COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 3.Januar 2011, 19.30 Uhr Vom Gestank der süßen Verschwendung Eine kleine Kulturgeschichte des Mülls Von Claudia Fried Spr. vom Dienst Vom Gestank der süßen Verschwendung Eine kleine Kulturgeschichte des Mülls Von Claudia Fried Musik/Atmo Weihnachtsmusik - Feuerwerk verfremdet und/oder abrupt weggezogen Autorin Die Weihnachtstage sind gerade vorüber, die Geschenke sind ausgepackt. Und das neue Jahr begann wie immer mit Silvesterraketen und geleerten Sektflaschen. Jetzt muss man sich um das kümmern, was übrig bleibt. Den Müll: Der Weihnachtsbaum - raus mit ihm auf die Straße. Verpackungen in die gelbe Tonne. Geschenkpapier in die blaue. Aus der Mode Gekommenes wird durch Neues ersetzt - und wandert in den Abfall. In Deutschland entstehen so jedes Jahr 380 Millionen Tonnen Müll. Würde man alles auf einen Haufen werfen, wäre der mehr als 1400 Meter hoch, so groß wie die höchsten Erhebungen der deutschen Mittelgebirge. O-Ton 1 Keller Man kann eigentlich feststellen, dass der Müll in Gesellschaften die reicher sind, immer mehr an Volumen gewinnt. Die Verpackungen werden größer, die Gefäße, alles wird größer und auch die Stoffe werden fester. Entsprechend nimmt der Müll zu an Volumen, das lässt sich beobachten in Europa und Nordamerika seit Mitte des 19. Jahrhunderts und nimmt dann insbesondere nach dem 2. Weltkrieg in Europa stark zu, als der Konsum explodiert. Dabei verändert sich die Zusammensetzung dauernd, Plastik wird erfunden und taucht dann im Müll auf und immer die neuen Stoffe, die kommen, tauchen dann wieder im Müll auf. Autorin Reiner Keller ist Professor für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau. In einem Forschungsprojekt hat er den Müll unter die Lupe genommen, um daran "die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen" aufzuzeigen. In seiner Münchner Wohnung gebe es zum Beispiel Gitarren, von denen er sich nicht trennen würde, sagt er. Obwohl der Platz, den sie beanspruchen, ein Dauerthema in der Familie sei. Außerdem seine Bücher und Schallplatten, die würde Reiner Keller auch niemals wegwerfen und bei jedem Umzug wieder sorgfältig verpackt mitnehmen. Solche Bewertungen verraten vieles über den Menschen. Und über die Gesellschaft, in der er lebt. Wer im Abfall liest, der ermittelt quasi über den Gegenpol etwas über die Bewertungsmaßstäbe einer Gesellschaft und einer Person. Aber Müll oder Abfall seien im Prinzip nichts Neues, so der Soziologe. Denn seit es Menschen auf der Erde gibt, verzehren sie Nahrung, und die Reste davon nennt man Müll. O-Ton 2 Keller Was damit passiert, hängt sehr stark davon ab von den Lebensbedingungen, in denen menschliche Gesellschaften leben. Ob bestimmte Teile wie zum Beispiel Knochen anderweitig genutzt werden können, entwickelt werden können als Kleidungsbestandteil, als Knopf oder was auch immer, sowas ändert sich in Abhängigkeit von den Möglichkeiten. Autorin Noch heute benutzen Verlagshersteller ein Werkzeug aus Knochen, um in Handarbeit Papier zu falzen. Also eine scharfe Knickkante zu erzeugen. Das so genannte Falzbein besteht aus einem Rinderknochen, der von der Mahlzeit übrig blieb. Auch Gänse landeten auf diese Weise zweimal auf dem Tisch. Erst als Braten, dann als