagiere der 1. Klasse gibt es bezaubernde Zweibettkabinen und einen fürstlich dimensionierten Speisesaal, alles aus Holz mit Messingbeschlägen, leuchtend weiß lackiert und neuerdings sogar klimatisiert. Der Clou jedoch ist das Vorderdeck mit bequemen Lehnsesseln und Cocktailtischen. Hier wird nach Kolonialherrenmanier Tee serviert, während rechts und links die Landschaft vorbeizieht. ERZÄHLERIN Während der Kolonialzeit verkehrten die Rockets zwischen Kalkutta und den Teeanbaugebieten von Assam am Fuße des Himalajas. Sie brachten von der Hitze zermürbte britische Beamte in die nördliche Sommerfrische. Prominenz könnte darunter gewesen sein, zum Beispiel der Schriftsteller George Orwell, der damals in Birma lebte, aber man weiß es nicht. Die Geschichte der Dampfer ging in den Unabhängigkeitskriegen unter. Sie selber jedoch hielten stand. ERZÄHLER Nach kaum einer Stunde sind die Schrecken Dhakas vergessen. Der Fahrtwind zieht mir den Scheitel nach. Zu beiden Seiten liegt das Land flach wie ein Brett, ein einziges, leuchtend grünes Reisfeld. Hinein getupft kleine Gruppen aus Bäumen und Bambus, unter denen sich winzige Weiler vor der Sonne verbergen. Adrette lehmverputzte Häuschen mit Laubdächern. Umgeben von geflochtenen Wänden aus Bambusmatten, dass kein indiskreter Blick das dahinter wuselnde Familienleben störe. In wilden Schlaufen verläuft der Fluss, langsam und beharrlich nimmt die Oystrich die Kurven, schaufelt sich durch weite Felder aus Wasserhyazinthen, die stellenweise so dicht stehen, dass es aussieht, als führe der Dampfer durch eine Wiese. Die Reise geht über sieben Flüsse. Manche so breit, dass die Ufer nur noch schemenhaft erkennbar sind, andere so schmal, dass ich tief in die abzweigenden Kanäle hineinschauen kann, in einen dörflichen Mikrokosmos aus wackligen Bambusbrücken und winzigen Nachen. Majestätisch behauptet das Schiff die Mitte der Fahrrinne, während der Lokalverkehr ufernah vorbeiziehen muss: Ruderboote mit Marktvolk, Ziegen und Fahrrädern beladen, Motorbarkassen, auf denen sich Reisstroh, Brennholz und Töpferwaren türmen. ERZÄHLERIN Laut Statistik arbeiten 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft, die aber nicht einmal 25 Prozent zum Bruttosozialprodukt beiträgt. ERZÄHLER Nun sind zwar statistische Werte aus einem Land wie Bangladesch mit Vorsicht zu genießen, da kaum erkennbar wird, wer hier eigentlich mit welcher Methodik zählt, doch diese Zahlen bestätigen sich aus der privilegierten Perspektive vom Vorderdeck der ersten Klasse: Wie Perlen einer Kette ziehen sich zu beiden Ufern putzige Dörfer dahin, deren Bewohner offenkundig so arm sind, dass ihnen absolut nichts zum Wegwerfen bleibt: Es ist überall sauber. Wenn ich mich durch eine kleine, stets bewachte Tür am Ende des Speisesaals zwänge, erreiche ich jene Zwischenwelt, in der sich die Stadt mit dem Land trifft: Die Deckklasse. Nur ein paar Cent kostet hier die Passage und berechtigt dazu, irgendwo eine Matte auszubreiten, sei es auch nur auf der Treppe zum Maschinenraum. Ein Preis, der es Millionen von Pendlern gestattet, sich außerhalb der Anbauzeiten in den Ballungszentren zu verdingen. In der Mitte der Deckklasse befindet sich der Teashop. Zwei Cent für eine Tasse süßen Milchtees. Ein