COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Forschung und Gesellschaft 27.8.2009 Speerspitze der Archäologie Die Erforschung der Holz-Zeit Von Hans-Jörg Modlmayr Musik Anfang von Beethovens Pastorale - 1.O-Ton Archäologe Thieme Musik bleibt unter O-Ton Für mich ist es ein großes Anliegen immer gewesen, vor dieser Mutter Erde unter unseren Füßen großen Respekt zu haben AUTOR Der Archäologe Hartmut Thieme mit Blick auf den Braunkohletagebau im niedersächsischen Schöningen: Musik Pastorale weiter 2. O-Ton Archäologe Thieme Musik bleibt unter O-Ton Wir stehen hier am Südost Ausläufer des Elms, einem 20 km langen Muschelkalkrücken, der hier von Nordwest nach Südost sich erstreckt und wenn wir nach Süden blicken, in 40 km Entfernung kommt jetzt schön raus das gesamte Massiv des Harzes, diesen Mittelgebirgsrücken hier am Rande der norddeutschen Tiefebene, 1142 Meter hoch, und dann in ein zwei Kilometer Entfernung von hier, von unserem heutigen Standpunkt aus, also dort wo vor 400 000 Jahren die Wildpferdjäger hier diese ganze Wildpferdherde zur Strecke gebracht haben. Und man muss sich vorstellen, an der Stelle, wo wir heute stehen, ist damals, also 10 Meter unter unseren Füßen, vor 400 000 Jahren die Miß-Aue nach Süden geflossen und genau am Westrand dieser Uferzone hat vor 400 000 Jahren dieses Jagdgeschehen statt gefunden. AUTOR Als Charles Darwin aufgrund seiner Feldforschungen und seiner Intuition das Alter der Erde auf 'mindestens' 600 000 Jahre schätzte, versetzte er damit führende Geologen seiner Zeit in Rage - in Rage versetzen heute die beiden Archäologen Hartmut Thieme und Friedrich Mania nicht wenige etablierte Forscher der Ur- und Frühgeschichte des Menschen. Herrschende Lehrmeinung ist heute noch, dass der 'aasfressende' Neandertaler vor 40 000 Jahren ausgestorben sei, weil er unfähig gewesen sei, zu überleben. Unsere zum 'homo sapiens sapiens' geadelten unmittelbaren Vorfahren seien just zu der Zeit in unsere Breiten vom Süden her eingewandert, als die letzten Neandertaler dabei waren, das Zeitliche zu segnen. Die Neuankömmlinge hätten sich aufgrund ihrer angeblichen überlegenen Intelligenz etablieren können und auf sie, und nur auf sie - denn wer hat schon gerne Aasfresser in seinem Stammbaum - seien wir moderne Europäer zurückzuführen. Friedrich Mania, der ein frühes Neandertaler Jagdlager ausgegraben hat, distanziert sich vehement von diesen 3. O-Ton Archäologe Mania unsinnigen Darstellungen des lallenden, dahin schlurfenden, allen Krankheiten ausgesetzten Neandertalers. Ich habe seinerzeit auch als Geologe im Tagebau des Ascherslebeners Sees zu tun gehabt, wo jetzt diese Häuser abgerutscht sind. Dort in diesem Tagebau hab ich 1963 einen Fundhorizont des Neandertalers entdeckt, der lag 25 m unter der Oberfläche, wurde vom Tagebau angeschnitten. Das war ein Torfhorizont am Ufer des damaligen Ascherslebener Sees und dort hat der Neandertaler vor 80 bis 90 000 Jahren seine Sommerlager zur Jagd aufgeschlagen, hat wunderbare Steingeräte hinterlassen und, das ist das Interessanteste und weltweit Wichtigste überhaupt für den Neandertaler: Er hat Birkenrindenpech geschwelt. Wir haben Birkenrindenpech gefunden, das als Kittmasse für das Einkitten von Feuersteinklingen in einen Holzgriff verwendet worden ist. Und jetzt sind die Experten völlig perplex. Sie wissen nicht, mit welchen einfachsten Geräten und Vorstellungen der Neandertaler in dieser Zeit aus Birkenrinde Pech schwelen konnte, das man bei einer ganz bestimmten konstanten Temperatur