DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Tel. (0221) 345 1503 Dossier Genie-Unperson-Mythos: Der Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski. Geschichte einer Rehabilitation Von Ulrike Bajohr und Mario Bandi Sprecher: Rainer Delwenthal, Klaus Eckert, Jürg Löw, Volker Risch. Regie Mario Bandi Redaktion: Ulrike Bajohr Ton und Technik: Karl-Heinz Stevens und Angelika Brochhaus URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 4. April 2008 (Erstsendung:16. Januar 2004) (auf Musik) 1. Sprecher Genie-Unperson-Mythos: Der Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski. Geschichte einer Rehabilitation Ein Feature von Ulrike Bajohr und Mario Bandi --Musik--- 1. Sprecher Berlin, 1936. 2. Sprecher (russ.) Wir hatten beschlossen, Kätchen Taeck, einer jungen Aktrice, weitläufig verwandt mit Max Delbrück, eine Lehre zu erteilen. Diese Taeck hat sich mit den Nazis eingelassen, und fand, dass es für die Karriere gut sei, auf Schritt und Tritt zu "antisemitieren". Wir veranstalteten ein Spiel: Zur Olympiade nach Berlin kam der Maharadscha von Sukugunien höchstpersönlich. (russ. hoch) Kreuzblende mit: 3. Sprecher: "Der Maharadscha trat majestätisch zur Tür ein, ein kräftiger Mann mit krausem Haar. Der Sklave, der eine Papierrolle trug, postierte sich in der Ecke... Der Maharadscha hielt einen sukugunischen Sermon, der Experte übersetzte... und auf einen Blick des Maharadschas trat der Sklave vor und übergab, mit demütig gesenktem Blick, die Rolle. Der Maharadscha entrollte das Dokument und verlas den in kunstvoller Goldschrift verfassten sukugunischen Text. Kitty verging vor Entzücken und küsste dem Maharadscha dankbar die Hand." Autorin: Drei Männer verulken ein antisemitisches Filmsternchen. Den Maharadscha spielt ein theoretischer Physiker, Dreivierteljude. Den Sklaven gibt Max Delbrück, Nobelpreisträger in spe. Den Experten für Sukugunisch ein Russe: Nikolai Timofejew-Ressowski, Genetiker am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin-Buch. Kurz vor seinem Tod spricht er dem russischen Schriftsteller Daniil Granin auf Tonband. Es entsteht "Subr", "Der Ur", die Geschichte eines ungewöhnlichen Lebens. 4. Sprecher (russ.) "Mehr als die Genetik, die zu der Zeit noch verdächtig war, überwältigte mich diese Persönlichkeit, diese Redekunst, diese Freiheit des Wortes. Das war ein Mensch aus einer anderen Epoche... aus dem Westen. Auch das Leben in Deutschland während der Hitlerzeit hatte ihm nichts anhaben können." (russ.hoch) Autorin: Granins Buch erscheint 1987 in der Sowjetunion, in der DDR dauert es bis zur Wende, denn, meint die Wissenschaftshistorikerin, Dr. Annette Vogt... Annette Vogt: Einer der Gründe, dass die DDR sich sträubte war sicherlich, dass Granin Dinge aussprach, die tabu waren. Und dazu gehörte, dass ein Sowjetbürger in den 30er Jahren in der Hauptstadt des NS-Reiches sicherer gelebt hat, als wenn er nach Hause gekommen wäre." Autorin: Ein überflüssiges Buch, schreibt der Physiker Robert Rompe am 20. Juni 1988 an das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. 1. Sprecher: "Zum Beispiel gab es den Maharadscha wirklich, aber Timofejew hatte nichts damit zu tun. Er hatte die Geschichte nur gehört. Der Maharadscha war ein Freund von mir- der Genosse Rudolf Jäckel, ein Schüler von Gustav Hertz, der mit Max Delbrück zusammen bei Fräulein Meitner gearbeitet hat und ein extrem exotisches Aussehen hatte." --------------- Musik------------- 1.Sprecher Moskau/Berlin, 16. April 1925. Autorin: Der Neurologe Oskar Vogt, in Moskau verehrt als Spezialist für Lenins Hirn, schreibt an das Fremdenamt des Polizeipräsidiums Berlin 1. Sprecher Das Kaiser-Wilhelm Institut für Hirnforschung und das Neurobiologische Institut der Universität Berlin haben das größte Interesse daran, dass die Zoologen Nikolaus Timofeef-Ressovsky, geboren 1900, und Frau E. Timofeef-Ressowsky, geborene Fiedler, geboren 1899, wohnhaft in Moskau, für einige Jahre in die oben genannten Institute kommen, um daselbst wichtige Untersuchungen durchzuführen. ... 