DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 26.05.2009 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 - 20.00 Uhr Die Soldaten mit dem blauen Schein - "Wehrunwürdige" in der Strafdivision 999 Ein Feature von Christian Blees URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton JOSEPH GOEBBELS Die Staatsführung darf nicht dulden, dass der weitaus größte Teil des Volkes die ganze Bürde des Krieges trägt und ein kleiner, passiver Teil sich an den Lasten und an der Verantwortung des Krieges vorbeizudrücken versucht. (Beifall) O-TON: KURT NEUKIRCHNER Die Bürger wussten von dieser neu aufgestellten Einheit überhaupt nichts. Man nannte sie Bewährungsbataillon 999, aber in Wirklichkeit war's natürlich eine Strafdivision. O-TON: ERWIN SCHULZ Die Zusammensetzung war so grob gesagt, ein Drittel Politische, ein Drittel Kriminelle und ein Drittel Chargierte, also Nazis. O-TON: JOSEPH GOEBBELS Jedermann wird in dieser ernsten Phase unseres Schicksalskampfes zur Erfüllung seiner Pflicht der Nation gegenüber angehalten, wenn nötig gezwungen werden. (Beifall) O-TON: Fanfare ANSAGE: Die Soldaten mit dem blauen Schein - "Wehrunwürdige" in der Strafdivision 999 Ein Feature von Christian Blees. O-TON: DEUTSCHE NACHRICHTEN Sprecher: Ihrem Fahneneid bis zum letzten Atemzug treu, ist die 6. Armee unter der vorbildlichen Führung des Generalfeldmarschalls Paulus der Übermacht des Feindes und der Ungunst der Verhältnisse erlegen. Ihr Schicksal wird von einer Flakdivision der deutschen Luftwaffe, zwei rumänischen Divisionen und einem kroatischen Regiment geteilt, die in treuer Waffenbrüderschaft mit den Kameraden des deutschen Heeres ihre Pflicht bis zum Äußersten getan haben. ERZÄHLERIN Anfang Februar 1943 erlebte der Kampf an der Ostfront mit der verlorenen Schlacht um Stalingrad für die deutsche Wehrmacht eine entscheidende Wende. Mehrere hunderttausend deutsche Soldaten hatten hier ihr Leben verloren. 14 Tage später wandte sich Reichspropagandaminister Joseph Goebbels mit seiner Rede vom "totalen Krieg" an das deutsche Volk. O-TON: JOSEPH GOEBBELS Ich habe schon in der Öffentlichkeit erklärt, dass die kriegsentscheidende Aufgabe der Gegenwart darin besteht, dem Führer durch einschneidendste Maßnahmen in der Heimat eine operative Reserve bereitzustellen, die ihm die Möglichkeit gibt, im kommenden Frühjahr und Sommer endlich wieder die heiß ersehnte Offensive zu eröffnen. (Beifall) Wir müssen dazu die nötigen Kräfte, die im Lande noch in reichem Maße vorhanden sind, mobilisieren. Und zwar nicht nur auf organisatorische und bürokratische, sondern auch auf improvisatorische Weise. Ein umständliches bürokratisches Verfahren führt mir zu langsam zum Ziel. Die Stunde aber drängt. Eile ist ihr Gebot. Es ist also Zeit, den Säumigen Beine zu machen. (Beifall) ERZÄHLERIN Nicht nur Arbeitskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung sollten an die Front gerufen werden. Ein Sondererlass Adolf Hitlers machte es möglich, ab sofort auch solche Personen einzuziehen, die bis dahin als "wehrunwürdig" gegolten hatten. Was mit diesem Begriff gemeint ist, erläuterte das Wehrgesetz vom Mai 1935. ZITATOR Wehrunwürdig und damit ausgeschlossen von der Erfüllung der Wehrpflicht ist, wer mit Zuchthaus bestraft ist, wer nicht im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, wer durch militärgerichtliches Urteil die Wehrwürdigkeit verloren hat, wer wegen staatsfeindlicher Betätigung gerichtlich bestraft ist. ERZÄHLERIN Für den Status der Wehrunwürdigkeit war es egal, ob das entsprechende Zuchthausurteil vor dem Inkrafttreten des Wehrgesetzes verhängt worden war oder ob es sogar noch aus der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung stammte. Auch spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Betroffenen um kriminelle Straftäter handelte oder um politisch Verfolgte. Aufgehoben werden konnte die Wehrunwürdigkeit zunächst nur auf Antrag des Betroffenen. Er musste glaubhaft machen, dass er sich zu einem loyalen Staatsbürger entwickelt hatte - und dass er sich durch seinen Einsatz an der Front gegenüber Volk und Führer rehabilitieren wollte. Im März 1940 hielten sich die Kriegsverluste auf deutscher Seite noch in Grenzen. In einem Rundschreiben warnte das Reichssicherheitshauptamt davor, die Aufhebungsanträge von Wehrunwürdigen allzu voreilig zu genehmigen. ZITATOR Es besteht die Gefahr, dass sich heute noch politisch unzuverlässige Personen, die wegen kommunistischer, marxistischer oder sonstiger staatsfeindlicher Tätigkeit mit Zuchthaus vorbestraft sind, aufgrund eigenen Entschlusses oder Weisungen staatsfeindlicher Organisationen in die Wehrmacht einschleichen. Um Zersetzungsarbeit zu vermeiden, ist daher eine sorgfältige und eingehende Prüfung des politischen Verhaltens des Verurteilten nach der Strafhaft erforderlich. Es genügt nicht, wenn beispielsweise festgestellt wird, dass der Verurteilte nach seiner