DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Hermann Theissen Feature "Sie liebte ihr Gewerbe als Liebesspenderin" Romantisiertes Rotlicht und lateinamerikanisches Frauenbild Von Karl-Ludolf Hübener Regie: Axel Scheibchen ERZÄHLER 1. Übersetzer (Skármeta) 2. Übersetzer (Vargas Llosa, Carlos)) 1. Übersetzerin (Celiberti, Trochón, Rousseff) 2. Übersetzerin (Reynaga) Zitator Zitatorin Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 17. Oktober 2014, 20.10 - 21.00 Uhr ATMO: (Take A 1 /Theater: "La Negra Ester") ERZ: Auf der Bühne tanzen, gestikulieren und singen Männer und Frauen, grell geschminkt. Im Mittelpunkt eine bildhübsche Frau, begehrt und umworben. La Negra Ester, die Schwarze Ester, umworben von einem Dichter. O-TON: (Take 1 / Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Es ist ein Werk, in dem die Hure die Heldin ist, voller Anmut, Sinnlichkeit und Talent. Um sie herum entwickelt sich das Schauspiel, die Freude am Leben. Sie hat im Poeten Leidenschaft entfacht. Er besingt sie so überschäumend. Das ganze Werk ist in Versform gepackt, als handele es sich um klassisches spanisches Theater." ATMO: (Take A 1 /Theater: La Negra Ester) ERZ: "La Negra Ester" steht seit Jahren auf dem Spielplan chilenischer Bühnen. Das Stück ist ein Dauerbrenner, basierend auf einem Werk mit autobiografischen Zügen, verfasst von Roberto Parra einem Landsmann des Schriftstellers Antonio Skármeta.t: O-TON: (Take 2 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "In der lateinamerikanischen Literatur taucht das Bordell sehr häufig auf. Nicht nur in volkstümlichen Werken minderer Qualität, sondern auch in Texten größter Qualität." ERZ: Beispielsweise in "Gegenlauf", einem Roman des verstorbenen paraguayischen Autors Augusto Roa Bastos: ZITATOR "Ich zahlte meinen Obolus an Madame Paulette, die Besitzerin des Bordells, und wartete geduldig, bis ich an der Reihe war. Es war ein großes Vergnügen für mich, mit Salu'í zu plaudern. Sie besaß die natürliche Weisheit und Würde der einfachen Wesen... Sie liebte ihr Gewerbe als Liebesspenderin. ‚Ich kann mich den Männern hingeben, die mich bezahlen', sagte sie, 'weil ich noch nicht den Mann gefunden habe, den ich mit meiner Liebe bezahlen kann." Ansage "Sie liebte ihr Gewerbe als Liebesspenderin" Romantisiertes Rotlicht und lateinamerikanisches Frauenbild Ein Feature von Karl Ludolf Hübener ATMO: ( Take A 2/Show de los Libros) ERZ: "Show de los Libros", die Bücherschau. Mehrere Jahre hat Antonio Skármeta diese Fernsehsendung gestaltet. Der chilenische Schriftsteller wollte damit auf ebenso lockere wie unterhaltsame Weise Fernsehzuschauer für Bücher interessieren. Thema war eines Abends auch das "Freudenhaus in der lateinamerikanischen Literatur". ATMO: (Take A 2 /Show de los Libros) ERZ; Prostituierte und Bordelle spielen eine wichtige Rolle in vielen Romanen Lateinamerikas. Insbesondere in der so genannten Boom Literatur, die in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts über Lateinamerika hinaus Aufsehen erregte. Ob in den Romanen von Berühmtheiten wie den Brasilianern Jorge Amado, João Guimarães Rosa, Rubem Fonseca, dem Kolumbianer Gabriel García Marquez, dem Mexikaner Carlos Fuentes, dem Uruguayer Juan Carlos Onetti, dem Peruaner Mario Vargas Llosa, den Argentiniern Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, um nur einige zu nennen. O-TON: (Take 4 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Unter den großen Werken, in denen das Bordell im Mittelpunkt steht, ist sicherlich das Grüne Haus von Vargas Llosa das Wichtigste." ERZ: "Das Grüne Haus" ist ein Bordell am Rande der nordperuanischen Provinzstadt Piura, in der auch der spätere Nobelpreisträger Vargas Llosa aufwuchs. Es liegt in einer wüstenartigen Umgebung. O-TON: (Take E 1/ Vargas Llosa liest) 2. ÜBERSETZER: (Das grüne Haus) "Die Nacht ist faul, schlaflos, im Fenster nur das eine Schauspiel: oben die Sterne, in der Luft die langsame Sintflut des Sandes und; zur Linken, Piura, Lichter im Dunkeln, die weißen Umrisse von Castilla, der Fluss, die Alte Brücke, wie eine große Eidechse zwischen den Ufern." ERZ: Das legendenumwobene "Grüne Haus", ist umgeben von einer Steinmauer, gespickt mit Disteln, Scherben, Stacheln und Dornen, und in ihm haben Machos das Sagen. O-TON: (Take 5 /Vargas Llosa liest) 2. ÜBERSETZER "Zieh die Vorhänge vor, der Schmetterling soll raufkommen, sich ausziehen, ohne den Mund aufzumachen, komm, beweg dich aber nicht, du bist ein kleines Mädchen, küss sie, du liebst sie, ihre Hände sind Blumen, sie, wie nett Sie das sagen, Patrón, gefall ich ihnen wirklich so gut?" ERZ: Das grüne Haus ist Schnittpunkt verschiedener Schicksale - von Prostituierten wie Besuchern. Von Fremden, die am Wochenende anreisen. Und von Stammgästen. O-TON: (Take 6 / Vargas Llosa liest) 2. ÜBERSETZER "... ein kleiner Schnaps, und danach noch einen, und endlich eine