2. Sprecher (auf russ.) Mich hatten mein Lehrer Kolzow und Volkskommissar Semaschko mit dem Argument überredet, dass früher russische Wissenschaftler ins Ausland gegangen wären, um zu lernen - und jetzt laden uns die Deutschen ein, sie etwas zu lehren. Ein solch ehrenvolles Angebot darf man nicht abschlagen. Ich war 26 Jahre alt und hatte schon genügend im Vorrat - 6 veröffentlichte Arbeiten. Ich bin also nicht nackt angekommen, sondern zumindest mit Unterhose. Es stellte sich heraus, dass der Entwicklungsstand unserer Moskauer Schule viel höher als der deutsche. Wir befassten uns mit zwei Grundrichtungen: Mit der Phänogenetik, mit Mutationen unter bestimmten äußeren und inneren Einflüssen, und mit der Populationsgenetik. Wir erforschten den Genotypus der Drosophila, der Taufliege. Die erste Population haben wir in der Nähe unserer Wohnung auf einer Mülldeponie eingefangen. Heinz Bielka (Schritte) Das links ist nun das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung. Nun schauen Sie sich mal diesen kleinen Anbau hier an, das ist das genetische Vivarium von Timofejew, da waren die Taufliegen drin. Und hier standen noch zwei Gewächshäuser, dort hat er seine populationsgenetischen Untersuchungen gemacht. Autorin: 1930 bietet der Chef des Hirnforschungsinstituts, Oskar Vogt, dem jungen Russen ohne akademischen Abschluss eine eigene Genetik-Abteilung mit 10 Mitarbeitern an: Timofejews Wirkungsstätte gehört seit 1992 zum Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin Berlin-Buch, davor: Akademie der Wissenschaften der DDR - Heimat des emeritierten Biologen und Chemieprofessors Heinz Bielka: Heinz Bielka (Atmo).Zwei der Räume, in denen Timofejew gearbeitet hat. Die Labortische sind noch aus der Zeit von damals. Die Gerätschaften zum Teil auch, z.B. dieses Teil stammt noch vom alten Oskar Vogt. Den Begriff genetic engeneering hat Timofejew 1934 geprägt schon. Sowohl von der Zielstellung als die Anwendungsmöglichkeiten. Als allererster. Das ist das, was wir heute machen. 2. Sprecher (auf russ.) Anfang der 30er Jahre habe ich mich mit Max Delbrück befreundet und ihn in unsere Arbeit einbezogen. Er war theoretischer Physiker, Schüler von Max Born und Nils Bohr, ich habe ihn in die Biologie abgeworben. Er war ein junger Mann, wie alle großen Leute schon damals ein bisschen frech. Und dann hatte ich in meiner Abteilung, einen Physiker, einen gewissen Zimmer. (russ.) Autorin: Timofejew-Ressowski - Delbrück -Zimmer: Die Autoren des berühmten Grünen Heftes "Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur" von 1934. Eine Arbeit, die der modernen Molekulargenetik den Weg weist. 1. Sprecher "... Wir trafen uns regelmäßig in seiner Abteilung oder in seiner Wohnung zu genetischen Gesprächen und kleinen Kolloquien..." Autorin: ...schreibt Hans Stubbe, zuletzt Präsident der DDR-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. Stubbe interessiert sich als Pflanzengenetiker für Timofejews Mutationsversuche mit Röntgen- und ionisierender Strahlung und bleibt - bis zu beider Lebensende - ein enger Freund von "Timo". 1. Sprecher In der Diskussion verstand er es, Kollegen mit Liebenswürdigkeit auf diese oder jene unklare Formulierung hinzuweisen. Aber er konnte auch unduldsam und bissig werden........ nach unseren Gesprächen wurden wir in seine Wohnung im Torhaus eingeladen und bewirtet..... 2. Sprecher (auf russ.) Ljolka backte irgendeine Pirogge mit Fleisch, mit Kohl.. süße Piroggen... Das habe die Deutschen schrecklich geliebt. Mit "Ah" und "Oh" - haben sie die "Russische Pirogge" gelobt. Dazu haben sie bei uns auch den guten kräftigen Tee getrunken. Der hatte die Farbe wie der Kaffee den sie sonst trinken. Sie trinken alles verdünnt - den Tee und den Kaffee, und der Wodka ist bei ihnen dünn... Worüber haben wir geredet...über die Natur des allgemeinen Mutationsprozesses.... Über philosophischen Probleme, über die philosophische und religiöse Haltlosigkeit des Determinismus...über den sogenannten Materialismus. Autorin: Und so blüht in einem Forschungsinstitut der renommierten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ganz selbstverständlich eine deutsch-sowjetische Abteilung. ------------------------ Musik------------- 1. Sprecher Berlin, 1933 3. Sprecher: Den Timofejews.... Autorin: schreibt jedenfalls Daniil Granin 3. Sprecher: .... Den Timofejews fiel wahrscheinlich gar nichts auf. Buch lag Abseits der Ereignisse, für Politik interessierte sich Ur nicht, und vor allem hatten die Vorgänge weder für ihn noch für seine Arbeit praktische Konsequenzen. Als Sowjetbürger fühlte er sich frei und unabhängig. Annette Vogt: A: Es war eine Insel...wegen der relativen Unabhängigkeit der Kaiser-Wilhem-Gesellschaft. Cecile und Oskar Vogt waren begnadete Geldbeschaffer, heute würde man sagen: Drittmittelbeschaffer. Und Vogts hatten ein Konzept von Genetik, wo Hirnforschung dazugehörte. Weil sie sich überlegten, es könnte ja Hirnkrankheiten geben, die genetisch vererbbar sind. Und damals war man der Meinung, dass . T.R. mit seiner Taufliege, der berühmten Drosophila, sehr schnell den Schritt zum menschlichen Gehirn macht. Das waren Idealbedingungen. Autorin: Immer wieder muss die wissenschaftliche