von etwa 360 bis 400 Grad und unter Luftabschluss nur gewinnen kann. Das ist eine hochintelligente technische Leistung, die dem Neandertaler für diese Zeit alles das, was wir brauchen für das Menschsein, geistige Fähigkeiten, planvolles Handeln, Sprache zur Mitteilung und Unterweisung zuweisen müssen. Ne, nur dieses Stückchen Kittmasse aus Birkenrindenpech von Königsaue am Ascherslebener See - 80 000 vor heute. AUTOR Am östlichen Rand der Stadt Schöningen bei Helmstedt sucht der Archäologe Hartmut Thieme seit 1982 mit der Hilfe von Großbaggern nach Spuren des urgeschichtlichen Menschen. Geräusch. Abschwellender Baggersound unter O-Ton AUTOR Hier in Schöningen läuft seitdem ein ungewöhnlich spannender Rettungsgrabungswettlauf mit den Großbaggern des Braunkohletagebaus. Mit dem unbeirrbaren Instinkt eines Schliemann klinkte sich der Archäologe Hartmut Thieme vor 27Jahren hier bei dem eben beginnenden Braunkohletagebau ein. Es gab vorher keinerlei Hinweise darauf, dass die Archäologie hier fündig werden könnte. Thieme überzeugte die Bergbauleitung und fing an, einfach so, denn man kann ja nie wissen. Geräusch. Bagger allein, dann unterlegen AUTOR Und mit der Hilfe von Großbaggern suchte er akribisch nach den sprichwörtlichen frühgeschichtlichen Stecknadeln in den Deckschichten über der Braunkohle. Das ca. 1 km breite und 6 km große Abbauareal direkt an der damaligen Zonengrenze war bis zum Beginn von Hartmut Thiemes Grabungsarbeit, die das Land Niedersachsen erstaunlicherweise äußerst knickerig alimentiert, auf der archäologischen Karte ein weißer Fleck. Im Gegensatz zu Thiemes weißem Fleck hatte Schliemann eine Quelle, eine Überlieferung, aus der alle Leser der Odyssee schöpfen konnten, vorausgesetzt sie verfügten über die ungetrübte Imagination eines Kindes und die organisatorische Intelligenz eines instinktgesteuerten Machers. Geräusch Schaufelradbagger von leise anschwellend - abschwellend, dann unter O-Ton 5a. O-Ton Archäologe Thieme Ich will versuchen, zusammen zu fassen, was hier in den letzten 17 Jahren in Bezug auf die Erforschung der frühen Menschheitsgeschichte passiert ist. 1992 ist im Vorfeld ein Schaufelrad Bagger abgezogen worden und es begann dann sehr tief in die eiszeitlichen Deckschichten sich einzuschneiden ein noch größerer Schaufelradbagger von 45 Meter Höhe. Meine erste Begehung 1992 im Februar führte dazu, dass ich auf Anhieb in 15 m Tiefe einen Fundhorizont entdeckt habe. Wir haben dann 1994 entdeckt, direkt in der Abbauwand, Pferdeknochen. Hatten nur wenige Wochen Zeit, dort - in 10 Metern Tiefe - zu graben in dieser hohen Abbauwand. Geräusch. Schaufelradbagger weiter weg 5b Und eine Woche, bevor der Schaufelradbagger wieder herangerückt war, kommt, 1 Meter von der Abbauwand entfernt, wir hatten gerade 40 qm gegraben, ein erstes Holzgerät zum Vorschein. Das war am 20. Oktober 1994. Ich werd das nie vergessen, denn die dramatische Arbeitssituation bestand darin, dass Anfang November, also eine Woche später, der Schaufelradbagger durch dieses Areal hindurch gefahren wäre, wenn nicht dieses Holzgerät jetzt zum Vorschein gekommen wäre. Ein Wurfstock, etwa 80 cm lang. An beiden Enden angespitzt. Und ich wusste, so etwas gibt es in der altsteinzeitlichen Welt bisher nicht. Ein Fundplatz von Weltrang. Mir war dann - ich werde das nie vergessen - ganz schwindelig. Bin oben auf dem Stoppelacker gewesen. Ich wusste, 10 Meter unter meinen Füßen ist irgend was, was ich noch nicht kenne, habe gedacht, ich muss auf Nummer sicher gehen und habe mir