DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Das Feature "...daß der menschliche Schlüssel zur Welt der Mensch ist." Stimmen zu einer Erzählung von Irmtraud Morgner. Von Christine Nagel Wiederholung vom 22. August 2008 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 26. Juni 2015, 20.10 - 21.00 Uhr O-Ton Morgner 0, (0`59) Je älter ich werde, desto unreiner erscheinen mir die anderen Künste. Als die unreinste, undeutlichste, empfinde ich meine Kunst: Literatur. Ich beneide die Musikkomponisten. Ich bin längst wieder zur Überzeugung meiner Kindheit zurückgekehrt, dass große Nachrichten über die Geheimnisse der Welt nur in der Musik zu gewinnen sind. (Die Abstraktheit der Musiksprache ist den Ahnungen der Weisheit zuträglicher, als die unausweichlich mit naturalistischem Ballast beladene Literatursprache.) Wortkomponisten werden von ihrem Material schon vom Unsagbaren und also einzig Interessanten sehr entfernt gehalten. Ich bin eine Wortkomponistin, ich muß mich damit abfinden. Musik Drauf: Ansage: ...dass der menschliche Schlüssel zur Welt der Mensch ist. Stimmen zu einer Erzählung von Irmtraud Morgner. Sprecherin: Geboren in Chemnitz. 1933. Vater: Lokomotivführer. Mutter: Hausfrau. Über die Eltern: Schöpferisches als Selbsthelfer-Art. Keine Bücher im Haus. Bei Kriegsende schien ihr, dass die Welt auf dem Kopf stünde. Das sichere Gefühl: das war der letzte Krieg. 1945 landet ein Koffer im Haus: Reclamhefte. Goethes Faust. Ungeheure Worte. Ahnung: Das gibt`s auch. Irmtraud Morgners letzter vollendeter Text, im Alter von 51 Jahren, 6 Jahre vor ihrem Tod: Erzählerin: Der Schöne und das Tier. Siebte Fundsache. (Erzählung von Irmtraud Morgner.) Natürlich sind weibliche Trobadore aus der Mode. Bevor sie je in ihr waren. Guten Morgen, Du Schöner, für den ich nun schreibe. In der Ausnüchterungszelle. Wo die Tagesordnung hängt, zu der übergangen werden soll. Die neue: der alte Hut. Mir ist so kalt ums Hirn. Schmerzensschreie gehören heute zum guten Ton oder zu einem, an den man sich gewöhnt hat. Freudenschreie erwecken mitunter selbst von den Toten. Ihnen fühlte ich mich zugehörig, obgleich der gegenwärtige Weltzustand mich ausgetrieben hatte. Ich konnte unter der Erde keine Ruhe finde. Über ihr war ich noch unbehauster. Ich, Beatriz de Dia, gestorbene Comtesse und Trobadora, auferstandene Sirene ohne Stimme, nicht tot also und nicht lebendig: Wer oder was ist weniger? O-Ton Morgner 4 (1`10) Wenn man sich etwas Größeres vornehmen will, als Einzelperson oder als Gesellschaft oder als Schicht oder als Art, kann man den Beistand der Geschichte nicht entbehren. (...) Was z.B. die weiblichen Figuren der Geschichte betrifft, so sind die sehr dünn gesät, jedenfalls in der geschriebenen Geschichte, in dem, was aufgeschrieben ist. Und es ist für mich jedenfalls ermutigend, dass es neben solchen großen, also legendären Gestalten, wo die Phantasie und das Wunschdenken und die Träume von Menschen gearbeitet haben, z.B. wie die Faust-Gestalt, dass also viele männliche solche Gestalten gibt, dass es aber sehr wenige weibliche Gestalten gibt. Solche Grenzüberschreiter, die das Mögliche von übermorgen dachten, und danach handelten, und die also zu ihren Zeiten als Ketzer verschrien wurden, und später als Weise gelobt wurden. (.... ) Die wieder auszugraben, das ist nicht nur so eine Liebhaberei, sondern das ist Beistand. Sprecherin: Fundsache aus den Archiven. Interviews und Lesungen von Irmtraud Morgner. 1984 stellt sie "ihre Schallplatten" vor: Musik: Beatriz de Dia kurze Sequenz frei, dann drauf: O-Ton Morgner 2 (1`22) Seit etwa 15 Jahren begleitet mich ein Lied. Mehr oder weniger dringend, bedrängend. Geschrieben hat es ein provoncalischer Troubadour des 12. Jahrhunderts. Aber weiblichen Geschlechts. Ich begegnete dem Lied zuerst ohne Musik. Der Text der mittelalterlichen Dichterin Comtesse de Dia befähigte mich jäh zur Verwunderung über die Tatsache, dass es heute nicht viel mehr weibliche Troubadoure gibt als vor 800 Jahren. Und er verwickelte mich in ein Romanunternehmen, das sich zur Trilogie auswuchs. Zum Mittelpunkt meiner Salman-Trilogie, von der bisher 2 Bände abgeschlossen sind, setzte sich Troubadora Beatriz. Unter der folgendenden Sprecherin umspielt die Musik von Gerd Bessler den Text: Ausschnitte aus der geplanten Oper; Trobadora-Motiv (evtl. nur als Flötenmotiv) Sprecherin: Beatriz de Dia wird Irmtraud Morgners weiblicher Faust. Und, wie die wirkliche Trobadora, eine Frau, die ihrer Zeit voraus ist. Die beiden ersten Bände der Trilogie werden sehr bekannt. In Ost und West. Den Begriff Feministin mag Irmtraud Morgner für sich nicht. Sie schreibt über ein Epochen-Problem, ein Menschheits-Problem. Ab Mitte der 60er Jahre wird das "hierarchisch-ausbeuterische" Verhältnis zwischen den Geschlechtern infrage gestellt. Morgner setzt Marx`sches Denken in Literatur um. Sie siedelt die Beschreibung des Vorgangs in der DDR an. Der erste Schritt bei historischen Vorgängen ist die Änderung der ökonomischen Bedingungen. Das garantiert die DDR. Die Verbündeten für das Nahziel: Rechte der Frauen, sind die Arbeiter. 1975 ist Irmtraud Morgner davon überzeugt. Sie schreibt: Die Leben und Abenteuer der Beatriz de Dia: Die Trobadora erwacht aus 800-jährigem Schlaf und kommt ins Paris von 1968. Der erste Band endet mit ihrem Sturz aus einem Fenster in Ost-Berlin. Sie hat mit Laura, der Triebwagenfahrerin erlebt, wie das Leben von Mann und Frau in der DDR real aussieht. Eine optimistische Bilanz. 