Biografin erklären ,ob und wie Timofejew diese Unabhängigkeit bewahren konnte... selbst als Oskar und Cecil Vogt als "Linke" zwangsemeritiert werden, selbst als ein nazitreuer Direktor kommt. Der will Timofejew gar nicht - weil ihn die Genetik nicht interessiert. Überhaupt gehen die Nazis mit anderen Genetikern nicht zimperlich um: die Juden unter ihnen werden vertrieben, warum der Russe nicht? Eben darum, sagt Annette Vogt: Sie können nicht auch noch auf einen Mann verzichten, der von den Amerikanern und den Engländern mit Arbeitsangeboten überhäuft wird. Annette Vogt A: Und er war einer der letzten, der was vom Fach verstand. Und er hat von der Industrie Geld bekommen, er kriegte Geld von Rockefeller, die damals viele Projekte in Europa finanzierte, er kriegte Geld von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von der Auergesellschaft. Die Auergesellschaft war eine sehr merkwürdige Firma in Oranienburg, im Norden Berlins, eine Tochter der Degussa und verbunden mit Projekten, die mit Atomforschung zu tun haben. Er hat von der Auergesellschaft auch den Neutronengenerator bekommen, den er hatte. So einen guten Generator hatten nicht einmal die Physikochemiker um Otto Hahn. Autorin: Die glänzenden Beziehungen zur Auergesellschaft waren privat entstanden: Dort gab es zwei Physiker, gebürtige Sankt Petersburger, die im ersten Weltkrieg ihrer deutschen Väter wegen in Berlin gelandet waren: Nikolaus Riehl und Robert Rompe. Beide sprachen russisch, ihnen fühlte sich Timofejew besonders. Robert Rompe, später Nestor der DDR-Physik, ist seit 1932 Mitglied der KPD. ------------------------ Musik------------- 1. Sprecher Berlin, 1937 Autorin Weit mehr als die Vorgänge in Hitlers Deutschland beunruhigen Timofejew die Nachrichten aus der Heimat: Immer wieder sickern Namen von bedeutenden Biologen zu ihm durch, die in Ungnade fallen: darunter sein verehrter Lehrer Kolzow. Ein Unbekannter namens Trofim Lyssenko gewinnt Einfluss. Seine Hauptaufgabe: Entlarvungen. Seine Referenzen: Abschusslisten. Der sowjetische Bürger Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski, von Granin genannt Ur, wird in die Botschaft seines Landes einbestellt: 3. Sprecher: "Ein pausbäckiger junger Mann mit Stirnlocke und anheimelndem nordrussischen Akzent forderte ihn auf, in die Heimat zurückzukehren. Er sprach in einem kategorischen Ton, den Ur nicht mehr gewohnt war. Was denn das für Fliegen und für Mutationen seien? Laufe das nicht auf die volksfremde Wissenschaft hinaus, die man jetzt bekämpfe? Er könne sich schon denken, weshalb englische und andere bürgerliche Zeitschriften seien Arbeiten gern publizierten. Ur habe sich im Westen diesen verdammten Liberalismus angeeignet." Annette Vogt: Und es gibt einen guten Freund, den späteren Nobelpreisträger Hermann Muller. Der ist US-Bürger und überzeugter Kommunist und lebt und arbeitet einige Zeit in der Sowjetunion. Er sieht dort Dinge, die einem überzeugten Kommunisten nur grausen können, kommt raus und trifft sich mit T.R. in Berlin. Von ihm erfährt T.R. wenn er zurück ginge, was ihm passieren wird. Autorin Timofejew besucht weiter Genetiker- Kongresse: etwa den in Edinburgh 1939, der eigentlich für 1937 in Moskau vorgesehen war. Präsident sollte Wawilow sein, Pflanzengenetiker von Weltrang. Doch die russische biologische Wissenschaft lädt zu keiner internationalen Tagung mehr. Stalin lässt Wawilow ermorden. Derselbe Stalin sorgt durch die Pakte mit Hitler 1938 und 1939 dafür, dass Timofejew in Deutschland ungehindert arbeiten kann. Der Genetiker wird wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Leopoldina, der ältesten Gelehrtengesellschaft Deutschlands. ------------------------ Musik------------- 1. Sprecher 22. Juni 1941 2. Sprecher (auf russ.) Als der Krieg mit Russland begann, ist unsere internationale Gruppe zerfallen, ein Teil meiner Mitarbeiter aus Buch ist in den Krieg eingezogen worden. Es wurde im Radio und in den Zeitungen bekannt gemacht- dass alle "feindlichen" Ausländer sich bei der zuständigen Polizeiabteilungen registrieren lassen sollten. Als ich dort erschien, sagte mir der Chef der Polizei in Buch: Lieber Herr Professor! Sie kennen uns und wir kennen Sie auch, warum sollen Sie sich ständig zu uns schleppen. Ich werde Ihnen jede Woche ein Häkchen setzen! Und das war `s. Annette Vogt: Da er de jure staatenlos war, er ist ja 1937 nicht zurück, das ist sein Glück 1941, beim Überfall auf die Sowjetunion. Er ist kein sowjetischer Staatsbürger, wird also auch nicht interniert. Er ist staatenlos. Autorin: Robert Rompe gibt Ende der 50er Jahre dem MfS über Timofejew zu Protokoll: 1. Sprecher "Er war sehr stolz auf seine großrussische Nationalität und trug sie sichtbar zur Schau, auch in der Nazizeit. Es machte ihm nichts aus, mit seinem dröhnenden Bass im Kolloquium zu sagen: Ìch, als slawischer Untermensch`. er liebte seine Heimat, ihre Literatur und vor allem die Menschen. Seine politischen Ansichten waren etwa: `die Deutschen sind Idioten. Wie schön war doch die Weimarer Republik, und nun haben sie den schrecklichen Hitler geholt.