COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Im Kontrapunkt" Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo AutorIn: : Thomas David Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 16.03.2010 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Erzähler (Kommentar), Sprecher Don DeLillo, Zitator, Sprecher v.D. (OV Greif) O-Töne und Atmos im V-Speicher Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Im Kontrapunkt Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo Wortspiel Autor: Thomas David Redaktion: Dorothea Westphal Aufnahmeleitung: Technik: Erzähler Don DeLillo Zitator Mark Greif Thomas David Heußweg 81 20255 Hamburg thomas.david@tallahatchie.de 015119666254 Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Dann ging wieder ein langweiliges und düsteres Jahr dem Ende zu. Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Jede Ladenfront war mit Lichterketten behängt. Kastanienverkäufer schoben ihre rauchenden Karren umher. Abends waren die Menschenmengen riesig, und der Verkehr schwoll zur brüllenden Springflut an. Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Die Weihnachtsmänner auf der Fifth Avenue schwenkten ihre kleinen Glöckchen mit einer seltsam traurigen, spitzfindigen Vornehmheit, als streuten sie Salz auf ein übel verdorbenes Stück Fleisch. Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Aus allen Geschäften ertönte Musik, als Glockengeläut, Gesang und Hosiannas, und von den Kapellen der Heilsarmee ertönte die martialische Trompetenklage uralter christlicher Heerscharen. Erzähler New York City. Dezember 2009. Ein Treffen mit Don DeLillo im Büro seiner New Yorker Literaturagentin zu einem Gespräch über sein Werk, das seit inzwischen vier Jahrzehnten auf einzigartige Weise die amerikanische Gegenwart erhellt. Die Ereignisse am 11. September 2001 in seinem Roman "Falling Man" beispielsweise. Atmo 1 (World Trade Center) We have a breaking news-story to tell you about a plane apparently just crashed in the World Trade Center here in New York City. It happened just a few moments ago. O-Ton 1 (DeLillo) I think, we can never underestimate the ability of the state to act out its own fantasies. And this is what many governments do. And the process of lying is deeply embedded in the conduct and the prosecution of a war. Atmo 2 (World Trade Center) Apparently we have very little information available at this time. DeLillo Wir dürfen die Fähigkeit des Staates, seine eigenen Fantasien auszuleben, nicht unterschätzen. Der Prozess des Lügens ist tief in die Führung, aber auch in die Verurteilung eines Krieges eingebettet. Atmo 3 (World Trade Center) Oh, another one just hit. Oh my ---. It flew directly over my building, can you see it? I can see it on the screen. Erzähler Don DeLillo im Büro seiner New Yorker Literaturagentin in der Upper East Side von Manhattan. Exemplare seiner Bücher liegen vor ihm auf dem Tisch: "Americana", DeLillos 1971 erschienener Debütroman, in dem der Ich-Erzähler am Ende eines weiteren verschwendeten Jahres der Sinnleere seines Lebens entflieht und sich auf den Weg macht, Amerika zu erforschen. "Cosmopolis" und "Falling Man", der Roman über eine vom Ascheregen durchwehte Gefühlslandschaft nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Don DeLillo, der eine dunkle Jeans und einen dunklen Pullover trägt, sagt: DeLillo Nach dem 11. September war die amerikanische Bevölkerung bereit, der Regierung eine Menge Spielraum zu lassen, was die Bombardierung Afghanistans und den Irakkrieg zur Folge hatte. Man bildete sich ein, wir hätten ein Anrecht darauf, uns unser Geburtsrecht zurückzuholen - oder das, was viele Amerikaner dafür halten, wenn sie die Überzeugung äußern, dass Amerika die Zukunft gehöre. O-Ton 2 (DeLillo) The future belongs to us, that is one of the aspects of 20th century America, I think. And it may no longer be true, of course, but it is very difficult for a nation to come to that understanding. Erzähler