halbe Flasche von dem Besonderen. Und am Mittag, Chápiro, Don Eusebio, der Doktor Zevallos, man muss ihn aufs Pferd setzen, das bringt ihn bis zum Sand hinaus, die Mädchen bringen ihn dann schon ins Bett." ATMO: (Take A 3 /Stimmen, Musik) ERZ: Es ist ein Ort ausschweifender lustiger Feste. Selbst köstliche Speisen werden serviert. Neben der Bar im zweistöckigen Bau sitzen in einer Ecke die Musikanten. Sie spielen zum Tanz mit den Huren auf. O-TON: (Take 7 / Vargas Llosa liest) 2. ÜBERSETZER "Unten wird gelacht, angestoßen und gescherzt, mitten in die lärmenden Gitarren schleicht sich das schlanke Pfeifen einer Flöte, man gerät in Hitze, tanzt." ERZ: In blaues und grünes und violettes Licht ist der geräumige Tanzsaal getaucht, ... 2. ÜBERSETZER "... dessen Wände über und über bekritzelt sind mit Namenszügen und Emblemen: Herzen, Pfeile, Brüste, weibliche Geschlechtsorgane wie Halbmonde, Glieder, die sie durchstoßen." ATMO: (Take A 3 / Stimmen Musik) ERZ: Der katholische Priester von Piura lässt den Sündenpfuhl schließen Alles Beten von Müttern, Ehefrauen und Betschwestern in Piura sei vergeblich gewesen, heißt es im Roman, auch die Predigt der Priester. 2. ÜBERSETZER "Wir haben die Hölle vor den Toren", donnerte Padre Garcia, "jeder kann das sehen, aber ihr seid blind, Piura ist zu Sodom und Gomorrha geworden." "Vielleicht ist es wahr, dass das Grüne Haus Unheil brachte", sagten die Alten und leckten sich die Lippen. Aber wie herrlich es in der verdammten Bude war!" ATMO: (Take A 4 /Kirchenorgel) ERZ: Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist in Lateinamerika seit der spanischen Kolonialzeit sehr stark vom Katholizismus beeinflusst. Die von den Konquistadoren aufgezwungene Religion prägte das Frauenbild. Sie war die Hüterin von Moral, Tugend und christlicher Lebensführung in der Familie. Frauen konnten außer als Ehe- und Hausfrauen nur noch als Nonnen, Sklavinnen, Marktfrauen oder Prostituierte in der eingehegten Kolonialgesellschaft existieren. Auch nach der Unabhängigkeit vieler südamerikanischer Länder änderte sich nichts an den patriarchalischen Familien- und Gesellschaftsstrukturen. Lilian Celiberti von der feministischen Bewegung "Cotidiano Mujer" in Uruguay: O-TON: (Take 8 /Celiberti) 1.ÜBERSETZERIN: "Die gesamte Kultur des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts verherrlicht das Bild von der mütterlichen Frau. Sie ist die Reine, die andere die Verräterin ihres Geschlechts - zumindest am Rio de la Plata, so wie sie sich im Tango ausdrückt." MUSIK: (Take M 1 /"Maquillaje") ZITATOR "Lügen deine Güte ist erlogen deine Liebe, deine Tugend und zum Schluss selbst deine Jugend alles Lügen noch dein Herz legt Schminke auf. Grausame Lügen einer armen Liebe!" ERZ: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Frau bis zur Ehe zur Jungfräulichkeit verdammt. Sexuelles Verlangen war Tabu. Für die heranwachsenden Söhne gab es dagegen die so genannte Initiation, die Einführung des Jungen in das Sexualleben. O-TON: (Take 9 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "In den traditionellen Familien Chiles trug der Vater die Verantwortung dafür, dass der Junge mit 15 Jahren seine Unschuld verlor. Es sollten erst gar keine zweifelhaften sexuellen Beziehungen aufkommen. Wenn der Junge allzu feinfühlig war, so fürchtete die traditionelle Familie, könnte er homosexuelle Neigungen entwickeln und nicht männlich genug werden, um später energisch und verantwortungsbewusst andere Pflichten im Leben zu übernehmen. Viele Väter haben deshalb mit den Huren des Dorfes oder einer Puffmutter vereinbart, dem Sohn die ersten sexuellen Erfahrungen zu ermöglichen." ATMO: (Take A 5 / Musik, Stimmen im Bordell) ZITATOR "Der Kleine da muss doch auch was lernen, oder nicht?" Und Mingolo sagte, er wolle seinem neuen Kumpan zuliebe zurücktreten. Und Conceição musterte Lélio, ihr Lachen sprühte wie Puder, und sie blickte ihn einladend an. "Haha, will er weibliche Wohltaten kennenlernen?", fragte sie ermunternd." ERZ: In Antonio Skármetas Sendung wechseln sich Buchzitate mit Filmausschnitten, Musikeinlagen und Theaterszenen ab. O-TON: (Take 10 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Im Laufe der Zeit wird in vielen Theaterstücken und Romanen der Mythos von der Prostituierten mit dem guten Herzen kreiert. Es ist eine Frau, die zur Hälfte Hure zur anderen Hälfte Heilige ist. Halb Geliebte, halb Mutter." ERZ: So in der "Geschichte von Lélio und Lina". Autor ist João Guimarães Rosa, einer der großen Erzähler Brasiliens. ZITATOR "Zunächst hatte sie ihn umschmeichelt, hatte ihn gelassen und selbstsicher behandelt, mit Zärtlichkeit und Liebkosungen, ohne Ziererei, wie eine Mutter, die ihren Sohn umhegt - wenn der Vergleich erlaubt ist. Aber dann geriet sie außer Rand und Band, wälzte sich mit ihm, ließ ihre Glieder spielen und umklammerte ihn wie ein Reiter, der sein Pferd zu