1984: Amanda. Die Trobadora trägt diesmal Sirenen-Kostüm. Es fehlt ihr die Zunge zum Sprechen. Sie teilt sich in Laura und Amanda. Laura ist nachts Triebwagenfahrerin und tags Mutter; Amanda die mundtote Brocken-Hexe, die mit anderen eingeschlossenen Seelen dem Oberteufel Kolbuk dient. Die Zeit ist eine von Atomraketen und Umweltzerstörung. "Wir stehen vor der täglichen Katastrophe" Wenn sich erhebliche Veränderungen abzeichnen, ängstigen sich die Menschen. Spät-Mittelalter und Gegenwart ähneln sich: Wie Hieronymus Bosch bannt Irmtraud Morgner die Ängste der Zeit in Bilder und holt die alten Figuren hervor. Auch Faust hat die Auseinandersetzung mit der Zauberei nicht gescheut. O-Ton Bussmann 1, (1`53) Irmtraud Morgner hat von ungefähr 1984 an der Konzeption eines neuen Bandes gearbeitet der Trilogie, also der 3.Band wäre das geworden - sie hat vorher schon lange an diesem Band herumgedacht bis 84 und hat dann 1984 eigentlich alles, was sie geschrieben hatte bis da verworfen, d.h., sie hat die Manuskripte, die Notizen zusammengebunden mit einer Schnur, das war ein ansehnlicher Stapel, und diesen Stapel nicht mehr geöffnet bis zu ihrem Tod. Sie hat 1984 neu begonnen, und alles was, oder fast alles, was in den 3.Band tatsächlich einging in das "Heroische Testament", ist aus dieser Zeit. Der erste Text, den sie da schrieb, ist "Der Schöne und das Tier": Das ist wie ein Neuansatz. Wie ein fulminanter Neuansatz. Sie hat im April 84 das Material auf die eben beschriebene Weise weggeschlossen, nicht mehr angerührt, hat dann eine Reise gemacht im Mai, in die Schweiz, ist zurück nach Berlin, und hat zwischen Mai und September diesen Text geschrieben. Das ist eine sehr kurze Zeit, gerade für sie. Sie hat oft nicht monatelang, sondern jahrelang, Texte irgendwo behalten in einem halbfertigen Zustand oder im Zustand von Notizen. (...) Und hat ihn wohl dann im September 1984 abgeschlossen, getippt, das war immer ihre letzte Form, getippt in verschiedenen Durchschlägen, und ihn dann auch nicht mehr verändert. O-Ton Morgner, 02/01, 43:14 43:45 (0`30) Literatur ist was für Leute in einem Zustand, die Kreativität wünschen, d.h., die wünschen, angeregt durch das Buch, in ihrem Leben zu blättern, ihr Leben zu lesen, ihre Erfahrung neu zu durchdenken, angeregt, einen anderen Blick auf ihr eigenes Leben zu gewinnen. D.h. also Leute, die langsam lesen, wo es nicht darum geht, Seiten zu machen, sondern, wo es darum geht, zu sinnen. Erzählerin: Guten Tag und ich kann Dir meine Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere - die mir halt wehe tut, ein gewisses Sehnen, das nie befriedigt wird, folglich nie aufhört, immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst, es ist leicht, das Leben zur Hölle zu machen, wenn man es mit Gewalt zum Paradies machen will. In Tübingen muß sich eine Frau gesagt haben: Wenn schon zu dieser uralten Tagesordnung übergehen, dann gründlich. Und schnitt sich einen Mann aus den Rippen. O-Ton Iain (1`00) Ich erkenne in dem Text unheimlich viel des Diskurses der 80er Jahre, als ich mich sehr intensiv mit dem Feminismus beschäftigte, bzw. auch ein Mann war in der Umgebung sehr intensiv, den Feminismus sehr intensiv lebenden Frauen, die meine Identität sehr sehr stark infrage stellten. Ich erkenne das ganze Milieu wieder. Insofern finde ich auch, was die Struktur des Textes betrifft, ganz interessant, was die Idee des Wiederauftauchens betrifft, dieser Ideen. Das ist ja nicht nur anhand meiner Autobiographie abzulesen, dass viele dieser Ideen untergegangen sind, und auch, dass Irmtraud Morgner sozusagen als Märchentante der DDR bezeichnet wird, oder seit vielen Jahren, wenn in Wirklichkeit für mich jetzt erkennbar, einen sehr realistischen und sehr in die Tiefe der menschlichen Beziehungen gehenden Text geschrieben hat. O-Ton Morgner 6, (0`19) Sich wehren, heißt immer auch: sich was herausnehmen. (15.) Die Frau aus der Rippe: Garant unserer Gegenwart. Der Mann aus der Rippe: Eine Hoffnung auf Zukunft. Erzählerin: Aber Tübingen war weit und eine solche Frau unvorstellbar, und die Provence lag hinter sieben Bergen, guten Abend, dachte ich, was suchst du in diesem hässlichen Viertel dieser hässlichen Stadt, gute Nacht, du Schöner, und dumme Frage hier, dumme sowie zweideutige Frage bei eindeutigen Angeboten ringsum, guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht, was hat Raimbaut hier zu suchen? O-Ton Morgner x,(track 1, 2.Teil), (0`25) Die kurze Vita überliefert, dass Beatriz de Dia die Gattin von Herrn de Poitiers war, eine schöne und edle Dame. Sie verliebte sich in Herrn Raimbaut d`Arenga und dichtete auf ihn viele schöne und gute Lieder, von denen wenige in Sammlungen altprovencalischer Troubadour-Lyrik nachzulesen sind. Erzählerin: Ich suchte ein Dach, um meine Federn zu trocknen. Bekanntlich tragen Sirenen Federn. Und der Frühlingshimmel 1981 war naß und kalt und für Federvieh eine Zumutung. Für weißes Federvieh insonderheit. In Dreckwolken war mein Federkleid schnell ergraut. Andere standen zum Durchfliegen nicht zur Verfügung. Ratlosigkeit hatte mich in die Luft geworfen. O-Ton Bussmann 4, (0`45) ...daß diese Gesellschaftsbewegungen in ihren Romanen auch irgendwo abgebildet würden und zugunsten der Bewegung, nicht zugunsten des Stillstands, entschieden würde. Sie hat dann in den frühen 80er Jahren gemerkt, dass das nicht geht. Daß diese Bewegungen stecken bleiben. Die Frauenbewegung mit dem ganze Roll-back, das auf sie zugekommen ist: Alternativbewegung, Friedensbewegung, die sind alle ein bisschen eingebrochen oder abgebröckelt oder haben sich verlagert vom großen Fenster der Politik weg in kleinere Kreise und da hat sie gemerkt, sie kann dieses Konzept, im Roman ein Konzept, dessen, was sie schreiben wollte, nicht aufrechterhalten. O-Ton Petra 1, 0`32 Deshalb find ich sie auch als eine der stärksten Frauen-Schriftstellerinnen in der DDR, gleich mit der Entwicklung in der Bundesrepublik, also diese feministische Seite, die nicht so ne kalte feministische Seite, sondern eine liebevolle - die Suche nach der großen Liebe, die Suche nach dem großen Glück und - also auch diese Sehnsucht - diese wahnsinnige Sehnsuchtsstreben, was ich