DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 27.10.2009 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr "Auf der Tagesordnung steht Zorn" Neue Protestformen in Frankreich Von Ruth Jung Co-Produktion Deutschlandfunk/SR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musikakzent/O-Ton (Radiosendung, Là-bas, si'y suis von Daniel Mermet, Mailbox: ein Hörer) Salut! Un petit message. Quand l'autorité devient arbitraire et oppressive, la résistance est un devoir et ne peut s'appeller révolte, nous dit Monsieur Mirabeau. Notre colère ne trouve plus son chemin à travers les syndicats et les élections, il nous faut d'autres moyens pour enrayer les machines à spéculer, à privatiser, à emprisonner. Übersetzer 1: Hallo! Eine kurze Nachricht: Wenn das Regieren in Willkür umschlägt und Unterdrückung, dann ist Widerstand eine Pflicht und kann niemals Revolte genannt werden - das sagt uns Monsieur Mirabeau. Unser Zorn findet keinen Weg mehr über Gewerkschaften und Wahlen, wir müssen uns andere Wege bahnen, um die Spekulationsmaschinerie, die Privatisierungen und Knebelungen aufzuhalten. O-Ton: Pierre Piccarreta, Grenoble On a au moins cette fierté d'avoir réagi. Ce qu'il faut c'est justement réagir, ne pas accepter gentiment sans rien dire ce que les patrons, ce que les dirigeants capitalistes veulent nous faire subir. Übersetzer 2: Zumindest können wir mit Stolz sagen, dass wir uns gewehrt haben. Denn das ist es, was wir tun müssen, uns wehren und nicht lammfromm hinnehmen, was die Chefetagen des Kapitals uns zumuten wollen. Musikakzent Ansage: "Auf der Tagesordnung steht Zorn" Neue Protestformen in Frankreich Ein Feature von Ruth Jung Zitator: Echirolles. Über einen Monat lang streikten hier die Arbeiter des Unternehmens Caterpillar. Ihr Arbeitskampf, sagen sie, sei ein Kampf für alle Arbeiter Frankreichs. Sie haben ihre Chefs, die Manager, "gekidnappt", TGV-Bahnstrecken blockiert, den lokalen Polizeipräfekten zu einer Stellungnahme gezwungen, Sitzstreiks und Generalversammlungen organisiert, um eine größere Solidarität herzustellen mit den Arbeitern anderer Unternehmen, deren Jobs ebenso bedroht sind. New York Times, 16. April 2009 O-Ton Patrick Cohen (Oui, c'est un moyen qui existe ... remis au bout du jour) Übersetzer 3: Boss-napping, das ist eine Kampfform seit den 70er-Jahren. Damals gab es sehr harte soziale Auseinandersetzungen, viel härtere als heute, man hatte ganz andere Vorstellungen von sozialen Bewegungen. Eine Festsetzung der Betriebsleitung gehörte folgerichtig zum Arbeitskampf. Na und heute wird dieses Kampfmittel in Frankreich eben wieder hervorgeholt. Autorin: Patrick Cohen ist Betriebsrat und Gewerkschafter bei Caterpillar, einem US-amerikanischen Großunternehmen für Baufahrzeuge in Grenoble. Mit zwei Fabriken und 2800 Beschäftigten ist Caterpillar ein wichtiger Arbeitgeber und eine Drehscheibe. In Grenoble werden die Teile hergestellt, im Vorort Echirolles die Maschinen zusammengebaut und in andere europäische Länder geliefert. O-Ton Pierre Piccaretta (Caterpillar ça fait quarante ans qu'elle existe ici à Grenoble ... non, ça ne se passera pas comme ça) Übersetzer 2: Seit vierzig Jahren ist Caterpillar in Grenoble ansässig und in diesen vierzig Jahren haben die Lohnabhängigen, das heißt unsere Vorväter, die in diesem Unternehmen beschäftigt waren, für die Arbeitsrechte gekämpft, die es heute gibt. Und jetzt kommt die Firmenleitung daher und versucht uns mit dem Druckmittel Arbeitsplatzerhalt zu erpressen, um all diese erkämpften Rechte wieder loszuwerden. Unsere erste Reaktion darauf: Nein, so geht das nicht! Autorin: Pierre Piccarretta ist Mechaniker bei Caterpillar. Schon 34 Jahre arbeitet er hier. Im Februar 2009 gab die Unternehmensleitung bekannt, am Standort Grenoble 733 Stellen "abbauen" zu wollen. Daraufhin traten die Beschäftigten in den unbefristeten Streik. Und nachdem die Verhandlungen über einen Sozialplan gescheitert waren, griffen die Arbeiter zu einem schärferen Mittel: O-Ton Pierre Piccarreta (Alors comment on est arrivé à la séquestration ou à la retenue ... vous ne sortira pas de vos bureaus) Sprecher 2: Wie aber ist es zu der Festsetzung oder besser Einsperrung gekommen? Wir sagen nämlich Einsperrung, kommt drauf an, was man darunter verstehen will. Wie auch immer, Ziel der Aktion war es, die Unternehmensleitung zum Verhandeln aufzufordern. Und zu dieser Maßnahme haben wir uns entschlossen, weil die Leitung nach einer bestimmten Zeit gesagt hat' "wenn ihr weiter streikt' dann, nun gut, werden wir die Verhandlungen nicht wieder aufnehmen". Als die Arbeiter, die sowieso schon sehr aufgebracht waren, von diesen Äußerungen hörten, fassten sie den Entschluss, die Aktion der Einsperrung der Patrons zu organisieren und ihnen zur Auflage zu machen: "Ihr bleibt hier eingesperrt, und solange die Verhandlungen nicht wieder aufgenommen werden und unseren Forderungen nicht nachgekommen wird, solange kommt ihr aus euren Büros nicht raus." Autorin: Pierre Piccarreta