`" 3.Sprecher: "Hitlers Überfall auf Russland erschütterte Urs Welt von Grund auf, zwang ihn, an die Oberfläche zu steigen... Autorin: ...schreibt Granin und entlockt dem Physiker-Freund Robert Rompe 4Jahrzehnte später sparsam Auskünfte über den anderen Timo: Über den, der sowjetische Kriegsgefangene versteckt und Juden Arierpässe verschafft. Der Ostarbeiter als Hilfskräfte in seinem Labor unterbringt .... der wie ein Hund leidet, als er von der Verhaftung seines ältesten Sohnes Dmitri erfährt, dessen Widerstandsgruppe auffliegt. Bei all dem arbeitet der Genetiker verbissen weiter mit seinen Taufliegen - dazwischen hält er auf dem Dach seines Instituts Ausschau nach der Roten Armee. ---- Musik ---- 1.Sprecher: Berlin-Buch, Kriegsende Autorin: Ende November 1944 wird Timofejew-Ressowski von der Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts kategorisch aufgefordert, an die Universität Göttingen umzusiedeln. Alle anderen Institute sind schon weg. 3. Sprecher: "Die vielsprachige Arche Noah des Labors war sich mal einig und mal nicht. Die Deutschen fürchteten sich zu bleiben. Überall hieß es, die Russen würden ... alle nach Sibirien verschleppen Ob einer Wissenschaftler sei oder nicht, danach würde nicht gefragt. `Wozu braucht man uns in einem Land, in dem Lyssenko zu bestimmen hat`, drängten sie Ur... Alle waren sich darüber einig, dass Ur mit seiner Familie in den Westen gehen müsse." 4. Sprecher (russ.) " Wir alle dachten damals, dass ein Sieg die Staatsordnung in der Sowjetunion ändern würde. Autorin ... erinnert sich Granin. 4. Sprecher (russ.) Heute denke ich, er hätte für die Wissenschaft viel mehr leisten können, wenn er das Angebot nach England oder Amerika angenommen hätte. " Autorin: Die Russen kommen - und nehmen die ganze Mannschaft fest. Elf Tage später stößt der stellvertretende Volkskommissar für Inneres, Awrami Sawenjagin, auf Timofejew. Er sucht in Deutschland nach Physikern für das sowjetische Atombombenprogramm. Da ist ihm ein russischer Biologe, spezialisiert auf Mutationen mittels radioaktiver Strahlen, auch recht. Timo stürzt sich in diese Aufgabe - schon um den Tod seines Sohne Dmitrji im KZ Mauthausen zu vergessen. Er gewinnt seine besten Mitarbeiter für die Idee, ihm in die Heimat zu folgen. Und auch seinen Freund, Nikolaus Riel, Chefchemiker bei der Auergesellschaft, Experte für Urangewinnung. Der Hobby-Historiker Heinz Bielka erklärt ein letztes Foto aus den vier Monaten Nach-Krieg in Buch. Der Genetiker zwischen zwei anderen Männern: Heinz Bielka Und das waren zwei seiner letzten ausländischen Mitarbeiter in der Abteilung Genetik. Der eine ein französischer Kriegsgefangener, der wurde später Wissenschaftsminister, Und vor allem Topilin, später Klavierbegleiter von David Oistrach, der hat hier gearbeitet als Hilfslaborant als die Russen hier einmarschierten Die Russen hatten T.R. zum Institutsdirektor gemacht und zum Bürgermeister von Buch. Im Institut verbarg er die Frauen vor den Übergriffen der Russen, Und dann wurde er plötzlich im September 1945 von Menschen mit Ledermänteln in einer schwarzen Limousine abtransportiert.. ---- Musik ---- 1.Sprecher: Moskau, 28. März 1981 Autorin: Nikolai Timofejew-Ressoski stirbt, 81jährig, als kleiner Angestellter des Instituts für Probleme der medizinischen Biologie. 4. Sprecher (russ.) Ich musste über ihn schreiben, solange mich die Erinnerung an ihn schmerzte. Ich fuhr nach Deutschland. Im Labor, wo er gearbeitet hat, gab es noch Menschen, die ihn kannten. Nun, die Aufrichtigsten sagten, sie dürften nicht mit mir reden. Ich ging zu Rompe. Ja, sagte er, Nikolai, mein Freund, ich habe ihn geliebt. Aber ich kann Ihnen nichts weiter erzählen. `Warum nicht?` `Es ist noch nicht die Zeit dafür. ` Ich nutzte die Tatsache, dass ich in der DDR verlegt wurde, und ging zum ZK-Sekretär für Propaganda. Er versprach, Rompe anzurufen, damit er erzählt, was er weiß. Am nächsten Tag sagte Rompe: `Ja, wissen sie, er hat mir in diesen Fragen nicht zu befehlen.` Autorin: Auch in der Sowjetunion wird dem Schriftsteller geraten, die Finger von der Geschichte des Genetikers zu lassen. Man würde sie ohnehin nicht veröffentlichen. Im Jahre zwei nach Gorbatschow kommt der Roman dieses Lebens in der Literaturzeitschrift Nowy Mir heraus. 