zähmen versucht; sie wusste es auch und sagte ohne Scham: ‚Halt dich wacker, Schatz, und hab keine Angst, ein Stutenritt tut dem Hengst nicht weh." ERZ: Die oft mit einem Schuss Verklärung, Romantik und magischem Realismus ausgestatteten Romane vergangener Jahrzehnte hinterließen auch auf europäische Leser einen nachhaltigen Eindruck. Antonio Skármeta hat viele Jahre im Exil in Berlin verbracht und war dort später auch Botschafter Chiles. O-TON: (Take 11 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Der europäische Leser, den ich glaube während meines Aufenthaltes in Europa kennen gelernt zu haben, bevorzugt die lateinamerikanische Literatur, weil er hinter jedem lateinamerikanischen Roman oder jeder Geschichte ein episches Geschehen wahrzunehmen glaubt. Das heißt die Personen, die dort sehr private Geschichten von Liebe, kleineren Diebstählen, von Verrat und politischen Katastrophen erleben, sind mit einem bestimmten Volk, seiner Kultur und Tradition verbunden, so dass ihr Handeln als relevant für die ganze Gesellschaft erscheint." ERZ: So wurden auch Bordelle und Huren relevant für das lateinamerikanische Frauenbild in Europa. Und für magisch-romantische Klischees. "Erinnerung an meine traurigen Huren" heißt eine Novelle des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez. "In diesem Roman ist der ganze Zauber der Prosa von Gabriel García Márquez enthalten" begeistert sich die spanische Zeitung "El Mundo": "dieser lebendige, unverwechselbare Stil, der so viele Leser verführt hat." O-TON: (Take 12 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER " Das Werk ist zugleich eines der perversesten und großartigsten von García Márquez: Die unglaubliche und traurige Geschichte der einfältigen Eréndira und ihrer herzlosen Großmutter. Es ist die Geschichte einer Großmutter, die ein Mädchen in einem Zelt prostituiert. Ganze Regimenter von Soldaten ziehen durch das Zelt." ERZ: Durch die Unachtsamkeit Eréndiras war das Herrenhaus der Großmutter bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der entstandene Schaden wird für Eréndira zur ewigen Schuld, die das vierzehnjährige elternlose Mädchen mit seinem Körper tilgen muss. ZITATOR "Noch am selben Tag begann (die Großmutter), sich im Regengeprassel den Verlust zurückzahlen zu lassen, als sie Eréndira zum Krämer des Dorfes mitnahm, einem knochenmageren, frühzeitigen Witwer, der in der Wüste dafür bekannt war, dass er gute Preise für Jungfräulichkeit zahlte. Angesichts der kaltblütigen Erwartung der Großmutter musterte der Witwer Eréndira mit wissenschaftlicher Strenge: er schätzte die Kraft ihrer Muskeln ab, den Umfang ihrer Brüste, den Durchmesser ihrer Hüften. Er sagte kein Wort, bevor er ihren Wert errechnet hatte. "Sie ist noch sehr grün", sagte er dann. "Sie hat die Zitzen einer Hündin." ERZ: Die Großmutter bietet Eréndira als Dirne auf dem Markt feil und schleppt sie von Dorf zu Dorf. ZITATOR "Die Großmutter, die sich auf ihrem Thronsitz zufächelte, schien ihrem eigenen Jahrmarkt entrückt. Sie interessierte einzig die Schlange der Kunden, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, sowie der genaue Anzahlungsbetrag, den sie vor dem Betreten von Eréndiras Zelt zu entrichten hatten." MUSIK: (Take M 2 /Al de Meola: "Bordel 1900") ERZ: Ein unglaubliches und trauriges Schicksal, bis Ulysses Eréndiras Geliebter wird und die Großmutter tötet. O-TON: (Take 13 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Das ganze wird fröhlich erzählt. Und das in einer harten, rauen, sehr komplizierten und herunter gekommenen Welt. Die Prostituierte, die sich am Rande des Humanen bewegt, schafft Energie und Kreativität und weckt in ihren Klienten Liebe. Eine letztlich romantische Sicht." ERZ: Eher beiläufig gibt Antonio Skármeta im Gespräch zu verstehen, dass manche Erzählung, mancher Roman auf einschlägigen Erfahrungen des Autors fußt. O-TON: (Take 14 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Im Leben lateinamerikanischer Männer stellt das Bordell eine wichtige Erfahrung dar. Es beeinflusst das Bild, das sie sich später von den Frauen machen." ERZ: Es sind vor allem ländliche und kleinstädtische Szenarien, die sich in den Romanen widerspiegeln, die aber Entwicklungen in den wachsenden Städten des Subkontinents weitgehend ausklammern. Tatsächlich eröffneten sich für Frauen im südlichen Südamerika ab Mitte des 19. Jahrhunderts neue Perspektiven - so die Geschichtsprofessorin Yvette Trochón aus Montevideo: O-TON: (Take 15 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "Ab 1880 beginnt beispielsweise im Einzugsbereich des Rio de la Plata ein Modernisierungsprozess. Es handelt sich um eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Modernisierung, die auch die Wahrnehmung von Prostitution in dieser Zeit beeinflusst." ERZ: Der Export von Getreide und Fleisch weitete sich am Rio de la Plata gewaltig aus. Häfen