und Patrick Cohen sind Mitglieder der Gewerkschaft CGT, der Confédération générale du travail. Im Jahr 1895 gegründet, ist sie die älteste und noch immer einflussreichste Gewerkschaft in Frankreich. O-Ton Cohen (C'est vrai que vu de l'exterieure ... de ce qu'il était prévu) Übersetzer 3: Schon möglich, dass sich diese Aktion von Außen, aus der Sicht anderer europäischer Länder als ein gewalttätiges Vorgehen dargestellt hat. Dem war aber nicht so. Wir, die wir immer dabei waren, können bestätigen, wie im übrigen auch Polizei und Ordnungskräfte, die waren ja die ganze Zeit über präsent, dass es nie zu Ausschreitungen oder Übergriffen gegen die Unternehmensleitung gekommen ist. Es war ein Druckmittel, und es hat sich, zumindest in finanzieller Hinsicht, ausgezahlt, die Abfindungssummen sind jetzt viel höher als ursprünglich vorgesehen. O-Ton Pierre Piccarreta (La séquestration elle est punie par la loi ... qu'il répond à cette question) Übersetzer 2: Freiheitsberaubung kann gesetzlich verfolgt und bestraft werden. Und dennoch stellt sich irgendwann die Frage, wie man sich dazu verhält. Unser Präsident, Monsieur Sarkozy, hatte einerseits erklärt, dass er den Caterpillar-Arbeitern zu Hilfe kommen wolle, bei anderer Gelegenheit aber sagte er, dass er es nicht zulassen werde, dass Angestellte ihre Chefs kaperten. Darauf können wir, was diesen Präsidenten, Monsieur Sarkozy, betrifft, nur sagen, dass wir, sollten wir ihn heute treffen, uns nicht von ihm sagen lassen, eine Einsperrung sei nicht gut und wir, wir seien garstige Buben, sondern dass er sich fragen soll, warum heutzutage die Arbeiter ihre Chefs einsperren. Diese Frage muss er uns beantworten. Musikakzent mit Gedichtelement (Bertolt Brecht) Autorin: Pierre Piccarreta ist ein eher nüchterner und ziemlich sachlicher Typ, aber über das Vorgehen der Unternehmensleitung kann er sich gewaltig aufregen. Der 53-jährige Vater von vier Kindern ist gewählter Vertrauensmann der Gewerkschaft CGT und spielte eine wichtige Rolle im Konflikt bei Caterpillar. O-Ton Pierre Piccarreta (En 2008 on nous a annoncé une baisse ... une perte de salaire de quarante pourcent du brut) Übersetzer 2: Im August 2008 wurden wir über einen empfindlichen Rückgang der Aufträge informiert. Dabei hatten wir noch im Verlauf der vorangegangenen neun Monate ganz normal gearbeitet, als wären die Auftragsbücher voll gewesen. Wir haben sogar Überstunden gemacht und in wechselnden Schichten geschuftet, als ob alles gut laufen würde und wir mit voller Kraft arbeiten sollten. Auch die Zeitarbeiter mit begrenzten Verträgen wurden beibehalten. Nach der Sommerpause jedoch, Ende August, fand eine außerordentliche Betriebsratsversammlung statt, wo von dem empfindlichen Rückgang der Aufträge die Rede war, was sich zuerst in Kurzarbeit niederschlug, wobei man sagen muss, dass das für diejenigen, die keinen Urlaubsanspruch mehr hatten, schon eine Arbeitslosigkeit auf Raten bedeutete bei einer Einbuße von vierzig Prozent des Bruttogehalts. Autorin: Immer mehr Unternehmen begründen radikale Stellenstreichungen mit der weltweiten Krise der Finanzmärkte und betreiben den Abbau von Arbeitsrechten. Auch das deutsche Unternehmen Continental will die Fabrik in Clairoix schließen und 1100 Arbeitsplätze vernichten. Dabei hatten sich die Beschäftigten vor zwei Jahren erst bereit erklärt, länger zu arbeiten ? und zwar ohne Lohnerhöhungen. O-Ton: Pierre Piccarreta (Pour nous ils ont utilisé la crise ... . on va utilser cette crise, c'était volontaire) Übersetzer 2: Für uns steht fest, die Krise war für sie ein Vorwand. Seit Juli 2007 wussten sie, dass sich eine Krise anbahnt, die Rezession in den USA war bekannt, das wurde seit Januar 2007 in der Öffentlichkeit diskutiert und obwohl sie keine Aufträge mehr bekamen, haben sie bis August 2008 Maschinen bauen lassen. Im August 2008 lagerten bei den Vertragshändlern schon Lieferungen von sechs bis acht zurückliegenden Monaten und trotzdem hatten sie weiterproduzieren lassen, was für uns Gewerkschafter nur eines bedeutet: Es gibt eine Krise, die Produktion ist eingebrochen, das ist eine Tatsache, aber darauf hätten sie sich einstellen und eine Strategie entwickeln müssen. Doch sie wollten die Krise ausnutzen, das war geplant und beschlossene Sache. Atmo ? Fête du Travailleur Alpin Autorin: Ein Sommerfest in einem Park außerhalb des Stadtzentrums von Grenoble. Die Kulisse ist eindrucksvoll: Hohe Bergzüge, schroffe Gesteinsformationen wechseln mit satt-grünen Hängen. Über drei Tage feiern die Travailleur alpin ihr 80-jähriges Bestehen. Musik, Essen, Podiumsgespräche, Debatten und ein Videofilm über den Arbeitskampf bei Caterpillar stehen auf dem Programm. Aus Paris haben sich die Größen der Kommunistischen Partei angekündigt. Atmo (ein Redner der CGT über die Rolle der Gewerkschaft heute) Autorin: Die CGT, sagt der Redner, befinde sich in einem wichtigen Entwicklungsprozess. Sie wolle zu einer breiten Bewegung der Einheit werden, um sich gemeinsam mit den Lohnabhängigen