4. Sprecher (russ.) Das gab einen großen Skandal. ... Ich hätte einen Antisowjetschik besungen, einen Verräter, der Hitler geholfen habe, die Atombombe zu bauen. Hochverrat, Treuebruch, undsoweiter undsofort. Mein Buch sei ein Hohelied des Verrats. Autorin: Es entwickelt sich eine Kampagne gegen Granin , und es bildet sich eine Gruppe für die Rehabilitation des Genetikers. Die Petition von Wissenschaftlern und Künstlern - darunter der Biologen und Timofejew Sohn Andrej, veranlasst einen sowjetischen Militärstaatsanwalt am 12. Februar 1988 folgendes festzustellen: 1. Sprecher : Am 4. Juli 1946 wurde Timofejew, N.W., vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR zu 10 Jahren Freiheitsentzug mit Aberkennung der Rechte auf 5 Jahre und Vermögenseinziehung verurteilt. Die Sache wurde ohne Teilnahme von Vertretern der Anklage und Verteidigung und ohne Ladung von Zeugen verhandelt. Autorin: So lautet die deutsche Übersetzung eines Archivvorgangs, der als Rechtshilfeersuchen am 22. April 1988 beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR ankommt. Annette Vogt Er ist verurteilt worden aufgrund eines Paragraphen, der Nichtrückkehr unter Strafe stellte. Weil er sich 1937 weigerte, zurück in die Sowjetunion zu gehen. Sein Sohn hat mir erzählt, sein Vater hat die Strafe schon akzeptiert. Insofern war die Rehabilitierung schwierig. Rehabilitierung bedeutete, jemand zu rehabilitieren, der gesetzeswidrig verurteilt wurde. Hier ging es um eine weitergehende Rehabilitierung, um die Unmäßigkeit der Strafe, dass er in ein Lager kam, in dem er beinahe verhungert wäre. -------Musik------- 1. Sprecher: Sumgul im Ural Autorin: 1947 findet Sawenjagin seinen Favoriten im Lager. Er befiehlt, den halbtoten Genetiker nach Moskau zu bringen, sofort. Autorin: Timofejew wird aufgepäppelt und in den Ural geschickt. Mitten in der Einöde bekommt er ein Institut. Sumgul heißt der goldene Käfig. Der Genetiker ist glücklich. Er kann arbeiten. Jelena und Andrej sind dabei. Und seine Deutschen auch. 2. Sprecher (russ.) "Zuerst meine Hauptkollegen aus Buch, meine drei Laborchefs. Der Physiker Zimmer, Spezialist für Strahlungsmessung. Alexander Katsch - Radiobiologe und Genetiker, und Born. Sie bekamen ein fürstliches Gehalt. Sie konnten billig erstklassige Waren kaufen, sie hatten wunderbare Wohnungen. Und ich - mich gabe es eigentlich nicht , aber ich lebte wie ein Zar im Vergleich zu den "freien" Mitarbeitern, all den Doktoren der Wissenschaften. Ich hatte also ein genetisches Labor, dann das Labor für Radiobiologie der Tiere, das Labor für Radiobiologie der Pflanzen, und ein Radiochemisches Labor, unter der Leitung von Born, dem Schüler des berühmten Otto Hahn. Und das physikalische Labor. Wir haben wunderbare Strahlenvergleichsmessungen gemacht. Publizieren durfte man nichts, alles war vollkommen geheim, und gnade dir Gott, wenn du das Wort "Bestrahlung" benutzt hättest. Fünf Jahre Straflager waren dir sicher. Die Amerikaner haben von ihren Atomforschungen immer etwas veröffentlicht, wir keinen Schmarren. Dabei hatten wir vor ihnen Methoden zur Entfernung von Radioisotopen aus dem menschlichen Körper. Das erschien mir so notwendig in unserem schmutzigen Atomsystem. Schon damals waren bei uns alle Betten in allen Spezialkliniken besetzt. Aber nein, du rennst mit dem Kopf gegen eine Wand.. Helmut Böhme Viele derjenigen, die dann, nachdem die Lehre in der Genetik der Sowjetunion sich normalisierte, sind Schüler von T.R. gewesen, hatten ihm im Ural gelernt, besucht. Autorin: Helmut Böhme schwört auf Timofejew-Ressowski. Als Böhme 1951 in Halle mit dem Studium der Landwirtschaft beginnt, empfiehlt ihm sein Lehrer Hans Stubbe, Timos treuer Freund ein Lehrbuch: "Das Trefferprinzip in der Biologie" von Timofejew und Zimmer. Die Arbeit erscheint nach dem Krieg zum ersten Mal in Jena. Helmut Böhme Das ist interessant, es erschien nämlich 1947 mit einer Lizenz der Sowjetischen Militäradministration. 