Zu den Bedingungen der Postmoderne Wie Jean-François Lyotard die Wissenschaften zu befreien glaubte. Walter van Rossum Autor: Es sieht so aus, als hätte das Wissen in unseren Zeiten seine Unschuld verloren. Die Medizin erfindet Krankheiten, um Medikamente verkaufen zu können, der Text bestimmter genetischer Sequenzen gehört privaten Laboratorien. Überall verkauft sich das universale Wissen an partikulare Interessen. Wir können heute zehn brillante Abhandlungen hervorragender Historiker über die Ursachen des Ersten Weltkrieges lesen, doch jede liefert eine ganz andere Version der Ereignisse. Es besteht auch kaum Anlass zu der Hoffnung, dass jene Historiker sich je auf eine Version einigen könnten. Und wie den Historiker kann man auch andere Wissenschaftler fragen: Was weiß euer Wissen denn eigentlich? Musik: Laurie Anderson, Big science Autor: Im Jahre 1979 erschien in dem Pariser Verlagshaus Edition de Minuit ein schmales Buch, dem eine aufsehenerregende Karriere bevorstand. La condition postmoderne lautet der französische Titel, Das postmoderne Wissen der der deutschen Ausgabe. Verfasser ist ein gewisser Jean-François Lyotard, Professor der Philosophie an einer Pariser Universität. Ein Mann, der in den 60er Jahren einige Bekanntheit als Mitglied der Gruppe "Socialisme ou barbarie - Sozialismus oder Barbarei" erlangt hatte. Die Gruppe hatte für die Positionen eines undogmatischen Sozialismus gekämpft und sich im Streit aufgelöst. Lyotard bekundete danach eine gewisse Dankbarkeit, den Versuchungen der Revolution entkommen zu sein. Der Erfolg seines Buches mag auch damit zu tun haben, dass es einen exemplarischen Bruch mit dem linken Denken vollzog, doch darüber hinaus bot es eine Perspektive an, die fortan unter dem Namen Postmoderne das zeitgenössische Denken durchdringen sollte. Über 30 Jahre später scheinen die Visionen der Postmoderne niemand mehr zu beunruhigen. In gewisser Weise könnte man sogar sagen, Lyotards damals verstörende Hypothesen bieten heute so etwas wie die Rahmenerzählung unseres Geisteslebens. Seine These vom Ende der großen Erzählungen ist die heute maßgebliche Erzählung geworden. Musik: Laurie Anderson, Big science VO: Dtsch: Coo coo it's cold outside. Ist kalt draußen. Autor: Lyotard geht es um die Beschreibung eines Bruchs zwischen Moderne und Postmoderne. Dieser Bruch zeige sich in einem unterschiedlichen Verständnis von Wissen. O-Ton: (Lyotard; 2.10) ce que je veux dire par là VO: Worum es mir geht, ist das Problem der Legitimation seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland, das sind meine beiden Bezugspunkte. Was entscheidet darüber zu sagen, eine Handlung ist richtig oder eine Aussage über einen bestimmten Gegenstand ist wahr? Autor: Die Antwort scheint klar: Diese Aufgabe übernehmen die Wissenschaften. Doch Lyotard fragt nach der Legitimation der Wissenschaften - und er meint damit: Zit.: Wie beweist man den Beweis oder wer entscheidet über die Bedingungen der Wahrheit? Autor: Darüber entscheidet die sogenannte scientific community, ein ideales Gremium von Wissenschaftlern, das über die Bedingungen eines Beweises befindet. Bei der Verabredung der Bedingungen glaubt Lyotard, erzählerische Momente zu entdecken. Gewissermaßen ein Rückfall des Wissens ins Ungefähre, wie er selbst sagt. Denn das moderne Wissen entsteht in Abgrenzung zu dem, was man das Wissen der Erzählungen nennen könnte. Erzählungen brauchen keine Beweise, verlangen keine Argumentationen. Sie haben einen Plot, der von der Kommunikation selbst beglaubigt wird - von der Autorität des Erzählers, dem Alter der Erzählung, ihrem Sinn usw. Das moderne Wissen entsteht gegen die Erzählung, für den Wissenschaftler sind Erzählungen ... Zit.: ... Fabeln , Mythen, Legenden, gut für Frauen und Kinder. Im besten Fall wird man versuchen, Licht in diesen Obskurantismus zu bringen, zu zivilisieren. Autor: Dennoch - so behauptet Lyotard - greift das moderne Wissen insgeheim