COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen am 7.April 2010 Redaktion: Peter Kirsten "Das lautlose Toben der Bibliotheken" Vom geistigen Mittelpunkt der Universitäten Von Adolf Stock Sprecher: Im 19. Jahrhundert schwärmte Wilhelm von Humboldt von der Einheit der Wissenschaften, von einer engen Verbindung zwischen Forschung und Lehre. Es war eine Welt jenseits von Masterstudium und Bachelor, die schnelle effektive Studiengänge fordern, die international vergleichbar und konkurrenzfähig sind. Um diesen Ansprüchen zu genügen, müssen sich auch die Bibliotheken ändern. Take 1: (Norbert Horn) "Sie können auch erkennen, wie gut besucht die Bibliothek ist, da wird sich auch die nächsten Stunden nichts dran ändern. Das ist ein ständiges Kommen und Gehen, und es ist eine richtige Arbeitsbibliothek. Man kommt gerne her, und meine Interpretation ist die: scheinbar ist es angenehmer, besser hier zu arbeiten als zu Hause." Sprecherin: Norbert Horn ist Technischer Leiter und Verwaltungsfachmann an der Universität Mannheim. Die neue Ehrenhofbibliothek im Mannheimer Schloss ist nur eine der vielen neuen Zentralbibliotheken, die überall in Deutschland entstehen, weil sich die Bedingungen an den Universitäten einschneidend verändert haben: Der Druck auf die Studenten nimmt bundesweit zu. Studiengebühren, begrenzte Studienzeiten und ein ausuferndes Prüfungswesen machen das Studium oft zur Tortur. Take 2: (Norbert Horn) "Der durchschnittliche Studierende, der kommt wie jeder andere Arbeitnehmer auch morgens irgendwann auf den Campus und verlässt ihn irgendwann am Abend. Dann hält man sich hier auf, im Wechsel mal Bibliotheksnutzung, mal irgendwo ein Seminar machen, mal eine Vorlesung, dazwischen in die Mensa gehen, sich mal treffen mit Kommilitonen, eine Gruppenarbeit machen. Nur so kann man heute glaube ich ein Studium mit gutem Erfolg durchziehen. Das ist so." Sprecher: Die neuen Bibliotheken sind das Ergebnis tiefgreifender Reformen. Kritiker sehen Humboldts Erbe in Gefahr, denn die verschulten Studiengänge würden das produktive Zusammenspiel zwischen Lernen und Forschen verhindern, das Wilhelm von Humboldt gefordert hatte. Sprecherin: Anfang des letzten Jahrhunderts verteidigte man mit Stolz und Selbstbewusstsein das universitäre Bildungsideal. Heute haben Pragmatiker das Sagen, die Effizienz und globale Verwertbarkeit der Studiengänge im Auge haben. Um effizient lernen zu können, müssen sich auch die Bibliotheken ändern. Hinzu kommt der technische Fortschritt, der die Arbeitsabläufe bei der Ausleihe neu strukturiert. Cornelia Vonhof bildet an der Stuttgarter Hochschule der Medien Bibliothekare aus. Sie wird tagtäglich mit den Auswirkungen des technischen Fortschritts konfrontiert. Take 3: (Cornelia Vonhof) "Die Überlegung jetzt Technikunterstützung einzusetzen und RFID- Verbuchung- und Rückgabeautomaten ist ja nur ein letzter Schritt in einer langen Reihe, ist ein Instrument, das man mit Sicherheit wie viele andere Instrumente missbrauchen kann, nämlich genau dazu, menschenleere Bibliotheken zu schaffen, in denen ich mich nur noch selber bedienen kann." Sprecher: Überall in der Republik entstehen neue Zentralbibliotheken. Sie bündeln unterschiedliche Fachbereiche und fassen sie in einer Präsenzbibliothek zusammen. Die dezentralen Standorte verlieren an Bedeutung, während die neuen Arbeitsbibliotheken zum Mittelpunkt des Campus werden. Herbert Kirsten, stellvertretender Bibliotheksleiter an der Karlsruher Universität. Take 4: (Herbert Kirsten) "Wir haben sehr viele Institutsbibliotheken hier auf dem Campus. Ein ganz klassisches zweischichtiges System. Und die Aufgabe ist es ja, aus diesen Institutsbibliotheken zentrale Einrichtungen zu machen. Und da gab es halt immer das Argument der Professoren, ich brauche meine Institutsbibliothek, weil ich nachts um vier noch mal etwas nachschlagen muss. Und das kam also mit einer Penetranz, die hat schon weh getan, obwohl man ja weiß, nachts um vier gucken die nicht so viel nach. Und irgendwann mal hat dann der Herr Schütte dann gesagt bei solch einer Diskussion, na gut, dann mache ich halt nachts um vier auf." Sprecher: So ist es dann auch gekommen. 