Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62100 Organisationseinheit: 46 Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Der Algorithmus der Choreografie Wie archiviert man Bewegung? Autor/in : Cornelia Braun Redakteur/in : Jana Wuttke Sendung : 11.08.2011 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Sprecherin "Choreografie und Tanz sind zwei unterschiedliche, voneinander getrennte Vorgänge", schreibt der Choreograf William Forsythe 2010 zur Gründung der "Motion Bank", einem Online-Archiv für Choreographien. Die Aufführung eines Tanzkunstwerks ist für die Tänzer wie die Zuschauer ein einmaliges, sinnliches Erlebnis, das sich als solches nicht aufzeichnen lässt. Aber das Konzept der Tanzaufführung, der künstlerische Plan, die Choreo-grafie kann skizziert oder aufgeschrieben und damit weitergegeben werden. Bei den Werken des klassischen Balletts ist das kein Problem: die Musik, die Handlung, die Tanzschritte, für alles gibt es Begriffe oder Zeichen. Musik Tschaikowsky, Nussknacker, Tanz der Zuckerfee (1:44) Sprecher Anfang des 20ten Jahrhunderts entsteht der Ausdruckstanz, bei dem die Protagonisten auf ein festes Repertoire von vorformulierten Tanzbewegungen verzichten. Der Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban entwickelt eine immer noch weltweit gebräuchliche Bewegungsschrift - Kinetografie oder auch Laban-Notation genannt. Das räumliche Bezugssystem von Laban ist nicht mehr die Opernbühne sondern die Kinesphäre. Zitator: "Der Umraum des Körpers, der mit Händen und Füßen zu erreichen ist, ohne dass der Standpunkt verändert wird." Sprecherin Mit der Kinetografie lässt sich nicht nur Tanz sondern jede Art von Bewegungsablauf aufzeichnen. Diese strukturale Konzeption von Bewegung bildet im Grunde auch die Matrix aller Computer gestützter Notationssysteme. Aber ganz unabhängig vom Einsatz der Technologie, verändert Laban vor allem das Denken über Tanz. T 1 O-Ton Christine Bürkle Also das war wirklich eine Entwicklung, die Bewegung erst einmal aus sich heraus, anders zu erfahren. Das war ein langer Weg, Bewegung anzuschauen und zu hinterfragen. Was ist den überhaupt ein Battement? Muss das so hoch sein? Was ist ein Tendue? Hört das wirklich auf, wenn's am Boden gestreckt zu Ende ist? Also, da gab's einfach viele Fragen an die Bewegung, die schon existiert hat. Sprecherin Die Tänzerin Christine Bürkle gehörte 18 Jahre zum Ensemble des Ballett Frankfurt, mit dem William Forsythe seinen ganz spezifischen, zeitgenössischen Tanzstil entwickelte. Forsythe benutzt das Repertoire des klassischen Balletts wie einen Bausatz, indem er die einzelnen Bewegungen mit geometrischen Ordnungsideen zu neuen, individuellen Bewegungsabläufen zusammenfügt. So entsteht eine eigene Improvisationsmethode. T 2 ImpTech William Forsythe Lines - Point, Point, Line -1- Imagining Lines 015 The first example I gave to construct a Line was: Point, point, line. You have a line between your fingers and you can let this line stand in space you can grab it again and move it in any direction. Übersetzer Mein erstes Beispiel, eine Linie zu konstruieren war: Punkt - Punkt - Linie. Nun führt von deinem einen Finger zum anderen eine Linie und du kannst diese Linie im Raum stehen lassen, oder wieder anfassen und in irgendeine Richtung bewegen. Und indem du die Linie mit deinem Körper meidest, etablierst du sie im Raum. T 3 ImpTech William Forsythe Lines - Avoidance - 1 - Introduction 0:10 you avoid the line with your body, but thereby establishing the presents of the line.. Sprecher Die Notation von Choreografien per Hand wird in den 1980er Jahren durch analoge Videoaufzeichnungen ergänzt oder ersetzt, die zwar eine zweidimensionale Ahnung vom Tanz vermitteln, aber keinerlei Information über die künstlerischen Konzeption enthalten. Insofern sind sie als Dokumentationsmaterial nur unbefriedigend. Sprecherin Anfang der 1990er Jahre, als das digitale Video aufkommt, wendet sich William Forsythe an