auf Narrative zurück. Mehr noch: Er glaubt zwei große Erzählungen ausmachen zu können, die die Wissenschaften insgesamt legitimieren. Eine dieser Erzählungen stammt aus Frankreich. Sie handelt von der politischen Emanzipation: O-Ton: (Lyotard; 2.45) Pour les français - en très gros - c'est VO: Bei den Franzosen - sehr allgemein gesprochen - gibt es die Erzählung von der Emanzipation. Liest man etwa Condorcet, sieht man sehr gut, wie die intellektuelle Arbeit legitimiert wird und was eine wissenschaftliche Aussage qualifiziert. Ob sie entweder wahr oder falsch ist, hängt - wenn man bis zu Ende denkt wie Condorcet - davon ab, ob sich die Erzählung in das Epos einschreibt, das gegen die Ursache der Irrtümer kämpft, nämlich gegen Priester und Despoten. Das ist es, was die Arbeit des Wissens legitimiert. Autor: Der Marquis de Condorcet war einer der Helden der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert: Philosoph, Mathematiker und Politiker. Als Mathematiker hatte er wegweisende Abhandlungen über die Wahrscheinlichkeitstheorie geschrieben, als Philosoph Prinzipien der Aufklärung formuliert und als Politiker während der Französischen Revolution liberté, egalité, fraternité zur Perspektive seines Handelns gemacht. Mit diesem Beispiel scheint Lyotard zu unterstellen, etwa Condorcets mathematische Theorien werden erst durch die Erzählung der Aufklärung legitimiert und obendrein durch sein politisches Engagement. Das wäre allerdings eine verblüffende Beschreibung der Begründungsverhältnisse. Mit Sicherheit funktionieren mathematische Beweise völlig unabhängig von welchen politischen Überzeugungen ihrer Urheber auch immer. Doch versuchen wir zunächst einmal die zweite der großen Erzählungen in den Blick zu nehmen. O-Ton: (Lyotard; 4.03) Si on prend les allemands qui sont beaucoup plus VO: Wenn man jetzt die Deutschen nimmt, die in dieser Sache viel ernsthafter - also weniger politisch, sondern philosophischer - vorgehen, hier übernimmt der Idealismus die Aufgabe der Rechtfertigung. Natürlich ist dieser Idealismus etwas ganz anderes als der emanzipatorische Humanismus in Frankreich während der Revolution und danach. Dieser Idealismus ist ein Denken, das behauptet, das wahre Wissen ist ein Wissen, das sich selbst in seinen Grenzen und in seiner Unendlichkeit begreift. Es ist das Epos des Geistes, das den Diskurs des Wissens begründet. Autor: Gemeint ist der deutsche Idealismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gemeint sind deutsche Philosophen wie Friedrich Schleiermacher, Johann Gottlieb Fichte oder Georg Wilhelm Hegel. Jener deutsche Idealismus entfaltet eine außerordentlich abstrakte spekulative philosophische Theorie darüber, wie -vereinfacht ausgedrückt - der erkennende Geist im Prozess der Erkenntnis sich am Ende selbst erkennt. Und diese Theorie - behauptet Jean-François Lyotard - soll nun gewissermaßen zur Erzählung verflüssigt eine der beiden großen Legitimationsepen der modernen Wissenschaft im Allgemeinen abgeben. Er glaubt sogar, konkrete Spuren dieses Begründungsverhältnisses entdeckt zu haben: O-Ton: (Lyotard; 4.50) ces textes qui ont été publié récemment VO: So sind die Texte, die im Zusammenhang mit der Gründung der Berliner Universität entstanden, absolut erstaunliche Texte. Man kann sehr gut erkennen, wie die Idealistische Philosophie einer Schleiermachers, eines Fichtes, eines Hegels das spezifische Wissen der verschiedenen Fächer und Fakultäten begründet, das jeweilige Wissen der Biologen, der Mathematiker usw. Autor: Wenn man unbedingt will, lassen sich Spurenelemente von Hegel im Bildungsbegriff eines Wilhelm von Humboldt entdecken, der schrieb: Zit.: Bildung ist die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen. Autor: In Humboldts Auffassung spricht sich so etwas wie ein wissenschaftlicher Glaube aus, eine akademische Utopie, dass die Wissenschaft nicht nur einfach positivistisches Fachwissen anhäuft, sondern den Menschen