eine Fläche ausgeguckt von 50 mal 60 Metern, ungefähr, also es sind nachher etwa 4000 qm geworden. Aber das war ja alles noch Zukunftsmusik. Die Markscheider kamen, haben das ausgepflockt. Und dann ist dieser ganze Bereich ausgeschnitten worden. Eine Halbinsel am Tagebaurand. Dann haben wir dort 1994 bis Weihnachten weiter gegraben. AUTOR Vom Beginn seiner Schöninger Grabungen an unterstützte der Vorstand der Braunschweigschen Kohlebergwerke, jetzt e.on/Kraftwerke, Thiemes Arbeit vor Ort unbürokratisch, auch wenn das kurz- und langfristig die Abbauarbeiten der Braunkohle erheblich beeinträchtigte. 6a. O-Ton Archäologe Thieme Und ich dachte Anfang Januar könnten wir, vielleicht mit zehn fünfzehn Leuten dort loslegen, aber ich bekam vom Land Niedersachsen leider kein Geld. Geräusch: Bagger 'im Nacken' 6b. Ich hab dann 4 Monate mit meinem Grabungstechniker dort im Januar, Februar, März, April alleine gegraben, damit die Denkmalpflege, die staatliche, ihr Gesicht gegenüber diesem Konzern, der uns solche Möglichkeit eröffnet hat, nicht verliert. Und habe dann Anfang Mai eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hin bekommen mit 10 Langzeitarbeitslosen. Und wie's der Teufel wollte, wir haben noch nicht ein Jahr später eine Fläche von zwei drei Hundert Quadratmetern gegraben, mit vielen Wildpferdknochen. Es war also anscheinend ein Schlachtplatz von Wildpferden, aber wir wussten nicht wie groß das mal dimensioniert sein würde und noch nicht ein Jahr später kamen 3 Speere auf einen Streich raus. Zum Jahresausgang Herbst 95 kam dann erst ein Speer, dann einen zweiten, einen dritten. Wir haben also, um den Gesamtbefund kurz zusammen zu fassen, jetzt über die Jahre, bis 2006, eine riesige Fläche dort ausgegraben. Die Grabungsfrist, die wir zunächst von nur 2 Jahren hatten, wurde dann auf 10 Jahre verlängert. Wir haben hier ein mächtiges Schichtpaket von 10 Meter Mächtigkeit, eine Verlandungsfolge eines lang gestreckten Sees, und zwar die westliche Uferzone in der natürlich alle 1 000 Jahre zumindest der Mensch vorbei gekommen ist, vielleicht sogar viel häufiger oder vielleicht jeden Tag eben auch Großwild an dem Seeuferrand sich aufgehalten hat. Geräusche: Großwild, Elefanten ... 6c. Zur Tränke gezogen ist. Wir haben auch in den tieferen Schichten jetzt mehrere Stockwerke entdeckt, in der sich der Mensch aufgehalten hat, weil wir dort nicht nur Reste von Großsäugern gefunden haben, sondern auch Steinwerkzeuge, die direkt die Anwesenheit des Menschen dort an dem Seeuferrand über Jahrtausende hinweg belegen. Also eine Besiedlungsgeschichte vor 400 000 Jahren im Verlauf einer ganzen Warmzeit, die vielleicht 15 / 20 / 25 Tausend Jahre gedauert hat. Wenn man sich das vorstellt, wir haben dort eine Landschafts-, Kultur-, Klima-, Umweltgeschichte von 25 000 Jahren, als historisches Archiv liegen, mit all den Fossilresten, die da drin sind, mit all den Hinterlassenschaften, die irgendwann Menschen dort genau an dieser Stelle hinterlassen haben, eine einmalige Forschungschance, die wir eben seit 1992 bei der systematischen Erschließung dieses Tagebauareals genutzt haben mit diesen ganzen Erfolgen. Geräusche Bagger / Pastorale AUTOR Für spielende Kinder sind zwei weggeworfene Bretter problemlos der Giebel eines für sie realen Hauses mit Flur, Küche, Zimmern samt Einrichtung. Gute Archäologen haben diese Art von ergänzender Vorstellungskraft nicht verloren. Da, wo andere nur einen etwas dunkleren bedeutungslosen Fleck in einer aufgeschürften Ackeroberfläche sehen, erkennt