Angestellter braut den Tee, zwei Jungen servieren. Der Pächter sitzt an der Kasse. Wer Tee trinkt, darf auf einer Bank Platz nehmen. Wer ausgetrunken hat, wird prompt verscheucht. Darauf achten die Jungen. Über dem Pächter schwingt, an Gummibändern befestigt, ein Himmel voller Fortschritt in Gestalt glitzernder, bunter Snackpackungen meist ungenießbaren Inhaltes, aber von frappierender Optik. Mohammad Lutfar Rahman ist seit 20 Jahren Kapitän der Oystrich. O-TON M. Lutfar Rahman SPRECHER 1 Nach dem Bau von Staudämmen haben sich Sedimente in den Flussbetten angelagert. Sie werden immer flacher, und es entstehen immer mehr wandernde Inseln. Das erschwert die Navigation. In der Trockenzeit ist es leicht, da kann man die Inseln sehen. Aber während des Monsuns, bei Hochwasser, verschwinden sie unter dem Wasserspiegel, und die Flüsse müssen ständig neu vermessen und markiert werden. Dennoch kommt es häufig zu Unfällen. MUSIK Kobita & San ?Akash Choa Sapno?, auf: Hotat Bristi / Moner Majhe Tumi ATMO Krähen in Kulna ERZÄHLER Nach gut 30 Stunden Fahrt ist in Kulna Endstation. Die Stadt hat mich wieder und damit der Müll. Krähen sind Allesfresser, sie fühlen sich hier besonders wohl. Südlich von Kulna beginnen die Sunderbans, bengalisch für ?schöner Wald?. ERZÄHLERIN Die Sunderbans sind der Erde größter Mangrovenwald. Eine Welt im Tidenhub, bei der Regenfälle und Gezeiten im täglichen und jahreszeitlichen Wechsel Inseln und Moraste schaffen und die Flüsse zu einem Nomadendasein zwingen. Wegen ihrer Artenvielfalt steht die Region als UNESCO Weltkulturerbe unter Schutz. Berüchtigt ist sie für Königstiger und Krokodile. O-TON Dhana Pahar SPRECHER 1 Am zwölften Tag des Ramadan bin ich zum Holzsammeln in den Wald gegangen. Ich hatte das Bündel gerade geschultert, da hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehte mich um, sah aber nichts. Ich dachte mir, wenn das der Tiger ist, bin ich erledigt. In dem Moment sprang er mich an. Weil ich mir das Holz auf den Rücken geladen hatte, kam er nicht an meinen Nacken heran. Er hat meinen Kopf gekrallt, und ich bin ins Wasser gesprungen. Meine Freunde kamen mir zu Hilfe. Der Tiger floh. Für die Behandlungskosten musste das ganze Dorf zusammenlegen. Drei Monate war ich krank. Seither leide ich unter Kopfschmerzen. ERZÄHLER Dhana Pahar hat von der Begegnung neben einem entstellten Kopf einen Status als Lokalprominenz behalten. Nicht einmal zehn Prozent der Opfer überleben einen Tigerangriff. Noch schlechter stehen die Chancen bei Krokodilen. Eins zu hundert, sagen die Leute. Dhana Pahar ist ein ?Maualani?, ein Honigsammler. Wegen der zahlreichen Gefahren ist eine dauerhafte Besiedlung der Sunderbans schwierig und wegen der Naturschutzgesetze auch verboten. Doch um den Rand des Mangrovenwaldes zieht sich ein Gürtel von Dörfern der Ärmsten der Armen. Sie fischen und sammeln von alters her in den Wäldern. Vor allem Honig ist in der Stadt begehrt. Weil sie sich auf die Bienenschwärme konzentrieren müssen, sind die Honigsammler besonders gefährdet, von Tigern oder Krokodilen angegriffen zu werden. Dennoch seien es weniger die wilden Tiere, vor denen sie sich fürchteten, sagt der Honigsammler Abdul Razzaque. O-TON Abdul Razzaque SPRECHER 1 Wir leben hier in