DeLillo ist der Autor von "Unterwelt", dem 1997 erschienenen Epos über das Amerika des Kalten Krieges; Autor von "Weißes Rauschen", seinem achten Roman, mit dem sich der 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in der New Yorker Bronx geborene Schriftsteller Mitte der achtziger Jahre als einer der bedeutenden Vertreter der literarischen Postmoderne etablierte. DeLillo ist der Autor von "Libra", der brisanten Fiktion über Lee Harvey Oswald und den Mord an John F. Kennedy, von insgesamt mittlerweile 15 Romanen und mehreren Theaterstücken, in denen er den sprichwörtlichen Amerikanischen Traum als ein Trauma entlarvt. In "Der Omega-Punkt", seinem jüngsten Roman, in dem DeLillo an die in "Falling Man" begonnene Chronologie der Gefühle des Amerika nach den Anschlägen vom 11. September anknüpft, entwickelt er ein Bild von den letzten Tagen der Menschheit - ein Bild vom Ende der Zeit. Zitator (jeweils schlaglichtartig) Da stand ein Mann an der Nordwand, kaum sichtbar. Es gab keine Sitzplätze in dem Kabinett. Die Leinwand stand frei mitten im Raum. Der Film lief ohne Dialog oder Musik, kein Soundtrack. DeLillo Die Anfänge von "Der Omega-Punkt" gehen auf einen Besuch im Museum of Modern Art zurück, wo ich mir in einem dunklen, kalten Saal "24 Hour Psycho" ansah, eine Videoinstallation von Douglas Gordon. Der Künstler zeigt Hitchcocks Klassiker "Psycho" in extremer slow motion. Zitator (schlaglichtartig) Die kleinste Kamerabewegung stellte eine einschneidende Verschiebung in Raum und Zeit dar. Anthony Perkins dreht sich um, in fünf Zuwachsbewegungen, nicht im kontinuierlichen Fluss. Wie Steine in einer Wand, klar zählbar, nicht wie der Flug eines Pfeils oder Vogels. Was er hier sah, schien der reine Film zu sein, die reine Zeit. O-Ton 3 (DeLillo) And I felt it was quite interesting, and I went back two or three or four times. And by the third time I knew I would have to write something about it. I wasn't sure whether I would write fiction or non-fiction, I had no idea. DeLillo Noch wusste ich damals nicht, wie ich Gordons Ideen bezüglich Zeit, Bewegung und menschlicher Wahrnehmung in ihrer philosophischen Tragweite erfassen sollte. Daher begann ich, über eine Figur zu schreiben, die sich die Videoinstallation ansieht und zwei Männer beobachtet, einen älteren und einen jüngeren, die ebenfalls in den Saal kommen, ihn nach ein oder zwei Minuten aber schon wieder verlassen. O-Ton 4 (DeLillo) And once two other characters entered - see, it is all very practical -, an older and a younger man, and they watched the film together with the other central figure and then leave after only one or two minutes. Zitator Sie gingen hinaus. Was, gelangweilt? Sie gingen an dem Aufseher vorbei und waren weg. Sie mussten in Worten denken. Das war ihr Problem. DeLillo Als ich diesen Abschnitt geschrieben hatte, der schließlich der Prolog von "Der Omega-Punkt" werden sollte, machte ich mir Gedanken über den weiteren Verlauf der Handlung. Es war eine Offenbarung, als ich begriff, dass die beiden Männer, der Gelehrte Richard Elster und der junge Filmemacher Jim Finley, die Hauptfiguren des Romans sein würden. O-Ton 5 (DeLillo) And they reappear in the desert terrain, in part, I think, because I wanted to leap out of that cold, dark gallery and into a much grander and totally different landscape. And that is how it all happened. Erzähler Richard Elster hat sich nach zweijähriger Arbeit im Pentagon in sein einsames Haus in der Wüste zurückgezogen; Jim Finley, der Ich-Erzähler des Hauptteils von DeLillos Roman, versucht Elster im Spätsommer 2006 für die Mitarbeit an einem Dokumentarfilm zu gewinnen. Im Pentagon hatte sich Elster vergeblich bemüht, zusammen mit den Strategen und Militäranalytikern der Bush-Regierung ein übergeordnetes intellektuelles Konzept auf den Krieg im Irak anzuwenden, "neue Wirklichkeiten zu erschaffen", wie es in "Der Omega-Punkt" heißt, Zitator ...sorgfältige Wortgebilde, die in Einprägsamkeit