1947. Die große Diskussion über die Genetik in der Sowjetunion. Lyssenko und so weiter, war ja 1948, August, hielt Lyssenko seine Rede wider die "westliche Biologie". Danach hätte das Buch nicht mehr erscheinen können Autorin: Lyssenko bleibt quicklebendig, auch als sein Übervater stirbt. Stalins Tod 1953 paralysiert die sowjetische Öffentlichkeit. Für die Weltgemeinschaft der Genetiker ist 1953 das Geburtsjahr der DNS: Endlich wird klar, wie ein Gen wirklich beschaffen ist. Watson und Crick haben seine Struktur entdeckt und mit dem Modell der Doppelhelix erklärt. Der Theoretiker einer sowjetideologischen Biologie lässt sich davon nicht beirren. Helmut Böhme Für Lyssenko sprach immer von der Erbgrundlage, die im ganzen Körper verteilt ist. Als ihm eines Tages der Schwede Gustavsson ein Röhrchen mit DNS zeigt, sagte er, ich sehe keine DNS, ich sehe nur ein weißes Pulver. Den Einfluss Lyssenkos in der DDR spürt auch Heinz Bielka als junger Wissenschaftler in Berlin-Buch. Kein Wunder, dass Timofejews Mitstreiter, 1954 aus dem Ural entlassen, gen Westen weiterziehen: Zimmer z. B. nach Karlsruhe, Born nach München: Heinz Bielka Ich habe damals in Leipzig studiert, und unsere Professoren weigerten sich, nach Lyssenko zu lehren Autorin: Entweder Lyssenko - oder gar keine Genetik. Dieses Prinzip gilt in der Sowjetunion noch bis zum Anfang der 60er Jahre. Die biologische Wissenschaft ist tot, erklärt die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt Also es sind - im Unterschied zu Physikern, Mathematikern, sind viel mehr Biologen wirklich umgekommen. Dass die Biologie stärker unter Beschuss geriet lag daran, dass die Politiker meinten, etwas von Biologie zu verstehen. Außerdem war die Biologie damals nicht kriegswichtig, anders als Mathematik, und vor allem war die Physik fürs Militär viel wichtiger war als Biologie. Autorin: Es gibt nur einen Ort in der Sowjetunion, wo echte biologische Forschung stattfindet: Der goldene Käfig im Ural. Ein Physiker, Igor Tamm, wagt es, eine Einladung nach Sumgul zu schicken. Ein weiterer Physiker, Pjotr Kapiza, stellt sein Moskauer Institut zur Verfügung. Tamm und Timofejew sollen über die Neuigkeiten aus der Weltgenetik referieren. Wir schreiben Februar 1956. 3. Sprecher "Alle begriffen, das ist ein Aufbrechen der Blockade, der Beginn der Wiederherstellung der normalen Biologie.... Ur war nicht wie Tamm durch Titel und Physikerberuf geschützt.... Er scherte sich nicht darum, wie weit er gehen durfte. Nach seinem Vortrag entdeckte man plötzlich, dass man von der Genetik, den Mendelschen Gesetzen, den neuen Arbeiten der Amerikaner reden konnte..." Autorin: Timofejews öffentlicher Auftritt empört nicht nur die Adlaten Lyssenkos: Auch Biologen, die sich unter Schmerzen angepasst hatten, fühlten sich durch Timofejews Unbekümmertheit gedemütigt. Der Genetiker ist zu lange narrenfrei gewesen. Im Ural und in Berlin. Ja, in Deutschland - überhaupt, was hat er da getrieben? Jetzt, 1957, schreit man ihm nach: Kollaborateur! 3. Sprecher Man brachte das Gerücht in Umlauf, er hätte in Deutschland für die Nazis gearbeitet, Versuche an Menschen, an sowjetischen Kriegsgefangenen gemacht. Anonyme Briefe gingen ans ZK "Bekanntlich war er Hitlers Hauptkonsultant für Biologie". Fakten wurden nicht genannt. -----Musik ---- 1. Sprecher: Leningrad, 1980 Autorin: Daniil Granin empfängt Besuch: Der alte Timofejew-Ressowski und dessen Freund Lobaschow. Gemeinsam haben sie das Lyssenkotum bekämpft. 4. Sprecher (auf russ.) "Wir hatten etwas getrunken, sprachen über den heutigen Stand der Genetik und darüber, was in den Kriegsjahren und danach mit unserer Genetik passierte. Unversehens kam das Gespräch auf den Krieg. Lobaschow ... erzählte von der Front, und da sagte Timofejew, dass das für alle eine beschissener Krieg war, mit so vielen Opfern... Da sprang Lobaschow plötzlich auf: Was für ein Recht hast du, so über unseren Krieg zu sprechen! Du hast doch in Berlin warm gesessen, unter Hitlers Fittichen! Timofejew stand auch auf - die beiden waren solche Schränke- Wofür hast du denn gekämpft, na?? Für das Lager, in dem ich gelandet bin? Was hast du verteidigt, Stalin? Erzähle mir nichts von Heimat und Patriotismus und diesem Zeug! Du hast objektiv für Stalin gekämpft! Autorin: Den Frontkämpfer Granin, Jahrgang 1921, treibt das Thema Kollaboration um, natürlich. Fast verzweifelt bittet er den alten Timofejew um Beispiele seiner widerständischen Taten, um politisches Bekenntnis. Der verweigert sich, wie er sich immer verweigert hat: 3. Sprecher "Es hätte nichts gekostet, Kriegsgefangene, die er in Deutschland gerettet hatte, zu Aussagen zu bewegen. Viele hätten für ihn gebürgt: Laue, Heisenberg, Pauli. Ur wäre als Held des antifaschistischen Widerstands vor uns erschienen. Nichts dergleichen ist geschehen. Und jetzt heißt es, die Scherben zusammenzufegen..." 