Schreibgeräte. Federkiele sind die Vorläufer der Schreibfedern aus Metall, wie wir sie bis heute benutzen. Im 18. Jahrhundert nimmt die Tradition, Reste zu verwerten, Gestalt an. Lumpensammler ziehen mit Karren von Haus zu Haus. Musik: Der alte Lumpenmann Lumpen, Lumpen, bringt mir Lumpen, ungewaschen, ungekrumpen, Königskleider goldbestickt, Bettlerkittel ungeflickt. Autorin Lumpensammler sammelten Stoffreste jeglicher Art, wie das Volkslied trefflich zum Ausdruck bringt. Ihre Lumpen brachten die Männer in Papierfabriken, wo sie zu dem begehrten Stoff wurden, der für den Buchdruck gebraucht wurde. Doch schon hundert Jahre später, mit der Moderne, ändert sich die Abfallverwertung grundlegend. Der Soziologe Reiner Keller: O-Ton 3 Keller Und es gibt dann einen Umschwung im 19. Jahrhundert, je größer die Städte werden, je mehr stellt sich das Problem, dass dieser Müll nicht mehr sortiert werden kann, weil der Platz fehlt. Man kann das nicht mehr einfach vor die Tür stellen, die Mengen, die anfallen, werden immer größer. Und gleichzeitig nimmt der Wohlstand zu. Und es ist ökonomisch immer weniger rentabel, solche Stoffe dann insgesamt auszuwerten. Autorin Das Zeitalter der Moderne ist geprägt vom Wandel der kapitalistischen Warenzirkulation. Die industrielle Produktion schafft Massenprodukte, die immer günstiger werden. Während in den Haushalten die Kaufkraft wächst. Produktion und Abfall-Entstehung rücken zusammen: je mehr Produktion, desto mehr Abfall, je mehr Abfall, desto mehr Produktion. Müll entsteht jeden Tag aufs Neue. Er stinkt, er ist hässlich, er ist schmutzig. Und er muss weg. Der Lumpensammler hat ausgedient. Es braucht technologische Lösungen, um der wachsenden Müllberge Herr zu werden. So entstehen bereits Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Müllverbrennungsanlagen in England, Deutschland und den USA. Als man erkennt, wie viele Ressourcen im Müll stecken, errichten einzelne Großstädte erste Sortieranlagen. O-Ton 4 Keller Und das ist bezeichnend, ob man sich in einer Mangelsituation befindet oder nicht, es gibt dann in den 20er Jahre in Berlin-Charlottenburg eine gut organisierte Mülltrennung und Verwertung, Und die wird auch beispielsweise in Kriegsjahren sehr stark intensiviert. Einfach weil Rohstoffzufuhr dann schwierig ist oder bestimmte Stoffe gebraucht werden, sei es auch, um irgendwelche Kugeln herzustellen. Die Zwecke sind sehr unterschiedlich. Autorin Nach dem 2. Weltkrieg wachsen die Müllberge in Europa und in den USA in dem Maße, wie dort der Konsum explodiert. Die Erfindung der Kunststoffe sorgt für ein beständig größer werdendes Müllvolumen. In den 60er Jahren ist der Höhepunkt erreicht. Supermärkte verkaufen in Plastik verpackte Waren in rauen Mengen. "Ex und Hopp" lautet die Devise. Reiner Keller: O-Ton 5 Keller In den 60er Jahren entstehen eigentlich die großen Deponieprobleme als Folge der neuen Supermärkte, mit dem Plastik und der ganzen Verpackungskultur, die da entsteht und mit dem was ein US-amerikanischer Sozialwissenschaftler, der Vance Packard, die große Verschwendung genannt hat. Die Einführung der Wegwerfkultur, wir werden ja gewissermaßen über die Werbung, die Konsumpraktiken dazu verführt, Dinge immer wieder zu ersetzen und immer häufiger und immer