und Wiederholbarkeit Werbeslogans ähnelten Erzähler In Finleys Ich-Erzählung überträgt DeLillo die im Prolog anklingenden Motive in die glühende Atmosphäre der Wüste und entwickelt die Begriffe von Zeit und Raum zu einer atemberaubenden Kosmologie. Zitator Nachrichten und Verkehr. Sport und Wetter. So [Elsters] ätzende Begriffe für das Leben, das er hinter sich gelassen hatte, über zwei Jahre mit den Kleingeistern, die den Krieg führten. Alles Hintergrundgeräusche. DeLillo Das wahre Leben findet Elsters Meinung nach statt, wenn wir uns unserer Gedanken kaum bewusst sind. Das wahre Leben ist das, woran wir denken, wenn wir glauben, dass es nichts zu denken gibt - in diesen stillen Momenten, diesen entspannten Momenten, die Elster zufolge von einer tiefen Angst zu sterben bestimmt werden. O-Ton 6 (DeLillo) And according to Elster these particular times may be defined by some very, very subterranean fear, and that is the fear of taking a last breath, the fear of dying. And maybe this is why we are barely aware of such moments. Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Aus allen Geschäften ertönte Musik. Es war seltsam, zu dieser Zeit und an diesem Ort solche Klänge zu hören. Musik (Pärt: Orient & Occident) Zitator Das klang nach Becken und Kesselpauken, ließ einen an Kinder denken, die für eine bodenlose Sünde gescholten wurden, und die Leute schienen sich auch daran zu stören. Atmo 4 (Irakkrieg) The US and Britain say Saddam must disarm by March 17 or face the military consequences with or without the UN backing. Is this really the final countdown to war? "Countdown Iraq" with Lester Hope. Monday at 7.00. Only on NSNBC. Erzähler New York, März 2003. Die Stadt liegt unter einer Wolke von aschigem Dunst. Die hüpfenden Köpfe der Menschen auf den Straßen - Zitator unterwegs oberhalb der Gezeitenlinie der Taxistreifen, Erzähler wie DeLillo in seinem Romon "Cosmopolis" schreibt, Zitaotr jeder auf einer anderen Wellenlänge. Erzähler Auf den Gehwegen Reste grauen Schnees. Atmo 5 (Irakkrieg) Tonight, with the US troops on the brink of war, turn to the best correspondents, the top experts: America's best news program, NBC nightly news. Tonight. Erzähler In Madison Avenue spuckt ein noch halbwegs junger Mann ein Kaugummi auf den Gehweg und biegt rechts in die 70. Straße ein. Er trägt eine rote Adidas- Tasche, er geht schnell. Atmo 6 (Irakkrieg) [George W. Bush:] My faith sustains me, because I pray daily. I pray for guidance and wisdom and strength. If we were to commit our troops I would pray for their safety, and I would pray for the lives of innocent Iraqies as well. Erzähler Der junge Mann mit der Adidas-Tasche wechselt die Straßenseite und geht auf eines der schmalen Brownstone-Häuser zu. Weißlackierte Klimaanlagen hängen wie phosphoreszierende Laborkäfige vor einigen der Fenster. Die zerkratzte Haustür, die Klingel. O-Ton 7 (DeLillo) Something else was happening. There was a shift, a break in space. Again he wasn't sure what he was seeing. Erzähler Er wird in ein Hinterzimmer geführt und stellt die Tasche neben den Tisch. Zwei Stühle, eine Wand voller Bücher. Er sieht die Baseball-Mütze, die schwarze Lederjacke, die da liegen. Während er die Bücher aus der Tasche holt, hört er ein leises Knarren hinter sich, sanfte Schritte. Der Mann im dunklen Pullover sagt: DeLillo I'm Don DeLillo. Call me Don. Musik (Pärt: Lamentate) Erzähler Don DeLillo in einem Hinterzimmer im Büro seiner New Yorker Literaturagentin. Er setzt sich an den Tisch, spricht zu dem jungen Mann über den Krieg. Er liest aus einem seiner Bücher. Seine Brille liegt neben ihm auf dem Tisch, er setzt sie auf, bleibt reglos sitzen. O-Ton 8 (DeLillo) "He was close enough to see that the man wore glasses. There was a man on fire." Erzähler In seinen Romanen will DeLillo sich in die Hirnströme imaginärer Menschen hineinträumen. Ein Werk voller verschiedener Stimmen hat er auf diese Weise geschaffen. Der New Yorker