und der Gesellschaft insgesamt zu orientierender Kennnisse verhelfen möge. Für diesen Glauben hat es Anfang des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich starke Gründe gegeben. Aber, dass diese Bildungsphantasie mehr als ein kluges Ideal gewesen sein soll, stattdessen legitimatorische Klammer des modernen Wissens insgesamt und Wahrheitsmetrum in den einzelnen Disziplinen, ist pure Erzählung, die sich als Argumentation tarnt. Musik: s. o. VO: dtsch: hey pal! how do I get to town from here? and he said: well just take a right where they're going to that new shopping mall, go straight past where they're going to put in the freeway, take a left at what's going to be the new sports center, and keep going until you hit the place where they're king of building that drive-in bank. He, wie komme ich von hier in Stadt? Und er sagte: ok fahr rechts, wo es zu der neuen shopping mall geht, dann geradeaus bis zur Autobahn, dann links abbiegen da, wo das neue Sportcenter sein soll und immer weiter Autor: Das erste Problem, das sich unweigerlich beim Verständnis jener beiden großen Erzählungen einstellt, ist: es gibt kein Libretto. Es gibt nicht nur keinen Zentraltext für diese Erzählungen, es gibt auch keine Textsammlung oder eine Gattung, die diese Erzählungen erzählte. Gut, Lyotard zitiert keinen Text, aber er benennt wenigstens Autoren: Condorcet und Hegel beispielsweise. Das sind aber nun mit Sicherheit keine Erzähler, sondern Philosophen, die sich unterschiedliche Gedanken über die Bestimmungen des Wissens gemacht haben. Welchen Sinn hat es, philosophische Theorien Erzählungen zu nennen? Und inwiefern sollen oder können diese speziellen Theorieerzählungen das ganze Feld wissenschaftlicher Prozesse legitimieren? O-Ton: Gewitter Autor: Wenn man die Natur des Blitzes versteht, dann befreit man sich unter Umständen von der Vorstellung, es handle sich beim Blitz um einen göttlichen Zornesausbruch, und man kann sich durch einen Blitzableiter schützen. Das Wissen vom Blitz behauptet sich durch seine offenkundige Überlegenheit, seine Zuverlässigkeit gegenüber allen anderen Formen des Verstehens dieses Naturphänomens. Es bedarf keiner besonderen Legitimation. Und wenn der Romanist Friedrich Diez Anfang des 19. Jahrhunderts erklären kann, wie sich die verschiedenen romanischen Sprachen ganz regelhaft aus dem gesprochenen Latein entwickelt haben, dem Vulgärlatein, wie es in den von den Römern besetzten Ländern von der Bevölkerung übernommen wurde, dann entdeckt er nicht nur die Lautgeschichte lebender Sprachen, sondern er überbietet auch jedes bis dahin bekannte Verständnis von der Herkunft der Sprache, sowohl in phonetischer als auch in semantischer Hinsicht. Solche Entdeckungen, mit denen die Wissenschaften vor allem im 19. Jahrhundert beinahe pausenlos aufwarteten, präsentierten eine Qualität von Wissen, die von keiner wie auch immer gearteten externen und epischen Legitimation getragen wurde. Umgekehrt kann man sagen, dieses Wissen selbst legitimierte so etwas wie eine wissenschaftliche Glaubensperspektive, dass wir uns am Ende nämlich vielleicht wissend selbst Musik: s. o. VO: dtsch.: and long cars in long lines and T big signs and they all say: hallelujah. yodellayheehoo. every man for himself. Und lange Autos in langen Reihen und große Zeichen und alle sagen. Hallelijah, yodellayheehoo, jeder für sich allein. Autor: Wir halten fest: Geisterhafte Erzählungen, von niemandem formuliert, ohne Herkunft noch Text - gewissermaßen das magisch dirigierende Unbewusste der Wissenschaften -, sollen das moderne Wissen legitimieren. Wir entdecken weder Epen noch Legitimation, wo Lyotard sie hinschreibt. Das ist der eine Teil der Geschichte. Lyotard geht es jedoch nicht nur um eine Beschreibung der sogenannten Moderne, es geht ihm um eine Vorher/Nachher-Dramaturgie, um die Inszenierung eines Bruchs. Und der Bruch vollzieht sich mit dem Ende der großen Erzählungen: O-Ton: (Lyotard; 8.20) Ce que je pense VO: Ich glaube, was am Ende des 20. Jahrhunderts geschieht ist, dass die beiden Erzählungen, die in Marx ihre Synthese finden, am Ende des 20 Jahrhunderts ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Zit.: In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postindustriellen Gesellschaft, der postmodernen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung des Wissens in anderer Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation. Autor: Wir sind also längst in der Postmoderne angekommen. Die Moderne liegt hinter uns. O-Ton: (Lyotard;12.03) C'est comme ça que je caractérise la modernité VO: So würde ich die Moderne charakterisieren: Die Durchsetzung philosophischer Kritik an der Erzählung und die Rückkehr der Erzählung als legitimatorische Kraft. Autor: Das moderne Wissen hat sich gegen das Wissen der Erzählungen durchgesetzt, doch insgeheim wurde es von Erzählung legitimiert. Und die Postmoderne ist das Aufhören, der Zusammenbruch dieser Konstellation. Wie ist es zu diesem Ende der Moderne gekommen? Jean-François Lyotard begnügt sich mit dunklen Andeutungen: Zit.: Diese Analysen der Ursachen sind immer enttäuschend. Autor: Heißt es lapidar im Buch - und im Interview konkretisiert Lyotard: O-Ton: (Lyotard; 13.50) L'idée par exemple que l'histoire de l'esprit VO: So ist zum Beispiel die Idee der Geistesgeschichte, also der Geschichte, wie der Geist zu sich selbst gekommen ist, bankrott. Das ist meine Erzählung. Sie ist bankrott wegen zweier Weltkriege und ihrer Folgen, d.h. das Wissen hat sich performativen Zielen geopfert, also einem günstigen Verhältnis von input und output. Das ist genau die Betrachtungsweise, die man heute in Laboratorien antrifft. Aus diesen Laboratorien ist der Geist des deutschen Idealismus verschwunden. Autor: Die entscheidende Frage wäre nur: War der Geist des Deutschen Idealismus je prägend in diesen Laboratorien? In beispielloser Naivität scheint Lyotard anzunehmen, die Wissenschaft der Moderne habe stets nur ihre eigenen Fragen beantwortet, ganz autonom ihre eigenen Bedingungen bestimmt. Als hätten Natur- und Ingenieurswissenschaften nicht immer maßgeblich im Dienste einer industriellen Produktion gestanden, als habe nicht immer schon der Krieg die größten Fortschritte der Erkenntnisse abgefordert, als sei etwa die Ethnologie im 19. Jahrhundert nicht genau daraus ausgerichtet gewesen, Experten des Kolonialismus hervorzubringen. Mit anderen Worten: Lyotard hat die schlichtesten und mächtigsten aller wissenschaftslegitimierenden Erzählungen übersehen, nämlich die eigentlich unübersehbaren Epen des Fortschritts, der reinen Nützlichkeit und das der Macht, um sie hinterher als Zerstörungskräfte des purlauteren Idealismus und der Weltverbesserungsphantasien einführen zu können. Offenbar funktioniert die ganze Konstruktion einer Postmoderne nur über diesen Trick. Musik: s. o. VO: dtsch.: big science. hallelujah. big science. yodellayheeh Ou know. I think we should put some mountains here. otherwise, what are all the characters going to fall off of? and what about stairs? yodellayheehoo. Große Wissenschaft, hallelujah, große Wissenschaft, yodellayheeh, weißt Du. Ich glaube, wir sollten hier ein paar Berge aufstellen, sonst und wie stehts mit Treppen? Autor: Bleibt die Frage, welche Wonnen, welchen Nutzen bietet die Postmoderne ihren Erfindern? Die Postmoderne ist für Lyotard nichts anderes als ein Zustand nach der Moderne, eine Kultur, in der das Wissen von keiner Erzählung mehr legitimiert ist. Doch Lyotard sieht darin keine Verfallsgeschichte, sondern entdeckt darin sogleich die neuen Aufgaben des Wissens, eine ganz neue Legitimität. Die Postmoderne ... Zit.: ... verändert den Sinn des Wortes Wissen, und sie sagt, wie diese Veränderung stattfinden kann. Sie bringt nichts Bekanntes, sondern Unbekanntes hervor. Und sie legt ein Legitimationsmodell nahe, das keinesfalls eines der besten Performanz