das Auge des geschulten Archäologen Pfostenspuren, deren Anordnung in seinem Kopf die Gesamtarchitektur eines spätsteinzeitlichen Bauernhauses zusammenfügt. Natürlich gehört zu der Phantasie der Archäologen noch das breitgefächerte wissenschaftliche high-tec-Instrumentarium, das heute zur Verfügung steht, denn nur so können Deutung des Fundmaterials und Rekonstruktionen vergangener Wirklichkeiten mithilfe einer schlüssigen Beweisführung vor den Argusaugen der Kritik der Fachwelt bestehen. Hartmut Thieme hat in Niedersachsen bereits vor seiner wissenschaftlichen Begleitung des Schöninger Braunkohletagebaus bedeutende archäologische Entdeckungen gemacht, die allerdings - im Gegensatz zu seinen 400 000 Jahre alten Wurfspeeren 'nur' aus einer Ära von ca. 7 000 Jahren vor unserer Zeit stammen. Zu rekonstruieren gilt es jetzt in Schöningen ein Ökosystem aus einer bislang kaum erforschten Zeit, die ihr historisches Archiv nur deshalb wirklich öffnet, weil ein internationales Expertenteam von Anfang an diese Forschungen begleitet. Die Paläoklimatologin und -Botanikerin Brigitte Urban der Universität Lüneburg ist Spezialistin für die Rekonstruktion von urgeschichtlichen Pflanzengemeinschaften und der Vegetationsentwicklung während der Eiszeit, die vor ca, 2 1/2 Millionen Jahren einsetzte und - unterbrochen durch eine Vielzahl von Zwischeneis- bzw. Warmzeiten - bis heute andauert. O-Ton Paläoklimatologin Prof. Brigitte Urban Die Pollenanalyse ist eine der ältesten und die wichtigste Methode der Klimapaläontologie. Mithilfe der Zuordnung einzelner Pollenformen zu heute noch lebenden Pflanzenfamilien und aufgrund weitgehend bekannter Standortansprüche der lebenden Vergleichsobjekte kann man vom Pollen- und Sporengehalt auf die Umweltverhältnisse zum Zeitpunkt der jeweiligen Ablagerung schließen. AUTOR Brigitte Urban verweist auf die Tatsache, dass es Hartmut Thieme aufgrund seiner ständigen Beobachtung des schnell voranschreitenden Deckschichtenabbaus im Südfeld des Tagebaus Schöningen gelang, seine sensationellen archäologischen Funde zu machen, unter denen sie die Holzspeere als außerordentlich bedeutend herausstellt - nämlich als Präzisions-Jagdwaffen O-Ton Paläoklimatologin Prof. Brigitte Urban die zusammen mit Wildpferdresten in Mudden und humosen Schluffen im Südfeld des Tagebaus Schöningen gefunden wurden. Die Funde an der Speerfundstelle haben mich damals auf eine ganz besondere Weise angerührt. Die professionell zugerichteten Jagdwaffen aus Fichtenholz sind ein "wissenschaftlicher" Jahrhundertfund, an dem mitforschen zu können ein großes Privileg ist. AUTOR Im Zeitraffer beschreibt Brigitte Urban die Klimaentwicklung in Schöningen hin bis zu der Zeit, als Jäger (und vermutlich auch Jägerinnen) am Ufer eines Sees 20 Wildpferde erlegten - mit Speeren, deren ballistische Qualität denen heutiger Wettkampfspeere in nichts nachsteht. Aufgrund der unterschiedlichen Längen der Speere meint Thieme, dass auch junge Jägerinnen mit dabei waren, denn genau die kürzeren Speere entsprechen den heute von Wettkämpferinnen verwendeten. O-Ton Paläoklimatologin Prof. Brigitte Urban Die interglazialen, voll warmzeitlichen Sedimente eines verlandenden Sees lassen sich in ihrem älteren Bereich pollenanalytisch untergliedern in eine Eichen-Eschen-Linden- Zone, gefolgt von einer Hasel-Erlen-Zone, an die sich der spätwarmzeitliche Abschnitt mit Hainbuchen-Fichte- Tannenphase anschließt. Die Zwischeneiszeit klingt mit einer Fichte-Heide- Krautgewächs-Zone aus. Das Landschaftsbild