Literaturkritiker Mark Greif zu der Frage nach möglichen literarischen Einflüssen: O-Ton 9 (Greif) I think the first influence, of course, has to be James Joyce. But Joyce filtered through a kind of American modernist tradition. Greif DeLillos Sätze sind von einer ähnlichen Kühnheit wie die Sätze von James Joyce. Bereits "Americana", DeLillos erster Roman, beginnt vom ersten Satz an mit einer Stimme, die sich durch alles zieht, was er bis heute geschrieben hat. O-Ton 10 (Greif) "Americana", DeLillo's very first book, starts from its first sentence with a voice that would be consistent all the way through everything he has written up to now: "Then we came to the end of another dull and lurid year." It has the quality of force that's always there. Zitator Er will diese Stimmen abheben von der Geschichte mit ihren Crescendi aus Blut und Leid. Von der Tendenz, echte Dinge durch ihre Darstellung zu ersetzen. Von der Suche nach Identität in bröckelnden Bildern. Greif DeLillos Prosa ist emphatisch; seine Sätze haben eine Maskulinität, die typisch amerikanisch ist, sie sind energisch und rütteln auf. Zugleich ist DeLillo auch ein wenig nüchtern: Sein Werk hat etwas Würdevolles, und darin gleicht ihm kein anderer Schriftsteller der Gegenwart, und hat dennoch etwas Eisiges, etwas, das sich beinah anfühlt wie Stahl. Zitator Aber das alles will er ja überhaupt nicht. Er will Sätze und Absätze schreiben. Erzähler Er will sich in die Hirnströme imaginärer Menschen hineinträumen. Im Büro seiner New Yorker Agentin redet Don DeLillo vom Krieg. DeLillo Die Bush-Regierung hatte eine gewisse Sehnsucht nach dem Kalten Krieg. Die Sache komplizierte sich, als wir am 11. September von Terroristen angegriffen wurden und nicht von einem Feind, der leichter zu identifizieren gewesen wäre. Was man also dringend brauchte, war ein Land mit definierten Grenzen, ein Land mit einer Armee, deren Mitglieder Uniform tragen, ein Land mit einem Namen. Und natürlich fand man dieses Land im Irak. O-Ton 11 (DeLillo) For decades, because of Vietnam and Watergate and the hostage crisis in Iran, I think, Americans - at a certain level - were feeling homesick for power. Because we weren't able to use it. We had it in theory. DeLillo Amerika sehnte sich nach seiner Macht, die es lediglich theoretisch besaß. Bereits während des Kalten Kriegs konnten wir sie nicht im großen Maßstab unter Beweis stellen, ohne enorme Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Und da wären wir nun also mit der jetzigen Regierung, der ganzen Macht: Verlangt Macht nicht danach, ausgeübt zu werden? O-Ton 12 (DeLillo) Doesn't power have a need to be exercised? Erzähler In "Der Omega-Punkt" erklärt Richard Elster dem jungen Filmemacher Jim Finley seine Theorie des Krieges. Sie sitzen auf der Terrasse seines Hauses in der Hitze fernab von Städten und anderen Menschen, fernab des Lebens, das Elster hinter sich gelassen hat. Die Sonne brennt auf die beiden Männer herab und scheint sie zum Teil einer kargen Urwelt zu machen. Zitator Der Krieg schafft eine abgeschlossene Welt, und zwar nicht nur für die Kämpfenden, sondern auch für die Anstifter, die Strategen. Nur dass ihr Krieg aus Akronymen besteht, aus Projektionen, Unwägbarkeiten, Methodologien. Atmo 7 (Point Omega/Hörbuch) A great power has to act. We were struck hard. We need to retake the future. The force of will, the sheer visceral need. We can't let others shape our world, our minds. Zitator Der Staat muss lügen. Es gibt keine Lüge im Krieg oder in der Kriegsvorbereitung, die sich nicht verteidigen ließe. Greif Ich hatte zuvor zwei Mal mit ihm gesprochen, in New York, und er wusste, was ich vorhatte, sein Mitwirken an einem Film, den ich über seine Zeit in der Regierung drehen wollte, im Blöken und Stammeln über den Irak. Zitator Irak ist ein Flüstern. Unsere nuklearen Flirts mit dieser oder jener Regierung. Leises flüstern. Irgendetwas kommt auf uns zu. Erzähler In "Der Omega-Punkt" meditiert Richard