wurden ausgebaut, Schienen verlegt und Industrien aufgebaut. Frauen arbeiteten bald im Nahrungsmittelsektor und in Textilfabriken, als Lehrerinnen, Telegrafistinnen, Sekretärinnen und Buchhalterinnen. Die Ehemänner begannen um ihre Autorität als Familienväter und Ehemänner zu fürchten, weil ihre Frauen nun Geld verdienten und so der häuslichen Kontrolle zu entgleiten drohten. Gleichzeitig machte den Machos eine andere Gefahr zu schaffen, vor der Töchter und Ehefrauen angeblich geschützt werden mussten. O-TON: (Take 16 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "Man sollte nicht vergessen, dass diese Gesellschaften, vor allem Argentinien und in geringerem Maße Uruguay eine Menschenschwemme erlebten. Millionen von Migranten kamen hier an. Es waren vor allem Männer." ERZ: Zwischen 1869 und 1914 wuchs die Bevölkerung von Argentinien durch den Einwandererstrom, vor allem verarmter Südeuropäer, von 180 000 Einwohnern auf 1,4 Millionen. Im Jahr 1895 waren drei von vier erwachsenen Männern in Buenos Aires ausländischer Herkunft. O-TON: (Take 17 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "Was machen wir mit der Sexualität all dieser Männer, von denen es in den wuchernden Städten wimmelt, fragte man sich: Was passiert mit unseren ehrbaren Frauen?" ERZ: Angesichts des Frauenmangels erschien die Prostitution bald als soziales Ventil, unumgänglich und akzeptiert. O-TON: (Take 18 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "In diesem Zusammenhang kam die Idee vom notwendigen Übel auf. Die Prostituierte ist wie eine Kloake, hieß es. Wie die Kloaken in den Städten. Kloaken sind notwendig, Prostituierte ebenfalls." ERZ: Yvette Trochón hat die Ergebnisse ihrer Forschungen in dem Buch "Söldnerinnen der Liebe" publiziert. Es ist ein umfangreicher Essay - ohne romantische Sicht. Das "notwendige Übel" bestätigt noch einmal das traditionelle Frauenbild: O-TON: (Take 19 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "Auf der einen Seite die guten, anständigen, ehrenwerten Frauen der Familie, wie Mütter und Töchter, die sich verheiraten, Familien gründen und Mütter sein werden. Auf der anderen Seite gab es die Frauen, die nichts anderes als Empfänger männlicher Sexualnöte waren." ERZ: Das Geschäft mit dem Sex blühte vor allem in Buenos Aires. Die Hafenstadt galt bald als Metropole der Unmoral und der Prostitution. O-TON: (Take 20 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "In die Bordelle kamen Hunderte von Männern. Manchmal entkleideten sich die Prostituierten nicht einmal. Sie hoben nur den Rock, denn es kam einer nach dem anderen. Wie in einer Fabrik!" ERZ: Für Nachschub war gesorgt, denn nicht nur Männer kamen über den Atlantik, auch der Mädchenhandel hatte Konjunktur. Ein Thema, das in den Romanen kaum aufgegriffen wurde. Es ist auch ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte. Eine der größten Organisationen des Mädchenhandels verbarg sich unter dem Deckmantel der jüdischen Hilfsorganisation "Zwi Migdal". Zwi Migdal" lockte zwischen 1860 und 1930 Tausende junger, nicht selten minderjähriger Jüdinnen aus Osteuropa über den Atlantik und zwang sie in Bordelle in der ganzen Region. ZITATOR "Jüdinnen aus Osteuropa versprechen die aufregendsten Perversionen?" ERZ: Schrieb der Schriftsteller Stefan Zweig nach einem Besuch des Rotlichtviertels in Rio de Janeiro 1936 verwundert in sein Tagebuch. Die Zuhälter von "Zwi Migdal" präsentierten sich als Gentlemen, Landsleute und Glaubensbrüder. ZITATOR "Sie treten gutgekleidet und weltgewandt auf und profitieren von den Nöten und Existenzängsten in den jüdischen Städten Osteuropas und Russlands, aus denen sie oft selbst stammen. Dort herrschen Armut, Arbeitslosigkeit und Angst vor wachsendem Antisemitismus." ERZ: Der Mädchenhandel brachte Buenos Aires um die Jahrhundertwende den Ruf ein, neben London und Alexandria weltweit der wichtigste Umschlagplatz für hellhäutige Frauen jüngeren und mittleren Alters zu sein. Die Freier zahlten höhere Preise für Frauen mit heller Haut als für einheimische und schwarze Prostituierte. MUSIK: (Take M 3 /Carlos Gardel: "Esclavas blancas") ZITATOR Gepeinigte Seelen Arme weiße Sklavinnen des Tangos und der Milonga Unfruchtbare Frauen Automaten des Lasters, ohne Seele und Liebe. Ich weiß nicht, weshalb sich in dieser Nacht Das Leid, das dich umbringt, in deinen Augen widerspiegelt, und in jedem Gelächter, ich weiß es ja, arme Milonga, schluchzt das Herz. ATMO: (Take A 7 /Tangolokal) ERZ: Eng verbunden mit dem Rotlichtmilieu sind die Anfänge des Tangos. Um 1880 wurde der "schamlose Tanz" in schlecht beleumdeten Häusern und Tavernen der übelsten Art geboren. Im 19. Jahrhundert gingen in den sogenannten "Cabarés", Tanz-Cafés, schummrigen Spelunken, Tanz und Musik, Alkohol und käufliche Liebe eine unverwechselbare Mischung ein. Die Texte sind sexuell aufgeladen, protzen mit Machismus