auch von mir kenne, in meinen 80er Jahren, ja? Erzählerin: Über mir Abgashimmel. Unter mir sterbende Wälder. Verzweiflung trieb mich nach Süden. Wo ich gebürtig bin. Von dero Lieblichkeit Provence erhoffte ich die verlorenen Hoffnung: meine Stimme. Sprecherin: Die Einsamkeit auch der Schreibenden. Die Last des Zweifels. Handicap: die geistige Kondition. Morgner erinnert Goethe: Wenn man sich nur im Zugriff vergreift, so ist die ganze Mühe umsonst. Sie hält Zwiesprache mit den Vorbildern. Hat eine Vorliebe zum Schelmenroman des 16.Jahrhunderts. Liebt die strenge Form. Und lässt mit Bildern das utopische Moment erahnen. Studiert hat sie auch bei Ernst Bloch. Experimentum mundi. Die Welt als experimentierende verstehen. Vor-Schein einer besseren Welt. Dahin zielt ihr Schreiben: Zustände zu finden, wo der Mensch zu sich selbst kommen kann. Morgner zitiert Peter Hille, politischer Schriftsteller Anfang des 20.Jahrhunderts: Der Dichter ist das Erzeugnis und der Erzeuger seiner Zeit. Im Sinne der Zukunft. Ein Autor will Welt machen. O-Ton Anika 1, (0`19): Ich finde, es geht gleich ne ganz Welt auf. Der Text hat zwar wenige Seiten Umfang, ist aber sehr sehr umfangreich, inhaltsreich, das ist für mich die Idee einer Utopie, oder einer Welt, in der ein anderes Leben möglich wäre. O-Ton Josephine 1 (0`56) Feministisch ist es schon, aber es ist schön geschrieben, find ich trotzdem, also dieses Versteckte so, grade diese Heute-Damals, find ich total schön an dem Text, weil es eben nicht so auf Plautz ist: was ist mit der Frauenbewegung heute, und wo sind wir, sondern des so durch diese träumerische märchenhafte Art so`n bisschen von ihr da persönlich erzählt wird, wie sie früher gelebt hat und an die Liebe geglaubt hat, und - wie man jetzt eigentlich ein neues Leben irgendwie - es könnte sich sehr geändert haben, aber ihre Stimme ist irgendwie trotzdem nicht da, und die Frauen müssen trotzdem immer nur noch Fleisch-Schau machen, man ist freier geworden in der Sexualität, aber eigentlich kann man trotzdem noch nicht offen reden über bestimmte Sachen - also ihr fehlt ja die Stimme die ganze Zeit beziehungsweise zum Schluß dann nicht aber - . O-Ton Anja (0`41) Es erinnert mich wirklich extrem an meine Mutter, die ne sehr, also vom 1.Eindruck ne sehr starke, präsente und omnipräsente Person war, und gleichzeitig aber auch genau diese Themen, diese Mann-Frau Themen sehr aktuell waren, und unter denen sie auch sehr gelitten hat. Wenn sie sich geäußert hat darüber, dann war`s auf sehr kräftige Art und Weise im Gegensatz zu mir, die ich eben immer als zaghaft und ruhig usw. erst mal wirke oder so. O-Ton Petra 2, (0`53): Ich dachte immer, dass meine Einsamkeit damals wegen der DDR war, und wenn ich det heute sehe, wie viele Single-Frauen rennen rum und vereinsamen auf ne Weise, also, es ist gruselig. Also Männer sicherlich genauso. Oder vielleicht schon wieder fast ins Abseits gestoßene Frauen. Also jetzt Frauen, die vielleicht einen Beruf haben und im Leben stehen, ist nochmal was anderes, aber die jetzt nicht immerzu in der Gesellschaft stehen, sind sehr draußen. Und die Sehnsucht nach nicht nur Anerkennung über Beruf aber eben auch Liebe, diese Liebesbeziehung, die man ja leben will. Und gerade, wenn man jung ist, will man sie leben, und nicht warten, dass man vielleicht irgendwann....man will jetzt leben, det is es doch eigentlich.... Erzählerin: (...) Die Erscheinung traf mich wie ein Messerstich. Mit einem Messer im Kopf oder sonst kann man nicht denken. Erst als ich es weggeworfen hatte, ausgezogen wie einen Dorn und weit von mir geworfen, unters Blech des Autoverkehrs, meldete sich mein Verstand zurück und sagte mir. Raimbaut d`Aurenga war rothaarig. Ich nahm meinen Blick aus den Locken. Von rechts Beschimpfungen. Aber meine Ohren griffen nicht. Wenn sie taub gewesen wären: Wohltat. Erlösung, die ich außerhalb des Bahnhofs gesucht hatte. Außerhalb seines Dachs, das riesig hoch und weit war: ideal, um unter seinem Gestänge sirenische Federn zu trocknen. Schwungfedern trocknen schlecht ungespreizt. Und bei einer Flügelspannweite von zwei Metern bleibt man unter Menschen nur unbemerkt, wenn deren Sinne abgestumpft sind. Wer die Hosen voll hat, parfümiert, dachte ich und rechnete mit der abtötenden Wirkung von aufreizenden Farben, Formen, Tränen, Gerüchen, Geräuschen, Bewegungen auf die Reisenden unter mir. Rechenfehler: ich. Die Reizschwelle meiner Sinne lag weit unter der hier üblichen. Ich war untrainiert. Ich war sesshaft in einem Land, das anders trainiert. O-Ton Morgner 5, (0`41) Also hier besteht eine Reizüberflutung in ungeheurem Maße, und wenn man sich schlecht fühlt, oder leer fühlt oder so was, kann man sich über die Sache hinwegtrösten. Man kann über diese Löcher sich irgendwie hinwegtrösten. Das mag so ganz gut sein, zunächst erst mal, aber man ist nicht gezwungen, da durch zu gehen. Und es ist nicht gut für die Intensität des Erlebens, wenn so viel auf einen einströmt, dann ist eigentlich der Mensch gezwungen zu sagen: das mache ich nicht. Also das mache ich einfach nicht. Die Verführungen sind also groß. O-Ton Josephine 4, (0`30) ... man sagt ja auch immer Globalisierung und so -...man hat so viele Wege, grade wir können ja - also, ganz viele aus meinem Jahrgang waren schon im Ausland oder ham es vor und man spricht dann auch vorher mit anderen Studenten, die ja ein Erasmus-Jahr machen oder irgendwas, und man hat zu viele Möglichkeiten, irgendwo hinzugehen. Und über die ganzen Möglichkeiten, glaub ich, trau`n sich einige gar nicht mehr, irgendwas zu machen, und man bleibt zu Hause vor dem Fernseher, und guckt sich die Welt durch die Röhre irgendwie an, weil man sich nicht mehr entscheiden kann. Erzählerin: (...) Erschöpft floh ich in den Bahnhof. Und gelangte ins Bahnhofsviertel, wo Menschenfleisch live zum Verkauf stand. Ein