schneller zu ersetzen. Und das beginnt in den 60er Jahren in Europa, es beginnt nicht, aber es setzt sich sehr stark durch. Und die Politik muss sehr schnell darauf reagieren, weil es diese Deponieprobleme gibt. Autorin Die Art des Mülls und wie wir damit umgehen, hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts kaum verändert. Unsere Gebrauchsgegenstände gehen nicht mehr bequem in den Kreislauf der Natur über. Sondern sie sammeln sich auf riesigen Müllhalden, die die Natur belasten. Slogans wie "Jute statt Plastik" atmen noch die Kämpfe um die schöne flüchtige Hülle. Nicht das Auto oder die Schwerindustrie, sondern die alle anderen Verpackungen verpackende Plastiktüte gerät zur prototypischen Gefahr für die Umwelt. Die Regierung Kohl antwortet 1991 mit der Verpackungsverordnung auf die beständig wachsenden Müllberge. Das duale System Deutschland mit seinem Emblem "Der grüne Punkt" tritt auf den Plan. Und mit dem "dualen System" blüht eine neue Industrie auf, die nicht an der Vermeidung von Abfall und Konsumverzicht interessiert ist, sondern dem Abfall einen neuen Wert beimisst. Letztlich entsteht sogar ein neuer Markt der "Müllwirtschaft". A1 Atmo von BSR-Hof: Flaschen werden eingeworfen, dann Möbel in den Container Autorin Abfallentsorgung heißt heute in deutschen Haushalten in erster Linie Mülltrennung. Papier, Glas, Verpackungen, Biomüll, Batterien, das Prinzip des Lumpensammlers ist quasi in die Heimstatt des modernen Bürgers eingezogen. Wir fühlen uns unheimlich wohl bei dem Gedanken, dass all die Dinge, die wir wegwerfen, ja recycelt werden. Regionalleiter Dietmar Hinz von der Berliner Stadtreinigung: O-Ton 6 Hinz Glas geht in die Glasaufbereitung, Papier geht auch zur Papieraufbereitung in die Papierwerke, wird dann als Zusatzstoff benutzt, damit man nicht noch mehr Bäume zur Papierherstellung abholzen muss. Und der Bioabfall, der geht in eine Kompostierung und wird wieder in den Kreislauf gebracht, weil dann sozusagen wieder Kompost daraus wird. Autorin Na dann ist ja alles in Ordnung, könnte man meinen. Doch auch Recycling hat seine Tücken- oder sagen wir einfach "Ökobilanz" dazu. A2 Atmo Glaseinwurf Autorin Ein gutes Beispiel ist die Einweg-Glasflasche. Sie ist eine ökologische Katastrophe. Weil sie nicht wiederbefüllt wird, sondern nach einmaligem Gebrauch eingeschmolzen und dann in der Glasproduktion als sekundärer Rohstoff wieder eingesetzt wird. Aufgrund der hohen Schmelztemparaturen für Glas ist der Energieaufwand für die Herstellung einer Glasverpackung sehr groß. Dazu kommt noch ihr hohes Gewicht, das beim Transport viel Energie verbraucht. Besonders dann, wenn sie auch noch weit reist. Für Rotweintrinker unter den Zuhörern wäre das passende Sinnbild einer bösen Glasflasche: der Shiraz aus Australien. Die Flasche in den Glas-Container zu werfen, macht trotzdem Sinn, weil sie dann wenigstens wieder zur Flasche wird. O-Ton 7 Hinz Der Hauptteil, der von der Menge auf den Recyclinghöfen ankommt, ist Sperrmüll. Das ist alles, was man zu Hause nicht in seine Mülltonne reinbringt, weil's zu groß ist. Schränke, Möbel, Polstergarnituren und das ganze. Da kann man den Stoff als solches... die Möbel werden dann zerkleinert und aufbereitet. Man kann Metall, was in den Möbeln verarbeitet