gesellschaftlich einzumischen. Atmo (anderer Redner) Autorin: Grenoble ist eine Stadt im rasanten Wandel. Eine renommierte Universität, ein Zentrum der französischen Nuklearforschung und neuerdings der Nanotechnologie. Als Industriestandort verliert die Stadt hingegen dramatisch an Bedeutung. O-Ton Nicolas (Caterpillar licencie ... qui ne sont pas allés voté) Übersetzer 1: Nicht nur Caterpillar entlässt die Leute, auch die anderen Unternehmen streichen Stellen und das wirkt sich aus im Bassin d'Isère, zwanzig Prozent mehr Arbeitslose im Vergleich zum Vorjahr, heißt es, nur in der Region Isère. Heute kann man sich nicht mehr nur mit gewerkschaftlichen Aktionen zufrieden geben, weil all das mit der Politik zusammenhängt, mit der Politik in Europa, gerade waren Europawahlen, die Wahlbeteilung war dermaßen niedrig, 60 Prozent der Franzosen haben nicht gewählt. Autorin: Nicolas ist seit 15 Jahren Facharbeiter bei Caterpillar und Mitglied der Gewerkschaft CGT. O-Ton Nicolas (La problématique des syndicats ... tous les jours) Übersetzer 1: Das Problem der Gewerkschaften ist, dass sie seit Ende der 80er-Jahre keine Politik mehr machen und sich nicht einmischen wollen, mit dem Resultat, dass alles, was die Mächtigen vorgegeben haben, hingenommen wurde. Heute sind es die Lohnabhängigen, die uns Gewerkschafter antreiben, sie sind es leid: die Renten, die Gesundheitsvorsorge, in Frankreich wie überhaupt in Europa sind sie doch dabei alles zu zerschlagen, nur um immer noch die Rentabilität zu steigern. Dagegen muss man heute gemeinsam vorgehen, die Gewerkschaften müssen wieder Politik machen, so wie im Betrieb der Patron doch auch alltäglich Politik macht. Autorin: Am 19. April 2009 hatten die Delegierten der vier bei Caterpillar vertretenen Gewerkschaften mit der Firmenleitung ein Abkommen unterzeichnet, das schon einen Tag später bei einer Generalversammlung wieder verworfen wurde. Die Arbeiter sprachen sich anders als ihre organisierten Vertreter für weitere Aktionen und neue Verhandlungen aus. O-Ton Nicolas (J'ai trente-huit ans ... repart à zero) Übersetzer 1: Ich bin achtunddreißig. Noch jung? Was heißt schon jung! Wenn man mit achtunddreißig entlassen wird, hat man heutzutage enorme Schwierigkeiten einen neuen Job zu finden. Immerhin war man Facharbeiter, hatte sich Lohnerhöhungen erarbeitet und wenn man dann arbeitslos wird oder bei einem anderen Unternehmen landet, fängt man bei Null an. Autorin: Zuerst werden immer die aktiven Gewerkschafter entlassen. Beim Konflikt Caterpillar, dem bisher längsten und härtesten Arbeitskonflikt im Krisenjahr 2009 erwies sich die CGT als konsequenteste Gewerkschaft. O-Ton Nicolas (Oui, on a une fonction d'élu ... jusqu'à la fin du mois ). Übersetzer 1: Wir haben eine Aufgabe, sind gewählte Personalvertreter, müssen uns also fragen lassen, was wir denn tun, die Beschäftigten haben viel von uns erwartet. Einfach den Kopf einziehen und warten bis der Sturm vorbeizieht, das ging nicht. Die Verantwortung lastete auf uns und es drückte die Stimmung, dass man nicht wusste, wie es weitergehen wird. Die Leute waren auf Kurzarbeit, hatten also vierzehn und manchmal nur sieben Tage im Monat Arbeit bei geringem Lohn, das Leben in den Haushalten hier ist kein Zuckerschlecken, wenn man Frau und Kinder bis zum Monatsende durchbringen muss. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Dominique Labbé (Les relations en France ... qui sont normalement censé de les réprésenter) Übersetzer 3: Die Beziehungen zwischen Lohnabhängigen und Gewerkschaften in Frankreich waren schon immer schwierig, besonders gut hat das noch nie funktioniert. Was für die gegenwärtige Situation aber kennzeichnend ist, das sind einmal die Zahlen, kaum sieben Prozent der Lohnabhängigen sind heute überhaupt noch gewerkschaftlich organisiert, und dann das Misstrauen auf Seiten der Beschäftigen gegenüber den bürokratischen Gewerkschaftsapparaten, jenen Institutionen, die sie eigentlich vertreten sollten. Autorin: Dominique Labbé beschäftigt sich an der Universität Grenoble als Sozialwissenschaftler seit Langem mit der Entwicklung und den Besonderheiten des französischen Syndikalismus. O-Ton Dominique Labbé (Ce conflit n'est pas nouveau ... par les organisations syndicales avec la direction.) Übersetzer 3: Ein Arbeitskampf wie bei Caterpillar ist nichts Neues. Ähnliches erlebt man in Frankreich oft, vor allem wenn es um Massenentlassungen geht. Was aber tatsächlich neu hinzugekommen ist und die aktuellen Konflikte kennzeichnet, das sind die offensichtlichen tiefgreifenden innergewerkschaftlichen Spaltungen, das Misstrauen der Lohnabhängigen gegenüber den traditionellen Gewerkschaften, das Auftreten von Streikkomitees und Generalversammlungen neben den Gewerkschaften, was oftmals dazu führen kann, dass die von den Gewerkschaften ausgehandelten Kompromisse gekippt werden. Bei Caterpillar zum Beispiel gab es ein Referendum, mit dem der zwischen den gewerkschaftlichen Organisationen und der Betriebsleitung