Haftentlassung nicht mehr in Erscheinung getreten ist oder dass über ihn Nachteiliges nicht mehr bekannt wurde. Es sind vielmehr eingehende Ermittlungen über das politische Verhalten eventuell durch Anhören der Parteistellen einzuleiten, um ein möglichst zutreffendes Bild von der tatsächlichen Gesinnung des zu Beurteilenden zu erlangen. Dabei soll ehemals Gestrauchelten, wenn es die Art, die Zeit und der Umfang der Straftat rechtfertigen und anderweitige staatspolitische Bedenken nicht bestehen, die Erfüllung der Wehrpflicht nicht versagt werden. Wenn es sich dagegen um kommunistische oder marxistische Funktionäre handelt, ist ein schärferer Maßstab anzuwenden. ERZÄHLERIN Ende September 1942 konnte die nationalsozialistische Führung auf derartige Bedenken keine Rücksicht mehr nehmen. Adolf Hitlers Rede zur Eröffnung des vierten Kriegswinterhilfswerkes vermittelte den Hörern Stärke und Unnachgiebigkeit. In Wirklichkeit war sie Ausdruck personellen Notstandes an den Fronten des Zweiten Weltkrieges. O-TON: ADOLF HITLER In einer Zeit, in der die Besten unseres Volkes an der Front eingesetzt werden müssen und sich dort mit ihrem Leben einsetzen, in dieser Zeit ist kein Platz für Verbrecher oder für Taugenichtse, die die Nation zerstören. (Beifall) Und vor allem: Es soll sich kein Gewohnheitsverbrecher einbilden, dass er durch ein neues Verbrechen über diesen Krieg hinweggerettet wird. Wir werden dafür sorgen, dass nicht nur der Anständige an der Front stirbt, sondern dass der Verbrecher oder Unanständige zuhause unter keinen Umständen diese Zeit überleben wird. (Beifall) ERZÄHLERIN Beim Oberkommando der Wehrmacht beginnt man damit, eine spezielle Kampfeinheit zusammenzustellen, die zum Großteil aus kriminellen Straftätern und politisch Verfolgten besteht. Die offizielle Bezeichnung dieser Strafdivision lautet "Bewährungsbataillon", ergänzt um die Ziffernfolge 999. Dazu der Historiker Hans-Peter Klausch. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Man ging wohl damals davon aus, dass 999 die allerletzte Nummer bei der Infanterie sein würde und dadurch konnte man natürlich den Abstand zu normalen Einheiten, die eben nicht aus Verbrechern zusammengesetzt waren, dokumentieren. Ursprünglich hatte man auch mal an den allerletzten Buchstaben des Alphabets gedacht; man sprach in der Planungsphase von der Brigade Z, wobei dies Z dann auch für Zuchthaus hätte stehen können, in dem die meisten Angehörigen der Division ja mal eingesessen hatten. ERZÄHLERIN Aus einer "geheimen Kommandosache" des Oberkommandos der Wehrmacht vom 14. April 1943. ZITATOR Der für die Einberufung von Wehrunwürdigen in Frage kommende Personenkreis wurde so erweitert, dass künftig mit der Einberufung auch einer größeren Zahl von früher staatsfeindlich eingestellten Personen, insbesondere von ehemaligen aktiven Kommunisten, gerechnet werden muss. Die Gefahren, die sich aus einer möglichen Anhäufung solcher Elemente ergeben, werden solange nicht groß sein, als diese in geschlossenen Einheiten bleiben, wo sie entsprechend überwacht und ausgeschieden werden können. ERZÄHLERIN Insgesamt werden zwischen September 1942 und September 1944 rund 28 000 Wehrunwürdige eingezogen. Von diesen kommt ungefähr ein Drittel direkt aus den Haftanstalten. Alle anderen haben ihre Strafen schon voll verbüßt. Der Anteil der politisch Vorbestraften, den so genannten Politischen, liegt insgesamt bei etwa 30 Prozent. Diese decken das gesamte Spektrum des deutschen Widerstandes ab. Bei einigen handelt es sich um Anarchisten, die im spanischen Bürgerkrieg bei den internationalen Brigaden gekämpft haben oder um Zeugen Jehovas, denen die Verbreitung religiöser Propagandaschriften vorgeworfen worden ist. Die meisten der Politischen sind Mitglieder der Arbeiterbewegung - vor allen Dingen Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten oder Sozialisten. Eingezogen werden zunächst jüngere Wehrunwürdige sowie solche, bei denen die Vorstrafen vergleichsweise niedrig ausfallen. Mit zunehmendem Personalbedarf wird die Altersgrenze im Laufe der Zeit immer weiter angehoben - genauso wie die Dauer der zulässigen Höchststrafe. So landen in der Strafdivision 999 letztlich sogar Häftlinge, die ursprünglich zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind. Kurt Neukirchner, Jahrgang 1914, wird schon als junger Mann zum überzeugten Kommunisten. Gemeinsam mit anderen Genossen verteilt er in der Region Zwickau nachts heimlich Flugblätter, um die Bevölkerung vor den Nazis zu warnen. Im Februar 1934 werden die Mitglieder der antifaschistischen Widerstandsgruppe verhaftet. Zu seiner eigenen Überraschung wird Kurt Neukirchner nach wenigen Tagen Untersuchungshaft und einem ausführlichen Verhör in die Freiheit entlassen. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Vielleicht drei, vier Monate waren vergangen, dann bekam ich meinen so genannten Wehrpass. Das war ein Wehrpass, der beinhaltet meine Wehrunwürdigkeit als Gegner des Faschismus. So. Der war dreimal gefaltet, so groß war der, da stand allerhand da drinne. Das bekam ich dann als Wehrunwürdiger. Das war der blaue, ja, der blaue Ausschluss-Schein. ERZÄHLERIN Ein Jahr lang muss sich Kurt Neukirchner dreimal pro Tag bei der Polizei melden. Anschließend wird er zur Zwangsarbeit in einem Textilbetrieb verpflichtet. Im Oktober 1942 erhält Neukirchner plötzlich ein Schreiben vom Wehramt. Darin fordert man ihn auf, Unterwäsche und Socken zusammenzupacken und sich bereitzuhalten. Wenige Tage später wird der überzeugte Kommunist um sechs Uhr morgens von einem mit Gewehr bewaffneten Wehrmachtssoldaten zuhause abgeholt und zum Bahnhof im sächsischen Oberfrohna gebracht. Dort trifft Neukirchner auf hunderte Gesinnungsgenossen. Auch sie stehen unter strenger Bewachung. MUSIK: Aphex Twin, Acoustica O-TON: KURT NEUKIRCHNER Dort hat's nicht lange gedauert, dann wurden wir in einen alten Zug verfrachtet, dessen Fenster völlig verkleidet waren - geschlossen waren; und als wir drin waren auch natürlich die Türen. Wir hatten ja nun viele, viele Ansichten, viele Vorstellungen: Was wird denn mit uns geschehen? Die erste Orientierung war natürlich meistens von unseren älteren Genossen: "Genossen, macht euch keine Illusionen, denkt an das Schicksal der Juden." Sie wurden auch so verfrachtet, aber nicht zu einer Ausbildung, wie man so vernehmen konnte: "Ihr kommt zu einer militärischen Ausbildung." Das wurde schon so ein bisschen laut gesagt in dem Warteraum. "Aber", sagt er, "macht euch keine Illusionen, ihr müsst damit rechnen, dass wir auch in die Gaskammern fahren." So. ERZÄHLERIN Die Gaskammer bleibt Kurt Neukirchner und den anderen Passagieren an Bord des Zuges erspart. Ab sofort gehören sie zur Strafdivision 999. Als Einsatzort ist Nordafrika vorgesehen. Ausgebildet werden die 999er zunächst auf dem Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb, später auf dem Truppenübungsplatz Baumholder in Rheinland-Pfalz. O-TON: KURT NEUKRICHNER Heuberg, das war ein riesiges Militär - Militärausbildungslager, zur Hälfte auch als Konzentrationslager genutzt in den ersten Jahren. Der Heuberg war restlos abgeschlossen. Es gab keine Besucher. Jede Post, die einging, die ausging, wurde schärfstens kontrolliert, so dass also - ich möchte sagen, unsere Ausbildung dort völlig abgeschlossen von der Öffentlichkeit verlief. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Man hat ihnen erst einmal gesagt, dass es eine besondere Ehre für sie sei, dass der Führer sie zulässt zum Wehrdienst und dass sie die Chance hätten, sich zu rehabilitieren, sich die Wehrwürdigkeit, die ihnen ja aberkannt worden war, zurückzuverdienen durch tapferen Einsatz an der Front, eben durch Frontbewährung. Und für die Leute, die direkt aus den Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern kamen, für die stand auch ein Erlass oder zumindest eine Abmilderung der Reststrafe zur Debatte; also für die gab es einen lohnenden Anreiz auch. ERZÄHLERIN Aus den Bestimmungen des Oberkommandos des Heeres zur rechtlichen und dienstlichen Stellung der 999er: ZITATOR Es ist davon auszugehen, dass alle Einberufenen, die durch den Gnadenerlass des Führers gebotene Gelegenheit, ihre Ehre wiederherzustellen, gern ergreifen. Sie werden mit dem ehrlichen Willen und festen Vorsatz zur Truppe kommen, durch besonders gute Führung, überragende Leistungen und vorbildlich tapferen Einsatz als Soldaten vor dem Feinde den Schandfleck auf ihrer Ehre zu tilgen und dadurch wieder vollwertige Soldaten und Staatsbürger zu werden. Dementsprechend muss die Behandlung sein und alles vermieden werden, was zwangsläufig zur Rückfälligkeit oder Verbitterung und damit zur Vereitelung des angestrebten Erfolges führen könnte. ERZÄHLERIN Die Realität sieht oft anders aus. Nur die wenigsten Neuankömmlinge erhalten richtige Uniformen. Viele 999er verrichten den Dienst in ihrer Zivilkleidung. Andere werden in völlig verschlissene Uniformen gesteckt, die zum Teil noch aus dem Ersten Weltkrieg stammen. Bei manchen Textilien handelt es sich um Beutestücke aus okkupierten Gebieten. Hans-Peter Klausch. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Die eigentliche Ausbildung fand auf der einen Seite nach den offiziellen Ausbildungsrichtlinien der Wehrmacht statt, den so genannten Heeresdruckvorschriften, die aber ergänzt wurden um so genannte besondere Bestimmungen, die halt nur für die 999er galten. Sie bekamen keinen Ausgang, keinen Urlaub, die Post wurde zensiert. Aber es war dem Ausbildungspersonal gleichzeitig verboten, den Leuten ihre Vergangenheit vorzuhalten - offiziell zumindest, passiert ist es trotzdem. Aber so gab es auf der einen Seite immer Zugeständnisse und auf der anderen Seite die Drohungen. Und die schlimmste Drohung während des Ausbildungsbetriebes war eben, dass Todesurteile dort auf dem Heuberg immer im Angesicht der angetretenen Truppe vollstreckt wurden - zur Abschreckung, als erzieherische Maßnahme, wie man auch das nannte. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Nach dem zweiten Tag unseres Dortseins vermeldete der Kompaniechef die Ersterschießung von zwei Bibelforschern. Diese beiden Bibelforscher hatten abgelehnt, eine Uniform noch eine Waffe entgegenzunehmen. Das war für sie das Todesurteil. Und er erklärte uns, jeder Versuch das Geringste an einem Führerbefehl nicht zu befolgen, ist das Todesurteil, was wir uns selber fällen. So wurde die Situation dort offen gehalten, ja. Die Angst. Und wir haben auf dem Heuberg noch einige Erschießungen in unserer dortigen Zeit erleben müssen, ja, von Soldaten, die meinetwegen aus irgendwelchen persönlichen Beweggründen oder aber auch aus politischen Überlegungen heraus zum Tode verurteilt wurden, und war immer früh das Antreten und die Erschießungen. Das war das Allerschlimmste, was ich eigentlich in meinem Leben bisher erleben musste: kurz vor dem Mensch zu stehen, dem man sechs Kugeln in den Körper jagt. ERZÄHLERIN Viele 999er, die direkt aus dem Zuchthaus ins Ausbildungslager Heuberg verfrachtet worden sind, haben seit Jahren keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen gehabt. Darum machen sich vor allem Frauen auf den beschwerlichen Weg nach Süddeutschland - in der Hoffnung, den eigenen Sohn oder Ehemann noch einmal wieder zu sehen, bevor er an die Front geschickt wird. Oft versammeln sich die Frauen in Gruppen vor dem Lager, um einen Blick auf die 999er zu erhaschen und diesen nach Dienstschluss Nahrungsmittel durch den Zaun zu reichen. Eine der Frauen erinnert sich: ZITATORIN Eines Tages wurden unsere Besuche jäh unterbrochen. Eine Anzahl Gendarmen hoch zu Ross forderte uns auf, uns vom Zaun zu entfernen. Zögernd nur folgten wir ihrer Aufforderung, und wenn sie sich entfernten, gingen wir wieder zum Stacheldraht. Nach mehrmaliger Aufforderung gingen sie zur Attacke über und drängten uns mit ihren Pferden weiter und weiter. Hatten sie uns aber eine Strecke zurückgedrängt, dann wurde der andere Teil wieder von Frauen besetzt. Da wurden sie brutal und jagten mit ihren Pferden über uns hinweg, ohne Rücksicht, ob jemand von den Hufen getroffen wurde. Verletzte und unverletzte Frauen und Kinder wälzten sich auf der Erde. Ich konnte mich nur retten, indem ich mich in einen Graben warf, bevor ich von den Hufen getroffen wurde. Einige Frauen wollten offiziell Beschwerde einlegen, andere verließen fluchtartig den Heuberg, denn sie hatten Angst, dass man gegen sie vorgehen würde. ERZÄHLERIN Auch innerhalb des Lagers scheint Widerstand zwecklos. Die örtlichen Gegebenheiten bieten Kurt Neukirchner und den anderen politischen Gefangenen keinerlei Möglichkeit, unbemerkt Fluchtpläne zu schmieden. Zu groß ist das Risiko, von einem allzu diensteifrigen, so genannten Kriminellen an den Lagerkommandanten verraten zu werden. Anfang 1943 sollen die ersten 999er nach Nordafrika verbracht werden. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Es hat zwar kurzfristig Überlegungen gegeben, als sich das Debakel bei Stalingrad abzeichnete, diese Afrika-Division 999 auf Osteinsatz umzurüsten. Der Vorgang hatte auch schon angefangen, man hat also die Tarnfarbe des Wüstensandes schon durch olivgrün und Schnee ersetzt, aber offensichtlich auf Einwirken des Gründers dieser Division, also des General Thomas, hat man da wieder von Abstand genommen. General Thomas hat gesagt, dass wegen der politischen Herkunft der Rekruten ein Einsatz an der Ostfront nicht zweckmäßig sei. Also im Klartext: Man hatte Angst, dass vor allem die vielen ehemaligen Kommunisten und andere Linke in der Einheit gerade an der deutsch-sowjetischen Front überlaufen würden. ERZÄHLERIN Über die Zwischenstationen Belgien und Holland geht es zunächst nach Südfrankreich und anschließend weiter nach Italien. Hier soll sich die Truppe unter tropenartigen Bedingungen für den Einsatz in Nordafrika akklimatisieren. Dort ist die militärische Lage für das deutsche Afrika-Korps unter Generalfeldmarschall Rommel und für die italienischen Verbündeten im Frühjahr 1943 so gut wie aussichtslos. Es mangelt an Waffen, Munition, Fahrzeugen und Treibstoff. Dennoch versuchen die Nazis, Tunesien mit aller Macht zu halten. Zum einen, weil es sich bei der Hauptstadt Tunis um einen strategisch wichtigen Stützpunkt handelt. Zum anderen, weil die Militärführung so kurz nach Stalingrad dem eigenen Volk eine weitere verheerende Niederlage nur ungern eingestehen will. Die 999er sollen zumindest personell für dringend benötigten Nachschub sorgen. Rund 5700 von ihnen kommen lebend in Tunis an. Darunter auch Kurt Neukirchner. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Auf LKWs fuhren wir in Richtung Front. Da schmissen die kleinen Flugzeuge, die schmissen tatsächlich von der Hand einfach Bomben auf unsere Kolonne. Die ersten beiden LKWs wurden voll getroffen und wir hatten schon einen sehr hohen Verlust, auch einige Politische waren dabei. Wir hatten uns schnell ins Gelände vertrieben. Ja, das war so der Beginn - der Marsch zur Front. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Es hat natürlich unter den 999er in Afrika welche gegeben, die durchaus tapfer gekämpft haben - allein die Leute vom Stammpersonal, die Ausbilder, das waren ja ausgesuchte Leute, also besonders zuverlässige Soldaten im Sinne Hitlers. Auch von den Kriminellen und sicherlich auch einige frühere Politische waren durchaus bereit sich zu rehabilitieren, während andere Politische einfach gezwungen waren, ihr nacktes Leben zu verteidigen und dann auch kämpften. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Es waren ja viele Kriminelle, die politisch überhaupt nicht in der Lage waren, ihre Situation einzuschätzen, die tatsächlich der Hoffnung waren, auf Bewährung zu sein. Was willst du machen als Politischer? Du kannst ja nicht einfach stehen bleiben und sagen: "Macht's gut! Seht, ob ihr's schafft." Das ging ja nicht. Du musstest ja mit und musstest auch, wenn es notwendig war, schießen. ERZÄHLERIN Schon nach wenigen Tagen kommt es unter den 999ern zu ersten Überlaufaktionen. Einzeln, manchmal aber auch gruppenweise, suchen Angehörige der Strafdivision Unterschlupf bei US-amerikanischen oder englischen Truppen. Aus dem Bericht eines 999ers MUSIK: Aphex Twin; Acoustica ZITATOR 2 Im Rücken unserer Division war die von der Luftwaffe im November 1942 gebildete Division "General Göring" eingesetzt. Das Durcheinander war bereits so groß, dass es Durchbrüche in den Nachbarabschnitten bei den Italienern gab. Die Auflösungserscheinungen bei den faschistischen Truppen waren deutlich, so dass wir unaufhaltsam, Tag und Nacht, mit nur wenigen Stunden Ruhe, zurückmarschierten. Zwischen Mateur und Ferryville standen Offiziere an der Chaussee mit gezogenen Revolvern und wiesen uns, die wir durch einen roten Paspelierungsstreifen als Bewährungseinheit gekennzeichnet waren, wieder zurück. Die Truppen anderer Einheiten konnten passieren. Auf Umwegen sickerten wir trotzdem mit durch. Wir legten uns in einer ehemaligen Artilleriestellung in die tief ausgehobenen Gruben und warteten, bis uns die amerikanischen Truppen in Gefangenschaft nahmen. ERZÄHLERIN Die deutsche Militärfuhrung reagiert umgehend. In sämtlichen 999er Einheiten wird der Befehl bekannt gegeben, dass bei weiteren Überläufen jeder Zehnte der betreffenden Kompanie erschossen wird. Auch Kurt Neukirchner hofft auf eine passende Gelegenheit, endlich zum Feind überlaufen zu können. Er hat vergleichsweise Glück. Da er als Melder eingeteilt ist, bewegt er sich die meiste Zeit über im Hinterland, um nachrückenden Einheiten schriftliche Befehle seines eigenen Kommandanten zu übermitteln. Eines Tages verschwindet dieser in einem großen Zelt, dem Kommandostand des Bataillons. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Nach einer Weile kam er raus, gab mir einen kleinen Zettel, da stand drauf vier Uhr - mehr nicht. Vier Uhr. Der nächste Angriff auf den nächsten Berg um vier Uhr früh. Das war mein Meldeauftrag. So. Und dann sagt er zu mir: "Ich muss hier bleiben." Und da sagte er sogar "du" zu mir: "Du musst versuchen, selber da hochzukommen, sei vorsichtig. Du musst diese wichtige Meldung hinbringen." So. Ich habe ihm versprochen, das zu tun. Na, ich habe nicht lange überlegt, habe ich mich eben halt in der anderen Richtung auf Marsch gesetzt. ERZÄHLERIN Auch Erwin Schulz, 1912 in Berlin geboren, kämpft als ehemaliger politischer Häftling für die 999er an der tunesischen Front. Von Anfang an wird er das Gefühl nicht los, dass ihn seine Vorgesetzten in den sicheren Tod schicken. O-TON: ERWIN SCHULZ Uns setzte der Feldwebel ein auf einen Hang, wo - das war ein Engländer oder Amerikaner, die uns direkt einsehen konnten. Und wir konnten ja nicht verweigern und dann mit dem da diskutieren. Das ist doch Wahnsinn. Nicht, das war eben Todesbataillon sozusagen. Und gut, wir haben da unser - der Granatwerfer war aufgebaut und ich sagte dann: "Hier, so zehn, zwanzig Meter weiter, bauen wir uns so eine Stellung, wo wir gleich nach dem ersten Schuss hingehen." Wir kriegten ja den Befehl zu schießen. Dann haben wir geschossen - ersten Schuss raus, und gleich ab, dadurch haben wir überlebt. Also, der Granatwerfer, der ist ja in Tausend Teile zerschossen worden. Die haben da batterieweise auf die Stellung geschossen. Wir wären da so richtig atomisiert worden durch den Beschuss. ERZÄHLERIN Gemeinsam mit einem kommunistischen Kameraden beschließt Erwin Schulz zu flüchten. O-TON: ERWIN SCHULZ Und da sind wir dann beide am 30. April - haben wir uns dann da abgesetzt. Das war '43. Wir sind denn nicht zurückgegangen, sondern eben nach vorne. Das war ja bergiges Gelände dort, und da sagte ich: "Ja, ja, morgen ist erster Mai, da gehen wir noch nicht in Gefangenschaft. Wir