Elster vor dem Hintergrund des Irak- Krieges in der Einsamkeit der Wüste über das Wesen der Zeit, über das DeLillo auf ähnlich faszinierende Weise bereits in seinem 2001 erschienenen Roman "Körperzeit" nachgedacht hat. Elster sitzt auf seinem Stuhl und denkt über einen Zeitbegriff nach, der weit über die Spanne eines menschlichen Lebens hinausgeht und außerhalb der Vorstellungskraft liegt. Er schließt die Augen und erahnt im Nachdenken über diese geologische Zeit - über die tiefe, epochale Zeit, in der Minuten, Stunden und Tage ihre Bedeutung verloren haben - die aussterbende Natur. Zitator Aussterben, Erzähler so DeLillo über den Protagonisten des Romans, in dem er die Wüste wie schon in anderen Büchern zur Metapher finaler Wahrheiten macht, Zitator war eines seiner wiederkehrenden Themen. O-Ton 13 (DeLillo) The desert inspires thoughts of a kind of terminal moment in the life of a species or the life of the planet. At one time in that desert in Southern California just above the Mexican border, there were sabeltooth tigers, there were giant zebras. All gone now. Erzähler DeLillos Werk strebt bereits in frühen Romanen wie "End Zone" und "Spieler", seinem 1977 veröffentlichten Thriller, in dem die Zwillingstürme des erst wenige Jahre zuvor fertig gestellten World Trade Center von illusionärer Flüchtigkeit zu sein scheinen, auf einen imaginären Endpunkt zu: In "Der Omega-Punkt" entwirft er eine apokalyptische Vision von der Auslöschung allen menschlichen Bewusstseins. Musik (Pärt: Lamentate) Erzähler Im Dezember 2009 sitzt Don DeLillo im Büro seiner New Yorker Literaturagentin an einem mit einem Computermonitor, mit Papieren und Büchern beladenen Tisch. Er hat ein schmaleres Gesicht als auf dem in seinem neuen Buch veröffentlichten Autorenfoto. Die Augen hinter den großen Brillengläsern drücken Vorsicht aus. DeLillo, der inzwischen 73 Jahre alt ist, versteckt sich lieber hinter seinen literarischen Figuren. Musik (Pärt: Lamentate) Erzähler Er greift nach dem Exemplar von "Falling Man" und schreibt anstelle einer Widmung: Memory and Identity. Er blättert das Exemplar seines großen Romans "Unterwelt" auf und schreibt: Conflict. Er sagt: DeLillo Ich denke über meine geschriebenen Bücher normalerweise nicht mehr viel nach, aber es gab schon in früheren von ihnen Figuren, die - ähnlich wie Richard Elster in "Der Omega-Punkt" - mit allen weltlichen Kontakten brechen. Erzähler Bucky Wunderlick, der von seinen Fans als Messias verehrte Rock-Star, der in DeLillos 1973 erschienenem Roman "Great Jones Street" in ein heruntergekommenes Apartment im New Yorker East Village flieht und sich dort vor der Öffentlichkeit und seinem Ruhm versteckt. Bill Gray, der erfolgreiche Schriftsteller aus DeLillos 1992 mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichneten Roman "Mao II", der sein Gesicht vor den voyeuristischen Blicken der Massengesellschaft verbirgt: der als Schriftsteller am Rande der Gesellschaft gefährliche Spiele treibt und schließlich in den Libanon reist, um sich für die Freilassung einer von Terroristen entführten Geisel einzusetzen. Don DeLillos Figuren führen ein Leben im Kontrapunkt. Sie sind Außenseiter, Beobachter - so Mark Greif, Literaturkritiker und einer der Herausgeber der New Yorker Kulturzeitschrift "n + 1". O-Ton 14 (Greif) The characteristic DeLillo figure is off at the margin, watching. And usually watching explosive events through media, right? Greif Die typische DeLillo-Figur sitzt im Hotelzimmer und sieht sich im Fernsehen ein Poker-Spiel an oder wartet an irgendeinem Flughafen und verfolgt das Geschehen auf einem der Bildschirme, die dort überall herumhängen. Und dennoch: Egal, ob Lee Harvey Oswald in "Libra" oder der Schriftsteller aus "Mao II": Irgendwann verspüren diese Figuren den Drang mitzumischen, ins Zentrum des Geschehens vorzudringen. DeLillo selbst hingegen bleibt am Rand der Gesellschaft, ein Außenseiter, der beobachtet, was geschieht. O-Ton 15 (Greif) I