das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, um seine alten Videobänder digitalisieren zu lassen. Dort entsteht die Idee, auch seine Improvisationsmethode zu visualisieren und einen virtuellen Probenraum auf CD-ROM zu kreieren. Zum Entwicklerteam gehört der Architekt und Multimediakünstler Chris Ziegler. T 4 O-Ton Chris Ziegler Wir haben ein Konzept entwickelt mit Linien auf Videos, das damals ziemlich neu war, das so genannte Rotoskoping, Bild für Bild, im Stoppmotion-Verfahren, mussten wir praktisch, Pixel für Pixel, Linien auf die Videos zaubern, um Punkt, Linie, Fläche und Körper, auch als Metalayer der Information, die über dem Körper auch um den Körper herum organisiert werden soll, darzustellen, und das war sozusagen unsere ästhetische Herausforderung. Sprecherin Chris Ziegler zeichnet die Gedankenfiguren der Tänzer auf den Film und macht so den mentalen Prozess sichtbar. Die 1999 erschienene CD-ROM Improvisation Technologies dient seitdem Tanzakademien weltweit als digitales Handbuch. William Forsythe, heute Direktor seiner eigenen Company, forscht seither weiter an postdramatischen choreografischen Konzepten, die sich nicht über Handlung oder Musik definieren, sondern über abstrakte Regeln wie zum Beispiel: den Kontrapunkt: T 5 SynchOb William Forsythe - Counterpoint Counterpoint is a form of dialog, describes this intermittent alignment of things. So there is not just one point and another point, tree points here and two points there, and four points there, fifteen points there. And you get this rhythm of alternation with surprise and yet a kind of regularity to it. Übersetzer Kontrapunkt ist eine Art von Dialog und beschreibt periodisch auftretende Bezüge oder Übereinstimmungen zwischen den Dingen, aber nicht nur einmal hier und zweimal da und viermal hier und fünfzehnmal da, nein, es entsteht ein Rhythmus von überraschenden Wechseln und doch eine Art Regelmäßigkeit. Sprecher In der Musik bedeutet Kontrapunkt das Verhältnis zwischen Melodie und Gegenstimme, die weder zu ähnlich noch zu unterschiedlich sein darf. Forsythe entwickelt daraus ein Organisationsprinzip für strukturierte Tanz-Improvisation auf der Bühne, eine Art "mentalen Algorithmus". Musik von Thom Willems "One flat thing reproduced" Sprecherin Am Anfang des Stücks "One Flat thing reproduced" zieht jeder der Tänzer einen großen Tisch hinter sich her in den Bühnenraum. Die Tische werden wie in dem Lesesaal einer Bibliothek in Reihen aufgestellt. Dann geht alles ganz schnell: Ein Blick, ein Kick mit dem Bein, ein Schlag mit der flachen Hand auf die Tischplatte, die 17 Tänzer und Tänzerinnen geben sich, akustische und visuelle Signale, und tanzen zwischen und mit den Tischen vor der Musik von Thom Willems. Musik von Thom Willems "One flat thing reproduced" T 6 O-Ton Scott deLahunta You are simply able to see repetitions of themes, it draws your eye towards the thematic material as a structural element which is a little less about the detail of the quality, the detail of the movement but just to recognize all that is like a pattern, it is all about the patterns. ( ) So, you know, we are just looking in the patterns of movement in this piece all the patterns and the different structures come together in the concept of counterpoint and that is what we tried to explore and unfold in the project. Übersetzer Man erkennt schnell Wiederholungen von bestimmten Themen, der Blick wird auf das thematische Material gelenkt, aber weniger, um auf die Qualität der Bewegung im Detail aufmerksam zu machen, sondern um bewusst zu machen, dass es ein Muster ist, dass es in diesem Stück überhaupt um diese Bewegungsmuster geht, die durch das Konzept des Kontrapunkts verbunden sind, und das wollten wir untersuchen und zeigen. Sprecher Die Reihenfolge der 25 Bewegungsthemen und die Dauer von 15 Minuten sind festgelegt. Die Impulse - "cues" - werden auf die Tänzer verteilt und bilden die innere Uhr des Stücks, aber wie das Bewegungsmaterial getanzt wird, Timing, Richtung, Ausformung, ist