2006 wurde die neue Zentralbibliothek in Karlsruhe eröffnet. Seitdem war sie noch keine Minute geschlossen. Ob Ferien oder Feiertag, auch über Weihnachten und Ostern bleiben die Türen offen. Take 5: (Herbert Kirsten) "Die Idee der 24-Stunden-Bibliothek hat zuerst einmal Kopfschütteln hervorgerufen, dann hat man lange Zeit erwartet, dass dieser 24-Stunden-Betrieb kein Echo findet. Nachts kommt keiner, das war also die Parole. Das hat sich aber sehr schnell geändert, als wir in Betrieb gegangen sind. Wir hatten, bevor wir den Neubau eröffnet haben, etwa zehntausend Benutzer pro Woche im Haus und nach Eröffnung des Neubaus haben wir zwischen vierzig- und fünfzigtausend Benutzer pro Woche." Sprecherin: Der Neubau hat rund 1000 Leseplätze. Katrin Celise steht abends kurz vor acht noch zwischen den Regalen und sucht nach einem Buch. Die Studentin ist froh über die neuen Öffnungszeiten. Take 6: (Katrin Celise) "Ich schätze die als eine große Erleichterung in der Tagesplanung einfach, also man kann sich an einen ruhigen Ort zurückziehen, an dem man sich gut konzentrieren kann. Ich denke das ist vielleicht der Unterschied zum zu Hause Arbeiten. Man hat hier die nötige Literatur zur Verfügung und einfach die Ruhe." Sprecher: In Karlsruhe kann jeder Student seinem eigenen Arbeitsrhythmus folgen. Take 7: (Katrin Celise) "Ich persönlich vermeide es oft abends zu arbeiten, weil ich einfach müde bin. Also ich bin jetzt nicht derjenige, der sich Nächte um die Ohren schlägt, also bis um Mitternacht nicht, aber bis um zehn schon." Sprecher: Herbert Kirsten, der stellvertretende Bibliotheksdirektor, hat Folgendes beobachten können. Take 8: (Herbert Kirsten) "Es gibt ein relativ einfaches Schema. Wir haben etwa 4000 Leute am Tag, das verteilt sich relativ gleichmäßig außer sonntags, da ist unser stärkster Tag. Von den 4000 Leuten sind etwa 3000 tagsüber da und 1000 während der Nachstunden. Und wir haben nachts um zwölf, eins 200 und 300 Leute im Haus. Das nimmt dann ab, wir bleiben aber immer zweistellig. Und morgens um fünf geht's dann schon wieder los, da kommen schon die ersten Frühaufsteher, dann geht der Betrieb schon wieder an." Sprecherin: Während der Abendstunden und am Wochenende sind die Studenten auf sich allein gestellt, dann gibt es kein Fachpersonal in der Bibliothek. Nur ein Wachdienst ist zur Stelle, um nach dem Rechten zu sehen. Take 9: (Herbert Kirsten) "Bibliothekare, die aufpassen, dass Sie auch den Mund halten und dass Sie ihr Butterbrot nicht essen, das haben wir nicht. Wenn Sie morgens um sieben kommen oder um acht, dann sieht es hier manchmal aus wie nach einer Party. Und da gibt es natürlich viele Kolleginnen, gerade die älteren, die stört das. Also es wird uns oft vorgeworfen, wir hätten die Bibliothek den Benutzern ausgeliefert, aber bei den jungen ist das nicht mehr so und warten Sie mal noch ein paar Jahre ab, dann kennt man das gar nicht mehr anders." Sprecher: Auch die anderen Bibliotheken weiten ihre Öffnungszeiten ständig aus. Obwohl mancherorts auch Grenzen absehbar sind. Marianne Dörr, Direktorin der Universitätsbibliothek Tübingen. Take 10: (Marianne Dörr) "Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Bibliothek als Arbeitsort ungeheuer nachgefragt ist. Das sind unsere Öffnungszeiten, acht bis vierundzwanzig Uhr, für Samstag/Sonntag jetzt zehn bis