ist, wieder rausgewinnen. Dadurch dass es zerkleinert ist, kann man das über Magneten abtrennen. Und der Rest wandert im großen Teil als Ersatzbrennstoff auch wieder zur Energiegewinnung. A3 Atmo Müllpresse Autorin Beim Sperrmüll sieht die Bilanz nicht besser aus. Auch wenn die Presse ihn auf dem Recyclinghof in transportable Formen quetscht. Letztlich entsteht daraus ein Brennstoff, der im Heizkraftwerk verfeuert ein ganzes Stadtviertel Berlins, die Gropiusstadt, mit Wärme und Warmwasser versorgt. Bei den Elektrogeräten kümmern sich die Hersteller ums Recycling. Der Verbraucher hat das bereits beim Kauf bezahlt, dass Kühlschränke in ihre Bestandteile zerlegt und zu 96 Prozent wiederverwertet werden können. Und wer etwas zum Recycling gibt, ist in doppelter Hinsicht erleichtert: O-Ton 8 Windmüller (Lacht) Ja, das ist das ganz Typische an der Geschichte. weshalb das Recycling auch so eine kleine Erfolgsgeschichte ist, weil es uns ein gutes Gefühl macht. Meine Einschätzung dazu wäre, dass es in dem Moment gar kein Müll mehr ist. Beim Recycling geht es darum, vermeintlich ausgestoßene Dinge zu reintegrieren, denen wieder einen neuen Wert zuzumessen. Ich glaube, dass dieser Ordnungsversuch auch eine Möglichkeit ist, mit Müll umzugehen und den Müll loszuwerden. In dem Moment, wo ich den Müll durchsortiert habe, ist es schon fast kein Müll mehr. Autorin So die Kulturwissenschaftlerin Sonja Windmüller. Sie betrachtet in ihrer Dissertation die "Kehrseite der Dinge". Am Phänomen Müll, sagt sie, manifestiere sich unsere Kultur. Denn andauernd, während wir an unserer Geschichte und unserer Identität schreiben, sondern wir Müll ab. Und dieser hält uns den Spiegel vor. A4 Atmo Café O-Ton 9 Martina Mein Name ist Martina Müller, wir sind zu Hause zu dritt. Zwei Erwachsene und ein Kind. Früher hatten wir noch nen Hund, da wäre noch bisschen mehr Müll angefallen, und wir haben eine Woche lang wirklich mal aufgeschrieben, was bei uns an Müll so zu Hause aufläuft und haben das auch noch ein bisschen erweitert mit Themen, die jetzt vielleicht nicht in dieser Woche, aber grundsätzlich so in einer Woche oder im Monat bei uns auflaufen. A4 Atmo vom Café weiter Autorin Martina Müller ist 37 Jahre alt und betreibt recht erfolgreich mehrere Unternehmen in Berlin. Sie lebt mit ihrem Lebensgefährten Marco und ihrer Tochter Tessa in einer Eigentumswohnung im Bezirk Pankow. Heute hat sie ihren "freien Samstag", mit Kosmetiktermin und Einkaufsbummel in den Läden am Prenzlauer Berg. Sprecher Die Wochenbilanz der Familie Müller ergibt an Plastikmüll: drei bis fünf Verpackungen von Obst und Gemüse, fünf bis sechs von Fleisch, Wurst und Käse sowie zwei bis drei Milchverpackungen. Dazu kommen fünf bis sieben Papierkartons von Eiern, Waffeln, Brot und Schokopops. In der Papiertonne sammeln sich zehn bis 20 Blätter Papier, die Tochter Tessa aus der Schule mitbringt, sowie ein bis zwei Zeitschriften Autorin Die überquellenden Deponien zeigten, dass der Platz für unsere Reste nicht mehr ausreicht. Mit dem Abfallrecycling entsteht die Vision, dass dieser Raum zur Entsorgung unendlich sei. Die neue Technologie der Verwertung macht Natur zum unerschöpflichen Gut, indem endlos Müll zerkleinert, eingeschmolzen und verbrannt wird. Recycling