dieses Raumes wurde geprägt von einem trockenen, mit Gräsern- und Kräuterfloren durchsetzten Laubmischwald. Es folgte dann eine Klimaverschlechterung, die sich in einem starken Rückgang der Baumpollen, vor allem auch dem völligen Verschwinden der wärmeliebenden Gehölze und der deutlichen Ausbreitung von Gräsern und Kräutern widerspiegelt. Geräusch: Wildpferde 'ankommend' - abschwellend Nach einer weiteren Waldauflichtungsphase mit Kräuter- und Gräserdominanz folgte jetzt die Zeitphase, während der die altsteinzeitlichen Wildpferdjäger in diesem Gebiet jagten. Diese Waldzeit war eine kühle und auch trockene Zeit, die an der Wende zu einer intensiven Kaltklimaphase stand. Das Landschaftsbild war offen und mit Gräser- und Kräuterfloren bedeckt, die von Birken, Kiefern und sehr vereinzelt Lärchen und Fichten durchsetzt waren und offenbar reichlich Biomasse bildeten, die auch den Wildpferdherden zur Ernährung diente. AUTOR Gleichsam von der Stunde Null an war Brigitte Urban in Thiemes weltweit einzigartigem Schöninger Projekt engagiert - einem Projekt, das nur in Zusammenarbeit mit Spezialisten der verschiedensten Forschungsdisziplinen seriös geschultert werden kann. O-Ton Paläoklimatologin Prof. Brigitte Urban Mit Hartmut Thieme und auf seine Einladung hin habe ich vor über 25 Jahren im Tagebau Schöningen die ersten spätglazialen und holozänen Sedimentsequenzen bearbeitet. In den Folgejahren konnten wir das Team erweitern und die Spezialisten für die verschiedensten geologischen und vor allem paläontologischen, bzw. biologischen Methoden für die Datierung hinzugewinnen. Wir - das alte Team - sind insbesondere ihm sehr zu Dank verpflichtet, denn ohne seinen wissenschaftlichen Einsatz in Schöningen wäre die Quartärökölogie und Paläolithforschung um wesentliche Erkenntnisse ärmer. 7. O-Ton Archäologe Thieme Musik bleibt unter O-Ton???? sehr leise, weil Symbolsatz Für mich ist es ein großes Anliegen immer gewesen, vor dieser Mutter Erde unter unseren Füßen großen Respekt zu haben AUTOR Hartmut Thiemes wichtigster Kollege und Wegbereiter ist Friedrich Mania. Seit über vier Jahrzehnten ist er einer der archäologischen Spitzen-Pioniere der Erforschung der menschlichen Kulturentwicklung im Eiszeitalter. Im Thüringischen Bilzingsleben stieß er in den frühen 70er-Jahren auf einen Fundort, der wie Schöningen das Wissen um den Ablauf der Humanevolution revolutioniert. 8. O-Ton Archäologe Mania wenn man an einer solchen Fundstelle gelandet ist, dann geht es vor allem um naturwissenschaftliche Ausgrabungsmethoden, nur darf man dabei den kulturhistorischen Aspekt nicht vergessen. AUTOR Das thüringische Bilzingsleben nur ca. 100 km weit südlich von Schöningen liegt, konnten und können sich Mania und Thieme gleichsam von zwei goldenen Fundorten aus an die Aufwertung des frühen vor-neandertalischen Menschen in Europa herantasten und mit umfassendem Beweismaterial seine geistigen und technologischen Leistungen eindruckvoll belegen. 9. O-Ton Archäologe Mania Das besondere Objekt, das ich 30 Jahre lang ausgegraben habe, das ist 370 000 Jahre alt. Wir haben dort nicht nur die Kultur des frühen Menschen gefunden, sondern auch den Menschen selbst dazu, in Form von Schädelresten, die zu drei verschiedenen Individuen gehören. Das ist natürlich eine riesige Sensation, denn man muss sich vorstellen, dass so etwas nicht bei uns vor der Haustür liegt, sondern dass man eigentlich nach Südafrika oder Ostafrika geht um das dort zu finden. Nur ich hatte das unverschämte Glück und hab das hier bei