bei jeder Aufführung anders, diese Improvisationen der einzelnen Tänzer werden durch die Kontrapunktregel aufeinander bezogen, dadurch entstehen - "alignments" - Bewegungsthemen, die wie Wellen durch die Tänzergruppe wandern. Musik ( SynchOb Musik von Thom Willems Sprecherin Der belgische Regisseur Thierry de Mey dreht einen Dokumentarfilm über das Tanzstück und zeichnet es dafür aus drei Perspektiven auf: von vorne, von oben und von der Seite. Dieses Filmmaterial bildet den Ausgangspunkt für die Arbeit an der ersten digitalen Partitur für die "Motion Bank". Zunächst wird eine 3D-Animation des Stücks erstellt. Der New Yorker Theaterwissenschaftler Scott deLahunta begleitet das Projekt als Berater. T 7 O-Ton Scott deLahunta We had the film, but we had already a very clear conception from Bill of the choreographic structure: cues, alignments and thematic material. And then we had all of the dancers and few of them, particular Chris Roman, Elizabeth Waterhouse and Jill Johnson, who spend time with the designers of the Ohio-State university looking at the video over and over again, and saying exactly what cue that was coming from who going to who. So now there is a database, which is basically just a ..... whith hundreds of information's about the piece, but that really was the starting point for the analysis. Übersetzer Wir hatten den Film und eine sehr klare Konzeption von Bill über die choreographische Struktur: Cues, alignements und thematisches Material. Die Tänzer Chris Roman, Elizabeth Waterhouse und Jill Johnson haben sich mit den Designern der Ohio State Universität die Videos immer wieder angesehen und genau erklärt, da kommt ein Impuls von dem zu dem und diesen Impuls gibt sie an ihn, so dass eine Unmenge an Informationen über das Stück zusammenkamen. Und das war der Ausgangspunkt für die Analyse. Sprecherin Tanzwissenschaftler und Kommunikationsdesigner von der Ohio State University setzten alle nur erdenklichen Finessen der Digitalisierung, Bildanalyse und Animationstechnik ein, um die choreografische Konzeption des Stücks auf einer Webseite sichtbar zu machen. In einem Videofilm kann man sich beispielsweise per Mausklick die "Cues" und "Alignments" als Animationen anzeigen lassen. Bunte Pfeile sausen durchs Bild und geometrische Formen unterstreichen Ähnlichkeiten. Parallel zum Film läuft eine Zeitlinie, auf der mit unterschiedlich farbigen Balken signalisiert wird, welche der 25 Bewegungssequenzen ein Tänzer gerade variiert. All diese einzelnen Themen werden im Augenblick der Aufführung synchron verarbeitet, die Website "synchronous objects", stellt den Versuch dar, diese flüchtige Raum-Schrift zu buchstabieren. Die Tanzwissenschaftlerin Kerstin Evert: Zitator Tanz, nach generativen Regeln gebildet, wird von Forsythe als eine in den Raum geschriebene, flüchtige und somit nicht wiederholbare Schrift verstanden, die (..) nicht- sichtbare Formen temporär im Raum etabliert. In diesem Sinne verweist der Begriff "Choreographie" eben nicht auf die Fixierung der Tanzbewegungen im Probenprozess durch den Choreographen, sondern auf die flüchtige Einzeichnung des Tänzers bzw. seiner Körperteile in den Raum. Real time choreography ( ) kann in diesem System als das kreative Aktivieren des Körpergedächtnisses gesehen werden: Die ( ) Bewegungssequenzen werden im nicht wiederholbaren Moment ihrer Reproduktion umgeschrieben. DS/DM Atmo Jumping T 8 DS/DM Pieter C. Scholten Introduction Anfang First part is to make the body accessible, available through the different activities like the breathing, the jumping, the expanding and the reducing, specially the breathing an jumping that makes you free to old habits. And there also is to find the inner logic of your own body, which we name it then the language of the flesh Übersetzer Der erste Teil ist ein Körperbewusstseinstraining mit den Themen atmen, springen, sich ausdehnen, und sich verkleinern. Das Training befreit den Körper von seinen alten Bewegungsgewohnheiten