verspricht die dauerhafte Stabilisierung der westlichen Wirtschaftsform und ihres Warendurchsatzes. Man kann das an sich selbst erkunden. Die Verpackung in der gelben Tonne macht uns vermeintlich um eine Sorge leichter als die in der Straßenbahn umherkullernde Bierflasche. Sprecher Sechs bis zehn Teelichter und Kerzenreste. Ungefähr ein bis zwei Glasverpackungen von Lebensmitteln wie Mais, Spargel usw. Zwei bis drei Weinflaschen. Organisches wie Kaffeegrund, Möhren- Apfel- Orangenschalen, sowie Reste von sechs bis sieben warmen Mahlzeigen pro Woche. Autorin So ausgefeilt die Entsorgungstechnologien auch sind, wir werden den Müll nicht los. Er klebt an uns wie ein Mal, er verfolgt uns auf Schritt und Tritt. Er holt uns ein. Denn alles, was entsteht, vergeht. Jeden Tag stoßen wir Dinge ab. Besonders Organischem wie Essensresten begegnen wir mit spitzen Fingern und gerümpfter Nase. Unsere eigenen Haare, Haut, Fäkalien empfinden wir als letzten Dreck, der zu nichts mehr zu gebrauchen ist. O-Ton 10 Windmüller Was mir aufgefallen ist, ist dass wir ein großes Ekelgefühl haben, dass es aber in den Quellen gar nicht so häufig auftaucht. Ich glaube, dass das schon damit zu tun hat, wie dicht das für uns ist, dass wir es eben nicht artikulierten können. D.h. wir kommen sehr schlecht an diese Gefühle ran wissenschaftlich, die Müll hervorrufen kann. Die Frage war aber, Müll hat doch was mit uns selber zu tun, warum dann Ekel. Gerade deshalb würde ich sage, weil Müll ja das ist, was wir abgestoßen haben, was wir losgeworden sind, was Veränderung für uns heißt, was auch Weiterentwicklung für uns heißt, was mit Identität zu tun hat. Da ist es sicherlich schwierig, von dem eingeholt zu werden, was eigentlich die eigene Vergangenheit ist. Und zwar der Teil der Vergangenheit, den wir ausgesondert haben. Autorin Sonja Windmüller widmet dem sinnlichen Verhältnis des Menschen zum Müll ein ganzes Kapitel in ihrem Buch. Vom scheußlichen Anblick über den Gestank findet die Kulturwissenschaftlerin schließlich zum Ekel. An ihm zeigt sie das menschliche Bedürfnis nach Schönheit und nach Ordnung. Ekel, meint sie, gehört wie Hass, Missfallen, Leid, Schaudern und Zorn zu den körperlichen "Abwehrreaktionen". Der verwesende Leichnam ist unter vielen übelriechenden und entstellten Ekelobjekten dasjenige, das am meisten Ekel auslöst. Er ist die Chiffre der Bedrohung schlechthin. Das Ekelhafte grinst, starrt, stinkt uns an. Es macht uns Angst. Sprecher Man fürchtet, sich mit dem Gegenstand zu beschmutzen, von ihm angeklebt zu werden, wohl auch, mit ihm eine gewisse Gemeinschaft, ein dauerndes, auf einen selbst abfärbendes, die eigene Person beeinträchtigendes Verhältnis zu treten. Aurel Kolnai: Der Ekel Autorin Die Ekelsensation ist ambivalent, denn sie birgt immer auch Lust. Wie ein Kind, das mit einem Stöckchen in den Tierkadaver bohrt, so tragen wir neben der Abscheu vor dem Abfall auch eine "un-heimliche" Lust an ihm in uns. O-Ton 11 Windmüller Es gibt da in Zeitungsartikeln unglaublich viele Fälle, wo der Müll Anlass ist, über das Leben zu reflektieren. Müll also das, was uns auf die Endlichkeit hinweist. Wir sind endlich, wir werden alle irgendwann zu Müll, und da ist son Moment des Innehaben Könnens. Die Abfallmelancholie ist auch