uns in Thüringen gefunden. Bilzingsleben ist der Name des Ortes neben dem die Fundstelle liegt. Wie ich dort meine Proben entnahm, entdeckte ich einige Feuersteinsplitter, die nicht dahin gehörten und erkannte in diesen Artefakte, also künstlich hergestellte Stücke. Und damit war eine Fundschicht entdeckt. Ich hab dann gleich mit dem Spaten weiterprobiert und hatte einen großen Fußwurzelknochen vom Waldelefanten drauf auf'm Spatenblatt und damit fing das dort an. 1972 - da hatte ich plötzlich das Hinterhauptsbein des Menschen in der Hand und damit fing eine Forschungsgrabung an die bis 2003 lief. AUTOR Mania fand in Bilzingsleben einen mysteriösen kreisrunden gepflasterten Platz von 9 Meter Durchmesser, der auf differenzierte Kulthandlungen schließen lässt. 10. O-Ton Archäologe Mania Und wir haben nicht nur solche kulturellen Handlungen dort beobachten können, die diesen frühen Menschen ein relativ hohes geistiges Vermögen bescheinigen und sicher sogar auch ein Sprachvermögen ihm zusprechen. AUTOR Dass diese europäischen Urmenschen bereits abstrakt denken und anhand von Zeichen und Symbolen miteinander kommunizieren konnten, belegt Manias Fund eines Elefantenknochen mit Einritzungen. 11. O-Ton Archäologe Mania Wir haben zum Beispiel größere Knochenartefakte gefunden, eins ist 40 cm lang, ein Gerät, das aus einem Elefantenknochen hergestellt worden ist, und das trägt eine aufgefächerte sorgfältig eingeritzte Strichfolge, die aus 21 Strichen besteht und weil ein Ende abgebrochen ist, möchte man das sogar gerne um eine weitere Siebenergruppe ergänzen, sodass man dann also schon fast die Vorstellung hat, dass hier etwas Besonderes vorliegt, dass hier etwas eingeritzt wurde, was eine besondere Bedeutung hatte. Man denkt dann immer gleich an Mondkalender oder solche Dinge. Für mich ist allein die Tatsache, dass hier ein Mensch eine bestimmte Vorstellung, eine gedankliche Vorstellung in optisch wirksamer Form dargestellt hat, bedeutungsvoll genug, denn das ist ja quasi eine symbolische Wiedergabe des Gedachten und das kann man nur auf abstraktes Denkvermögen zurückbeziehen und diese Art von Denken kann man nur mit einer Sprache vermitteln. Also wäre das für mich der älteste Beweis, dass diese frühen Menschen bereits so etwas wie eine Sprache besessen haben, um sich mitzuteilen. AUTOR Und von diesem in der Forschung einzigartigen Fundstück schlägt Mania jetzt den Bogen zu dem nach heutigem Maßstäben perfekten 400 000 Jahre alten Design der Schöninger Wurfspeere, die natürlich die Frage aufwerfen: was konnten diese frühen Menschen sonst noch, wenn sie in der Lage waren, ästhetisch-ballistisch optimal funktionale Jagdwaffen herzustellen? Dass eine gemeinschaftlich erfolgreich ausgeführte Jagd auf eine Herde von agilen Wildpferden bis ins Detail geplant werden muss, dass während des Jagdgeschehens Kommunikation unter den Jägern stattfinden muss, versteht sich von selbst. 12. O-Ton Archäologe Mania Und jetzt kommt ja der gleichaltrige Fundort von Schöningen dazu und da wissen Sie ja, dass dort die ältesten Wurfspeere der Welt gefunden worden sind. - Ein Jahrhundertfund, ähnlich wie jetzt diese kulturellen Reste von Bilzingsleben. Und wenn diese Menschen befähigt gewesen sind, ein im Kopf vorhandenes gedachtes Bild umzusetzen in ein Endprodukt in Form von bestimmten Herstellungsschritten, mit verschiedenen Werkzeugen und mit der Vorstellung, welches Material dazu geeignet ist und wie das bearbeitet werden muss, und schließlich einen Wurfspeer herstellen als Endprodukt, der