und haben oft anzügliche Titel - wie beispielsweise "El Choclo", der Maiskolben. MUSIK: (Take M 4 / El Choclo, vorher einblenden) ERZ: Mit den Einwanderern kamen auch europäische Gesellschaftsvorstellungen und Ideologien über den Atlantik in die Neue Welt. Selbst die Prostitution wurde in linken Kreisen zum Thema. Viele Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten stimmten darin überein, dass die kapitalistische Gesellschaft die Prostitution fördere. Nur so könne die bürgerliche Familie überleben und die "Reinheit" der Frauen erhalten bleiben. "Den Töchtern des Volkes", den arbeitslosen und schutzlos der Misere ausgelieferten Proletarierinnen bliebe nur die Wahl zwischen Hunger und Entehrung, hieß es ein wenig fatalistisch. Klassenkampf und Revolution standen im Vordergrund. An der traditionellen Rolle der Frau wurde kaum gerüttelt. Genderpolitik und Feminismus waren auch später für viele Linke lästige Themen. Die Genossinnen wurden vertröstet: mit der Revolution käme auch die Frau automatisch zu ihrem vollen Recht. Wie die revolutionäre Realität aussehen konnte, schildert Gioconda Belli, Sympathisantin der aufständischen Sandinisten im Nicaragua der siebziger und achtziger Jahre, in ihrem Buch "Die bewohnte Frau": Zitatorin "'Was er ganz offensichtlich will, ist ein Ruheplatz als müder Krieger', lächelte Flor,‚die Frau, die auf ihn wartet und ihm das Bett warm hält und auch noch glücklich ist, dass ihr Mann für eine gerechte Sache kämpft, bei der sie ihn in aller Stille unterstützt. Sogar Che Guevara meinte ja anfangs, dass Frauen sich hervorragend zum Kochen und zum Überbringen geheimer Botschaften der Guerilla eigneten, dass das ihre eigentliche Rolle sei." ERZ: Doch Frauen hatten bereits Anfang der 20. Jahrhunderts begonnen zu rebellieren und eigene Wege zu gehen. 1910 fand in Buenos Aires der "Erste Internationale Frauenkongress" statt. Debatten über Prostitution, Scheidung, Emanzipation oder über die Situation der lohnabhängigen Frauen standen bald auf der Tagesordnung. Die uruguayische Feministin Lilian Celiberti: O-TON: (Take 21 /Celiberti) 1.ÜBERSETZERIN: "In den politischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika hat es immer zahlreiche Frauen als Protagonisten gegeben, auch wenn sie eine Minderheit waren. Ich denke dabei insbesondere an die Impulse des ersten Feminismus von 1900, der bis heute nachwirkt. Dass ihre Rolle übergangen und auf ein bestimmtes Stereotyp hin modelliert wurde, hat vor allem mit den Leitbildern des Patriarchats zu tun." ERZ: Auslöser für die ersten Frauenbewegungen waren fortschrittliche Ideen des aufgeklärten Bürgertums, aber auch politische Parteien, die soziale und wirtschaftliche Verbesserungen forderten. Sie setzten sich für gleiche bürgerliche Rechte und das Frauenwahlrecht ein. Nicht ohne Erfolg. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in Uruguay die Scheidung erlaubt - "auf einfachen Antrag der Ehefrau hin, ohne dass sie Begründungen vorzubringen hat." In vielen Ländern des Subkontinents bestanden jedoch Ungleichheit und Diskriminierung der Frauen fort - bis tief ins 20. Jahrhundert. Noch 1962 waren brasilianische Frauen, rechtlich gesehen, Indigenen, Kindern und geistig Behinderten gleichgestellt. Zitatorin "Ein Ehemann ist ein sakrosanktes Wesen, das keinen Irrtum begehen kann und mit der Gattin nach seinem Belieben umspringen kann... Es macht dabei nichts, dass sich die Zeiten geändert haben, dass Lokomotive, Kino, Telefon und Auto erfunden worden sind." ERZ: Schrieb die brasilianische Autorin Maria Alice Barroso in ihrem Roman "Sag mir seinen Namen und ich töte ihn". Er ist ein Stück Geschichte der brasilianischen Frau - und des gewalttätigen Mannes. Wie sie von männlichen Autoren kaum erzählt wird. MUSIK (Take M 2 /Akzent) ERZ: Doch in keiner Weltregion hat ein so rasanter Urbanisierungsprozess stattgefunden wie im Lateinamerika des 20. Jahrhundert. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs lebte der überwiegende Teil der Bevölkerung noch auf dem Lande, Schauplatz auch der meisten literarischen Bordell-Szenen. Heute leben über 70 Prozent in Städten. Auch im "Grünen Haus" von Vargas Llosa kündigen sich schließlich Veränderungen an. 2. ÜBERSETZER (Grüne Haus): "Alles wurde anders, auch die Piruaner. Schon sah man sie nicht mehr mit Stiefeln und Reithosen auf den Straßen, sondern mit Anzügen und sogar Krawatten, und die Frauen, die den dunklen Röcken bis zu den Knöcheln entsagt hatten, kleideten sich in hellen Farben, sie gingen nicht mehr von Dienstboten eskortiert aus und versteckt hinter Schleiern und Umhängen, sondern allein, das Gesicht frei, das Haar lose. Immer mehr Straßen entstanden, höhere Häuser, die Stadt dehnte sich aus, und die Wüste zog sich zurück." ERZ: Das alte Frauenbild von Jungfrau und Sünderin verblasste zusehends. Männer wurden mit einer neuen Realität konfrontiert. Das