4. Sprecher (auf russ.) Ich weiß nicht, ob das in der letzten Auflage des Buches steht: Als sein Sohn festgenommen war, kam ein Vertreter von Himmler zu Timofejwe und bot ihm Arbeiten an, die die rassistische Theorie bestätigen sollten. Experimente , die Operationen an Zigeunern, möglicherweise deren Tod, vorausgesetzt hätten. Er hat drei Tage überlegt, und das Angebot abgesagt. Und Foma kam nicht aus dem KZ zurück. Autorin. Leider nur eine schöne Legende. Jedenfalls haben die Wissenschaftshistoriker keine Belege für diese Geschichte gefunden. ----Musik ---- 1. Sprecher: Obninsk bei Moskau, 60er Jahre Autorin: Timofejew darf mit seiner Familie ein wenig näher an die Heimat ziehen. Der goldene Käfig heißt diesmal: Institut für radiologische Medizin Obninsk. In Obninsk steht das erste Kernkraftwerk der Welt. Hier in der Nähe ist Timofejew als Sohn eines Eisenbahningenieurs geboren. Und wieder zieht eine Gemeinde junger, wissbegieriger Leute hinter ihm her. Noch einmal gibt es seine berühmten Fachsimpeleien ... mit Kulturprogramm, erzählt Granin: 4. Sprecher: (russ.) Alle zwei Wochen versammelte sich bei ihm die Jugend, und er erzählte von Musik, Michelangelo, Modigliani.... Er war musikalisch gut gebildet, kannte die Malerei gut. Seine europäische Bildung brachte uns ständig neue Entdeckungen. Darüber konnte man damals nichts lesen. Autorin: Der Genetiker vertritt die Bürgerkultur des 19. Jahrhunderts, und er ist gläubiger Christ. Während die Einöde Sumgul wenig Überwachung erfährt, nimmt der Natschalnik von Obninsk argwöhnisch Anstoß an unangemeldeten Seminaren in einer Privatwohnung: 3. Sprecher "Und wer hielt sie? Ein Wissenschaftler, der während des Krieges im faschistischen Deutschland gearbeitet hatte. Übrigens fragte sich, was das für ein Wissenschaftler war, wenn er keines der erforderlichen Diplome hatte. Er war weder Professor noch Doktor." Autorin: Das fragen sich seine Schüler mittlerweile auch. Im Gegensatz zu ihnen ist Timofejew noch immer nicht Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Er kann es nur werden, wenn man ihn rehabilitiert. Ende der 60er Jahre beginnen Nikolai Woronzow und Alexei Jablokow, Papiere und Unterschriften zu sammeln, um Timofejews Ehre wiederherzustellen. Autorin: Während seine Anhänger für ihn kämpfen - fällt ihnen Timofejew unbekümmert in den Rücken: Er denkt öffentlich über das fragile Verhältnis von Mensch und Natur nach. 3. Sprecher: "Urs beharrliche Appelle riefen Verärgerung hervor. Man gab ihm zu verstehen, er betreibe Sabotage. Was wollen Sie, die Arbeiten stoppen...Man warf ihm politische Ignoranz vor - gegen kapitalistischen Raubbau müsse man die Natur schützen, nicht aber vor sozialistischem Wirtschaften. Autorin: Im Moskauer Institut für medizinisch-biologische Probleme erhält Ur sein wissenschaftliches Gnadenbrot. Niemals wieder darf er ins Ausland fahren. Auch nicht, um Medaillen und Ehrendoktorhüte entgegenzunehmen, die man ihm dort verleiht. ------------Musik------ 1. Sprecher Berlin, 22. 11. 1988 Autorin: Ein Papier des DDR-Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung Untersuchung, zum sowjetischen Archivverfahren "Nikolai Timofejew-Ressowski" hält fest: 1. Sprecher Es wird angestrebt, dass bis zur Entscheidung des Obersten Militärgerichtshofes der UdSSR vorerst auf dem Gebiet der DDR keine Veröffentlichung des Romans von Granin erfolgt." 1. Sprecher Der Autor stellt den Helden als antifaschistisch eingestellten Wissenschaftler dar, woran aber nach den Untersuchungsergebnissen gezweifelt werden muss. Diese bestätigen nur, dass er ein besessener "Nur- Wissenschaftler" war. Autor: Robert Rompe, Mitglied des ZK der SED, will das Buch aus einem anderen Grunde nicht: 1. Sprecher Granins Buch...enthält sehr viele unerfreuliche, aber bekannte Dinge über Vorkommnisse in den biologischen Wissenschaften...die das Renommee der sowjetischen Wissenschaft beeinträchtigt haben. ... besteht für uns ein hinreichender Grund, über all die Dinge in Deutsch einen größeren Kreis zu informieren? Würde die deutsche Übersetzung von Granin die Kooperation mit der SU verbessern helfen oder nicht? Ich würde sagen: nicht. Autorin : Da sitzt Erich Ahrndt im Auftrage des Ostberliner Verlags Volk und Welt schon an der deutschen Fassung. Sie erscheint Ende 1988, in Köln, bei Pahl-Rugenstein, unter dem Titel "Der Genetiker. Das Leben des Nikolai Timofejew-Ressowski, genannt Ur." Am 20. Dezember 1988 gibt der Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR, veranlasst vom Ministerium für Staatsicherheit, ein Gutachten in Auftrag. Autorin: Chef des dreiköpfigen Gutachterteams ist Prof. Dr. habil Helmut Böhme, Ordentliches Mitglied des Akademie der Wissenschaften der DDR, Wissenschaftler im Zentralinstitut für Genetik und Kulturpflanzenforschung Gatersleben. Helmut Böhme Die Erarbeitung des Gutachtens war ein Prozess, der sehr viel Kummer und Sorgen gemacht hat. Da gab es verschiedene Ansichten bei den Juristen des Ministeriums für Staatssicherheit, die uns auf die Finger schauten. Man setzte uns in ein Zimmer, vollgestopft mit Leitzordnern, das waren Papiere aus Moskau, Verhörprotokolle und so weiter und sofort Autor: Die Gutachter tragen die bekannte Fakten zusammen. Im Februar 1989 folgern sie kurz und bündig: Helmut Böhme Aus den zur Verfügung gestellten Unterlagen und den zusätzlichen Materialien kommen wir zu dem Schluss, dass die Forschungen T.R. zu keiner Zeit dazu beitrugen, die faschistische Regierung bewusst zu unterstützen und die Kriegsführung zu fördern. Autorin: Allerdings rezensiert Oliver Tolmein im Heft 6/ 1989 der linken Hamburger Zeitschrift "Konkret" Granins Buch wie folgt. 