ausgehandelte Kompromiss verworfen worden ist. Autorin: Nach zähen Verhandlungen war bei Caterpillar schließlich am 18. Mai 2009 ein neues Abkommen unterzeichnet worden. Statt der ursprünglich vorgesehenen 733 sollten "nur" noch 600 Beschäftigte entlassen werden, außerdem wurden die Abfindungssummen erhöht. Doch die stärkste der beteiligten Gewerkschaften, die CGT, verwarf nach harten internen Auseinandersetzungen auch dieses Abkommen. O-Ton Dominique Labbé (Oui, on pourrait même dire en décomposition ... une position commune et de s'y tenir) Übersetzer 3: Man könnte sogar von Auflösung sprechen. Nicht nur, dass die Zersplitterung voranschreitet und es heute sieben größere Gewerkschaften gibt, zwei neue Organisationen sind in den letzten Jahren zu den fünf traditionellen hinzugekommen, SUD und UNSA, darüber hinaus werden die Differenzen zwischen den einzelnen Gewerkschaften und sogar im Innern immer größer. Das Frappierende am Konflikt bei Caterpillar war ja gerade, dass sich die Gewerkschaften über das Vorgehen heillos zerstritten hatten, vor allem die CGT, die bei Caterpillar am stärksten vertreten ist, war in sich gespalten. Einige ihrer Wortführer waren damit einverstanden, das Übereinkommen zu unterzeichnen, andere weigerten sich strikt. Sie waren unfähig sich zu einigen, eine gemeinsame Linie zu finden und diese zu verteidigen. Autorin: Pierre Piccarreta war im Frühjahr zeitweise von den Verhandlungen der CGT in Paris über den Sozialplan ausgeschlossen worden. O-Ton Pierre Piccarreta (Un plan inacceptable ... éviter les licenciements) Übersetzer 2: Ein unannehmbarer Sozialplan, und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Am Jahresanfang 2009 hatte das Unternehmen Rekordgewinne bekannt gegeben, im vierten Jahr Rekordgewinne verbucht, und dann erlaubt sich dieses Unternehmen 733 Leute auf die Straße zu setzen, 733 Stellen zu streichen! Wie hätten die Arbeiter diesenn sogenannten Sozialplan annehmen können. Man kann doch nicht hinnehmen, dass ein Unternehmen, das Profite macht, so leicht die Leute entlassen kann, was ganze Familien ins Elend stürzt, sie in enorme Schwierigkeiten bringt, und das bei der Konjunktur. Bei dem finanziellen Spielraum wäre es für das Unternehmen ein Leichtes gewesen, andere Wege zu suchen, die Leute hätten in Weiterbildungsmaßnahmen geschickt werden können, die Kurzarbeit hätte verlängert werden können, auf jeden Fall hätte man Massenentlassungen vermeiden können. Autorin: Rund 3,5 Milliarden Dollar Reingewinn, heißt es, habe das Unternehmen im Jahr 2008 verbucht. O-Ton Patrick Cohen (A mon sens l'action collective ... . de faire évoluer la loi s'adaptent) Übersetzer 3: Ich bin überzeugt, dass die kollektive Aktion heute wieder eine wichtige Rolle spielt, was die öffentliche Meinung angeht und die Politiker. Wir sind gezwungen, unsere ökonomische Lage, die das Leben bestimmt, der Realität anzupassen. Unsere Politiker haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die sich Gesetze dieser Wirklichkeit anpassen und dem entsprechen, was unser Leben bestimmt. Was immer der Beschluss der Unternehmensgruppe gewesen sein mag, unsere Aktionen werden daran vielleicht kein Jota verändert haben, aber wie wir den Konflikt in die Medien gebracht, mit der Ordnungsmacht ausgetragen und die Öffentlichkeit auf unsere Seite gebracht haben, das war entscheidend. Ein Bewusstsein schaffen: Caterpillar, Continental, Sony, dazu müssen sich die Politiker verhalten, diejenigen, in deren Macht es liegt, Gesetze voranzubringen, sie müssen sich dieser Realität stellen. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Pierre Piccarreta (On est allé à Paris ... si elle font des bénéfices) Übersetzer 2: Wir sind nach Paris gefahren, fünfzig Caterpillar-Beschäftigte sind wir am 28. Mai hoch nach Paris gefahren. An diesem Tag präsentierten die Abgeordneten der Kommunistischen Partei im Parlament ihren Gesetzesentwurf, er sah vor, dass Unternehmen die Gewinne und Dividenden an ihre Aktionäre verteilen, also Profite machen, dass ihnen Entlassungen verboten werden. Wir also nach Paris, wo wir in der Nationalversammlung das Wort ergreifen und begründen konnten, warum wir diese Abgeordneten unterstützen, es ging uns auch darum, die noch unentschlossenen Abgeordneten aufzufordern, sich für ein solches Gesetz auszusprechen, das in Frankreich dringend notwendig geworden ist. Es muss den Unternehmen gesetzlich verboten werden, Leute zu entlassen, wenn sie Gewinne machen. O-Ton Patrick Cohen (Concernant le conflit Caterpillar ... avant tout un licenciement boursier) Übersetzer 3: Sicher war in erster Linie die ökonomische Krise ausschlaggebend gewesen für den Konflikt bei Caterpillar. Wir sind Leidtragende eines konjunkturell bedingten Absturzes der Produktion, das ist die eine Seite. Aber hinzukommt, dass große Unternehmensgruppen wie Caterpillar den Aktienwert halten wollen. Zu Jahresbeginn hatte der Generaldirektor von Caterpillar in den USA seinen Aktionären verkündet, dass, wenn man den