spiegelt sich auch in dem Roman "Gabriela wie Zimt und Nelken" des brasilianischen Erfolgsautors Jorge Amado wider. ZITATOR "Für Kaschemmen, Bordelle und zügellose nächtliche Orgien in Ilhéus hatte der Oberst Verständnis, und er duldete sie. Die Männer brauchten so etwas, er war auch einmal jung gewesen! Den Klub aber, in dem die jungen Männer und die jungen Mädchen bis in den frühen Morgen hinein diskutierten und moderne Tänze lernten, wo sogar verheiratete Frauen in Armen tanzten, die nicht die Arme ihrer Ehemänner waren, diesen Klub verdammte er. So ein Skandal, so eine Schamlosigkeit! Eine Frau gehört ins Haus, sie hat sich um ihre Kinder und um den Haushalt zu kümmern." ERZ: Der Oberst hätte sich wohl auch nicht vorstellen können, dass eines Tages eine Frau in Präsidentenpalast in Brasilia einziehen würde. Wie 2011 Dilma Rousseff: O-TON: (Take 22 /Dilma Rousseff) 1.ÜBERSETZERIN: "Meine Wahl zur Präsidentin spiegelt einen einzigartigen Moment wider. Er bestätigt die Rolle der Frau in der brasilianischen Gesellschaft. Das werde ich keine Minute vergessen. Meine Wahl hat allerdings in einigen Gesellschaftskreisen die Tendenz verstärkt, die Macht der Frauen zu bejubeln. Doch wir sollten in kein falsches Triumphgefühl verfallen." ERZ: Frauen regieren auch in Argentinien, Chile oder Costa Rica. Chiles Präsidentin Michelle Bachelet verstößt als alleinerziehende Mutter von vier Kindern gegen alle konservativen Traditionen. Allerdings: Berufstätige Frauen leisten noch immer die meiste unbezahlte Arbeit. Sie kümmern und sorgen sich um Kinder, Kranke, Alte und Familie. Es sind nicht nur Frauen aus der intellektuellen Elite oder aus der Mittelschicht, die ihre Stimme lautstark erheben. Indigene Frauen sitzen in Parlamenten, haben ein gewichtiges Wort in indianischen Bewegungen mitzureden, wie beispielsweise bei den Zapatisten im mexikanischen Chiapas. Auch in der größten sozialen Bewegung des Subkontinents, in der Landlosenbewegung Brasiliens haben Frauen führende Rollen übernommen. Und in Argentinien tanzen heute Frauen mit Frauen im 2/4 Takt des Tangos übers Parkett. Seit 2010 hat Argentinien als erstes lateinamerikanisches Land die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare legalisiert. MUSIK: (Take M 2 /Akzent) ERZ: Sicherlich leben die Frauen auf dem Subkontinent unterschiedliche Realitäten. Welten liegen zwischen einer indigenen "campesina" in den Anden und einer Mittelklasse-Frau aus einer Millionenmetropole wie Sao Paulo, zwischen einer Frau aus den Favelas Rio de Janeiros und einer Unternehmerin aus den privaten geschlossenen Vorstädten von Buenos Aires. Barbara Potthast schreibt in ihrem Buch "Von Müttern und Machos": Zitatorin "Wenn es eine Gemeinsamkeit lateinamerikanischer Geschlechterrollenbilder heute gibt, dann diejenige, dass diese in Bewegung geraten sind unter dem Einfluss globaler Entwicklungen und feministischer Bewegungen. Urbanisierung, die Einbeziehung der Frauen in den formalen Arbeitsmarkt, feministische, soziale und politische Bewegungen und globale Veränderungen haben dazu geführt, dass sich das Frauenbild grundlegend verändert hat, und somit auch die Geschlechterbeziehungen. Für die Männer ist dies allerdings eine ambivalente Entwicklung, da sie neben neuen Chancen auch mit dem Verlust vieler Privilegien verbunden ist." ERZ: Vor allem jüngere Frauen stellen die traditionelle Rolle als Hausfrau in Frage. Sie begehren damit auch gegen den Machismus auf und machen ihn als Ausbeutung und Unterdrückung kenntlich. O-TON: (Take E 2 /Celiberti) 1.ÜBERSETZERIN: "Daher rührt auch teilweise die Gewalt gegen Frauen. Männer stecken in der Krise. Frauen nehmen einen neuen Platz in der Gesellschaft ein, auch weil sie nunmehr nein sagen. Wenn jemand aus einer Herrschaftsbeziehung ausschert, ändert sich alles. Es hinterlässt ein starkes Gefühl von Unsicherheit." ZITATORIN: "Bis vor kurzem war die lateinamerikanische Literatur eine männliche Domäne, mit einem nur seltenen Aufflackern außergewöhnlicher Schriftstellerinnen, denen es gelang, alle Hindernisse zu überwinden und veröffentlicht zu werden. Die Welt wurde als Männersache angesehen, und die Männer erzählten sie auf ihre Weise - und uns Frauen erzählten sie so ganz nebenbei gleich mit." ERZ: Schreibt die chilenische Bestseller-Autorin Isabel Allende und stellt das Frauenbild der lateinamerikanischen Schriftstellerinnen dagegen. Zitatorin "Die Frauenfiguren unserer Literatur sind nicht mehr nur die heilige Mutter, die keusche Verlobte oder die Prostituierte, sondern Wesen aus Fleisch, Blut und Seele, rebellisch, beunruhigt, an der Welt teilhabend, solidarisch, die lieben, sich fürchten und hassen, die ihre Leidenschaften und Ängste beschreiben und so die Geheimnisse des weiblichen Universums, die bislang in dunkeln geblieben waren, enthüllen." ERZ: So in Romanen von Giocanda Belli, Laura Restrepo, Clarice Lispector, Marcela