zweiundzwanzig Uhr. Wir betreiben die Öffnungszeiten mit Studiengebühren, das heißt, sie sind einer gewissen Bedrohung unterzogen, weil die Studiengebühren dermaßen einbrechen. Das ist landesweit." Sprecherin: In der Berliner Humboldt-Universität ist die neue Bibliothek während der Woche von morgens um acht bis Mitternacht geöffnet. An den Wochenenden können die Studenten von zehn bis achtzehn Uhr am universitären Schreibtisch sitzen. Kurz vor Mitternacht sind oft noch 200 Besucher im Lesesaal, den sie dann bald verlassen müssen. Ein respektables Angebot, das demnächst erweitert werden soll. Musikakzent Sprecher: Neue Zentralbibliotheken werden bundesweit gebaut. Oft zielen sie auch auf Außenwirkung, als sichtbares Zeichen eines neuen universitären Selbstbewusstseins. Stararchitekten werden verpflichtet, spektakuläre Häuser zu bauen, die als Aushängeschild und Herzstück der Alma Mater dienen können. Ein Festival großer Architektur: in Dresden hat Hans Kollhoff gebaut, in Cottbus Herzog und de Meuron, und in Berlin wurden neue Bibliotheken von Max Dudler und Lord Norman Foster entworfen. Cornelia Vonhof von der Hochschule der Medien in Stuttgart. Take 11: (Cornelia Vonhof) "Zum einen sind sicher diese spektakulären Neubauten einfach ein Ausdruck dafür, dass solche Bibliotheken es Wert sind, solche Bauten zu bekommen. Und damit natürlich auch eine Wahrnehmung in der Bevölkerung erst einmal kriegen, also einfach die Aufmerksamkeit, es gibt diese Bibliotheken, auch wenn es erst mal nur die äußere Hülle ist, die da wahrgenommen wird. Und das Zweite passiert dann, wenn diese Einrichtungen von den Nutzern in Beschlag genommen werden. Und dann ist mein Eindruck, dass da dieser, ja manchmal sehr hehre Anspruch der Architektur dann sehr schnell auch verschwindet und sehr lebendig wird, weil einfach die Menschen mit den Füssen abstimmen und diese Einrichtungen besetzen, übernehmen und dort sich aufhalten." Sprecherin: Beispiel Berlin. In der Hauptstadt haben in den letzten Jahren alle vier großen Universitäten neue Zentralbibliotheken bekommen. 2004 machten die Technische Universität und die Universität der Künste den Anfang. Sie bauten gemeinsam zwischen Campus und Tiergarten eine neues Haus. Die Volkswagen-Bibliothek trägt den Namen des Hauptsponsors. Es gibt 650 Leseplätzen und gut drei Millionen Medien. Jetzt stehen angehende Mathematiker mit Künstlern und Architekten gemeinsam zwischen den Bücherregalen. Mit zwei Hörsälen, Gruppenarbeitsplätzen und einer Cafeteria will die neue Bibliothek auch ein sozialer Treffunkt sein. Seit Dezember 2009 gibt es einen Eltern-Kind-Raum, damit auch junge Väter und Mütter das Studium besser bewältigen können. Sprecher: Auch in Berlin-Dahlem punktet die Freie Universität mit einem Neubau. Architekt ist der Brite Lord Norman Foster, der den Berliner Reichstag mit seiner gläsernen Kuppel neu gestalten durfte. In Dahlem wurden elf Institutsbibliotheken zusammengefasst und neu sortiert. 2005 konnte die neue Zentralbibliothek eröffnet werden. Zeitgleich wurde die Rostlaube, das geisteswissenschaftliche Zentrum der Universität, saniert. Ein typischer Bau aus den 70er-Jahren, ein modulares Geflecht aus Hörsälen, Seminar- und Aufenthaltsräumen mit kleinen begrünten Innenhöfen. Foster hat einfach einige Module herausgenommen, um Platz für seinen Bibliotheksneubau zu gewinnen. Take 12: (Norman Foster) "How do you seek to design the ideal library? ... ... for contemplation, for privacy and for community." Over-voice: "Wie findet man die ideale Form für einer Bibliothek? Schon in der frühen Entwurfsphase erhielt der Bau den Spitznamen the Berlin Brain, das Berliner Gehirn. Bei jeder Suche nach einem Ideal wird die gesamte rationale und intellektuelle Kraft mit spirituellen