1.Sprecher "Granin unternimmt keinen Versuch zu erklären, wieso im Nationalsozialismus weiterhin das, was er als "reine Wissenschaft ansieht, betrieben werden konnte, in der stalinistischen Sowjetunion dagegen die Interessen des Parteiapparats die Entwicklungslinien der Forschungsarbeit verzerrten. Die fatale Konsequenz dieser parteiisch akzentuierenden, selektiven Geschichtsschreibung: Der Nationalsozialismus erscheint im Vergleich zum Stalinismus als die weniger schreckliche Variante eines an sich gleichartigen, totalitären Regimes." Autorin: Tolmein zitiert weiter den Hamburger Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth, der Timofejew-Ressowski als einen führenden Bevölkerungsbiologen des Dritten Reiches bezeichnet. Die Rezension trifft in der DDR auf eine erregt geführte Debatte über die Legitimität des Hitler-Stalin-Vergleichs. Tolmein liefert neue Gründe, Granins Buch zu verhindern. Autorin: Die Wissenschaftshistorikerin Annette Vogt kann sich nach der Wende mit diesen Fragen jenseits politischer Zwänge befassen: Annette Vogt Zum Beispiel T.R. hat im Auftrage der Auergesellschaft Gasmasken auf Durchlässigkeit radioaktiver Strahlen geprüft, das steht fest. Er hat vor Naziärzten Vorträge gehalten, über Genetik. Die Nazis waren interessiert, von der Genetik ihre Rassensachen wissenschaftlich stützen zu lassen. Das hat T.R. nicht gemacht, also es gibt von ihm keine Veröffentlichungen, wo er Rassismus begründet. Aber man kann das natürlich verwenden: Es gibt Fotos von ihm mit den Spitzen des NS-Gesundheitssystems. Und in dem Kontext hat Karl Heinz Roth geschlossen, dass T.R. in mehr verwickelt gewesen sein sollte. Ich kann Karl Heinz Roth weder widerlegen noch kann ich ihn unterstützen. Jedenfalls: T.R. hat keine Versuche mit sowjetischen Kriegsgefangenen gemacht, das ist eine Verleumdung. Was er sonst an Versuchen für die Nazis gemacht hat, müssen wir sehen, wissen wir nicht, bekommen wir vielleicht noch raus. In dem Moment ,wo er Geld von den Nazis für bestimmte Forschungen bekommen hat - ist das eine Form von Kollaboration, natürlich Autorin: Inwieweit die Auergesellschaft, die einen Teil der Forschungen Timofejews finanziert hat, in das deutsche Atombombenprojekt direkt einbezogen war, wissen die Historiker nicht. Anette Vogt vermutet die Unterlagen in Russland. Timofejews Beteiligung hält sie wegen der inhaltlichen Struktur der Bombenforschung vor Hiroshima und Nagasaki für wenig wahrscheinlich. Am 25. September 1989 wird das Buch mit dem Titel "Sie nannten ihn Ur" in der DDR ausgeliefert. Die Endfassung des Gutachtens erscheint im Dezember 1989. Die posthume Rehabilitierung von Nikolai Wladimirowitsch Timofejew-Ressowski lässt noch zwei Jahre auf sich warten. Annette Vogt A: Solange Gorbatschow regiert hat, in die Rehabilitierung nicht gelungen. Im Gegenteil, es gibt einen Gerichtsbeschluss von 1989/90, der die Rehabilitierung ausdrücklich ablehnt. Erst unter den neuen Bedingungen, nach dem Zerfall der Sowjetunion, nachdem Jelzin an die Macht gekommen war, wurde T.R. posthum rehabilitiert, im Zuge einer .Generalamnestie ---Musik --- 1.Sprecher: Epilog. Berlin, 1936. 2. Sprecher (russ.) Und Kitty Teack war überglücklich, sie hat zwei Wochen lang mit dem Diplom in der UFA schwadroniert, man hat ihr gratuliert - aber das war nicht von Dauer. Unser Freund Oleg Zinger, der Maler, hatte fast unerkennbar Folgendes auf das Diplom gemalt (russ weg, folgendes sagte T.R. Deutsch) Feuer breitet sich nicht aus, Haste MINIMAX im Haus. -Musik, darauf___ 1. Sprecher: Genie-Unperson-Mythos: Der Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski. Geschichte einer Rehabilitation Eine Sendung von Ulrike Bajohr und Mario Bandi. Es sprachen: Rainer Delwenthal, Klaus Eckert, Jürg Löw, Volker Risch und die Autorin. Regie Mario Bandi, Ton und Technik Angelika Brochhaus, Karl-Heinz Stevens. Wir danken Daniil Granin, Annette Vogt, Heinz Bielka und Helmut Böhme 1