ein Stichwort, das in den historischen Quellen aufgetaucht ist, Müll gibt uns auch eine Möglichkeit uns nochmal selbst zu vergewissern. Sprecher Kleidung: Tessas Schuhe werden gesammelt und selten weggeworfen - bis jetzt. Ein bis drei ihrer Kleidungsstücke gehen jeden Monat an Bekannte oder in die Altkleidersammlung. Martina verschenkt ca. zehn bis 20 Kleidungsstücke alle zwei Monate an ihre Nichte, ebensoviele Sachen wandern in den Altkleider-Container. Zwei bis vier schöne Sportsachen, in denen sie sich nicht mehr ansehnlich fühlt, sammelt sie für ihre Tochter Tessa Socken und Unterwäsche werden mit dem normalen Müll entsorgt. Marco wirft nur Erzwungenes weg. Socken und Shirts, die in der Regel mindestens zehn bis 15 Jahre alt sind, das macht zwei bis vier Kleidungsstücke pro Jahr. A4 Atmo Café O-Ton 12 Martina Was mir als allererstes aufgefallen ist, ist, dass wir uns verschiedene Mülleimer besorgen sollten, dass man das schneller trennt, weil wir relativ viel wieder aus dem Müll rausfischen, um dann zu trennen. Was ich persönlich sehr ekelhaft finde. Aber gut, so ist es halt. Und das nächste, dass man mehr drüber nachdenken sollte, was man macht und was man nicht macht, das ist schon aufgefallen. Gerade im Bezug auf den Biomüll ist es aufgefallen, und dann auch Glas, dass extrem viel Glas anfällt, dass man sich wirklich auch Gedanken macht, welche Lebensmittel, welche Verpackungen anfallen. Auf sowas achtet man beim Kaufen nicht, und auf sowas wird man gestoßen. Und ja die Thematik Kleidung. Das ist schon wirklich heftig eigentlich, was da zusammen kommt und wie man heutzutage damit umgeht. Wie leicht man auch paar Socken mal wegschmeißt. Meine Mutter hat die früher gestopft und jetzt - ja - hauen wir weg das Ganze. Das ist schon komisch. Autorin Fast jeder, der auf seine Müllproduktion angesprochen wird, hat ein schlechtes Gewissen. Trotz Mülltrennung und Recycling scheint uns bewusst, dass wir - die Wegwerfgesellschaft - nicht mehr im Einklang mit der Natur leben. Für die Kulturwissenschaft dagegen ist unser Wegwerfverhalten ganz einfach eine Kulturpraktik, die das menschliche Wesen ein Stück weit dechiffriert. Der tiefe Blick in Familie Müllers Entsorgungstonnen verweist auf ihren Lebensstil. Die Zeitschriften offenbaren Interessen und politische Neigungen. Und Tochter Tessas Papierabfall stößt uns auf die Wirtschaftskraft der Familie. Die zweisprachigen Schreibversuche befinden sich auf dem Briefpapier einer Privatschule. Die Sortierung des Abfalls verläuft zunächst im Auge des Betrachters innerhalb eines Schemas der Vergänglichkeit. Ein Zwischenschritt ist typischerweise, "für mich persönlich wertlos geworden, für andere aber noch nicht". Was aber wäre für die Berliner Unternehmerin so wertbeständig und kostbar, dass sie es ihrer Tochter vererben wollte? O-Ton 13 Martina Ja, es gibt zwei, drei Bilder, die ich ihr vermachen wollen würde, Bücher, gerade Kinderbücher, die ich sehr geliebt habe, die total abgeranzt sind, aber einen ideellen Wert haben, und die es so teilweise gar nicht mehr gibt, und wirklich auch so zwei bis drei Spielsachen, Spiele, da achte ich drauf, dass die fortgeführt werden, weil die eine Tradition haben. Atmo 5 Musik: Spieluhr, Dr. Schiwago O-Ton 14 Onkel Philipp