und emotionalen Werten verwoben. Das Rationale und das Geistige fließen in dieses Ideal mit ein. Es entsteht etwas, das einerseits ideal für Bücher ist, die ja buchstäblich das Herz dieses Projekts bilden, es ist aber auch ideal für all jene, die den Zugang zu Informationen, Kontemplation, Ruhe und Gemeinschaft suchen." Sprecher: Die Studenten kommen gern hierher. Nicht nur Geisteswissenschaftler, auch Hörer anderer Fakultäten, weil sich an den 650 Arbeitsplätzen entspannt lesen und lernen lässt. Sprecherin: Auch die neue Zentralbibliothek der Berliner Humboldt-Universität ist ein anspruchsvolles Gebäude. Entlang der S-Bahngleise, zwischen Bahnhof Friedrichstraße und der Museumsinsel, steht der monumentale Block mit der gerasterten Fensterfront. Der Schweizer Architekt Max Dudler hat den Neubau entworfen. Kritiker loben die kompromisslose Formensprache, den opulenten Minimalismus. Nicht nur die Fassade, auch der terrassenförmige Lesesaal folgt einem strengen Raster, dem sich selbst Tische und Stühle gehorsam unterordnen. Max Dudler hat bei Oswald Matthias Ungers gelernt, dem Altmeister des Quadrats, das für ihn zum Maß aller Dinge wurde. Im Lesesaal finden 1250 Studenten Platz. In der Freihandbibliothek stehen eineinhalb Millionen Bücher, eine weitere Million steckt in den Archiven. Zur Eröffnung der Bibliothek hielt der Schweizer Germanist Peter von Matt einen Eröffnungsvortrag. Er betrachtete Tradition und Gegenwart der großen wissenschaftlichen Bibliotheken. Zitator: "Ist die große Bibliothek, die nach einem anerkannten Gesetz alle zehn Jahre aus allen Nähten kracht, ist die große Bibliothek als die Akkumulation aller erreichbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht die Rückverwandlung der Wahrheit als Prozess in die Wahrheit als Besitz? Gelangen hier nicht die Mühen der Forschung in die Ruhe einer gelassenen Gegenwart? Gibt es denn ein schöneres Bild für den Frieden unter den Menschen als den Lesesaal einer großen Bibliothek, wo das Schweigen kultischen Charakter gewinnt, dem rituellen Verstummen der Karthäuser und Trappisten verwandt? Und wo man doch gleichzeitig erlebt, dass der Mensch auch in der größten Versenkung noch ein hörbares Wesen bleibt. Wie uns die nächtlich raspelnde Maus förmlich in den Ohren dröhnt, so begrenzt der Mausklick, das emblematische Geräusch unserer Zivilisation, die Ruhe der heutigen Bibliothek." Sprecher: Die modernen Bibliotheken verleihen nicht nur Bücher. Sie sind vor allem auch Arbeitsbibliotheken und stellen ganz unterschiedliche Arbeitsplätze bereit, die heute von den Studenten benötigt werden. Norbert Horn, technischer Leiter der neuen Ehrenhofbibliothek im Mannheimer Schloss. Take 13: (Norbert Horn) "Es genügt nicht mehr der eine große Lesesaal, in dem alles Schulter an Schulter in Reihen hintereinander sitzt, sondern das hat sich doch schon sehr gewandelt, das Bild. Das beginnt schon in den Eingangsbereichen mit diesen Zonen der Kataloginformation, dann haben wir sehr viele Multimedia-Tische ausgestattet. Es gibt Zweier-, Vierer-, Sechsertische, auf den Galerien sind Einzelarbeitsplätze untergebracht, bis hin zu einigen Carrels, die wir aufgebaut haben, also abschließbare Kabinen, die man sozusagen mieten kann semesterweise." Sprecher: Darüber hinaus hat Mannheim eine bequem möblierte Lese-Lounge. Dort können die Studenten Zeitungen und Zeitschriften lesen, und im Sommer öffnet die Leseterrasse über dem historischen Treppenhaus mit Blick über das Planquadrat der Stadt. Musikakzent Sprecherin: Kaum ist eine Bibliothek fertig, ist sie schon wieder zu klein. In Karlsruhe haben sich mit dem Neubau die Besucherzahlen vervierfacht, und auch in Mannheim kommen immer mehr Studenten, um in der Bibliothek zu lernen. Norbert Horn. Take 