think there has to be a connection between the position of these characters always on the edge or the outside watching and DeLillo's most famous statement about the position of the writer. When asked whether the novel had declined as a cultural force he said something to the effects of: "The writer sits on the margins of society, outside, observes what's happening, and that is the right place for him." Erzähler DeLillo greift nach dem Exemplar seines 2005 veröffentlichten Theaterstücks "Gott der Träume" und schreibt: The desert. Er sagt: DeLillo Bereits an einigen Titeln kann man die auf ein Ende zustrebende Bestimmung erkennen, die aus meinem Werk zweifellos herauslesbar ist: Titel wie "End Zone" oder "Unterwelt" und eben auch "Der Omega-Punkt", der natürlich ebenfalls einen Endpunkt markiert. O-Ton 16 (DeLillo) It is a vision of time tending to reach its end. Something more abstract than destruction, something more abstract than microbs or floods or meteorids. DeLillo Elsters Ideen, sein Nachdenken über geologische Zeit, über Evolution und Auslöschung, sind zunächst von der Wüste inspiriert. Sie münden in eine Meditation über die Arbeit des jesuitischen Priesters und Theologen Teilhard de Chardin, auf den sich auch der Titel meines Romans, "Der Omega-Punkt", bezieht. Zitator Irgendetwas kommt auf uns zu. Aber wollen wir das nicht? Ist das nicht die Last des Bewusstseins? Wir sind völlig ausgespielt. Die Materie möchte ihre Befangenheit verlieren, das Bewusstsein ihrer selbst. Wir wollen die tote Materie sein, die wir früher waren. Wir sind die letzte Milliardstelsekunde in der Evolution der Materie. Müssen wir für immer menschlich bleiben? Das Bewusstsein hat sich erschöpft. Zurück zu inorganischer Materie, na los. Das wollen wir. Wir wollen Steine auf dem Feld sein. DeLillo Es geht Elster um etwas Abstrakteres als eine Zerstörung durch Mikroben, Flutwellen oder Meteoriten. Es geht ihm um die Erschöpfung des menschlichen Bewusstseins, um dessen endgültige Auslöschung in eher mystischer Hinsicht, um die Vision, dass die Zeit selbst an ihr Ende gelangt. Erzähler Als eines Tages Elsters Tochter Jessie im Haus ihres Vaters auftaucht und schließlich spurlos verschwindet, nachdem sie die Beziehung der beiden Männer aus der Balance gebracht hat, werden Elsters Ideen durch die sich anbahnende Gewissheit einer persönlichen Katastrophe herausgefordert und erfahren in ihr auf geradezu ironische Weise eine schicksalhafte Erfüllung. Zitator Licht und Klang, wortlos-monoton, eine Anmutung von Jenseitsleben, Jenseitswelt, die merkwürdige Tatsache, die da draußen atmet und isst: Erzähler In "Der Omega-Punkt" zieht DeLillo den Leser mit langsamer Bewegung in das Dunkel einer am Ende gespenstisch anmutenden Geschichte, der die gleiche Angst vor dem Tod unterliegt, die DeLillo in seinem 1984 erschienenen Roman "Weißes Rauschen" als Grundgeräusch des Lebens identifiziert hat. In "Der Omega-Punkt" dringt er auf beeindruckende Weise zu Gedanken außerhalb unserer Erfahrung vor, zu jenen Momenten, die sich als verstörende Augenblicke des "wahren Lebens" der Beschreibung durch Worte entziehen. O-Ton 17 (DeLillo) The true life takes place when we are barely aware that we are thinking. It is the life, not only below the surface or three-dimensional reality but it is the life that is just below conscious thought. Erzähler Manchmal sieht Don DeLillo sein Gegenüber an, manchmal streift sein Blick das neonhelle Fenster. O-Ton 18 (DeLillo) That's the true life, and it is what we are thinking about when we feel that ther is nothing to think about in those quiet moments, lazy moments, just barely waking moments. Zitator Manchmal kommt Wind auf, vor dem Regen, und schickt Vögel am Fenster vorbei, vorbeisegelnde Vögel des Geistes, die auf der Nacht reiten, seltsamer als Träume. Die Zitate entstammen den folgenden Übersetzungen: Matthias Müller "Americana", Frank Heibert "Der Omega Punkt", "Kosmopolis" und "Unterwelt" 21