und sensibilisiert ihn für die kreative Arbeit. Jeder Tänzer soll sich auch in der Gruppe entsprechend der inneren Logik seines eigenen Körpers ausdrücken, wir nennen sie "die Sprache des Fleisches". Sprecherin Der niederländische Dramaturg Pieter C. Scholten skizziert hier die Inhalte des Workshops, DoubleSkin / DoubleMind, den er und der italienische Choreograf Emio Greco seit 10 Jahren für professionelle Tänzer anbieten. Ziel ist eine neue "Symbiose" zwischen Tänzer und Choreograf. Chris Ziegler: T 9 O-Ton Chris Ziegler Also ich glaub, DoubleSkin / DoubleMind, auch wie dieses Bild der Doppelhaut und des Doppelgeistes ... eine Art Verschiebung, dass der Geist und der Körper quasi des Choreografen und des Tänzers verschmelzen, durch eine gemeinsame sensorische Praxis. ( ) Sprecher Diese in der praktischen Arbeit entwickelte Methode, Tänzer fortzubilden, wird mithilfe von Motion Capture Technologie formuliert und archiviert. Scott deLahunta koordiniert das Projekt: T 10 O-Ton Scott deLahunta Emios videotaped figure has been analyzed by the gesture follower. It produces models of that and that can be compared with that somebody can perform in front of the camera in the installation and his or her basically silhouette ( ) can be compared with Emio Grecos Movement. ( ) And that determines (..) to a certain extend the kind of feedback they get, the quality of the feedback they get. They spend a long time thinking about those descriptions of qualities. Übersetzer Die Videoaufzeichnungen von Emio Grecos Tanzbewegungen wurden analysiert, um Vorlagen herzustellen, mit denen die Silhouette einer Person, die vor der Kamera tanzt verglichen werden kann. Und daraus ergibt sich, in gewisser Hinsicht auch Art und Qualität des Feedback. An diesen digitalen Beschreibungen von Bewegungsqualitäten haben sie sehr lange gearbeitet. Sprecherin Es geht dabei um den tänzerischen Ausdruck, den zwar jeder subjektiv wahrnehmen, aber kaum einer objektiv beschreiben kann. Die Tänzerin Bertha Bermúdez und Chris Ziegler, verantwortlich für Konzeption und Design des digitalen Tanz-Workshops, studieren wochenlang die Videos, um Kriterien für die gewünschte Qualität von Bewegung zu abstrahieren und so zu formulieren, dass die Programmierer sie in die Algorithmen einbauen können, die das Feedback steuern. 20 solcher digitaler Definitionen werden extrahiert. Dabei muss sehr stark vereinfacht werden, was auch daran liegt, dass nur das zweidimensionale Videobild einer einzigen Kamera analysiert wird. Als Kriterium für die Qualität von Jumping, Springen zum Beispiel, eignet sich die Elastizität der Schulterlinie. T 11 O-Ton Chris Ziegler Ein Zusammenhang zwischen zwei Körperlinien, zwischen den Füssen und den Schultern und( ) Martin Bellardi hat das dann in der zweiten Stufe auch sehr gut umsetzen können ( ) auf graphische Balken, die dann auch entsprechend asynchron und synchron von oben nach unten gehüpft sind. Also wir haben dann so eine Art Interface, ein Zwischenbild gefunden, an abstrakter Liniensprache. ( ) Der Tänzer hat jetzt nicht die Information bekommen, das ist deine Schulter, das ist dein Fuß. Aber wenn er weicher tanzt, weicher hüpft, dann werden diese Linien heller, und sie werden einfach freier in der Bewegung; und wenn er steif wird, werden sie dunkler und sie laufen wie zwei parallele Linien einfach hoch und runter, das ist ein bisschen langweilig. ... Sprecher Für jedes der vier Trainingskapitel atmen, springen, sich ausdehnen und sich verkleinern entwickelt das Team ein grafisches und akustisches Feedback, mit dem die Tänzer die gewünschte Bewegungsqualität intuitiv üben können, ohne dass es ein Richtig oder Falsch gibt. DS/DM Atmo Breathing Sprecher Die Lernenden sitzen zwischen drei großen Filmleinwänden und vier Lautsprechern, dann wählen sie die Vermittlungsebene: sie können einen Text zum Thema lesen, dem "sprechenden Kopf" von Emio Greco zuhören, oder die lecture demonstrations anschauen und nachtanzen. Dabei werden sie von