Serrano, Lydia Fagundes Telles oder Claudia Pineiro, um nur einige herauszugreifen. Seit den 60er Jahren haben sie sich vermehrt zu Wort gemeldet und ein anderes Frauenbild gezeichnet. Ganz ohne falsche Romantik, auch im Rotlichtmilieu, wie bei Laura Restrepo nachzulesen. Zitatorin "Einmal erkundigte sich Aguilar beim Abschied nach seiner Arbeit, und Herr Eva erwiderte; Ich bin Bolero Sänger im Nachtdienst vom Lucero Azul, einem bekannten, hochanständigen Nachtlokal hier in der Nähe, das waren seine Worte, und eines Tages, als ich zu Fuß auf der 12.Straße, in Höhe der 10. Straße, zum Hospital unterwegs war, stieß ich plötzlich auf das Lucero Azul, erzählt Aguilar, das sich als Puff niedrigsten Ranges entpuppte, es war um halb acht Uhr morgens, und das Lokal wurde gerade sauber gemacht., so dass die Putzfrau beim Fegen die Tür sperrangelweit geöffnet hatte und mir einen Einblick in den hintersten Winkel gewährte, ich sah eine Reihe von Rattan Tischchen, jedes mit einem getöpferten Kerzenhalter in der Mitte, und dahinter die vergilbten Vorhänge vor den Separees mit je einer Pritsche und einer Waschschüssel, ich sah die erloschenen roten Glühbirnen, die nachts das Elend verhüllten." ERZ: Wenn es um Erotik und Sexualität geht, fallen Tabus. Für Stereotype von der sexuell unterwürfigen und passiven Frau ist kein Platz mehr. Auch nicht vom superpotenten Macho, wie ihn Gabriel Garcia Marquez in "Hundert Jahre Einsamkeit" beschrieben hat: ZITATOR "In der Hitze des Feierns präsentierte er auf der Theke seine unwahrscheinliche Männlichkeit, die über und über mit einem blau-roten Wortgeflecht in mehreren Sprachen tätowiert war. Die Weiber, die ihn mit ihrer Lüsternheit belagerten, fragte er, wer von ihnen am meisten zahle. Die, welche am meisten besaß, bot zwanzig Pesos. Daraufhin schlug er vor, die Nummer für zehn Pesos unter allen zu verlosen. Das war ein gewaltiger Preis, da die meistbegehrte Frau acht Pesos in der Nacht verdiente." ERZ: Eine ganz andere Geschichte erzählt die Schriftstellerin Rosario Ferré aus Puerto Rico. Sie lässt die Prostituierte, Isabel la Negra, zu Wort kommen; Zitatorin "keiner wird je wissen, dass auch du menschliche Schwächen hast, dass auch du schwach bist und einer Frau ausgeliefert, denn hier, mein Kleiner, wenn du dich in meiner Höhle suhlst, deine Zunge in meine schwitzende Vulva steckst, dir die trockenen Brustwärzchen lutschen lässt und an meine schmarotzt, die sehr wohl imstande sind zu nähren, die dir, wenn sie wollten, Nahrung geben könnten. hier wird keiner erfahren noch wird es irgendeinen interessieren, dass du einer von vielen Schlappschwänzen bist, angepisst und -gekackt vor Angst in meinen Armen, denn ich bin ja nur Isabel la Negra, der Abschaum der Menschheit, und hier, ich schwör's dir bei der Hand des Allmächtigen, mein Kleiner, ich versprech's dir beim Heiligen Namen Jesu, der uns zuschaut, keiner wird es je erfahren, dass auch du ewig sein wolltest, dass auch du ein Gott sein wolltest." MUSIK: (Take M 2/ Akzent) ERZ: Prostituierte haben sich längst organisiert. Manche bezeichnen sich selbstbewusst als Huren, wieder andere wie Elena Reynaga aus Buenos Aires wollen als selbstbestimmte Sexarbeiterinnen anerkannt werden. Sie ist Generalsekretärin von AMMAR, der Vereinigung der Prostituierten Argentiniens. Der Verband wurde 1994 gegründet und gehört zum Gewerkschaftsdachverband CTA. O-TON: (Take 27 /Reynaga) 2. ÜBERSETZERIN "Ich arbeite seit dem 10. Lebensjahr, aber zunächst nicht als Sexarbeiterin sondern als Fabrikarbeiterin. Ich habe alles Mögliche in meinem Leben gemacht. Ich habe mit 15 geheiratet. Als ich 17 Jahre alt war, ist mein Mann mit der Nachbarin abgehauen. Toll nicht? Und ich blieb mit zwei Kindern sitzen." ERZ: Ein Cabaret Besitzer sprach die junge Frau an. Bald prostete sie den Männern als Animiermädchen zu. O-TON: (Take 28 /Reynaga) 2. ÜBERSETZERIN "Eines Tages hatte ich genug von der Trinkerei und der Tanzerei und habe mich an einer Straßenecke aufgestellt. Da musste ich niemandem fünfzig Prozent abgeben. Alles, was ich einnahm, gehörte mir. Was man mir vorher nicht gesagt hatte: all die Tage im Gefängnis, die ich absitzen musste!" ATMO: (Take A 8 /Straßenstrich) ERZ: Polizei und Verfolgung gehören zum Alltag vieler Prostituierter, vor allem wenn sie auf der Straße arbeiten. Sexarbeiterinnen haben sich deshalb auch lateinamerikaweit organisiert, um ihre Menschen- und Arbeitsrechte besser durchsetzen zu können. Reynaga ist Generalsekretärin von "RedTraSex", dem Netz der Sexarbeiterinnen Lateinamerikas und der Karibik. O-TON: (Take 29/ Reynaga) 2. ÜBERSETZERIN "Je größer die Ungleichheit, je größer die Armut, desto mehr Sexarbeit gibt es." MUSIK: (Take M 5 /Jaime Roos: "La Hermana de la Corneja) ZITATOR "In einem schmutzigen Lager am Schutzwall der Altstadt hat die Schwester der Häsin ihre Unschuld verloren. Zeuge in der Dunkelheit