14: (Norbert Horn) "Am Anfang waren wir sehr begrenzt in unseren Möglichkeiten, solche Angebote überhaupt bauen und bieten zu dürfen. Da hieß es oft, auf zwanzig Studierende ein Arbeitsplatz reicht völlig, aber sind jetzt bei zehn angekommen, und es ist immer noch mehr Bedarf." Sprecherin: Die 500 Bibliotheksleseplätze reichen schon längst nicht mehr. Take 15: (Norbert Horn) "Wir machen dann folgendes, wir geben Parkscheiben aus. Wer seinen Arbeitsplatz verlässt legt eine Parkscheibe auf mit der Uhrzeit, und wenn er länger als eine Stunde nicht zurückkommt, dann darf ein anderer den Platz einnehmen. Das ging hier zu wie im Hotel am Swimmingpool, man hat sich morgens erst einmal einen Bibliotheksarbeitsplatz belegt und dann war man unterwegs. Und da mussten wir ja gegenwirken." Sprecherin: In den neuen Zentralbibliotheken erinnert nichts mehr an verstaubte Büchersäle mit Kartotheken und handbeschriebenen Meldezetteln, mit denen die Bibliothekare in den Tiefen des Archivs verschwinden. Heute werden die Bücher elektronisch verliehen. Modernste Technik hilft den Bibliotheksalltag zu organisieren. Herbert Kirsten. Take 16: (Herbert Kirsten) "Wir haben kein Personal bei der Ausleihe, das geht automatisch, dann sind wir Freihandbibliothek geworden, wir haben also weitgehend Selbstbedienung. Heute stehen wesentliche Teile der Literatur in den Lesesälen. Der Benutzer geht selber ans Regal und bedient sich, leiht selbstständig aus, da sparen Sie schon eine Menge Leute." Sprecher: Kollege Automat ist stets zu Diensten. Ein virtuelles Raumleitsystem führt die Studenten zu den gewünschten Büchern. Hocheffiziente Ausleihsysteme stehen zur Verfügung. Funk und Radartechnik kommen zum Einsatz. Transporttechnik, die ursprünglich für den Einzelhandel entwickelt wurde, hat die Ausleihe der Bücher revolutioniert. Herbert Kirsten steht mit ein paar Büchern in der Karlsruher Bibliothek vor einem Rückgabeautomaten. Take 17: (Herbert Kirsten) "Sie legen einfach ein Buch aufs Band und dann wird der RFID gelesen, und wenn das Buch als Eigentum der Bibliothek erkannt wird, wird es entgegengenommen. Wenn das Buch nicht als Eigentum erkannt wird, läuft das Band rückwärts. - Automatengeräusche. Also wenn Sie das als Müllschlucker benutzen, dann kriegen Sie das wieder vor die Füße geworfen. Und wenn Sie ihre Bücher zurückgegeben haben, dann drücken Sie auf Quittung, wie beim Flaschenautomaten auch, und dann kriegen Sie hier ihre Rückgabe quittiert und die Sache ist erledigt. Angeschlossen an den Automaten ist eine Sortiereinheit, die die Bücher auf die Stadtorte sortiert, wo sie dann später wieder eingestellt werden können." Musikakzent Sprecherin: In früheren Zeiten waren Bibliotheken nicht nur Orte des Wissens, sie dienten auch der Repräsentation, sie kündeten von der Bildung und dem Geschmack ihrer klerikalen oder adligen Besitzer. Es waren prächtig ausgestattete Orte, die eher einem Museum als einer Forschungsstätte glichen. Manchmal wurden sie auch zu Weihestätten: Im Frühjahr 1826 ließ der Bürgermeister aus Weimar auf dem Jacobs-Friedhof nach Schillers Gebeinen suchen. Es wurden verschiedene Schädel mit der vorhandenen Totenmaske verglichen, um das Original zu finden. Großherzog Karl August hatte die skurrile Idee, Schillers Schädel in der Fürstlichen Bibliothek zu Weimar in ein besonderes, anständig eingerichtetes Behältnis zu stecken. Die Knochen wurden im Sockel einer lebengroßen Marmorbüste des Dichters deponiert. So sollte Schiller geehrt werden, und natürlich sollte der tote Dichter auch der herzoglichen Bibliothek, Glanz und Bedeutung verleihen. Sprecher: Vielleicht hatte Peter von Matt auch solche Zustände vor Augen, als er in seinem Vortrag zur Eröffnung der neuen Humboldt-Bibliothek schrieb. Zitator: "Die Bibliothek ist nicht einfach das Arsenal der Einsichten, die die Menschheit in endloser Mühe gewonnen hat, sondern auch ein ungeheures Museum des Unsinns und der Absurditäten. Schon Lessing hat den Irrtum in die Wahrheit als Prozess integriert. Und diesem Irrtum sind denn auch keine Grenzen gesetzt, sodass er sich, wird er im Nachhinein erkannt, oft genug nicht nur als falsch, sondern als blanke Narrheit entdeckt. Aber im gütigen Schoß der großen Bibliothek bleibt auch aufbewahrt, was eine Schellenkappe trägt. Der Tempel der Weisheit ist zugleich ein Ship of fools, ein Narrenschiff." Sprecherin: Die alte Weimarer Fürstenbibliothek ist heute eine moderne Forschungsbibliothek. 2005 kam ein großzügiger Erweiterungsbau hinzu, mit einem spektakulären Lesesaal und einem Archiv, das unter einem Platz und der Straße liegt, die das neue Studienzentrum mit dem barocken Altbau verbindet, der den Namen der Fürstin Anna Amalia trägt. Sprecher: Nach dem verheerenden Brand 2004 wurden 50.000 Folianten ein Fall für die Restauratoren. Um die Bibliothek zu erhalten, mussten verlorengegangene Bücher neu gekauft oder ersteigert werden, sofern das überhaupt möglich war. 2007 wurde die restaurierte Bibliothek wiedereröffnet. Der barocke Lesesaal ist ein Highlight für Weimar-Besucher. Sprecherin: Im Neubau der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main erscheint die Historie in Gestalt einer barocken Bücherwand. Die antiquarischen Kostbarkeiten werden im zweistöckigen Lesesaal ausgestellt. Der Rest ist High-Tech und Glas. In Frankfurt wird das deutsche Schrifttum gesammelt. Auf 30.000 Quadratmetern lagert alles, was seit 1945 in deutscher Sprache erschienen ist. In Frankfurt wurde das Bild vom Gedächtnis der Nation durch schon vor Jahren durch ein zeitgemäßes Image ersetzt. Der damalige Generaldirektor Klaus-Dieter Lehmann sprach vom Knoten einer globalen virtuellen Bibliothek. Seitdem gibt es den Katalog nur noch als elektronische Datenbank. So lässt sich kreuz und quer in den Beständen der Bibliothek recherchieren. Und nicht nur das, über das Projekt Gabriel wurden die Kataloge von 35 europäischen Bibliotheken mit Frankfurt vernetzt. Wer vor Ort nicht fündig wird, hat vielleicht Glück in London, Paris oder Helsinki. Recherchieren lässt sich auch zuhause, nur noch zum Lesen wird die Bibliothek betreten. Musikakzent Sprecher: Schaffen die Bibliotheken den Spagat zwischen technischem Fortschritt und Tradition? Irgendwo zwischen Klosterzelle und medialem Rummelplatz müssen sie ihren Platz neu finden. Beispiel Tübingen. Die Universität gehört zu den traditionsreichsten der Republik. Hier ist im Laufe der Zeit eine ganze Bibliothekslandschaft entstanden. Es gibt 34.000 Nutzer. Im Hauptgebäude, einem traditionsreichen Bau des Architekten Paul Bonatz, werden heute die Altbestände und Handschriften verwahrt. Gleich nebenan wurde eine alte Waschhalle als Zeitschriftenmagazin umfunktioniert, und zwei Häuser weiter gibt es ein Multimedialabor. Take 19: (Marianne Dörr) Musik "Das sind Filme, die die Mediziner hergestellt haben, und die haben einen Übungsraum, in dem Plastikköpfe stehen. Die Studenten können an den Plastikköpfen arbeiten und können sich eben nebenbei dann am Rechner diese Lehrfilme anschauen." Musik. Sprecherin: Die unangenehmen Bohrgeräusche werden musikalisch überdeckt. Doch auch so ist der Lehrfilm nichts für zarte Gemüter, die um Zahnarztstühle einen Bogen machen. In Tübingen ist aus einem traditionellen Lehrfilm ein praktisches Arbeitsmodul geworden, das sich jeder Student beliebig oft auf seinem PC laden kann. Die Zahnheilkunde ist nur ein Bespiel, auch Sprachwissenschaftler nutzen die neue Technik, um ihr Mittelhochdeutsch effektiv zu vermitteln. Sprecher: In Tübingen