wollen mal den 1. Mai als freie Menschen so zwischen den Fronten begehen." Und, na denn, den andern Tag sind wir dann weiter, und da wurden wir von Marokkanern gefangen genommen. ERZÄHLERIN Auch Kurt Neukirchner macht sich im unübersichtlichen Gelände auf den Weg in Richtung Front. Nach mehreren Stunden Fußmarsch gerät er in englische Kriegsgefangenschaft. Wenige Tage später ist der Krieg in Nordafrika für die deutsche Wehrmacht verloren. O-TON: DEUTSCHE NACHRICHTEN Sprecher: Am 13. Mai hat der Heldenkampf der deutsch-italienischen Afrikaverbände sein ehrenvolles Ende gefunden. Nicht dem Ansturm des Feindes, sondern dem Mangel an Nachschub sind diese tapferen deutschen und italienischen Soldaten erlegen. Oft genug haben sie dem Feind die Überlegenheit ihrer Waffen zu spüren gegeben. Von ihrer Führung kühn geschickt und auch in der Verteidigung immer offensiv angesetzt, haben sie dem Feind schwerste Menschen- und Materialverluste zugefügt. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Wir wussten in Nordafrika schon, wie es tatsächlich aussah, dass das Rommel-Corps eigentlich geschlagen war. Und wir auserlesen waren, mit anderen Einheiten den Rückzug des Rommel-Korps zu decken, zu ermöglichen. Wir haben dann später - das haben mir die englischen Offiziere sogar vorgelesen - haben sie Befehle erobert von den Deutschen, die lauteten: Wenn in Nordafrika die Front aufgegeben wird, sind die 999er nicht zurückzuführen, sondern durch Maschinen- und Granatwerferfeuer zu vernichten. Nicht zurückzuführen, das war unser Schicksal. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH In dieser Situation fiel die deutsche Führung dann auf ein Geheimdienstmanöver der Briten herein. Das war die Operation Mincemeat, also Operation Hackfleisch, wie die Briten dieses Vorhaben nannten. Die hatten also eine präparierte Leiche am Mittelmeerstand anspülen lassen mit Papieren, Militärpapieren, in denen auf die geplante Invasion hingewiesen wurde. Und zwar wurde dort Griechenland als Ort der Alliierten-Invasion genannt. Hitler und die führenden Generäle glaubten das und haben dann eben veranlasst, dass die Reste der Afrika-Division, dass die alle nach Griechenland kommen sollten, um diese geplante Invasion abzuwehren, die dann aber tatsächlich ja in Italien, auf Sizilien, stattfand. Und das hatte für diese 999er den Vorteil, dass sie zunächst dann auf eine vergleichsweise ruhigen Posten in Südgriechenland lagen. ERZÄHLERIN Noch im Mai 1943 treffen die ersten Einheiten an ihrem neuen Bestimmungsort ein. Ende August sind insgesamt sieben 999er-Infanteriebataillone in Griechenland stationiert - auf dem Festland, auf dem Peloponnes sowie auf den ägäischen und ionischen Inseln. Sie sollen vor allem Eisenbahnstrecken, Flugplätze und andere strategisch wichtige Militärobjekte vor den angeblich bevorstehenden Angriffen der Alliierten schützen. Die Berichte, die Offiziere der Strafbataillone von Afrika aus nach Deutschland senden, veranlassen das Oberkommando des Heeres und das Oberkommando der Wehrmacht zu der Einschätzung, dass sich die 999er insgesamt durchaus ordentlich bewähren. Darum werden die entsprechenden Einheiten weiter ausgebaut. Nur wenige Monate später, als sie nach Griechenland verlegt werden, ändert sich das Bild. In dem verzweifelten Brief eines Oberst an die Heeresleitung heißt es: ZITATOR Wenn Soldaten den Griechen höhnisch erklären, Befehle des Oberst gingen sie nichts an, der Oberst werde demnächst "liquidiert", wenn sie sich brüsten, sie kämen aus dem Zuchthaus und seien zu Soldaten gepresst worden, wenn sie erklären, sie hassten den Führer und seinen Anhang, sie wollten das Ende des Krieges und wünschten, dass die Engländer kämen, dann bleibt das auch dem feindlichen Nachrichtendienst nicht verborgen. Dabei haben diese Gesellen noch keinen scharfen Schuss erlebt. Ich selbst habe in zwei Kriegen 79 Monate nur an der Front gestanden und bin viermal verwundet worden. Auf dem Gebiet der Menschenführung bin ich kein Anfänger. Mit der Zusammenballung von einigen Tausend Untermenschen kann man keinen Kampf führen. Ich empfinde die Situation, in der ich mich befinde, als Schmach. Ich bitte Herrn General, mir aufgrund dieser ungeschminkten Schilderung zu helfen und mir zu raten, was ich tun soll. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Im Oktober '43 etwa hat man dann eine groß angelegte Säuberungsaktion durchgeführt, wie es hieß. Und hat also in Griechenland, aber auch in Deutschland, etwa 1500 bis 2000 999er entwaffnet, die dann zurück in den Strafvollzug gekommen sind oder aber als Zwangsarbeiter zur Organisation Todt. Die Organisation Todt wurde ja für militärische Bauarbeiten eingesetzt, und dort haben die dann Zwangsarbeit leisten müssen. ERZÄHLERIN Auch bei der Organisation Todt sorgen die ausgemusterten 999er am Einsatzort in Frankreich für unliebsame Zwischenfälle. Aus einem Erlass vom Januar 1944: ZITATOR Es war versucht worden, in der Organisation Todt allen diesen Menschen die Gelegenheit zu geben, sich durch besondere Arbeitsleistungen des Vertrauens als freie Arbeiter würdig zu erweisen. Aus diesem Grunde haben sie die Hakenkreuzbinde erhalten und wurden als freie Arbeiter behandelt. Die Erfahrung aber im Einsatz hat ergeben, dass die Nachsicht am falschen Platz war. Durch eine Reihe von Devisenvergehen, Diebstählen, Spionage und unerlaubtes Entfernen von der Arbeitsstelle, Drückebergereien und so weiter ist die Organisation Todt gezwungen, das freie Arbeitsverhältnis dieser Menschen aufzuheben und sie unter entsprechende Zucht zu stellen. ERZÄHLERIN In den bereinigten 999er-Bataillonen, die in Griechenland geblieben sind, wird der Anteil des Stammpersonals noch einmal erhöht. Mit einer größeren Zahl überzeugter Nazis als Bewacher hofft die Militärführung, vor allem die "Politischen" unter den 999ern, besser in den Griff zu bekommen. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Die Invasion blieb aus, aber die Küsten mussten natürlich weiterhin gesichert werden, weil in späteren Zeiten vielleicht neue Landeunternehmen erfolgen könnten. Also blieben die 999er dort liegen, wurden dann aber auch mehr und mehr gegen die sich entwickelnde Partisanenbewegung, also gegen die griechischen Partisanen eingesetzt. Das wurde nicht ihr Haupteinsatzgebiet, aber weil die Partisanen immer stärker wurden, mussten also auch die 999er in die Berge ausrücken, um Partisanen zu suchen, aufzuspüren. Sie mussten auch in Städten Razzien mit durchführen, wo Geiseln festgenommen wurden. Das brachte manche Schwierigkeit für die politischen 999er mit sich, wie man sich vorstellen kann. Aber gerade unten auf dem Peloponnes gelang es ihnen dann, Kontakte zu den griechischen Widerstandskämpfern herzustellen, so dass man diese dann unterstützen konnte mit Medikamenten, Munition, Waffen, aber vor allen Dingen auch mit Warnungen vor solchen Razzien, Säuberungsunternehmen und so weiter. ERZÄHLERIN Drei Infanteriebataillone der 999er erhalten schon kurz nach ihrer Ankunft in Griechenland Ende Dezember 1943 einen neuen Einsatzbefehl. Es geht an die Ostfront. Genauer: an das Ufer des Dnjepr. Hier wird die deutsche Wehrmacht von der Roten Armee immer weiter zurückgedrängt. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Das war also ein Einschnitt, man kann sagen: ein erzwungenes Experiment der Wehrmacht. Das war nicht von langer Hand geplant, das ging also völlig ad hoc - wurden die dort hin überstellt. Und die Wehrmacht erlebt dann dort ein großes Fiasko mit diesem Einsatz. Am ersten Tag, als noch der Fluss zugefroren war - es war im Winter - ist gleich ein 999er übergelaufen und hat noch am selben Tag mit dem Lautsprecher der Roten Armee zu den Kameraden gesprochen, hat die Missstände angeprangert in den Bataillonen und hat eben auch die anderen zum Überlaufen aufgefordert. Und tatsächlich haben dann gleich am nächsten Tag vier 999er ihren Feldwebel entwaffnet und den gezwungen, mit ihnen übers Eis zu den Russen überzulaufen. Da gingen natürlich schon alle Alarmglocken an. Die Führung hat dann beschlossen, in diesem Bataillon sofort alle Politischen zu entwaffnen. MUSIK: Aphex Twin ZITATOR 2 Am Abend des 21. Januar erschien in unserem Bunker der Kompaniechef, mit großem Gefolge. Unser Zugführer sagte: "Ich habe euch zur vollen Wehrwürdigkeit vorgeschlagen. Vorher müsst ihr noch an einem Einsatz teilnehmen. Packt eure Klamotten, außer den Waffen. Ihr bekommt bessere." Ein Unteroffizier führte uns einem unbekannten Ziel entgegen. Bald stießen wir auf einen Trupp, der nur noch auf unsere Ankunft gewartet hatte. Jetzt stiegen in uns erste düstere Ahnungen auf. Schwerbewaffnete Stammmannschaften mit schussbereiten Karabinern und Maschinenpistolen eskortierten etwa 30 waffenlose "Wehrunwürdige". Das sah nicht nach einem Ehrengeleit auf dem Weg zur "vollen Wehrwürdigkeit" aus, sondern eher nach einem Gefangenentransport. ERZÄHLERIN In sämtlichen 999er-Bataillonen, die an der Ostfront stationiert sind, werden die Politischen entwaffnet, eingesperrt und dann nach Deutschland zurückgeschickt. Dort stellt man sie vors Kriegsgericht. Doch nur den wenigsten der über 400 Bewährungssoldaten lässt sich nachweisen, dass sie tatsächlich in die Überlaufaktionen eingebunden waren. Daraufhin fasst die Heeresleitung sämtliche der betreffenden Politischen in einem neu aufgestellten Bataillon zusammen und beordert diese zum Fronteinsatz nach Griechenland. Dort angekommen, gehen die 999er umgehend dazu über, vor Ort den politischen Widerstand zu organisieren. Viele laufen zu den griechischen Partisanen über. Jene 999er, die in Nordafrika in alliierte Kriegsgefangenschaft geraten sind, werden nach einigen Wochen von Casablanca aus nach New York verschifft. Anschließend geht es mit dem Zug in Richtung Süden. Im Bundesstaat Alabama erwartet sie erneut ein Kriegsgefangenenlager. Erwin