durchschnittlich angezogener Mann ist vor einer Schminkfassade, die aus Straßenstrich und den Auslagen pornographischer Etablissements gebildet wird, bestenfalls schattenhaft wahrnehmbar. Selbst wenn er mit Jeans auf seinen hübschen Hintern aufmerksam macht. (...) Ich stand begriffsstutzig, Fußtritte. Faustschläge auf den Kopf, die mein Denkvermögen auch nicht anregten. Schließlich wurde ich, um mich ans Umgelegtwerden zu gewöhnen, geschmissen. (...) Ich rappelte mich aus dem Straßendreck, langte nach einer Hand, um mich hochzurichten, In solcher Lage langt man nach allen Händen, die sich einem bieten. Mir bot sich eine einzige: Ich musste nicht wählen. (...) Da Sirenen nur Fänge und Flügel haben, langte ich mit den Flügeln. Mit beiden. Der Herr mit den orangegesteppten Jeans ergriff den rechten Daumenfittich. Als er meine schmutztriefenden Federn mit seinem Taschentuch abputzen wollte, zog er die Wut auf sich. Handgemenge. Beschimpfungen, die alle an mich gerichteten übertrafen, weil sie zusätzlich versuchten, die Ehre abzuschneiden. (....) Ich muß ein ziemlich dummes Gesicht gezeigt haben - Sirenen besitzen bekanntlich Menschengesichter - , aber mein Verteidiger schien auch nicht durchzusehen. (...) Als uns die Flucht gelang, wurde "Leda" hinterhergeschrien. Das Wort traf. Ich fühlte begehrliche Blicke auf meinen Flügeln, in mir Solidarität. Sie erinnerte mich an den wirklichen Raimbaut d`Aurenga, der nicht der Wirklichkeit entsprach. Ich hatte einst auf ihn etliche Kanzonen gedichtet, die nicht überliefert sind. Nur die, in denen theoretische Liebestränen fließen, sind überliefert. Echte lassen sich nicht so handlich zu Versketten auffädeln. Beginn des folgenden O-Tons (Zitat aus dem Morgner-Text) evtl. doppeln mit der Erzählerin: O-Ton Britta 1, (0`55) Also, was ich sehr schön fand, war (...), wie sie diesen Troubadour Raimbaut beschreibt, der war über alle Maßen schön, der war eben "ein friedliches Wesen, das Geduld aufbringen konnte, über sich lachen, verlieren, mit Kindern spielen, zuhören, lieben: nicht nur Männer oder sich, nicht nur sich im andern; sondern den andern; oder sogar den andern in sich." Und das fand ich natürlich: ja, das isses. Für mich ist das Liebe, wenn man eben nicht nur den Spiegel für sich selber braucht, sondern wirklich, den andern eben lassen kann wie er ist, und dann eben nicht nur den andern liebt, sondern vielleicht noch - es wir dann eben auch so schnell so kitschig - aber sozusagen. In dem andern sozusagen den wahren Kern findet, also eben den andern in sich liebt. Nicht nur für die Dinge, die er vordergründig macht, was er für`n Beruf hat, wie er aussieht, oder wie sie aussieht, sondern eben wie er gemeint ist - also, es gibt ja son` andern Satz: lieben heißt, jemand sehen, wie Gott ihn gemeint hat. Erzählerin: (erster Teil gedoppelt mit Britta, s.o.) Denn der wirkliche Trobador Raimbaut, der nicht der Wirklichkeit entsprach, war überallemaßen schön. Ein friedliches Wesen, das Geduld aufbringen konnte, über sich lachen, verlieren, mit Kindern spielen, zuhören, lieben: nicht nur Männer oder sich, nicht nur sich im andern; sondern den andern; oder sogar den andern in sich. Selbst seine eigenen Kinder, neun an der Zahl, behandelte er konsequent als kleine Menschen, nicht als Besitz. Beweisstücke von Potenz oder Schmusgeräte auf Abruf. Er bracht ihnen nicht Wallungen, sondern stete, unerschöpfbare Zuneigung entgegen. O-Ton Petra 0, (0`43): Und dann fand ich noch ganz spannend, wie sie sozusagen den Liebesbegriff, den beschreibt sie ja ich glaube 3x, also auch als Grundlage für Liebe in der Kindheit, also wie man Kindern Liebe entgegenbringen soll, nicht nur als emotionale Schwankung und überdimensional an sich reißen und aber wieder wegstoßen, sondern als gleichbleibende tiefe Empfindung, und ich glaube, Kinder, die das erlebt haben, können sich erst mal, und können dann andere stark lieben, können stark lieben, und det is so diese Flucht und Sucht in und aus Liebesbeziehungen... O-Ton Anika , (1:03): Was an der Idee ganz attraktiv ist, ist, dass man von so einem oberflächlichen oder naiven Bild von Geschlechterkampf einfach wegkommt. Wenn man aus dem Text den Schluß zieht, dass es speziell um Geschlechterspezifisches geht, bei der Suche nach dem, was man wirklich möchte, also sprich, dass das, was einen eigentlich daran hindert, diejenige zu sein, die frei ist, und sie selbst, nur geschlechterspezifische Festlegungen auf ne Rolle sind. Also sprich: würden nur die Männer uns Frauen anders behandeln, anders mit uns umgehen, und uns die Freiheit, die uns gebührt, zugestehen, dann wär das Problem gelöst - das glaub ich, ist nämlich genau nicht der Fall. Es ist leider alles noch schwieriger. Erzählerin: Einmal sprach er im Rittersaal mit ähnlichen Worten beiseite: "Unsereiner wundert sich jetzt schon mal. Aber wir werden uns noch viel mehr wundern. Und noch ganz anders, hoff ich, denn es ist noch kein Ende abzusehen. Uns steht kein langweiliges Leben bevor, wenn die Damen erst tun wollen, was sie tun wollen, nicht, was sie tun sollen. Was werden sie als Menschen sagen über die Männer, nicht als Bilder, die sich die Männer von ihnen gemacht haben? Was wird geschehen, wenn sie äußern, was sie fühlen, nicht was zu fühlen wir von ihnen erwarten? Neulich sagte die Gattin eines Dichters, von Frauen wären keine Liebesgedichte zu lesen. Die Gattin hat recht, nur wenige Damen möchten ihren Ruf dem Geruch der Abnormität preisgeben. Frauen ohne unterdrücktes Liebesleben gelten als krank (nymphoman). Männer solcher Art gelten als gesund (kerngesund). Kann sein, wir werden eines Wintertags nicht mehr in die Influenza flüchten müssen, um mal schwach sein zu dürfen, kann sein, wir gestatten uns eines Tages nicht nur beim Meerrettichessen eine Träne, ach, einmal den Hof gemacht kriegen, öffentlich..." O-Ton