geht es nicht um eine neue Zentralbibliothek, hier wird im weit größeren Maßstab die Zukunft erprobt. Seit 2009 kooperiert die Universitätsbibliothek mit ganz unterschiedliche Abteilungen der Universität und deren Dienstleistungsangeboten. Demnächst sollen sie alle über eine gemeinsame Internet-Plattform abrufbar sein. Marianne Dörr, Direktorin der Universitätsbibliothek Tübingen. Take 20: (Marianne Dörr) "Ich sehe das als eine Aufgabe, eben eine übergreifende Informationsinfrastruktur zu schaffen, in der auch in den E- Learning-Plattformen das Angebot sofort zugänglich ist und vernetzt ist, das heißt wir wollen unsere Informationsangebote und Dienstleistungen integriert und barrierefrei zugänglich machen. Wir sind an der Vernetzung mit der Veranstaltungsverwaltung, also dem Campus-Management, und wir planen eben in einem neuen Projekt eine Plattform für Wissenschaftler und stellen uns vor, dass es fließende Übergänge gibt. Das heißt in den Studiengängen, gerade jetzt in den Master-Studiengängen, wird auch schon geforscht, die sollten Zugriff haben auf die Funktionalitäten, die auch Wissenschaftler haben." Sprecherin: Ganz unversehens ist man plötzlich wieder bei Humboldt gelandet. Mit der digitalen Vernetzung könnte seine Forderung nach der Einheit von Forschung und Lehre auf einer neuen Ebene eine Renaissance erleben. Die Bibliotheken stehen im Fokus dieser Entwicklung. Dabei wird sich vieles durch die neue Technik verändern, auch darauf hat Peter von Matt in seinem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität hingewiesen. Zitator: "Die Digitalisierung macht es möglich, dass die Bibliothek von Alexandria auf einem Fingernagel Platz fände. Damit entsteht ein neues Untergangsphantasma. Wenn einmal die ganze schriftliche Überlieferung der Menschheit auf einem einzigen Superspeicher versammelt wäre, dann würde der Mausklick denkbar, der alles in einer Sekunde löscht. Selbst die Handbücher wären dann weg, mit deren Hilfe man das Verlorene wiederherstellen könnte. Vorderhand ist allerdings die digitale Speicherung einer Bibliothek auf die Dauer noch unvergleichlich teurer als das vielgeschmähte und doch so wundersame Papier. Zwar ist von Verfahren der digitalen Speicherung, welche die Dauer wenigstens des Papiers erreichen sollen, immer wieder die Rede, aber vorderhand durchweg im Konjunktiv. Dass sie es eines Tages sogar zur Beständigkeit der assyrischen Tontäfelchen bringen könnten, die nach viertausend Jahren noch so frisch sind wie am Tag, als sie aus dem Brennofen kamen, bleibt eine utopische Spekulation unserer Zivilisation." Sprecher: Die Digitalisierung schreitet fort, dennoch boomen die Bibliotheken. Tagtäglich stimmen die Benutzer mit den Füßen ab, denn am Ende bleiben Lernen und Lehren ein kommunikativer Akt. Und so sind aus den neuen Zentralbibliotheken moderne Dienstleistungszentren mit einer sozialen Funktion geworden. Sie werden als Kommunikationszentren und als Lernorte gebraucht. Sprecherin: Die neuen Bibliotheken stehen Humboldts Wissenschaftsideal nicht im Weg, auch wenn sie ein Ergebnis des technischen Fortschritts und veränderter Studienbedingungen sind. Jedenfalls dann, wenn die Rationalisierung bei der Ausleihe und die großzügigen Öffnungszeiten auch der Bildung dienen, und nicht nur Teil von verschulten Studiengängen sind, die Studenten in kürzester Zeit durch die Universitäten schleusen. Es sind Orte, die Wilhelm von Humboldt gefallen könnten, der Bildung durch Wissenschaft gefordert hat. Literatur: Jürgen Kaube (Hg.): Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen in der Wissenspolitik. Berlin (Wagenbach Verlag) 2009 Annette Seemann: Die Geschichte der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Frankfurt am Main (Insel Verlag) 2007 1