ständiger Furcht vor Banditen. Sie nehmen manchmal Geiseln und fordern Lösegeld. Sie halten die Geiseln irgendwo tief im Wald gefangen, wir können nichts machen außer zu zahlen und dafür unser Land zu verpfänden. Es ist ein hartes Leben hier. ATMO Sunderbans ERZÄHLER Einen heißen, stillen, matschigen Tag lang habe ich mich durch die Sunderbans rudern lassen. Kein Tiger. Kein Krokodil. Nicht mal ein Hirsch. Nichts außer ein paar grellbunten Eisvögeln in schweigenden Wäldern mit undurchdringlichen Luftwurzeln. Kaum zurück, werden wir von Forst Rangern festgehalten. Es ist Ausländern streng verboten, ohne ausdrückliche Erlaubnis in die Sunderbans zu gehen, und den Einheimischen ist es verboten, Ausländer ohne Begleitung durch die Forstbehörde dorthin mitzunehmen. Eine Erlaubnis erhält aber nur, wer bei Veranstaltern mit guten Behördenkontakten teure Pauschaltouren bucht. Das gelte jedoch lediglich für Touristen, erklärt mir ein solcher Veranstalter. Einen Journalisten will er auf keinen Fall an Bord haben, das gäbe nichts als Ärger. ATMO Debatte im Maualani Dorf ERZÄHLER Später schütten mir die Honigsammler ihr Herz aus. Der Staat, sagen sie, hätte ihnen zuerst die wichtigste Einkommensquelle geraubt - die Touristen, danach die zweitwichtigste - den Wald, und jetzt nähmen ihnen Banditen mit Raubzügen und Schutzgebühren noch das letzte Hemd. SPRECHER 1 Die Banditen haben Informanten, die sie stets auf dem Laufenden halten, deshalb ist es für sie leicht, ihre Opfer zu finden. Sie besitzen Mobiltelefone und Waffen aus Regierungsbeständen. Es sind etwa 70 oder 80 dieser Typen, die sich im Wald verstecken. Sie haben zwei Anführer, Sakat und Motalef. Die haben einmal eine ganze Gruppe von uns umgebracht. Fast jeder hier ist ein- oder zweimal von ihnen überfallen worden. Wegen ihrer Spitzel ist es schon gefährlich, nur darüber zu sprechen. ERZÄHLERIN Nach der Prognose der Klimaforscher wird es jedoch nicht diese Mafia sein, die den Sunderbans und ihren Anrainern den Todesstoß versetzt, sondern der absehbare Klimawandel. Die Region liegt nur einen Meter über dem Meeresspiegel. Bereits bei einem Anstieg um wenige Zentimeter ändert sich der Salzgehalt des Bodens. Und das Wasser ist schon gestiegen. ERZÄHLER In manchen Dörfern tragen die Leute nur noch steife, durch das Waschen in Salzwasser gestärkte Kleider. Die Zeitungen schreiben über die Probleme menstruierender Frauen, die kein Süßwasser für ihre Waschungen haben. Die Honigsammler beobachten, wie den Mangrovenbäumen die Kronen abfaulen und die Bienenschwärme ausbleiben. Monu Mollar, einer der Dorfältesten, sagt: O-TON Monu Mollar SPRECHER 1 In meiner Kindheit war der Wald noch unüberschaubar. Doch je mehr Menschen kamen, desto kleiner wurde er. Dann begann die Regierung damit, die großen Stämme fällen zu lassen. Seither wurden auch die Bäume immer kleiner, und wir finden immer weniger Honig. MUSIK Purbo-Poshchim ?Shes Prante?, auf: Mixed Album ATMO Ziegelei ERZÄHLER An den Ufern der Flüsse stehen ewig qualmende, hohe Schlote. Anfangs hatte ich mich gewundert, wie viele Fabriken ein Land hat, das laut Statistik nicht viel herstellt. Schließlich erkannte ich meinen Irrtum, es handelte sich um Ziegeleien. Der Ton für die Ziegel wird mit Wasser