heute in seinen Wurf- und Flugeigenschaften von Wissenschaftlern berechnet wird, dann sind das hoch intelligente Menschen schon gewesen. Und das ergänzt nun sehr schön das, was wir über die geistigen Fähigkeiten dieser frühen Menschen in Bilzingsleben herausgekriegt haben. AUTOR Gefragt, was denn der Mensch Hartmut Thieme fühlt und denkt, wenn die von ihm so verehrte Mutter Erde vor seinen Augen über Jahrzehnte hin von Monster-Baggern aufgerissen und ausgebeutet wird, meint: 13. O-Ton Archäologe Thieme Musik bleibt unter O-Ton wir bringen natürlich in unserer heutigen Zeit große Opfer, was Mutter Erde betrifft. Die Technik ist fortgeschritten. Aus der Braunkohle wird Strom gewonnen, der uns Licht beschert, dass wir abends noch lange lesen können. Für mich ist es ein großes Anliegen immer gewesen, vor dieser Mutter Erde unter unseren Füßen großen Respekt zu haben - Musik Pastorale weiter AUTOR Und aus diesem Respekt heraus hat er sich in Schöningen voll der Aufgabe verschrieben 14. O-Ton Archäologe Thieme all die historischen Quellen, die dort seit Jahrhunderten, Jahrtausenden, oder wie jetzt im speziellen Fall Schöningen, seit Jahrhunderttausenden, ja, verborgen liegen, die wir noch gar nicht kennen,.. die da bewahrt worden sind für uns, die rechtzeitig für uns zu entdecken und - eben - aus dem aus dem Schoß der Mutter Erde zu holen, bevor sie endgültig zerstört werden. Und wir nie wieder, nie wieder, man muss sich das mal klar machen, einen Blick würden werfen können auf diese tollen Zeugnisse unserer frühen, frühen, frühen Vorfahren. AUTOR Schauen wir heute unvoreingenommen in den Spiegel, den uns Thieme und Mania vor unser homo sapiens sapiens Gesicht halten, so werden wir jetzt eben nicht mehr von dem monströsen Zerrbild eines aasfressenden Vor-Neantertaler Urahnen konfrontiert, sondern von einem bewundernswert putzmunteren hochintelligenten Überlebenskünstler, der in einer Umwelt zurecht kam, in der wir Jetztmenschen gar nicht überleben könnten. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Arteakte, die Hartmut Thieme und sein Team für uns und die Nachwelt aus den Mudden und Schluffen des Schöninger Verlandungs-Sees von vor 400 000 Jahren retteten, in den Altherren Clubs der Haute Volée der Vor- und Urgeschichtler so viel Verwirrung auslösen konnten. 17. O-Ton Archäologe Thieme Der Schock in der Fachwelt der bestand eben darin, dass wir hier einen Befund haben, der zehn mal so alt war, wie er nach Meinung der meisten Fachkollegen hätte sein dürfen. AUTOR Damit nicht nur die Forschung, sondern auch die breite interessierte Öffentlichkeit sich ein Bild machen kann von den sensationellen Funden in Schöningen plant das Land Niedersachsen jetzt endlich ein großes Museum. 18. O-Ton Archäologe Thieme Es ist hier aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung ein Betrag von 15 Millionen Euro bereit gestellt worden, um hier einen Traum, den ich damals hatte - '95 als die ersten Speere kamen - , zu verwirklichen, ein Museum hier auch an dieser weltberühmten Fundstelle einzurichten. Da laufen jetzt auch die Planungen dafür auf Hochtouren. AUTOR Das schönste Kompliment für ihre wunderbar- stromlinienförmigen Fichtenholz-Speere erhielten unsere Schöninger Vorfahren von einer Heidelberger Sportstudentin. Experten hatten die von Hartmut Thieme gefundenen Wurfspeere 1:1 nachgebaut und erprobt. Top- Speerwerferinnen und -Werfer kommen mit ihnen auf gute 90 Meter. ZITATORIN Sportlerin Mit so einem Speer hätte ich in der Prüfung lieber geworfen. 1