Christian 4, (0`18) (er zitiert) "Kann sein, wir werden eines Wintertags nicht mehr in die Influenza flüchten müssen, um mal schwach sein zu dürfen." Das ist ein Bild, was mir als Mann natürlich auch sehr gut gefällt, dieses immer stark sein müssen, immer alles im Griff haben müssen - wobei, Frauen heutzutage genauso - wenn nicht sogar noch mehr... O-Ton Josephine 2 (0`47) Aber, des erleb ich auch mit meinem Partner, dass auch die Männer diese sensible Seite haben, und genauso die Unsicherheiten haben, und sich Sachen erträumen und dann man aber - also ich hab immer so ein bißchen das Gefühl, die Frau ist auch die stärkere Figur heute auch, weil sie auch dem Mann den Mut geben kann, was Eigenes zu sein, oder was Eigenes zu wollen, aus diesem Standardbild, Männlichkeit zeigen oder so, dass er da rauskommen kann, und da sozusagen trotzdem auch Weiblichkeit zeigen kann. Also dieses: nicht Heulen können oder so, das hat man ja ganz oft bei Männern, dass die sich das nicht trauen. O-Ton Anika 2.Teil (ca. 50 sec) Ich hab mich erinnert gefühlt an ein Zitat von Oscar Wilde: in dem es auch darum geht, was in dem Text vorkommt als Zitat von Rimbaut, der sagt: wenn die Frauen doch nur mal machen würden, wie sie wirklich wollen, und nicht wie wir von ihnen erwarten, der sagt: wenn doch die Menschen nur mal endlich das machen würden, was sie wirklich wollen, dann käme ein neuer Schwung und soviel Freudigkeit in die Welt, dass wir wahrscheinlich alle Krankheiten des Mittelalters vergäßen und das hellenische Ideal vielleicht sogar überträfen, aber sein Schlusssatz lautet dann: aber leider hat selbst der Tapferste von uns Angst vor sich selbst. Erzählerin: Ich hatte diese Worte Raimbauts in meinem ersten Leben laut wiederholt, auf dass alle Höflinge sie hören konnten. Da erklärte mein Gemahl Guilhelm von Poitiers meinen Geist für krank, führte mich aus dem Saal und hielt mich fortan in der Kemenate gefangen. Vorm Verdacht der Ketzerei bewahrte mich damals mein Stand. Heute bin ich vogelfrei. Und der Traum vom wirklichen Raimbaut, der nicht der Wirklichkeit entsprach, ist passé, bevor er gelebt werden konnte. Nicht nur die weiblichen Trobadore, sondern auch deren besingenswerte Phänomene sind aus der Mode. Sobald aufkommende Ahnungen Konturen von Weisheit verraten, die sich nicht modisch bagatellisieren lässt, wird direkt zugeschlagen. Mit Gewohnheit. Die meisten Schläger halten eine Trobadora gottlob für ein ständig in sie verliebtes, also schön hysterisches, nicht ernstzunehmendes Frauenzimmer. O-Ton Josephine: (0`17) ...also ich glaube, das hat die Frauenbewegung nämlich viel zuviel gemacht: nämlich, sich selber wegzusperren, und damit sich selbst noch mehr den Stempel aufzudrücken und immer dieses Verrückte, Hysterische, wie auch immer, dann wird man glaube ich gar nicht so ernst genommen. O-Ton Morgner 14: (0`49) Opposition gegen "die Männer" ist platt. Das setzt auch kein historisches Verständnis voraus. Obwohl, ein historisches Verständnis in dieser Sache ungeheuer Kraft kostet. Aber die wird von uns verlangt, und ich würde sagen, zur Weisheit ist sie nötig, obwohl`s schwierig ist. Also einfach Opposition ist leicht, aber Kraft, eine Sache komplett zu verstehen, ist schwierig, und eine Sache historisch verstehen, heißt, sie auch in zeitlicher Langmut zu verstehen, also, dass man nicht zu Kurzschlüssen kommt, und dann zu einem bestimmten roll-back, was zu bemerken ist, und zwar weltweit, und zwar aus ganz unterschiedlichen Positionen her.... Erzählerin: Das hätte mir zu denken geben müssen, als ich meine zweite Stimme suchte. Meine sirenische Stimme, die mir unter Zeitdruck aberwartet wurde, unter ungeheurer Verantwortungslast, gejagt von Rettungspflicht und Heilserwartung wegen dieser drei Tonnen Sprengstoff, die pro Erdenbewohner bevorratet sind. Wenn die Zeit krank ist, wird Heilung in gigantischen Operationen gesucht. O-Ton Morgner 11 (0`18) Das liegt vielleicht daran, dass der Stoff des Buches mit einer bestimmten planetaren Sicht gemacht ist, und dass das einfach dazu gehört - das liegt daran, dass da eine Sirene diese Draufsicht hat auf einen Planeten, und da sieht man einfach die ungeheuren Zerstörungen. Erzählerin: Operationsfeld nicht unter "orbis", das lateinische Wort rief bei mir die Begriffe Erdkugel, bewohnte Erde, Himmelssphäre ab. Meine Muttersprache ist der lateinischen verwandt. Ich hatte ihre Botschaft überhört, die das Wort bringt. O-Ton Josephine, (0`32) Das ist immer so eine Frage, womit ich Freunde schon teilweise richtig zum Weinen gebracht habe, wenn ich sie nur gefragt habe: ja, was willst du eigentlich? Also viele Leute sich gar nicht trauen, darüber nachzudenken, hm ja, was sie wollen - weil man eben so viel mit anderen Dingen beschäftigt ist. Also Schule und dann die Aufgaben erfüllen oder - n` Gruppenzwang erfüllen in irgendeiner Form und - sicher jetzt viele anfangen zu rödeln, jetzt, nach dem Abitur, wo sie hinwollen, und was sie denn jobmäßig machen wollen, aber da auch die Leute teilweise keine Ahnung haben, was sie denn dann vom Leben wollen. O-Ton Britta 2, (0`30) Für mich war dieses Bild total stimmig, dass sie dieses stumme überirdische Wesen ist. Deshalb hatte mich das gar nicht so - in meiner Situation dachte ich so - oh, das ist ja spannend mit der Stimme und so, weil ich ja jetzt eben selber da nicht sprechen konnte - aber vielleicht auch aus dieser Situation, dass ich selber dann 3 Tage nicht gesprochen habe, hab ich gemerkt, wie viel man dann doch sagen kann und so....obwohl ich fand, dass die Stimme eher für was stand, was fehlt. Für was "ganz anders sein" als andere und völlig Rausfallen aus der Gesellschaft. Erzählerin: Ich fühlte einen Arm auf meinem gefiederten Rücken. Ich hörte: Wo wohnst Du Tier? Da ich die Frage nicht beantworten konnte, weil mir auch eine neue Zunge keine Stimme