angerührt. Wegen des hohen Wasserverbrauchs befinden sich die Ziegeleien also meist in Flussnähe. Bangladesch ist so flach, dass sich im ganzen Land kaum ein Stein findet. Selbst Kiesel sind selten. Sie bleiben auf ihrem Weg von den Höhen des Himalajas schon weiter nördlich hängen, irgendwo in den Flussbetten Indiens oder Nepals. Nach Bangladesch kommt nur der fruchtbare Schlick, der rund ums Jahr Ackerbau ohne Dünger erlaubt. ATMO Ziegel klopfen ERZÄHLER Aber wenn die Bengalen bauen wollen, brauchen sie Ziegel in großen Mengen. Weil es keine Kiesel gibt, muss grober Zement mit Ziegelbruch angesetzt werden. Ziegelbruch, der von Hand produziert wird. Wohin man auch kommt, irgendjemand sitzt mit dem Hammer da und klopft Ziegelsteine. Manche Leute machen nichts anderes, tagein, tagaus. Seit Januar 2007 klopfen sie sogar mehr als je zuvor: ERZÄHLERIN Eine neu eingesetzte Regierung befand, dass Korruption im Bauwesen zu den größten Landesübeln zähle. Häuser ohne Baugenehmigung oder solche, die unter offenkundigem Bruch geltenden Baurechtes entstanden waren, wurden kurzerhand abgerissen. Das Bauamt rückte mit Soldaten und Bulldozern an. Den Bewohnern blieben nur wenige Minuten, um sich und ihre Habe in Sicherheit zu bringen, dann fuhr der Bagger durch die Wohnstube. Monatelang wurden auf diese Weise pro Tag rund 1000 Häuser zerstört. ERZÄHLER ?Höchste Zeit, dass hier mal für Recht und Ordnung gesorgt wurde?, sagten selbst manche Opfer dieser Radikalmaßnahmen. Allerdings rückte die Regierung anschließend nicht mit Aufräumkolonnen an. Der Schutt blieb liegen. Darum muss jetzt noch mehr geklopft werden. Die einen zerschlagen die Reste der zerstörten Häuser, die anderen sitzen daneben und schlagen aus dem Schutt den Schotter für die nächsten Bauprojekte. Strittig ist noch, ob der Regierung der Atem reicht, für die Neubauten geltendes Baurecht durchzusetzen. ATMO Fußpumpe aus Bambus ERZÄHLERIN Wegen der schnell wachsenden Bevölkerung wucherten nicht nur die Ziegeleien. Um alle Mäuler stopfen zu können, musste bald jede Fläche genutzt werden. Auch die Anbauzyklen wurden verkürzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Ernte pro Jahr und viel Freizeit für die Bauern. Als Bangladesch 1971 seine Unabhängig gewann, startete der junge Staat mit einer Hungersnot. Danach wurden zwei Ernten im Jahr eingefahren, heute sind es drei. ERZÄHLER Immer mehr Menschen, immer mehr Ziegeleien, immer intensivere Landwirtschaft - der Wasserverbrauch stieg rapide an. Als sauberes Oberflächenwasser knapp wurde, schlug die Stunde der Brunnenbohrer. Aus hunderttausend Löchern begann es zu sprudeln. Millionen emsiger Füße bedienten ebenso viele Bambuspumpen, die Milliarden Liter Wasser über die Reisfelder verteilten. Aber es ging nicht lange gut. Generalmajor Mohammed Shahjahan war bis zu seiner Pensionierung Kommandant des Sanitätskorps der Streitkräfte. Heute lehrt er Medizin an einer Universität in Dhaka. O-TON Shahjahan SPRECHER 1 Wir haben neuerdings ein Problem mit Arsen. Wir wissen noch nicht genau, woher das kommt. Vermutlich sind es die immer tieferen Brunnen, es könnte jedoch auch andere Gründe haben. Wir brauchen noch weitere Untersuchungen. Fest steht nur, dass das Wasser in manchen Landesteilen neuerdings