Schulz. O-TON: ERWIN SCHULZ Wir waren dann so dreißig, vierzig Widerstandskämpfer, also Politische, zusammen. Und wir versuchten immer zusammen zu bleiben, denn als Einzelner weiß man nicht, was einem passiert. In der Baracke waren wir dann auch zusammen. Die Auseinandersetzung mit den Nazis ging ja weiter. Die besetzten alle Funktionen: in der Schreibstube, in der Küche, in der Kammer. Da wurde ja denn auch der Hitler-Gruß eingeführt in den Kriegsgefangenenlagern, und wer da nicht grüßte, na, der konnte dann auch bestraft werden. Und so spitzte sich das immer weiter zu. Und da wurde da in den Lagern Hitlers Geburtstag gefeiert und andere Dinge auch, die brachten da ihre faschistischen Gedankengänge weiter zum Ausdruck. O-TON: KURT NEUKIRCHNER Und dort haben die Faschisten Folgendes gemacht: Sie wollten uns vernichten. Schon am vierten Tag haben sie nachts unter einer Baracke haben sie Feuer gelegt. Zum Glück gab's einen Genossen, der nachts noch nicht schlafen konnte. Der war draußen und hat das bemerkt, aber er konnte erst informieren, nachdem es brannte. Und dort, in diesem Lager, hatten wir dann auch nach langer Überzeugung des Kommandeurs, der immer sagte: "Für mich seid ihr Deutsche. Ihr habt gekämpft miteinander, seid Deutsche." Haben wir gesagt: "Nee, wir haben nicht miteinander gekämpft, wir haben gegen diese Banditen gekämpft." Das hat lange gedauert, bis der das begriffen hat. Aber dann hat er's begriffen und hat uns gestattet, auf der anderen Seite ein Lager oder so eine Abteilung zu beziehen. Und dort durften wir das erste antifaschistische Lager benennen. O TON: ERWIN SCHULZ Und am 8. Mai gab's auch keinen mehr, waren sie alle nur noch gute deutsche Soldaten. Genauso wie zu Hause: gab's auch keinen Nazi mehr. ERZÄHLERIN Mitte September 1944 wird das so genannte Bewährungsbataillon 999 offiziell aufgelöst. Den Nazis erscheint der weitere Einsatz ihrer oft unzuverlässigen Soldaten als zu riskant. Jene, die sich zu dieser Zeit im Lager Baumholder in der Ausbildung befinden, werden gemeinsam mit den in Griechenland ausgemusterten 999ern in der Regel als Bausoldaten eingesetzt. Andere müssen zurück ins Gefängnis oder werden in die Freiheit entlassen. Wie viele 999er den 2. Weltkrieg überlebt haben, bleibt unklar. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Es gibt Bataillone, die nahezu vollständig aufgerieben wurden. Beispielsweise das 19. Bataillon beim Partisaneneinsatz in Jugoslawien ist innerhalb weniger Tage komplett vernichtet worden. Oder auch das 999er Bataillon, was auf die Krim gekommen ist, an die Ostfront. Dort sind eine Handvoll Leute zurückgekehrt. Aber andere Bataillone, die auf den griechischen Inseln eingesetzt waren - etwa auf Samos oder Lyros -, die sind dort bis Kriegsende verblieben; die waren ja abgeschnitten. Die waren im Mai '45 immer noch auf Samos, die hatten nur geringe Verluste in dieser Zeit. Allerdings, als die Schiffstransporte dort hingegangen sind im Oktober, November 1943, dort waren etliche Versenkungen von Transportschiffen. Dort sind Hunderte von 999ern umgekommen. Aber, wie gesagt: In der Folgezeit kam Ersatz, und die lagen relativ ruhig auf diesen Inseln. Von daher gibt es keine genauen Zahlen, wie viel von den etwa 28 000 999ern nun umgekommen sind und wie viel überlebten. ERZÄHLERIN Für Kurt Neukirchner und Erwin Schulz war der Einsatz bei den 999ern eine prägende Erfahrung für die eigene persönliche Entwicklung. Hans-Peter Klausch glaubt, dass die Aktivitäten der Strafdivision durchaus auch eine historische Bedeutung gehabt haben. O-TON: HANS-PETER KLAUSCH Überall haben die Gegner Hitler-Deutschlands mit den 999ern eben auch das andere Deutschland kennen gelernt: das Deutschland des Widerstandes. Und ich denke, da ist bei den Völkern und bei den Armeen oft ein positiver Eindruck hinterlassen worden. In Griechenland etwa sind die Gräber der erschossenen 999ern dann von den Griechen immer wieder mit Blumen und Kränzen geschmückt worden. Und als es nach dem Abzug der Deutschen im November '44 überall zu den Siegesparaden kam in den griechischen Städten, waren auch immer 999er in deutscher Uniform in diesen Demonstrationszügen beteiligt. Und ich glaube, dass durch diesen mühseligen Kampf, den sie überall geführt haben, das deutsche Ansehen besser da stand, '45, als es ohne diesen Kampf gewesen wäre. Und dadurch haben sie eigentlich uns allen einen Neubeginn erleichtert. Man wird noch heute in Griechenland positiv darauf angesprochen, was dort von 999ern geleistet worden ist im Widerstand. MUSIK: Aphex Twin; Acoustica; ABSAGE Die Soldaten mit dem blauen Schein - "Wehrunwürdige" in der Strafdivision 999 Ein Feature von Christian Blees Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2009. Es sprachen: Bernt Hahn Gregor Höppner Claudia Mischke Und Ilse Strambowski Ton und Technik: Michael Morawietz und Gabriele Traichel Regie: Anna Panknin Redaktion: Marcus Heumann 21