einer Infrarotkamera mit Echtzeitprojektionssystem gefilmt. Als Rückkanal kann man die eigene Tanzbewegung als Silhouette neben die von Emio Greco projizieren lassen, oder das Feedback aus Grafiken und Tönen wählen. Seit 2011 gehört der virtuelle Workshop zum regulären Lehrangebot der Tanzabteilung der Amsterdamer Kunsthochschule. DS/DM Atmo Jumping Sprecherin Bei den ersten Multimedia Performances in den 1960er Jahren standen technische Experimente im Mittelpunkt. Gleichzeitig schufen sie die Basis für die postdramatischen Raum- und Stückkonzeptionen des zeitgenössischen Theaters. Doch Technologie allein lockt heute keinen Menschen mehr in eine Performance, auch von Multimediakünstlern wird eine Konzeption erwartet, die darüber hinausgeht. Atmo wald-forest Zen oder Stele T 12 O-Ton Chris Ziegler So arbeitet ästhetisch jeder anders, aber wir haben alle eine Traum von einer ganz leeren, technisch nicht hochgerüsteten, schwarzen Bühne, die einfach nur einen viel Raum hat und mit Möglichkeiten viel Kabel viele Stromanschlüssen viele Objekte reinzustellen also das ist im Grunde die Utopie einer nicht gebauten Bühne ein negativer Raum. Sprecherin Tiefe Dunkelheit, Stille - plötzlich werden Vogelstimmen hörbar, dann flackern Lichter auf. So beginnt die Performance, "wald-forest" von Chris Ziegler. T 13 O-Ton Chris Ziegler Ich hab versucht einen Walk-in-Screen zu erzeugen, in den man rein gehen kann, physisch, in das Bild reingehen kann und durch die eigene körperliche Bewegung quasi auch Licht, wie so ein Pinsel, malen kann im Raum. Auch der Ton sollte sich spatialisieren lassen, also verräumlichen lassen. Sprecherin Der Wald besteht aus 16 Neonröhren, deren Licht über ein Infrarot-Motion-Capture- System durch die Bewegung der Tänzerin gesteuert wird, auch der Ton reagiert per Algorithmus auf den Tanz. Auf einer Tonspur läuft eine Komposition von Sandeep Bhagwati, parallel dazu auf einer zweiten Tonspur eine Geräuschcollage aus dem Shiwaji Park in Mumbai. Die Abmischung der beiden Spuren hängt von der Position der Tänzerin ab, sie führt das Publikum wie eine Alice im Wunderland durch eine Welt der Klangräume. Christine Bürkle: T 14 O-Ton Christine Bürkle Wie kann es interessant sein - überhaupt, lauf ich da nur durch und ist das nur Technik und sieht das dann gut aus.( ) Ich hab mir dann auch wie eine eigene Welt kreiert innerhalb dieses technischen Aufbaus, ( ), dass ich Anhaltspunkte habe, warum ich von einem Punkt zum anderen gehe und mit welcher Haltung. Also für mich war es wichtig ne Haltung zu finden innerhalb dieses eher kalten Ensembles, es ist ja eher ne starre Form gewesen, die ich füllen wollte, als Tänzerin. Und da war mir meine Haltung dazu wichtig. Atmo wald-forest Sprecherin Je mehr Elemente in die Interaktion integriert sind, desto höher ist die Anforderung an die Tänzerin, und, umso präziser muss das künstlerische Konzept und die Kommunikation zwischen den Künstlern sein, damit sich die Performance auch zu einem Gesamtkunstwerk schließt. Deshalb entschied sich Chris Ziegler das Stück zu einem Choreographie-Workshop umzubauen. Aber nicht alle Teilnehmer können sich mit dem "Walk-in-Screen" anfreunden. T 15 O-Ton Chris Ziegler Durch Bewegung machst du Licht, gleichzeitig war es natürlich auch ein Hindernis mit lauter Stäben auf ner Bühne zu arbeiten, das war mir klar. Die Reaktion von den Choreografen war auch gleich, kann man die Stäbe nicht höher machen, dass wir uns frei unter den Lichtstäben bewegen können. Ich war natürlich nicht so erbaut davon, ich wollte schon, dass sich der Körper von oben bis unten mit diesem Widerstand auseinandersetzt. Aber wir haben dann auch einen Kompromiss gefunden. Atmo wald-forest Zen oder Stele Sprecherin Tanzforschung, früher ein Stiefkind der Theaterwissenschaft hat sich in den letzten 20 Jahren zur Tanzwissenschaft gemausert. Die Computertechnologie macht es möglich, die höchst komplexen Bewegungsabläufe der Tanzkunst zu untersuchen. Die Biologin und