Ja, hallo. Hier ist Dr. Onkel Philipp von der Spielzeugwerkstatt, Ihre Puppe ist gerade aus der Narkose aufgewacht und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Die kann also abgeholt werden. (es rumst) (lacht) Autorin Bei Onkel Philipp ist die Werteskala durcheinander geraten. Zerbrochenes und gebrauchtes Spielzeug liegt neben Nagelneuem. Vor 14 Jahren zog Philipp Schünemann in eine Mini-Ladenwohnung in Berlin Prenzlauer Berg, wo er nicht nur lebte, sondern gebrauchte Spielsachen reparierte und verkaufte. Heute ist aus Onkel Phillips Spielzeugwerkstatt ein stattlicher gut 80 Quadratmeter großer Laden geworden. Der, obwohl der 42-Jährige nicht mehr darin wohnt, alles andere als gewöhnlich ist. Denn wo man auch steht, überall sind Spielsachen, in Regalen gestapelt, an die Wand montiert, oder sie baumeln von der Decke. O-Ton 15 Onkel Philipp Ich wollte ein Zeichen setzen gegen die Wegwerfgesellschaft, und es war mir wichtig, wo Leute reinkommen können, wo alles möglich ist. Wo man Sachen bringen kann, wo man Sachen reparieren lassen kann, Sachen abgeben, die man nicht mehr braucht, bevor sie auf den Müll fliegen. Und eben neues und gebrauchtes Spielzeug kaufen und verkaufen kann. A6 Atmo vom Laden Autorin Der studierte Umwelttechniker besitzt sozusagen ein Mini-Recycling- Unternehmen. Was auf den ersten Blick wie ein chaotisches Durcheinander aussieht, entpuppt sich bei längerem Hinsehen als wohlsortiertes Sortiment. Direkt neben dem Eingang befindet sich die Musikabteilung, mit Flöten, Schlagzeug, Gitarre und Triangel. Unter der Decke schweben Flugzeuge, Zeppeline, Drachen. In einer Ecke stehen Vitrinen mit kleinen Figuren von Paulchen Panther über Mickey Mouse bis zur Barbie. Daneben Baby-Puppen: O-Ton 16 Onkel Philipp Hier hab ich die Augen repariert, die waren rausgefallen. Also die können jetzt wieder nach rechts und links kucken, und auch zugehen, wenn man die Puppe hinlegt. (kramt in der Kiste herum, weiter als Atmo) Autorin Wertvoll oder Abfall? Onkel Philip überlässt die Entscheidung seinen Kunden. Wer das Geld ausgeben will, dem repariert er zerbrochene Spielsachen, wer das Geld nicht hat, der bekommt Tipps zur Selbsthilfe. Onkel Phillip ist nicht aufs Wegwerfen, sondern aufs Erhalten abonniert. Deshalb hat er neben der Reparatur noch eine Leidenschaft entwickelt: Das Sammeln. O-Ton 17 Onkel Philipp Weil mir die Leute die irrsten verrücktesten Spielzeuge angeliefert haben. Meistens weil das eben Prenzlauer Berg ist und weil das früher DDR war, oft eben DDR-Produkte. Und ich hab einfach gesagt, die werden nicht weggeschmissen. Die hab ich dann ab nem bestimmten Zeitpunkt weggelegt, bis ich die Möglichkeit hatte, ein Museum einzurichten. Autorin Das "Kinderzimmer Honeckers" - wie Onkel Philipp es nennt - befindet sich an einem geheimen Ort, der nur auf Anfrage zu sehen ist. Seine Kostbarkeiten stammen aus Nachbildungen der DDR-Alltagskultur. In einer der zahlreichen Vitrinen, die in den 20-Quadratmeter-Raum gequetscht sind, steht ein Puppenhaus mit einer typischen DDR-Einrichtung aus den 70er Jahren. Plastikstühlchen, ein Wohnzimmer-Schrank mit Plasterahmen und Holztüren, unzähligen Miniatur-Warenkartons, die liebevoll in den Regalen der Puppenküche versammelt sind. An der Wand daneben