Wert der Aktie halten wolle, weltweit 20 000 Beschäftigte entlassen werden müssten. Es war uns also die ganzen Wochen über vor allem darum gegangen, auf den Tisch zu bringen und vorzuführen, was die eigentliche Absicht der Unternehmensgruppe gewesen war: eine auf den Börsenwert ausgerichtete Entlassungsaktion. Atmo ? Glockenschlag, Demonstration mit Rufen Résistance Autorin: Am 29. Januar und am 19. März 2009 ging in Frankreich gar nichts mehr. Millionen Franzosen waren einem gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften gefolgt und hatten für einen Tag die Arbeit niedergelegt, um gegen Sozialabbau und wachsende Arbeitslosigkeit zu protestieren. O-Ton Eric Bessou, Gewerkschaft SUD- Rail, Paris Saint Lazare (On peut faire la grève pendant une journée ... ça nous paraît inutile, inefficace) Übersetzer 4: Man kann gut einen Tag lang streiken und nach Paris fahren, um zu demonstrieren. Aber wir glauben nicht, dass das eine angemessene Antwort ist auf die Krise, es steht zuviel auf dem Spiel. Wir meinen sogar, dass solche Aktionen die Lohnabhängigen und Arbeiter demoralisieren, es kommt uns nutzlos vor. Autorin: Eric Bessou, Lokführer und Gewerkschafter bei SUD-Rail in Paris Saint Lazare. SUD ist eine Abkürzung und steht für das Programm: Solidaires, unitaires, démocratiques. SUD ist eine junge Gewerkschaft, gegründet 1995 während der großen Streikbewegung versteht sie sich als Basisgewerkschaft in der Tradition des frühen Syndikalismus. O-Ton Xavier Renou (J'ai consideré à titre personnel ... continuer la déstruction de l'environnement) Übersetzer 2: Die Streiktage im Frühjahr, ich hielt das für eine Form des Verrats seitens einer gewissen verbürokratisierten Gewerkschaft, das ist meine persönliche Meinung, aber ich glaube, dass viele diese Einschätzung teilen. Verrat ist ein starkes Wort, aber wenn man Millionen Menschen alle paar Monate zu einem Streik auffordert, von dem man von vornherein weiß, dass er zu nichts führen wird, was ist das anderes als Verrat? Ein Streik, von dem man weiß wie er enden wird, ist zum Scheitern verurteilt. Die Unternehmer und die politischen Führungskräfte können gut leben mit einem Tag Verdienstausfall und sie freuen sich über einen zweiten Aktionstag wenige Monate später, das tut ihnen nicht weh, sie gewinnen Zeit und sie nutzen sie, um Sozialabbau und Umweltzerstörung unbehelligt weiter voranzutreiben. Autorin: Xavier Renou, Mitbegründer des Kollektivs 'Die Ungehorsamen'. Atmo ? Bahnhof Paris Saint Lazare Autorin: Im Bahnhof Paris Saint Lazare. Einer der ältesten Bahnhöfe von Paris. Von hier aus gehen die Züge in die nördlichen und westlichen Vororte und nach Nordfrankreich. Im Januar 2009 hatten die Gewerkschafter von SUD den Bahnhof tagelang stillgelegt. Das kam bei den meisten Parisern gar nicht gut an. O-Ton Eric Bessou (On a cherché une nouvelle forme d'action ... la grève de ne pas faire rouler les trains) Übersetzer 4: Ja, wir haben wir nach neuen Aktionsformen gesucht und deshalb diesen Workshop bei den Ungehorsamen mitgemacht, die bieten pazifistische Aktionen an, die auch in den Medien gut ankommen. Um SUD Rail gab es ja in letzter Zeit einigen Medienwirbel wegen der Stilllegung des Bahnhofs Saint Lazare im Januar. Mit den Ungehorsamen denken wir über andere Aktionsformen nach, wir könnten uns zum Beispiel einen Streik mit kostenfreien Transportmöglichkeiten vorstellen, einen Streik zur Einführung des kostenlosen Nahverkehrs, das wäre für die Nutzer interessant und käme sicher besser an als ein Streik, bei dem keine Züge mehr fahren. O-Ton Xavier Renou, Collectif Désobeir (Je m'appelle Xavier Renou, je suis formateur dans le collectif que l'on appelle les Désobeissants, Die Ungehorsamen ... ) Übersetzer 2: Ich heiße Xavier Renou und bin Ausbilder im Kollektiv, das sich die Ungehorsamen nennt. Die Ungehorsamen haben sich vor zweieinhalb Jahren gebildet, um in die Techniken der gewaltlosen action directe einzuführen, diese zu vermitteln und anderen Hilfestellung bei deren Aktionen zu geben. Autorin: Xavier Renou ist 36 Jahre alt, eher feingliedrig und schlank, er trägt Jeans und ein kariertes Hemd: ein zuvorkommender junger Mann. Wie ein Rambo jedenfalls wirkt er nicht gerade. Früher war Xavier Renou bei Greenpeace verantwortlich für Aktionen gegen die französische Rüstungs- und Atompolitik. O-Ton Xavier Renou (Nous sommes en train de retrouver des formes d'actions ... la protection de l'environnement) Übersetzer 2: Wir entdecken Aktionsformen wieder, die seit den 80er-Jahren in Vergessenheit geraten waren. Nicht wir haben die action directe erfunden, sie geht auf den frühen Syndikalismus zurück und war das Kampfmittel, mit dem alle heutigen Sozialrechte in Europa erkämpft worden sind. Es waren zuerst die Arbeiter, die, ohne dass sie Gewalt anwendeten, beschlossen hatten, die Arbeit niederzulegen, als der Streik noch verboten war, die demonstrierten, als Demonstrationen noch verboten waren. Atmo - Radiosendung France Info Juli 2009 Autorin: Eine Simulation. Die Teilnehmer des Workshops üben die "Festsetzung" eines Patrons. 