ist eine von Motten zerfressene Matratze..." O-TON: (Take 30 /Reynaga) 2. ÜBERSETZERIN "Wir stammen alle eher aus einer sehr armen Klasse. Die meisten Kolleginnen haben nicht mal die Grundschule abgeschlossen." ERZ: Und das ist häufiger auf dem Lande der Fall. Hier haben Frauen weniger Perspektiven als in der Stadt. Hier halten sich althergebrachte Traditionen, wie Antonio Skármeta bestätigt: O-TON: (Take 31 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER Das Bordell alten Zuschnitts existiert noch immer in der Provinz und in Kleinstädten." ZITATOR (Roa Bastos, Menschensohn) "Von Zeit zu Zeit trat sie halbnackt heraus, um Luft zu schnappen, das Haar zerzaust, zierlich, aber in den Augen der geilen Männer eine üppige Gestalt; Bauch und Brüste unter dem zerschlissenen, schweißverdreckten Unterrock prall vom Mondlicht. Jemand bot ihr eine Zigarette an. Andere überreichten ihr im Voraus Geschenke, die sie im Rathaus stahlen. Maisfladen, Mate, Mehl, Büchsenfleisch und sogar die eine oder andere Flasche Bier." ATMO: (Take A 9 /Musik, Stimmen) ERZ: Im Landesinneren Uruguays liegt etwas abseits einer dörflichen Häuseransammlung ein kleiner einstöckiger weiß gekalkter Bau. Über dem Türeingang prangt ein unübersehbares Schild: "Whiskería". Ein kleines Bordell, wie es auf dem Lande noch häufig anzutreffen ist. Die Tür steht offen, schummriges rötliches Licht. An der Bar schenkt eine blondierte Mittfünfzigerin Bier aus. Auf der Tanzfläche schieben und drängeln sich Paare eng umschlungen, die Frauen zumeist stark geschminkt. Ein kleiner Mann voller Gesichtsfalten fummelt an einem jungen etwas pummeligen Mädchen herum. Sie verschwinden bald in einem der hinteren Zimmer. O-TON: (Take E 3 /Carlos) 2. ÜBERSETZER: "Da wird auch schon mal ein Geburtstag gefeiert. Dann kommt sogar die Chefin vorbei, mit einer Torte, damit das Geburtstagskind die Kerzen ausbläst. Das kann man immer noch im Puff erleben, vor allem auf dem Lande. Die Möglichkeiten zum geselligen Beisammensein sind ja begrenzt. Da ist das eigene Haus, der Platz, die Kirche und schließlich der Puff. Viel mehr gibt es doch nicht." ATMO: (Take A 9 /Musik, Stimmen)ERZ: Hinter Fiestas und Feierlichkeiten verbirgt sich nicht selten eine traurige Realität. Mit falschen Versprechungen werden Mädchen geködert und mit Gewalt zur Prostitution gezwungen. Elena Reynaga und ihre Kolleginnen haben sich in ländlichen Whiskerias umgesehen. Meistens wurden sie von deren Betreibern an einem ungestörten Gespräch mit den Mädchen gehindert. O-TON: (Take 35 /Reynaga) 2. ÜBERSETZERIN "Es wird vertuscht, es gibt Dinge, die verschleiert werden. Vom Bürgermeister, von der Polizei. Und es passiert noch mehr: auf dem Lande spielt sich der Mädchenhandel entlang der Überlandstraßen ab. Keiner macht eine Anzeige, auch die Kunden nicht. Sie wollen damit nichts zu tun haben." ERZ: Die neue Realität: Rabiate Zuhälter und internationale Ringe, die tausende Frauen und selbst kleine Mädchen entführen, wie Sklavinnen halten, auch vor Mord nicht zurückschrecken, wenn sie nicht spuren, und sie schließlich ins Ausland verschleppen. O-TON: (Take 36 /Trochón) 1.ÜBERSETZERIN: "Die Mädchenhändler bringen die Mädchen nach Europa, vor allem nach Spanien und Italien, aber auch in andere Länder. Die Wege der Prostitution haben sich umgekehrt. Heute sind es Uruguayerinnen, Argentinierinnen, Brasilianerinnen, Kolumbianerinnen, die in Europa auf den Strich gehen." ERZ: Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration soll allein der Frauenhandel in Lateinamerika jedes Jahr 16 Milliarden Dollar einbringen. Antonio Skármeta: O-TON: (Take 37 /Skármeta) 1.ÜBERSETZER "Wir haben es nunmehr mit einem globalisierten Lateinamerika zu tun, auch im Prostitutionsgeschäft. Man hat keine Person mehr vor sich, sondern einen Körper, sonst nichts. Die literarische Figur der Prostituierten ist dagegen immer eine Person, nicht nur ein Körper. Das macht die Anmut dieser Schriftsteller aus." ERZ: Antonio Skármeta vergaß allerdings in seiner Sendung über Literatur und Freudenhäuser einen berühmten Landsmann zu zitieren: Pablo Neruda. Zufall? Der verstorbene Nobelpreisträger verfasste für seinen "Großen Gesang" ein wenig romantisches Gedicht mit dem Titel "Die Bordelle": ZITATOR "Der Prosperität entkroch das Bordell, das Banner begleitend der gebündelten Banknoten, hoch geschätzter Pfuhl des Kapitals, Laderaum des Schiffes meiner Zeit. Auf dem Haupthaar von Buenos Aires wurden die Bordelle mechanisiert, frisches Fleisch, vom Missgeschick der Städte und entlegenen Landgebiete exportiert, in denen das Geld die Schritte des Kruges belauert und die Ackerwinde einfängt. .... Öde Hurenhäuser der Provinz, in denen die Grundherrn des Dorfs -Diktatoren des großen Gewinns- mit fürchterlichem Geschnarch die venerische Nacht betäuben." MUSIK: (Take M 6 /Al De Meola: Last Tango for Astor, darüber Absage) ENDE 12