ist, sondern der als Paralogie verstandenen Differenz. Autor: Mit andern Worten: Das postmoderne Wissen sucht seine Aufgabe nicht mehr darin, die Welt oder den Menschen zu verstehen, sondern begnügt sich damit, etwas Neues, etwas Unerwartetes, etwas Überraschendes hervorzubringen. Ein an der Moderne orientierter Kopf wird das unweigerlich für einen etwas lauen Witz halten - und muss dann allerdings mit der tatsächlich überaus überraschenden Tatsache fertigwerden, dass sich mittlerweile nämlich unsere Kultur ganz und gar in dieser Auffassung der Postmoderne eingerichtet hat. Zitieren wir nur einen prominenten Germanisten wie Albrecht Koschorke: O-Ton: (Koschorke, 15.35) Eine bestimmte Epoche westlich-europäischer Dominanz, was den Anspruch auf Rationalität in der Welt angeht, ist zu Ende gegangen. (...) Wir haben jetzt Modelle, die viel beweglicher sind als die, die auf der großen alten Linie des grand récit, der Fortschrittserzählung, der moderneförmigen Fortschrittserzählung beruhen. Jetzt hat man sozusagen an allen Fronten gewonnen, und wie immer bei Gewinnern: die sind dann manchmal etwas ratlos. Autor: So einfach kann das sein. Doch worum es dann jetzt gehen soll in den Geisteswissenschaften, was man also wirklich gewonnen hat, außer dass jeder nach seinem Geschmack und weitgehend begründungsfrei vor sich hin forschen kann, darüber muss ein Albrecht Koschorke dank Jean-François Lyotards Theorien dann nicht mehr nachdenken. O-Ton: (Koschorke, 14.14) Grundsätzlich sollten Kulturwissenschaftler wie andere Wissenschaftler auch erst mal ihre Arbeit machen. Und nicht so sehr über ihren Sinn räsonieren. Denn es ist meistens uninteressant, was dabei herauskommt. Autor: Man ahnt, warum die verwegene Konstruktion einer Postmoderne für unseren Kultur- und Wissensbetrieb so aussichtsreich erscheint, so wunderbar sinnvoll: Die Postmoderne befreit von der Legitimation, die Institutionen des Wissens müssen sich nicht fragen, was sie wollen und wem das Wissen gehört, und die Wissensarbeiter können einer fröhlichen Wissenschaft huldigen, die leider nur selten fröhlich ist. Musik: s.o VO: dtsch.: here's a man who lives a life Anger. everywhere he goes he stays - a stranger. howdy stranger. mind if I smoke? and he said: every man, every man for himself. Hey, Fremder, kann ich rauchen? Und er sagte: jeder für sich allein. Autor: Erinnern wir an den Anlass von Jean-François Lyotards Schrift Das postmoderne Wissen. In der Einleitung heißt es: Zit.: Der folgende Text ist eine Gelegenheitsarbeit. Er ist ein Bericht über das Wissen in den höchstentwickelten Gesellschaften, der dem Universitätsrat der Regierung von Québec, auf Wunsch des Präsidenten, vorgelegt wurde. Autor: La condition postmoderne war also eine Auftragsarbeit für eine kanadische Bildungsbehörde. Wie genau der Auftrag lautete, wissen wir nicht, ebenso wenig, inwieweit der veröffentlichte Text dem Bericht für den Universitätsrat entspricht. Die Arbeit entstand in den 70er Jahren und sie bezieht sich mehrfach auf den Kontext studentischer Proteste. Dadurch erklärt sich womöglich auch der sonderbare Gebrauch des Wortes Legitimität bei Lyotard. Der Aufstand der Studenten war ja in der Tat auch von der Frage nach der Legitimität des Wissens beseelt. Damit war gemeint: Wer hat Zugang zu Wissen? Wem gehört Wissen? Was wollen wir wissen? Und inwiefern sind Universitäten nicht zu bloßen Zulieferern ökonomischen Mehrwerts verkommen? Lyotard scheint diese Fragen aufzugreifen, um sie umgehend gegenstandslos zu machen. Die Legitimität ist dahin, die großen Erzählungen der Legitimation haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Jetzt ahnt man auch, warum diese Erzählungen weder zitierbar noch datierbar sind, sondern als eine Art phantastisches Pneuma ihr Werk verrichtet haben sollen. Sonst könnte man ja glatt auf die Idee kommen, diese Erzählungen auf ihre Konsistenz zu überprüfen, gegebenenfalls neu zu justieren, noch