Arsen enthält und wir Fälle von Arsenvergiftung erleben, wenn auch noch nicht in alarmierenden Zahlen. Die Ursachen sind bisher insgesamt noch schlecht erforscht, weil Arsen niemanden direkt tötet. Es vergiftet die Menschen nach und nach, sie werden langsam krank, bis man dann eines Tages eine ernsthafte Diagnose stellen muss. Es gibt auch andere Probleme mit der Wasserverschmutzung. Früher hatten wir Cholera und Typhus. Die konnten wir seither erfolgreich bekämpfen. Aber nun erleben wir neue Durchfallerkrankungen in der Trockenperiode, wenn der Wasserspiegel sinkt. Die Kinder bekommen dann verschmutztes Wasser zu trinken und sterben. Ein weiteres Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wie die Industrialisierung die Wasserqualität beeinträchtigt. Wir können nur feststellen, dass all diese Baumwoll-, Bekleidungs- und Lederfabriken ihre Farbstoffe ins Wasser ableiten, aber wir wissen nicht, was das für die Gesundheit unserer Bevölkerung bedeutet. Der letzte Faktor ist der Klimawandel. Wir erleben, dass die Jahreszeiten unzuverlässig werden. Wir können nicht mehr absehen, wann die Fluten eintreffen, und das bedeutet, dass sich die Menschen nicht mehr rechtzeitig darauf vorbereiten können. ATMO Zugfahrt ERZÄHLER ?Nein, kein Dampfer nach Nordwesten?, hatte der Beamte von der staatlichen Binnenschifffahrt kategorisch erklärt. Auch die Nachfrage am Hafen brachte nichts. Keine Fähre, keine Launch, nicht mal ein lausiges Motorboot. ?Der Wasserstand ist zu niedrig?, da war man sich einig. Gegen Ende der Trockenzeit fällt das Wasser stetig. Erst vor wenigen Tagen war ein Schiff auf Grund gelaufen. Ich löse ein Zugticket. ERZÄHLERIN Die Kolonialzeit hat Bangladesch zwar hübsche britische Bahnhöfe, aber auch ein veraltetes Schienennetz mit verschiedenen Spurweiten sowie einer Streckenführung hinterlassen, die ursprünglich von ganz anderen Staatsgrenzen und Ballungszentren ausging. Mit dem Zug fahren heißt warten, umsteigen, Umwege. Erst 1998 wurde eine Brücke über den Jamuna, einen Arm des Bramaputras, fertig gestellt. Bis dahin war der Nordwesten mit einer Bevölkerung von fast 40 Millionen Menschen in keinerlei Verkehrsverbund mit dem Rest des Landes. Der Bau der Jamuna Brücke war das aufwändigste Projekt in der Geschichte des unabhängigen Bangladeschs. ERZÄHLER Alle hängen den Kopf aus dem Fenster, um das Bauwerk zu bestaunen, dessen Dimensionen jetzt in der Trockenzeit keinen Sinn zu ergeben scheinen. Der Jamuna tief unten ist auf die Breite von Rhein oder Donau geschrumpft. Nur ein paar Boote, die Kilometer vom Flusslauf entfernt auf Sandbänken liegen, verraten, wie es in wenigen Wochen nach den ersten schweren Monsunregenfällen aussehen wird. MUSIK Monir Khan & Kanok Chapa ?Katota bachor ai shukh rabe go?, auf: Hridoyer Katha ATMO Fährboot ERZÄHLER Die Sandbänke des Bramaputras im Nordwesten Bangladeschs, fast schon auf der Höhe von Katmandu an den Ausläufern des Himalajas, bilden eine weitere Bastion der Verarmten. Wenn nach dem Monsun die Fluten sinken, taucht aus dem Strom eine wohlgeordnete Landschaft auf, die ein Architekt kaum besser hätte ersinnen können. Weite, weiße Strände, wie sie auf den Inseln der Andamanensee nicht schöner sein könnten, und gleich daneben grauer