Kognitionswissenschaftlerin Dr. Bettina Bläsing hat sich in der Abteilung Sportwissenschaft der Universität Bielefeld auf Neurokognition und Bewegung spezialisiert. In Zusammenarbeit mit Martin Puttke, dem ehemaligen Ballett-Direktor des Essener Aalto Theaters beginnt sie 2007 mit der neurokognitiven Tanzforschung. Das Repertoire des klassischen Balletts eignet sich gut für die Untersuchung, weil jede Figur genau definiert und beschrieben ist. Mit den Instrumenten der Biomechanik wird gemessen, ob die Tanzbewegungen physisch und physikalisch funktional ausgeführt werden. T 16 O-Ton Bettina Bläsing Wir haben 3 Kraftmessplatten, die geben uns dann Bodenreaktionskräfte, darauf kann man eben die Kräfte und Drehmomente gewinnen und berechnen. Das ist interessant, im Tanz zum Beispiel, wenn man sich den Abdruck vom Boden zu Beginn einer Drehung einer Pirouette oder zu Beginn eines Sprunges anschaut, beispielsweise die Verteilung zwischen den beiden Füßen oder auch die Gewichtsverteilung auf einem Fuß ( ) sowohl beim Absprung als auch bei der Landung. Das ist auch ein Punkt der sich zur Fehleranalyse gut einsetzen lässt. Sprecherin Bettina Bläsing und Martin Puttke bitten zunächst zwei professionelle Balletttänzer in das Biomechanik-Labor und lassen sie eine Pirouette en dehors, die typische "Ballerina-Drehung" und einen Sprung, den Pas assemblé vortanzen, um die biomechanischen Daten für die ideale Ausführung zu sammeln. T 17 O-Ton Bettina Bläsing Bei einer Pirouette ( ) steht der Körper idealerweise auf der Achse und dreht, wird gedreht durch den Drehimpuls, der vorher gegeben worden ist, ( ) durch den Abdruck vom Boden. Und im Fall von der Tänzerin, die wir da hatten, die hat dann auch 25 Pirouetten am Stück gedreht, ohne dass sie von der Achse abgewichen ist, und sie stand bombensicher, ( ) und bei den Aufnahmen haben wir eben gesehen, dass sie durchaus arbeitet im Körper, aber auf eine sehr ökonomische Art, also es ist kein Abweichen, kein Kippeln,( ) kein Korrigieren, sondern es ist wirklich eine sehr ökonomische Bewegungsarbeit innerhalb des Körpers, um eben diesen Drehimpuls zu erhalten und die Energie zu speichern, bzw. richtig einzusetzen Atmo Labor? Sprecherin Das Biomechanik-Labor der Uni Bielefeld verfügt über ein aufwändiges Motion- Capturing-System. Die Tänzer sind mit 42 retroreflektierenden Markern beklebt. 12 Kameras geben Infrarotimpulse ab und nehmen die Infrarot-Reflektion der Marker im Dreidimensionalen Raum auf. Daraus berechnet der Physiker Dimitri Volchenkov mit welcher kinetischen Energie sich die einzelnen Marker und damit die Köperteile zueinander bewegen. Die Aufnahmen der Profis werden später mit den Pirouetten von Tanzamateuren verglichen. Wenn man jetzt die Energie zerlegt, wie das der Kollege aus der Physik gemacht hat, sieht man, dass da quasi so etwas wie eine geordnete Sequenz oder Welle von kinetischer Energie über bestimmte Körperteile läuft. Während bei Amateuren oder bei nicht so guten Ausführungen auch diese Ordnung nicht so intensiv vorhanden ist, oder diese Struktur nicht so geordnet ist. Atmo Ballett-Training "Préparation - tours chaînes - tours en l'air - Aplomp." Sprecherin Vortanzen und dabei die Französischen Begriffe ansagen, das ist die übliche Vermittlungsmethode im klassischen Balletttraining, anstatt dessen könnte man auch über kinetische Energie nachdenken. Der Tanzpädagoge Martin Puttke praktiziert das schon lange. DaNaMoS, Dance Native Motion System nennt er die von ihm entwickelte Trainingsmethode. Er formuliert 7 biomechanische Themenfelder, wie zum Beispiel, die Achse oder der Schwerpunkt, die bei jeder Bewegung eines menschlichen Körpers eine Rolle spielen. Indem er seine Anweisungen im Tanztraining entsprechend formuliert, bezieht er sich auf das intuitive Körperwissen, und erreicht, dass die Tänzer bewusst damit arbeiten. Musik Sprecher Bis 2013 werden drei weitere Online-Partituren für die "Motion Bank" entwickelt. Den Anfang macht die New Yorker Choreografin Deborah