hatte geben können, starrte ich. Auf eine Gestalt, die im Einganz zu einem Travestie-Lokal lehnte. Hochhackige Holzsandalen. Jeans. T-Shirt, dessen Ausschnitte von weiße Trikotstoff knapp umrahmt wurden. Spitzenfächer lachsrosa mit Pailletten, Zinnobermund, schwarzsilberne Rahmen vergrößerten die Augen zu unwiderstehlichen Blickfängen, mittelblonde kurze Herrenfrisur. Ich blieb stehen. Heftige Bewegung des Fächers, bevor er das Gesicht verbarg. Die Enthüllung langsam, wie man einen Vorhang zieht. Im Gegensatz zu Theatervorhängen entblößte der die Inszenierung, indem er sich senkte. Glitzernde Blicke, gefallsuchtabhängig. Als ich merkte, dass sie von mir auf meine Begleiter wechselten und sich dort festbissen, ging ich. Gefällt dir das, Tier? Hörte ich fragen. Die Anrede verstörte ich endlich. Möchtet du mich geschminkt, Tier? Der selbstverständliche Ton der Anrede "Tier" ging über meinen Verstand. Ich versuchte, die Verwirrung mit dem linken Flügel aus meinem Gesicht zu wischen. (..) Gehörst du etwa auch zu den weiblichen Wesen, Tier, bei denen Schweigen oder "nein" "ja" bedeutet, hörte ich und sah, wie der Mann Spiegel und Stifte aus seinen Hosentaschen fingerte. (....) Ich beobachtete, wie er sich bemalte und dabei Fratzen in den Spiegel schnitt. Er malte mit ruhiger Hand. Also nicht besoffen, dachte ich. Also verrückt, dachte ich. Nur einem Verrückten konnte eine Sirene in einer alltäglichen Stadt alltäglich erscheinen. O-Ton Christian 1 (0`56) Was sich für mich durch die Geschichte zieht, dieses Thema des "Nicht-Anecken-Sollens" von der Gesellschaft her, aber eigentlich sein wollen, wie sie ist. Was mich am Ende dann nochmal beschäftigt hat war, dass sie ja verführt wird (...) also sie ja nicht in die Rolle kommt der Verführerin, aber er sie auch erst mal so nimmt wie sie ist, aber auch nur mit dem Außergewöhnlichen und nicht mit der Frau dahinter. (Das ist so das andere Bild, das ich da sehe) dieser Wunsch, immer das andere, das Exotische zu haben, oder zu sein, oder zu kriegen, und nicht zuzulassen, dass es einfach ganz gewöhnlich ist. Es fängt ja am Anfang der Geschichte schon an, wo sie sagt, dass man sich den Tag auch zur Hölle machen kann, oder das Leben, wenn man versucht, es zum Paradies zu machen. Erzählerin: (...) Was, wenn statt Helden auf den Schlachtfeldern der Kriege, der Ehre, des Geistes und der platten Muskelkraft der wirkliche Raimbaut von Orange, der nicht der Wirklichkeit entsprach, Schule gemacht hätte? Die Helden türmten Taten auf, um zu imponieren, immer neue messbare Tate und Untaten, bis zum Abgrund hin, vor dem wir jetzt stehen. (...) Musik Erzählerin: Raimbaut schminkte sich gelegentlich, um mich zu erfreuen. Betörender Anblick. Der Herr befingerte zitternd meine Fittiche, riss dran, umhüllte sich mit ihnen, versuchte sie zu entfalten, indem er ihnen seine Arme hingab, als ob er sich ans Kreuz nageln lassen wollte, klammerte dann meinen Leib und befahl: Flieg, Tier" Obgleich der Herr leichtgewichtig war, hatte ich Startschwierigkeiten. Denn ich war ungeübt in der Beförderung menschlicher Lasten. Schließlich hob ich aber doch ab. In einer ruhigen Nebenstraße. Und ich flog im Smog über der Stadt sieben Runden. Der Mann wälzte im Flugwind den Kopf wie in Kissen. (...) Mitunter streifte ich freilich schon mal eine Wand von diesen Schauderbauten, denn die Lippen waren gepolstert, und die Trinität ihrer Bögen warf sich zyklamrot, und als diese Provokation auch noch aufbrach und Zähne blitzen ließ und Gestammel hören, ging ich im Sturzflug nieder und Schluß. O-Ton Monique 1, (0`27) Ja, das hatte ich so rausgelesen, dass sie diesem femininen Wesen eher doch begegnet, und das ist eben doch dieser Liebhaber, für den Moment. Dass es aber sofort für sie, dass er sie sofort einengt, ..alles nehmen will, die Flügel, das Ganze, und sie ist nicht geübt in der Last menschlicher Bedürfnisse. "Ungeübt in der Beförderung menschlicher Lasten", so hat sie das umschrieben, ja. Erzählerin: Der Herr fiel rücklings in einen Vorgarten. Die Straßenbeleuchtung zeigte sein Gesicht blaß und zufrieden. Als er sich erholt hatte, sagte er: Danke, Tier. (...) Aber nach einer Weile schien ihm tatsächlich einzufallen, dass Fliegen nicht nur als Konsum des Geflogenwerdens lebbar ist. O-Ton Morgner Lesung Er brach jedenfalls in die Büro-Villa ein, zu der der Vorgarten gehörte und wir liebten uns im Keller ein Nacht oder eine Woche. Als ich aus der Raserei erwachte, war ich nackt. Unter mir Papiere, Aktenordner. Rundum Federn. Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht - aber mein Schöner lag nicht in Rosen, sondern in Federn. Schlief noch. (...) Potzmord, schrie ich. Er blinzelte. Weg alle Schminke aus seinem Gesicht, weggeliebt wahrscheinlich und runtergeküßt und wer weiß. Und wie weit runter war ich? Runtergekommen auf den Vogel Federlos? Auf die Frau Mundlos Wer schreit denn da so auf nüchternen Magen", hörte ich klagen. "Ich nicht", schrie ich, "ich bestimmt nicht, auch wenn ich wollte, ich leider ganz bestimmt nicht, find meine Stimme nie und nimmer, hast du schon mal eine Stumme gesehen, die schreien kann?" "Dich", murmelte der Langschläfer. Dann rieb er sich die Augen. Mit den Handballen. Später mit den Fäusten. "Dich", wieder holte er gähnend aber schon deutlich intoniert und wach. Dann hellwach plötzlich. "Dich" schrie der Nackte entsetzt zurück, "aber du bist ja nackt!" Ich konnte es nicht leugnen, besah mich, fand meine Wuchs nicht übel und erkundigte mich, ob die Perversität des Herrn derart spezialisiert wäre, dass ihr der Anblick einer nackten Frau als Greuel erschiene. Der Herr bestritt nachdrücklich, pervers zu sein, räumte allerdings ein, dass er, vor die Wahl gestellt, eine nackte Frau lieben zu dürfen oder ein bekleidete mit Flügeln, sich natürlich für diese bekleidete entschiede. O-Ton Peter (0`42): Für mich ist es eigentlich ne Geschichte, dass, wenn man frisch verliebt ist, und sich kennenlernt, dass man dann danach, sich nochmal kennenlernt, im Prinzip. (...) Also, das kenn ich auch bei mir, dass ich jemanden kennenlerne, und dann so denk, und find den dann so ganz stark und toll, und dann lernt man sich kennen und stellt fest - ah, der ist ja gar nicht so, der ist ja ganz anders. Dann muß man erst mal für sich überlegen, ob einem das gefällt oder nicht. Was da so ist. Erzählerin: "Vernunft", höhnte der Herr und kratzte fort, "Vernunft macht meschugge, wenn man mit einem kleinen Tier ins Bett geht und mit einer großen Frau erwacht. Frauen gibt's wie Sand am Meer, aber schöne weiße wilde Tiere..." Ich biß sofort zu und warf mich so lange auf dem knochigen Leibe herum, bis die Reklamation ein für allemal als ungeheuerliche Verleumdung erwiesen war. Oh wenn ich bedenke, wie lustig und kindisch wir waren und wie ich nun lebe in der Ausnüchterungszelle mit dieser neuen Tagesordnung, dem uralten Hut, freut mich selbst mein Arbeit nicht: Das Buch, das ich für Dich schreibe. O-Ton Petra 3, 1.Teil, (0`40) Er kommt ja plötzlich aus dem Nichts. Das ist das Irre. Und er wirft sich aber sofort auf das Tier - also die Exotik eigentlich auch. Aber, was ist das für ein Typ? Also ein junger Mann, und auch attraktiv, und jemand der, der vielleicht etwas erleben kann mit ihr, was er mit anderen Frauen nicht erleben kann. Sie ist ja auch wirklich erst mal verwundert, also auch nach dem sexuellen Akt, auch danach, ist sie ja auch immer noch verwundert. Erzählerin: Vor Freude verrückt erinnerte ich eine gewisse Meditationstechnik, die das Mittelalter von der Antike ererbt hatte. Von Sokrates her wohl, der den Prozeß der Selbsterkenntnis noch geradewegs aus einer Selbstbeschauung in der Pupille eines Gegenauges hergeleitet haben soll. Pupilla heiß Püppchen. Das kleine Spiegelbild des Augenpüppchens wurde als das Selbst des Menschen angesehen, als seine Seele, sein Mittelpunkt, der als Mikrokosmos mit dem Weltauge des Makrokosmos in strahlungsfähiger Verbindung stünde. O-Ton Bettina (0`47): Für mich ist das eigentlich ein Text über die Utopie der Liebe zwischen Mann und Frau, ne befreite Liebe zwischen Geschlechtern, und darüber hinaus eigentlich noch ne Stufe drüber die Vereinigung mit dem Kosmos, mit dem All, also Mikrokosmos und Makrokosmos. Und das finde ich auch deshalb das Verrückte, dass ein so kurzer Text, so intensiv und dicht so eine Riesen-Problematik da komprimieren kann: die Befreiung der Geschlecht, in einer utopischen Liebesbeziehung - dass der menschliche Schlüssel zur Welt der Mensch ist. Also, du mußt einen Menschen lieben und verstehen, um die Welt verstehen zu können. Erzählerin (...) Augenzauber. Der Sinne Untergang ist der Wahrheit Aufgang. Augenzauber verlangt Starren. Selbst - und weltvergessenes Hinstarren, denn vermag ein Mensch ein Sache - sein Selbst oder die Welt - nicht zu begreifen, so begreift ihn die Sache. Ein Mensch....Ein Mensch vermag oder vermag nicht...War eine gerupfte Sirene ein Mensch? O-Ton Monique 2, (0`29) Wenn man selber keinen Weg festgelegt hat für sich, dann kommt man schnell ins Wankeln und Schwanken, hat also kein Ziel. Und ich glaube, dass von außen schnell Menschen einen dann überfordern können mit den eigenen Zielen, Wünschen...ja, man wird dann einfach unglücklich, weil man vielleicht Dinge von außen annimmt, die aber nicht die eigenen sind... Erzählerin: Ich hatte die Weisheiten meiner Muttersprache, die der lateinischen verwandt ist, vergessen. Ich hatte deren Botschaft überhört, die das Wort bringt. Rettungspflicht und Heilserwartung hatten mein Denken in die gigantischen Größenordnungen getrieben, die politische Weltenlenker gewöhnt sind, weshalb von dem lateinischen Wort "orbis" bei mir nur die Begriffe Erdkugel, bewohnte Erde, Himmelssphäre abgerufen worden waren. Das Wort heiß aber auch Auge. Folgenden O-Ton doppeln mit der dann folgenden Erzählerin: O-Ton Christian 3 (0`28): Ertrinkend in Menschenaugen, begriff mich die Botschaft, dass der menschliche Schlüssel zur Welt der Mensch ist. Es geht um Menschsein und um das, wie man Mensch sein darf....und ich glaube für sie bedeutet Menschsein, so sein zu dürfen, wie sie ist, keine Rolle spielen zu müssen, beziehungsweise auch, die Rolle, die sie spielt, wechseln zu dürfen. Erzählerin: Ertrinkend in Menschenaugen begriff mich die Botschaft, dass der menschliche Schlüssel zur Welt der Mensch ist. Billiger ist sie nicht zu haben oder zu bewahren oder zu retten. Die ganze Menschheit lieben oder glücklich machen. Millionen umschlingen wollen, ist leicht, weil nicht nachprüfbar. Aber einen einzigen Menschen glücklich machen...Nur wer das kann, ist legitimiert und mitunter sogar befähigt, Völkern Ratschläge zu erteilen oder mehr. O-Ton Iain 2, (0`40) Wie offen schauen wir uns gegenseitig an, so es ist der Art von Blick, der hier kultiviert wird, was ja auch offensichtliche eine Frage der Kultur, denn ist aus der griechischen Antiquität herrührenden Meditationsform, die Jahrhunderte sich tradiert hat: ein bestimmter Blick miteinander zu leben, der anscheinend sehr sehr offen, also ungewöhnlich offen ist, ja? Auch auf der Basis einer Verletzbarkeit geschehen muß also, wenn man so offen miteinander ist, dann fürchtet man nichts mehr." O-Ton Morgner, Lesung: "Ich bin ein Mensch", schrie ich und tanzte in den Federn, "Ich bin wieder ein Mensch", schrie ich, "wirklich und wahrhaftig ein Mensch, und wer bist du?" "Die Frau, die mich aus ihren Rippen geschnitten hat, nannte mich Leander. Oder auch Desiré, was soviel heißt wie "der Verlangende"; "der Sehnende" oder auch "der Erwünschte"", hörte ich antworten. (...) "Und was macht mein Erwünschter, wenn er sich keine Federn aus den Locken klaubt?" "Desiré möchte ein Harlekin werden", sagte