Schlick. Die Strände sind für die Kinder. Der Schlick jedoch, nicht vermessbar, nicht parzellierbar und daher auch nicht verkäuflich, ist der einzige Hoffnungsschimmer für Leute wie Rohim Badscha. O-TON Rohim Badscha SPRECHER 1 Ich habe kleine Kinder, aber ich kann nicht mal die Schule bezahlen. Ich muss in meiner Familie zehn Personen durchbringen, das bedeutet täglich fünf bis sechs Pfund Reis. Ich verdiene aber nur 60 Taka pro Tag. Da bleibt nicht einmal Geld für Salz oder Speiseöl übrig. Aber was kann ich tun? Ich bin ein armer Mann ohne Bildung. Ich muss von einer Mahlzeit am Tag leben, und irgendwann werde ich verhungern. So ist das hier. ERZÄHLER 60 Taka sind 70 Cent. ATMO Kühe auf der Sandbank ERZÄHLER Wenn das Wasser fällt, zieht Rohim Badscha mit seiner Familie auf die Sandbank. Im Handumdrehen entsteht ein Dorf aus Stroh, einschließlich einer Moschee aus kostbarem Wellblech. Manche Leute bringen auf ihren Booten sogar Ziegen und Kühe mit. Der nährstoffreiche Schlick verwandelt sich fast über Nacht in einen Garten. Je nach Wasserstand werden Kohl, Henna, Rüben und verschiedene Reissorten angebaut. O-TON Rohim Badscha SPRECHER 1 In der Regenzeit steht das Wasser hier mannshoch. Alles wird weggespült. Wer ein großes Boot hat, lebt darauf. Alle anderen müssen sehen, wo sie bleiben. Es gibt kaum Arbeit. Ich quartiere mich dann mit meiner Familie in einer Schule ein oder suche einen freien Fleck irgendwo am Straßenrand. ERZÄHLERIN Laut Statistik weist Bangladesch seit vielen Jahren ein gesundes Wirtschaftswachstum auf. Weniger gesund fällt jedoch die Verteilung des Zuwachses aus. ERZÄHLER Darüber klagt auch Mohammed Khaleque Sharif. Weil ihm die Machenschaften im Staatsapparat nicht gefielen, gab er seine Offizierslaufbahn bei den Streitkräften auf und machte sich selbstständig. O-TON M. Kaleque Sharif SPRECHER 1 Ich habe auf den Schiffsfriedhöfen Stahlplatten gekauft. Aus den Platten habe ich mir dann meine eigenen Schiffe schweißen lassen. Aber weil ich nicht genug Geld hatte, musste ich sie mit alten Motoren ausstatten. ERZÄHLER Mit drei Frachtkuttern beginnt er sein Geschäft. Einer läuft nach kurzer Zeit auf eine Sandbank auf und sinkt, weil die Mannschaft die bewegliche Habe in Sicherheit bringt, anstatt das Leck zu stopfen. Die beiden verbleibenden Kähne finanzieren nur noch ihre jeweilige Besatzung. Für seinen eigenen Lebensunterhalt betreibt Kaleque Sharif heute eine Privatschule. O-TON M. Kaleque Sharif SPRECHER 1 Der Transport auf dem Wasser ist in den Händen einer Gewerkschaft. Sie stellt immer neue Forderungen, gegen die ich machtlos bin. Sie schützt ihre Leute selbst dann noch, wenn sie meine Schiffe plündern. Da ist kein Geld mehr zu verdienen. ERZÄHLERIN Nach internationalen Erhebungen nimmt Bangladesch in Sachen Korruption seit vielen Jahren eine Spitzenstellung ein. Eine allgemeine Wahl, die im Januar 2007 stattfinden sollte, ging in Chaos und Volksaufstand unter. Eine Interimsregierung versprach, die Zustände zu bessern. Sie ließ in den ersten drei Monaten 150 000 Beamte, Politiker und Funktionäre wegen Korruption verhaften. Drei ehemalige Premierminister wurden unter Anklage gestellt. MUSIK Upal ?Ganga?, auf: Variation 25.2 ATMO Schiffsfriedhöfe ERZÄHLER An der Mündung