befindet sich das Puppentheater. Auf Knopfdruck bewegen sich die Püppchen, während in der Mitte über ihren Köpfen eine Rakete kreist. O-Ton 18 Onkel Philipp Und hier oben sieht man Wostok, das ist die Rakete, mit der Juri Gagarin als erster Mann ins Weltall geflogen ist. Und die gibt's hier als Modell, das ist ein DDR Produkt und zwar VEB Modell und Plastspielwarenkombinat Annaberg. Ein ostdeutsches Produkt, was diese Raumfähre, auf die natürlich der ganze Sozialismus, Kommunismus total stolz war, mit Recht, eben darstellt mit der Figur von Juri Gagarin. Autorin In den Puppenhäuschen ist die Zeit stehengeblieben. Im musealen Raum sind aus den Spielzeugen Stellvertreter geworden. Die die symbolische Aufgabe übernehmen, uns an die Alltagskultur einer vergangenen Epoche und eines untergegangenen Landes zu erinnern. Atmo 5 Musik Spieluhr Dr. Schiwago evtl. Kreuzblende mit lautem Uhrticken Autorin Vom Federkiel aus Gänsefedern bis zur Metallfeder heutiger Tage vergingen nur 200 Jahre. Die ländlich-bäuerliche Kultur, die ihre wenigen Reste in den Kreislauf der Natur zurückgab, gibt es nicht mehr. Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Aber uns muss bewusst werden, dass die Umwelt endlich ist. Die riesigen Mülldeponien heißen heute Entsorgungsstätten und Recyclinghöfe. Müllverbrennung nennt man thermische Abfallbehandlung. Verschleiert wird dabei, dass auch bei der technologisch ausgefeiltesten Aufbreitung von Müll Energie und Rohstoffe unwiederbringlich verloren gehen. Weil inzwischen die Rohstoffe knapper und teurer werden, verstärkt sich auch der Ruf nach nachhaltiger und ressourcenschonender Produktion. Zugleich geht die Überproduktion von Waren ungebremst weiter. Aus der Sicht des Soziologen Reiner Keller fehlt die Kopplung der beiden Debatten: O-Ton 19 Keller Wir diskutieren sehr stark über Nachhaltigkeit und gleichzeitig diskutieren wir stark über ökonomisches Wachstum. Und es wird selten die Verbindung hergestellt zwischen einerseits der Art und Weise, wie wir Produkte konsumieren und Produkte ersetzen auf der einen Seite, und dem Ressourcenverbrauch oder der Idee, die in der Nachhaltigkeitsidee mit enthalten ist. Natürlich suggeriert man, das ließe sich damit verbinden, aber ich würde es eher so sehen, dass das zwei weitgehend voneinander entkoppelte Diskussionen sind. Sie haben Geräteentwicklung, Dingentwicklung, Konsumentwicklung in Supermärkten, die eigendynamisch verlaufen. Auf der anderen Seite haben sie Versuche, etwas wie ökonomisch verträgliche Nachhaltigkeit herzustellen. Und diese beiden Prozesse sind, glaube ich, nicht wirklich miteinander gekoppelt bisher. Musik: Weihnachtsmusik kurz frei, dann unterlegen Autorin Und da sich die Konsumgewohnheiten -wenn überhaupt- nur sehr langsam ändern, wird Weihnachten auch in diesem Jahr nicht nur das Fest der Liebe sein, sondern wieder zu Bergen von Geschenkpapier, Kartons und anderen Verpackungsmaterialien führen. Und die wandern dann in den Müll - und das Ganze geht von vorne los. Atmo Silvesterfeuerwerk, Raketen Spr. vom Dienst Vom Gestank der süßen Verschwendung Eine kleine Kulturgeschichte des Mülls Von Claudia Fried Es sprachen: Eva Meckbach und Mirco Böttcher Ton: Bernd Friebel Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 17