82 Workshops in zwei Jahren. Die Ungehorsamen machen von sich reden. Unter www.desobeir.net kann man herausfinden, wann und wo der nächste Workshop stattfindet. O-Ton Eric Bessou (C'était assez amusant ... malfaisances policières et de la brutalité policière) Übersetzer 4: Das war schon amüsant, weil wir bei diesem Lehrgang, der auf zwei Wochentage angesetzt war, gleich am zweiten Tag Gelegenheit zur praktischen Übung bekamen. Die Aktualität wollte es, dass wir gemeinsam mit den Kameraden maîtres chiens sans papiers das Ministerium für Einwanderung unseres teuren Ministers Besson belagerten, damit endlich die Bearbeitung der Anträge auf reguläre Papiere vorankommt. Wir machten also den Lehrgang und bekamen die praktische Anwendung im Handgemenge gleich mit dazu, das war interessant, man konnte umsetzen, was man gelernt hatte. Autorin: Die sogenannten maîtres chiens sans papiers sind von der SNCF, der französischen Bahngesellschaft, über ein Subunternehmen zu Hungerlöhnen eingekaufte Sicherheitskräfte. Mit Wachhunden patrouillieren sie in den Pariser Bahnhöfen. O-Ton Eric Bessou: Übersetzer 4 Man lernt, wie man eine solche Aktion organisiert, man lernt, wie man sich in den Griff bekommt, um sich nicht provozieren zu lassen. Ziel ist es ja gerade Gewalt zu vermeiden, nicht in eine Gewaltspirale zu geraten, das kann man sich nicht wünschen, wir wissen nur zu gut, dass die Polizei immer das letzte Wort haben wird und die Gerichte sie nicht verurteilt. Derzeit unter der aktuellen Regierung werden Polizeiübergriffe überhaupt nicht mehr strafverfolgt, man ist mit brutaler Polizeigewalt und Misshandlungen konfrontiert, die nicht verfolgt werden. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Xavier Renou (SUD est très demandeur de ces outils là ... plus radicale mais néanmoins non-violente) Übersetzer 2: Die Gewerkschafter von SUD sind sehr interessiert an diesen Aktionsformen, entdecken sie aber auch von allein. Denn natürlich muss man jetzt nicht zwingend einen Workshop bei uns mitgemacht haben, um aufzubegehren. Bei SUD sind es die älteren Mitglieder, die darauf drängen, dass wir ihre neuen Mitglieder schulen. SUD spricht nämlich junge Arbeiter an, hat großen Zulauf, und die sind nun unvermittelt konfrontiert mit den veränderten harten Arbeitsbedingungen und dem allgemeinen Sozialabbau, worüber sie zornig sind, aber nicht wissen, wie sie sich wehren können. Bei SUD haben wir also eine Schulung organisiert. Ein anderes Beispiel ist Numéricable, einer der größten Kabelanbieter Frankreichs. Dort hatten die Gewerkschaften das Terrain quasi geräumt, einige waren, wenn man so will, gekauft worden, dass heißt die Unternehmensleitung hatte die Repräsentanten selbst ausgewählt und natürlich verteidigten diese die Interessen der Arbeiter nicht, eine Gewerkschaftskultur gab es auch nicht mehr. Also sind wir, die Ungehorsamen, mit den streikenden Arbeitern in Kontakt getreten und haben mit ihnen den Streik so umgemünzt, dass er erfolgreich wurde, haben spektakuläre und radikale Aktionen entwickelt, sind jedoch bei all dem gewaltlos geblieben. Atmo ? Radioreportage Workshop (Xavier Renou) Autorin: Xavier Renou erklärt den Teilnehmern, wie sie es vermeiden können, in eine Eskalation der Gewalt zu geraten. Vor allem den jungen Männer gingen schnell mal die Nerven durch. Um sich zu schützen, müssten sie lernen, ihren Zorn zu zügeln. Was letztendlich aber auch nicht verhindern kann, dass es Strafverfolgungen gibt. Das Risiko bei den Aktionen trägt jeder selbst. O-Ton Xavier Renou (Nous nous trouvons en ce moment ... dans des conditions indignes et intolérables d'un pays riche) Übersetzer 2: Wir befinden uns augenblicklich in einem Haus, das besetzt worden ist, um wohnungslose Familien dort unterzubringen und das ist ein Sieg, hier werden jetzt nämlich Sozialwohnungen enstehen mit moderaten Mieten. Und das in der Rue de la Banque gegenüber der Börse, was natürlich von großer symbolischer Bedeutung ist, dieses prächtige Gebäude in einem reichen Viertel, ein typisches Pariser Wohnhaus im Stil der Epoche Haussmann, über Jahre stand es leer und dann wurden dort eben Menschen untergebracht, die ihrerseits seit Jahren wie Ratten in Löchern und Kellern hausen mussten, unter Bedingungen, die eines reichen Landes unwürdig sind. Autorin: Auf dem Trottoir der Rue de la Banque campierten im Winter wochenlang über 200 Familien, die seit Jahren auf eine bezahlbare Sozialwohnung warten. Die Mieten in Paris haben sich im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte annähernd verdoppelt, die Immobilienspekulation grassiert. Zitator: "Es gibt 40 000 freie Wohnungen in Paris" Autorin: sagte der Europa-Abgeordnete und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit anlässlich einer Ortsbesichtigung in der Rue de la Banque im Februar 2009: Zitator: "Warum sie nicht besetzen? Mit der ökonomischen Krise wird die Anzahl leerstehender Büros noch steigen. Nutzen wir sie, um Menschen in Schwierigkeiten dort unterzubringen. Das sind doch keine revolutionären Forderungen, sondern sie entspringen dem gesunden Menschenverstand, oder etwa nicht?" Autorin: Inzwischen ist das Gebäude im Besitz der Stadt Paris. Ein Schild an der Fassade informiert: Hier entstehen Sozialwohnungen. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Philippe Villechalane, APEIS (Nous on a depuis longtemps choisi la légitimité contre la légalité ... c'est la fraternité humaine) Übersetzer 4: Wir stellen seit Langem die Legitimität über die Legalität, Gesetze sind dazu da, verändert zu werden. Überall in der Welt hat es Besetzungen gegeben, widerständige Aktionen, und jedes Mal waren diejenigen, die Widerstand leisteten, in der Illegalität und wurden, nachdem sie abgezogen waren, zu Helden erklärt. Heute sich zu sagen, ich kann es nicht zulassen, dass Menschen kein Dach überm Kopf haben, ohne ein Morgen leben müssen, in Armut, Hoffnungslosigkeit, im Unglück - mag sein, dass man damit in die Illegalität geraten kann, aber man hat alle Legitimität der Welt für sich, weil ihr Maß die Brüderlichkeit ist. Autorin: Der Treffpunkt: ein typisches kleines Vorstadthaus aus den 20er-Jahren in Villejuif. Villejuif ist ein Vorort im Süden von Paris. Eine triste Gegend, Hochhaustürme, viele Einwanderer, Arme, Ausgegrenzte. APEIS, Association pour l'emploi, l'information et la solidarité des chômeurs et des précaires, steht auf dem Schild an der Haustür. Philippe Villechalane öffnet: O-Ton Philippe Villechalane (L'Apeis c'est une association des chômeurs ... qui ne va pas s'arranger) Übersetzer 4: Apeis ist eine Vereinigung von Arbeitslosen und besteht inzwischen schon seit über zwanzig Jahren, leider möchte ich sagen, da es ja unser Ziel ist, nicht mehr gebraucht zu werden, wieder von der Bildfläche zu verschwinden, aber nicht etwa deshalb, weil uns Mittel und Kräfte fehlten, sondern weil die von uns angesprochenen Probleme gelöst und wir überflüssig geworden wären. Wir sind eine Assoziation der Arbeitslosen, keine caritative Hilfseinrichtung, wir stellen Forderungen. Wir fordern das Recht auf Existenz, auch außerhalb des Dreh- und Angelpunkts Arbeit. Heute geht es vor allem um die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit, mit denen wir uns konfrontiert sehen, den Auswirkungen einer massiven und langandauernden Arbeitslosigkeit, die sich nicht mehr geben wird. Autorin: Philippe Villechalane, 54 Jahre, ist Initiator und Sprecher von APEIS. In vielen Regionen Frankreichs sind lokale Komitees entstanden. Sein kleines Haus in Villejuif ist eine Art Zentrum und steht immer offen. Ein Raum im Erdgeschoss dient als Redaktion der monatlich erscheinenden Zeitung: Existence! O-Ton Philippe Villechalane (Dernièrement on est intervenu ... le noeud gordien de la politique il est là) Übersetzer 4: Unlängst sind wir auf den Plan getreten, damit eine Bank ein Konto einrichtet. Da die betroffene Person nur das soziale Mindesteinkommen von 450 Euro im Monat hat, was in der Tat kaum ein Einkommen zu nennen ist, weigerte sich die Bank ein Girokonto zu eröffnen. Daraufhin haben wir die Filiale besetzt und gefordert, dass diese Person genauso zu behandeln sei wie allen anderen Bürger, nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung nämlich. Einen halben Tag lang hielten wir die Bankfiliale besetzt, solange bis ein Konto eröffnet worden war. Wenn jemand zu uns kommt, das und das ist mir passiert, der Strom ist abgestellt worden, dann werden wir uns nicht lange fragen, was zu tun sei, vielmehr tun wir alles, damit der Strom wieder angeschlossen wird, nur das zählt. Wir besetzen also den Sitz der zuständigen Elektrizitätsgesellschaft, hindern die Beschäftigten dort an ihrer Arbeit, protestieren, rufen Slogans. O-Ton Philippe Villechalane Oui, ça marche. Bien sûr ça marche ... Übersetzer 4: Ja, das läuft. Klar geht das und nicht nur das, es kommen auch Begegnungen mit EDF-Angestellten zustande, die uns sagen: "Ihr habt Recht". Das sagen sie nicht offen, es entstehen stillschweigende Übereinkünfte und sie geben uns praktische Hinweise. Man darf die Dinge nicht einfach laufen lassen, anderen nicht zumuten, was man für sich selbst nicht hinnehmen würde. Das ist der gordische Knoten der Politik! Zitator: "Die Demokratie muss, will sie überleben, weiter vorangetrieben werden, sie muss permanent die institutionalisierten Formen überschreiten, den Horizont frei machen für universelle Werte, die Freiheit muss sich unentwegt messen lassen an der Gleichheit. Diese Aufgabe, die Demokratie zu revolutionieren, sie bleibt zu vollenden, damit die Kritik an der real existierenden parlamentarischen Demokratie nicht umkippt in autoritäre und kommunitaristische Scheinlösungen." Autorin: Daniel Bensaïd in einem Essay über den Zustand der Demokratie. Daniel Bensaïd lehrt Philosophie in Paris. Im Februar 2009 hat er mit Olivier Besancenot eine neue Partei gegründet: Nouveau parti anticapitaliste. Kürzlich