er. Hohe Stimme. Er sagte: "Desirrré". Das Geschnurr dröhnte mir durch die Rippen wie Baßresonanzen von Rockmusik. Auch erkundigte er sich nach meinem Beruf. "Trobadora passé"", antwortete ich. "Werden Moden beflissen zu Grabe getragen, riecht die schöne Leiche nach Mord. Höchste Zeit, das Beerdigungszeremoniell zu verlassen. O-Ton Morgner 15 (1`53) Ich möchte in diesem Zusammenhang vielleicht doch an Goethe erinnern, der, um die Problematik deutlich zu machen, auch eigentlich alle Schätze der Weltliteratur mobilisiert. Er konnte sich einen menschlichen Menschen homo humanus nur vorstellen, wenn das weibliche und männliche Potential in einer harmonischen Weise sich vereinen. Das ist deutlich in seinem Stück "Pandoras Wiederkehr", wo er - und das ist doch ungeheuer erstaunlich - Abschied nimmt von seiner ihn faszinierenden Figur des Prometheus, die ja dem Fauste verwandt ist, und diesen Prometheus ins Abseits stellt - das ist ja nicht nur ein Mensch, der Ungeheures leistet, und mutig ist, und tatendurstig, es ist ja auch ein kriegerischer. Für ihn ist in der Apotheose Pandora und Epimetheus die Zukunft der Menschheit - Epimetheus, das ist eben das Menschliche am Menschen, das, was ihn vom Tier unterscheidet, dass er nachdenken muß, und Pandora in der griechischen Überlieferung, die ja Goethe ungeheuer faszinierte, war ihm doch nicht möglich, diese patriarchalische Überlieferung zu übernehmen. (...) Für ihn war die Pandora wieder die Allgeberin. Pandora, der Name heißt Allgeberin. Es war nicht, wie in der Überlieferung das Wesen, was alle Finsternisse, Schrecken, Leiden und Krankheiten über die Welt bringt. Sprecherin: Skizze für den geplanten 3. Roman. Irmtraud Morgner hält ein Zitat von Friedrich Hölderlin fest: "Um Fragen zu stellen zum Finden der Wahrheit, muß man Fragen an das Schöne stellen können. In der Welt lesen heißt: in einem Menschen lesen. Denn die Liebe zur Welt hält der Mensch nicht aus, wenn er nicht eine liebende Seele hat. Der Roman ist nicht mehr vollendet worden. Es bleibt die Erzählung. Was Morgners Schreiben im nahezu barocken Großen ausmacht, ist hier kondensiert in Knappheit und Klarheit. Die Sirene hat ihre Stimme wieder, ihr Flügelkleid ist dahin. Hat Morgner die Verkleidung der schreibenden Mahnerin abgelegt? Hat sie die Verletzungen durch Zensur und Stasi hinter sich gelassen? Hat sie sich Ernst Blochs Utopie Hoffnung in die Kunst zurückgeholt? Stoff für eine Oper? Revolutionsoper, buffa und romantische Oper in einem? Erzählerin: "Trobadora passé" - versteh ich nicht", sagte Desire. "Überhaupt nichts versteh ich und noch weniger. Aber so viel schon, dass ich begreif: Ohne deine Flügel kann ich kein Harlekin werden. Und die sind hin." "Wieso hin? Ich liebe dich doch." "Ja", sagte er. "Was heißt hier "ja": Beatriz liebt dich?" "Naja", sagte er. "Was heißt hier "naja": Beatriz de Dia - weißt du überhaupt, wer das ist? "Nein", sagte er, "nur..." "Nur!" Bist du etwas schon mal von einer Trobadora geliebt und besungen worden?" "Neinnein!, sagte er, "aber ohne Flügel..." "Wer eine richtige Trobadora liebt, kriegt welche." "Selber", fragte er und legte sich Fetzen meines sirenischen Federkleids auf die Arme. Die weißen Ärmel brachten sein schmalen Schultern und Hüften und die brünette Haut effektvoll zur Geltung. "Richtig selbst und angewachsen oder bloß mehr so gedacht?" "Ja", antwortete ich. (...) Dann erkundigte er sich, was er außer Fliegen noch lernen müsse, um Harlekin zu werden. "Das Fürchten", sagte ich. "Und", fragte er zerstreut, das heißt konzentriert, auf den Spiegel nämlich, in den hinein er Blicke probiert. "Und Tanzen natürlich", sagte ich." Mit dem Leben und mit dem Tod." O-Ton Petra 3, 2.Teil, (1`10) Und dann kommt ja dieser Satz mit ihren vielen Jahren. Als ob sie`s nicht glauben kann. Und das muß sich schon aus ihrer Lebenserfahrung speisen also. Denn Du findest in deinem Leben also einmal vielleicht nur DEN Richtigen, und da...und des is n`Wunder, ich glaube, des is wirklich ein Wunder. Wenn Du jemand findest, der mit dir dieses Leben auch leben will. Diese Ideen, diese Phantasien, diese...also alles das, was du dir immer wünschst. Daß die Liebe, Sex und Erotik, und Arbeit und Gedankenwelt, dass des alles zusammenpasst. Und det kannst du eigentlich kaum leben. Und ich glaube, det ist eigentlich ihr großer Wunsch, und der fast unlebbare Traum. (Pause) Also Literatur. (sie lacht) O-Ton Morgner 31, (0`44) Man könnte darüber orakeln...ich glaub schon, es hängt damit zusammen, dass die Frauen ne Stimme gewonnen haben, und daß sie sich herausnehmen, in diesem schwierigen Weltzustand das Wort zu ergreifen, ja, das ist es wahrscheinlich, was Ketzerisches zu sagen......Ketzerisch in dem Sinne: wenn wir diese fürchterliche Prüfung sozusagen bestehen wollen, so können wir es nicht machen, ohne an das Mögliche von Übermorgen zu denken. Denn woher sollten wir die Kraft nehmen? Aus der Vergangenheit? Aus der geschriebenen Geschichte? Nein. Also wir können sie eigentlich nur aus der ungeschriebenen Geschichte und aus der Zukunft nehmen. Die Gewissheit, die man ja braucht, als Luft unter die Flügel, damit man nicht verzweifelt. Erzählerin: "Und", fragte er weiter. "Und glaub bloß nicht, dass du als Harlekin erwünschter bist als ich, sobald du einer bist. Auch wenn dir die Rippenschneiderin den Namen Desiré gegeben hat. Eine geniale Ketzerin. Denn wer anders kann wissen: Wird der Ernst so groß, dass die Schmerztränen versiegen, ist höchste Zeit Tränen zu lachen. Harlekin sein ist folglich auch kein Spaß. Falls du also ein Gefährtin passenden Alters suchen solltest: Ich bin achthundertvierundfünfzig Jahre alt und schätze dich auf Mitte dreißig. O-Ton Morgner 32, (0`10) ...und ich finde, der Schwarze Humor, das ist etwas sehr gemäßes für unsere Zeit. Das ist es eigentlich, um sie zu bestehen. Absage 27