des Kharnapuli im Golf von Bengalen liegen die Schiffsfriedhöfe. Altersschwache Ozeanriesen aus aller Herren Länder werden hier auf Grund gesetzt. Schweißerkolonnen erklimmen die rostigen Giganten und schneiden sie wie einen Kuchen von oben bis unten in Scheiben. Mit riesigen Maschinenwinden werden die Scheiben an den Strand geschleppt und von Hand mit Schweißbrennern in ihre Bestandteile zerlegt. Kaum etwas, das nicht noch irgendwie verwertet werden könnte. O-TON Mohammed Aziz SPRECHER 2 Ich arbeite von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends, sechs Tage die Woche. Ich schleppe und flicke Stahlplatten. Es kommt dabei häufig zu Unfällen. Arme und Beine werden zerquetscht, Arbeiter stürzen von den Schiffen oder werden von Stahlteilen erschlagen. ERZÄHLER Mohammed Aziz ist 17 Jahre alt. Etwas über einen Euro bekommt er am Tag. Für einen mordsgefährlichen Job an einem verdreckten Strand. Aber krisensicher! Und wo gäbe es das sonst noch! ERZÄHLERIN Nach Schätzungen aus dem UN Klima Bericht könnte Bangladesch künftig das am schwersten vom Klimawandel betroffene Land sein. 20 Prozent der Fläche werden vermutlich noch in diesem Jahrhundert verschwinden. Die Menge des verfügbaren Trinkwassers wird sich in den nächsten zwei Jahrzehnten halbieren. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist jetzt schon kritisch. ERZÄHLER ?Keinen Fisch bestellen?, warnt mich mein Dolmetscher. In einem Land, wo Fisch neben Reis Hauptnahrungsmittel ist. Die Zeitungen hatten gemeldet, dass täglich 60 Tonnen vergammelter Fische aus Birma geliefert würden. In Formaldehyd konserviert, damit sie frisch aussehen, und landesweit auf den Märkten verkauft. Zum Vorzugspreis. ERZÄHLERIN Bangladesch genießt Handelsprivilegien beim Export von Meeresfrüchten, unter der Bedingung, dass das Land seinerseits nicht importiert. ERZÄHLER Der Export ruht in den Händen der hiesigen Mafia, und die stellt sicher, dass ?offiziell? auch keine birmanischen Trawler anlanden - selbst wenn ich sie täglich beim Löschen ihrer Ladung beobachten kann. Die Leute jedenfalls trauen ihren eigenen Restaurants nicht mehr. Wo immer es möglich ist, reisen sie lieber mit Henkelmann. ATMO Fischerboot ERZÄHLER Aus Angst vor der Wasserpolizei rudert der Fischer Dyal Ramdash nur noch nachts hinaus auf den Fluss. An einer einsamen Stelle hat er engmaschige Netze versteckt. Sie zu benutzen ist verboten, weil sie die Fischbrut gefährden. Anders aber, sagt er, käme er nicht mehr über die Runden. O-TON Dyal Ramdash SPRECHER 1 Ich fahre mit vier bis zehn Leuten raus. Zwei Teile des Fangs gehen an den Besitzer des Netzes. Ein Teil an den Besitzer des Bootes. Den Rest teilen wir unter uns auf. Wenn wir zum Beispiel zu fünft sind, wird also durch acht geteilt. Zwei Teile für das Netz, einer für das Boot, ein Teil für jeden von der Besatzung. ERZÄHLER Zehn bis zwanzig Kilo Fisch fangen sie pro Nacht, je nach Glück und Besatzung. Das ergibt kaum mehr als drei Pfund Fisch pro Kopf. Drei Pfund Fisch, mit denen der Lebensunterhalt einer Familie gedeckt werden muss. Das reicht nicht zum Leben. Nur knapp zum Überleben. Und wird jedes Jahr weniger. ATMO Fluss, Fischerboot MUSIK Ry Cooder / V.M. Bhatt ?Ganges Delta Blues?, auf A Meeting by the River