hat Bensaïd ein neues Buch veröffentlicht: Marx. Ein Leitfaden. Eine mit Cartoons und Comics bebilderte etwas andere Einführung in das Denken von Karl Marx. O-Ton Daniel Bensaïd (Pour moi ce n'est que le début d'une crise sociale majeure ... une crise historique de civilisation) Übersetzer 3: Ich denke, dass wir erst am Anfang einer tiefgreifenden sozialen Krise stehen, die zusammenfällt mit einer ökologischen Krise. Ich fürchte, ohne das Bild noch düsterer malen zu wollen als es ohnehin ist, dass diese Krise dauerhafter und schwerwiegender sein wird als diejenige, die uns als historischer Bezugspunkt dient: die Krise der 30er-Jahre. Tatsächlich ist es eine umfassende Krise, nicht nur ökonomisch, sondern es ist auch eine Krise im Hinblick auf mögliche Lösungen. Was man gewohnt war als Lösungsmöglichkeiten gegen die ökonomische Krise einzusetzen, funktioniert nicht mehr. So enthüllt der Kapitalismus gegenwärtig nicht nur offen seine charakteristischen Grundzüge, die Ungerechtigkeit, Widersprüchlichkeit und das Ausbeuterische, er zeigt auch sein radikal zerstörerisches Wesen, was den Menschen und seine natürliche Umwelt angeht. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Philippe Villechalane (Je crois qu'il faut qu'on invente d'autres formes ... près de quatorze milliards Euro) Übersetzer 4: Man wird andere Organisationsformen erfinden müssen. Solche, die dem Citoyen erlauben, sich zu verteidigen und seinen Lebensraum zurückzugewinnen. Letztendlich geht es nicht um Geld. Nie zuvor gab es so viel Geld wie heute. Es geht um die Verteilung des produzierten Reichtums. Wir sind konfrontiert mit einer weltweiten andauernden tiefgreifenden Krise, die mehrere zehn und hunderttausend Nordamerikaner auf die Straße geworfen hat, die Leute haben ihre Häuser verloren, haben ihre Arbeitsplätze verloren. In Frankreich sind es ZehnTausende, HundertTausende, die ihren Arbeitsplatz verlieren und zugleich macht Total den größten Gewinn seiner Geschichte: 14 Milliarden Euro. O-Ton Daniel Bensaïd (Les gens se défendent ... qui exprime le fait qu'il y en a eu beaucoup) Übersetzer 3: Die Menschen verteidigen sich, widersetzen sich, kämpfen, sind auf der Straße. Es trifft schon zu, von einer besonderen Situation in Frankreich zu sprechen im Vergleich mit anderen europäischen Ländern. Eine Eigenart, die ihre Geschichte hat. Seit den Streiks im Winter 1995, das liegt nun fünfzehn Jahre zurück, hat ein neue Welle von Kämpfen begonnen, wobei der neoliberale Diskurs schon viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. Seit Ende der 90er-Jahre gab es unaufhörlich ein Wiederaufleben der sozialen Bewegungen, die heute in ihrer Vielfalt noch lange nicht geschlagen sind, weit davon entfernt! Das erklärt die Verspätung von zehn Jahren aller französischen Regierungen in bezug auf die Anwendung der Vorgaben und Normen des Lissabon-Vertrags. Frankreichs Gesellschaft widersetzt sich. Das zeigt sich seit Januar 2009 auf eine höchst eigenartige Weise. So mit den großen Aktionstagen, zu denen, was einmalig ist, eine geeinte gewerkschaftliche Front aufgerufen hatte, zumal es doch kennzeichnend ist für die französische Gewerkschaftsbewegung, dass sie extrem gespalten ist. In diesem Zusammenhang ist unbedingt zu erinnern an die wegweisende siegreiche Bewegung auf Guadeloupe, Martinique und wenig später auf La Réunion, den noch verbliebenen Kolonien. Desweiteren muss man die großen Mobilisierungen gegen die Privatisierungen im öffentlichen Dienst erwähnen, Krankenhäuser und Universitäten, aber auch Arbeitskämpfe auf lokaler Ebene, um Arbeitsplätze zu verteidigen und Abfindungen durchzusetzen, wie Caterpillar, Continental, von denen einige, das bleibt oft unerwähnt, durchaus erfolgreich waren. Musikakzent mit Gedichtelement O-Ton Pierre Piccarreta (On a au moins cette fierté ... pour que chacun puisse vivre décemment) Übersetzer 2: Zumindest können wir mit Stolz sagen, dass wir uns gewehrt haben. Denn das ist das, was wir tun müssen, uns wehren und nicht lammfromm hinnehmen, was die Chefetagen des Kapitals uns zumuten wollen. Vor allen Dingen kommt es darauf an, dass die Bevölkerung die Lage erfasst, die Leute müssen eingreifen, sich engagieren, sei es in politischen Parteien, Gewerkschaften, Initiativen, müssen kämpfen für ein anderes ökonomisches Gefüge, das nicht soviel Leid verursacht wie der Kapitalismus und eine gerechte Aufteilung der Reichtümer ermöglicht, damit jeder anständig leben kann. Musikakzent Absage "Auf der Tagesordnung steht Zorn" Neue Protestformen in Frankreich Ein Feature von Ruth Jung Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Saarländischen Rundfunk 2009 Es sprachen: Ursula Illert, Daniel Berger, Matthias Ponnier, Hendrik Stickan, Martin Bross, Thomas Lang und Anja Laïs Ton und Technik: Eva Pöpplein und Beate Braun Regie: Peter Behrendsen Redaktion: Karin Beindorff Musikakzent Die Gedichtelemente sind dem Theaterstück Die Tage der Commune von Bertolt Brecht entnommen (edition suhrkamp 1966) 3