Hay, ihr geht es um die soziale Dimension von Bewegung, um die Erforschung von natürlicher Körpersprache im Tanz. Der Ausgangspunkt für die Konzeption der Webseite ist wieder die Analyse eines einzigen Stücks. Scott deLahunta leitet das Projekt. T 19 O-Ton Scott deLahunta The starting point for Deborah's work is an existing score, so it's actually the score that she has written for "No time to fly" a solo she premiered a year ago and the score she has is a small yellow booklet, and it is a written description which constitutes the score, she works with, when she is performing and it is also a little list with the tools she works with and so in the score are certain choreographic instructions different images that she works with. It is very - some people use the word poetic, it is metaphoric. ( )It is not entirely clear how you get from the score to the dance. That's why she is giving her score to three dancers, who know how she works they worked with her for a long time. they understand her use of language and how language generates movement material Übersetzer Der Ausgangpunkt für die Arbeit mit Deborah ist eine bereits existierende Partitur für das Stück "No time to fly", ein Solo, das vor einem Jahr Premiere hatte, - ein kleines gelbes Büchlein mit Text, Zeichnungen und einigen choreografischen Anweisungen. Es ist sehr - manche nennen es poetisch, es ist jedenfalls metaphorisch, nicht objektiv lesbar und es ist nicht ganz klar wie man von der Partitur zum Tanz kommt. Deshalb gibt Deborah die Partitur drei Tänzern, mit denen sie schon lange zusammenarbeitet, die ihre Texte kennen und wissen wie sie daraus Bewegungsmaterial entwickelt. Sprecher Im Frühjahr 2011 hat das "Motion Bank"-Team in Frankfurt von jedem der drei Tänzer jeweils drei Versionen des Stücks auf Video aufgezeichnet. Nun analysieren sie die 27 unterschiedlichen Versionen des gleichen Stücks, digital und mit eigenen Augen und suchen nach Mustern, die sich wiederholen, um der Struktur von Deborah Hays Choreografie auf die Spur zu kommen. Ziel ist es, eine "Metapartitur" zu entwerfen, die den Zusammenhang zwischen realem Tanz in Echtzeit, Videoaufzeichnung und den choreografischen Notizen erklärt. Die Tanzwissenschaftlerin Kerstin Evert: Zitator Der Einzeichnungsvorgang in den Raum hinterlässt - anders als die schreibende Hand - weder materielle noch sichtbare Spuren, noch bietet sich den "zeichnenden Körperteilen" ein materieller Widerstand durch eine Grundlage, auf bzw. in der Schrift fixiert wird. Doch als gedankliche Spuren schreiben sich diese imaginierten Formen in das räumliche und körperliche Gedächtnis der Tänzer ein, die dieses immaterielle Material weiter "verarbeiten". Imaginär in Raum und Gedächtnis eingeschrieben, setzen an diesen Gebilden Transformationen an. Hier wird nun der Vorgang des .Umschreibens' im doppelten Sinne wirksam. Sprecherin Die Arbeit an der Online-Partitur für Deborah Hay macht die Grenzen des Vergleichs von Tanz und Schrift deutlich. Auch wenn die Bewegung des Körpers im Raum sich mit der Bewegung einer schreibenden Hand auf der Fläche vergleichen lässt, ist das Ergebnis von Tanz kein Text. Daher sind Metasprachen notwendig, um Tanz zu beschreiben: Gespräche mit Tänzern, grafische Notationssysteme, Algorithmen der digitalen Bildanalyse oder die Biodynamik. Die Tanzwissenschaft hat gerade erst angefangen, die Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit zu nutzen. Dabei geht es nicht um die Entschlüsselung des Supercodes sondern um Erweiterung unseres Wissens und Verständnisses von Bewegung. --------------- William Forsythe, Improvisation Technologies, A tool for he Analytical Dance Eye, CD-ROM www.synchronousobjects.osu.edu www.motionbank.org www.theforsythecompany.com Emio Greco, Pieter C. Scholten Capturing Intention, Documentation, analysis and notation research based on the work of Emio Greco / PC, Buch + DoubleSkin / DoubleMind DVD-ROM www.ickamsterdam.com Seite - 1 - 1 FundG_MSTanz_20110811.doc 11.08.11