schlimmer: man könnte in Versuchung kommen, Realitäten zu korrigieren. Um vor solchen Rückfällen zu bewahren, produziert die Postmoderne jene "Zitadellenkultur", die der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker Otto Werckmeister in seinem gleichnamigen Buch beschreibt - die Zitadellenkultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich in ihrer eigenen Folgelosigkeit komfortabel eingerichtet hat. Zit.: In der Zitadellenkultur gibt es keine Fronten mehr, sondern nur noch konkurrierende Angebote. (...) In den achtziger Jahren ist eine philosophische Literatur hervorgetreten, die das Denken auf seine sprachliche Selbstreflexion verengt. (...) Es ist zugleich schlusslos und allumfassend, abstrakt und existentiell. Als rhetorische Kulturkritik hat das dekonstruktive Denken die politische Kulturkritik der siebziger Jahre erst infiltriert und dann ersetzt. Musik: s. o. VO: dtsch.: every man, every man for himself. all in favor say aye. big science. hallelujah. big science. Layheehoo. Jeder für sich allein. ???? Große Wissenschaft Autor: Die Floskel vom Ende der großen Erzählungen dominiert heute das Selbstverständnis des Wissenschaftsbetriebs. Man muss sich nicht einmal explizit darauf beziehen. Sie hat den Wissens- und Kulturarbeitern schwierige Selbstreflexionen, quälende Selbstinfragestellungen erspart und den Fortbestand ihrer Institutionen erlaubt. Der Preis sind die Lähmung, die Leere bei vollen Bezügen und eine gewisse Verwahrlosung. Das konnte man erschreckend genau wahrnehmen, als vor einigen Jahren die universitäre Ausbildung drastisch reformiert wurde. Es ging jetzt um eine... O-Ton: (Samsonow, 3.50') ...Idee von Wissensproduktion und Ausbildung, die in den 80er Jahren auf verhängnisvolle Weise gekoppelt worden ist mit Effizienz in Bezug auf wirtschaftliche Aspekte. Autor: Die Philosophin Elisabeth von Samsonow. Es dürfte kaum einen deutschen Professor geben oder gegeben haben, der die Hochschulreform im Zeichen des sogenannten Bologna-Prozesses begrüßt oder wenigstens für sinnvoll gehalten hat. Umso verblüffender, dass fast die gesamte Branche dem rohen Treiben schweigend zugeschaut hat. Man murrte auf den Fluren und fügte sich ansonsten dem angeordneten Lauf der Dinge. Der Sozialpsychologe Harald Welzer kommentiert die Mentalität dieses akademischen Konformismus. O-Ton: (Welzer, 11.50) Das Ergebnis besteht natürlich darin, dass wir eine geistige Entleerung in den Bachelor-Studiengängen haben, die ja nahtlos an das anknüpfen, was an den Schulen ja auch schon angerichtet worden ist, nämlich die reine Leistungs- und dann eben Messbarkeitsorientierung, die letztlich den Studenten die Möglichkeit genommen haben, an Forschungsprozessen, an Lernprozessen, an Bildungsprozessen im klassischen Sinne überhaupt Teil zu nehmen. Das ist eine Entwicklung, die muss man wirklich den Fachvertretern vor Augen führen. Da ist niemand sonst für haftbar zu machen als sie selbst. Autor: Mit anderen Worten: das akademische Publikum, das den Märchen vom Ende der großen Erzählung so andächtig gelauscht hatte, hatte den ministeriellen Vollzugsbeamten außerordentlich kurz gedachter Ausbildungspädagogik nichts mehr entgegenzusetzen. Musik: s. o. VO: dtsch.: hey professor! could you turn out the lights? let's roll the film. big science. hallelujah. every man, every man for himself. big science. hallelujah. Yodellayheehoo Hey Professor, könnten Sie das Licht ausmachen. Film ab! Große Wissenschaft. Hallelujah. Jeder für sich allein. Autor: Es ist wahr, wir können mit den Zuständen des Wissens nicht zufrieden sein. Nichts hindert uns daran, den Stand der Dinge kritisch zu überprüfen. Vermutlich erwarten uns große Verwerfungen im Selbstverständnis des Wissens und außerordentliche Brüche bei der Organisation des Wissens und ihrer Institutionen, allen voran: der Universitäten - allerdings erst, wenn die Ideologie der Postmoderne als Bollwerk der Ratlosigkeit verschwunden ist. 2