COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel, 3.10.2010 "Kultur statt Knüppel" Von Ronny Blaschke Atmo Zugeinfahrt (20 Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Kurz nach zwölf hält der Entlastungszug aus Rostock im Potsdamer Hauptbahnhof, der Arbeitstag von Nico Stroech ist bereits vier Stunden alt. Er hat zugehört und diskutiert, beobachtet und geschlichtet. Nun steht Stroech am Bahnsteig eins und ist umgeben von mehr als tausend Rostocker Fußballfans. Atmo Ankunft (sechs Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Am Ende einer schmalen Rolltreppe stoßen die Fans im Bahnhofsgebäude auf eine dichte Wand aus Polizisten. Kräftige Männer in dunkelblauen Schutzwesten mit Helmen und Schlagstöcken. Einige Beamte tragen Kameras und filmen das Geschehen. Die Polizisten sollen die in blau und weiß gekleideten Anhänger zum Karl-Liebknecht-Stadion begleiten. Dort tritt ihr Lieblingsverein, der FC Hansa Rostock, in der Dritten Liga gegen den SV Babelsberg an. Es ist ein so genanntes Risikospiel. Atmo kurz hochziehen (einige Sekunden stehen lassen, wieder unter Autorentext) Autor Nico Stroech ist aus beruflichen Gründen nach Potsdam gefahren. Seit drei Jahren leitet er das Fanprojekt in Rostock, er hatte sich unter dreißig Bewerbern durchgesetzt. Auf dem Weg zum Stadion fällt der Sport- und Erziehungswissenschaftler in der Masse nicht auf. Der 30-Jährige trägt ein blaues T-Shirt, Jeans und Sportschuhe. Stroech ist ein sportlicher Typ, er möchte Sozialarbeit als Teil des Rostocker Fußballs etablieren. Nicht für den Verein, nicht für die Fußballverbände. Sondern für die Jugendlichen, die den Verein umgeben. Dafür nutzt er die Anziehungskraft des Sports. O-Ton Nico Stroech "Theoretisch könnte es auch jede andere Sportart oder jeder andere kulturelle Hintergrund sein. Das sind halt viele, sehr viele Jugendliche, dich sich fernab jeglicher Jugendhilfe in ihrem sozialen Umfeld bewegen. Das klassische Zitat, was wir immer so hören: ,Na, wer von uns geht denn schon in den Jugendklub?' Da geht's wirklich um Formen der klassischen Jugendhilfe, wo der Fußball und die Vereinsaffinität einfach dazu dienen, sie als Medium eben zu nutzen, um an diese Jugendlichen heran zu kommen." Atmo Fans auf Weg zum Stadion (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext und stehen lassen) Autor Langsam schiebt sich die Masse zum Stadion des SV Babelsberg. Vor ihr, neben ihr, hinter ihr: Polizei. Die Friedrich-List-Straße wird von Schaulustigen gesäumt, als würde eine Herde mit exotischen Tieren durch die Stadt getrieben. Die Fans des FC Hansa Rostock haben einen schlechten Ruf, weil ein kleiner Teil der Szene regelmäßig große Schlagzeilen produziert. Durch Ausschreitungen und verbotene Feuerwerkskörper. Atmo kurz hochziehen Autor Nico Stroech leistet an diesem Nachmittag Beziehungsarbeit, um Vertrauen zu gewinnen. Er vermittelt zwischen Beamten und Fans. Viele Anhänger fühlen sich in Sippenhaft genommen, sie glauben, nur noch drangsaliert und bestraft zu werden. Stroech ist als Diplomat unterwegs, er will Klischees aufbrechen. Er wurde selbst schon in Gewahrsam genommen. In der vergangenen Saison beim Spiel in Düsseldorf. Wenige Hansa-Fans hatten die Partie durch Böller fast zum Abbruch gebracht. Die Stimmung kochte hoch und die Konsequenzen musste dann die breite Masse tragen. Auch der Sozialarbeiter Stroech - er war zur falschen Zeit am falschen Ort. O-Ton 2 Stroech "Und wenn dann so ein behelmter Bereitschaftspolizist angerauscht kommt, der fragt dann nicht mehr, ob du zu den Guten oder zu den Bösen gehörst. Da fliegt der Knüppel durch die Luft, im Idealfall kommt vielleicht noch ein bisschen Pfefferspray hinterher. Und dann liegt man da und hat keine Chance mehr, sich zu erklären. Wir lagen dann kurze Zeit später auf dem Boden, hatten die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und es war im Prinzip nichts zu machen. Dass wir da als institutionelle Vertreter wieder raus kommen." Autor Dieser Nachmittag in Düsseldorf war eine schmerzhafte Lehre für Nico Stroech. Doch sie half ihm. Er konnte sich nun besser in die Lage der Fans hineinversetzen. Und die Anhänger merkten, dass Stroech nicht vor Problemen zurückschreckt. Atmo Hansa-Hymne (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor Anpfiff in Babelsberg. Fast 3000 Rostocker Fans verwandeln die Partie in ein Heimspiel. Der FC Hansa geht früh in Führung. Nico Stroech verpasst das Tor, er wird an diesem Nachmittag keinen Fußball sehen. Er läuft Straßen und Kneipen vor dem Stadion ab. Viele Fans sind aus Rostock angereist, obwohl sie mit einem Stadionverbot belegt worden sind. Sie hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen. Nun müssen sie draußen bleiben, doch auf eine Reise mit ihren Freunden wollten sie nicht verzichten. Atmo Stadion-Atmo (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor Nico Stroech hält zu den Stadionverbotlern Kontakt. Manchmal muss er auf Gewalttäter zugehen, manchmal muss er wie ein Anwalt für sie Partei ergreifen. Doch wer, wenn nicht er als Sozialarbeiter sollte diese Aufgabe übernehmen? O-Ton Stroech "Da geht es dann im Wesentlichen nachher darum, Leuten, die vielleicht seit drei, vier, fünf Jahren nicht mehr im Stadion gewesen sind, denen eine Perspektive zu geben. Ja, also es ist doch nichts schlimmer für einen jungen Menschen als Perspektivlosigkeit, denn der Umkehrschluss wäre: Was soll ihn denn motivieren, sein Verhalten dementsprechend anzupassen beziehungsweise zu ändern, wenn er sagt: ,Es bringt ja eh nichts, ich kann ja eh machen, was ich will'. Atmo Tor (kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor Der FC Hansa geht Anfang der zweiten Halbzeit 2:0 gegen Babelsberg in Führung, der Sieg ist fast sicher. Doch dem Tor folgt für einen Moment Fassungslosigkeit. Atmo Tor und Böller (bei Böller und Ansage des Stadionsprechers kurz hoch ziehen, dann unter Autor) Autor Wieder bringen wenige Fans einen Verein in Bedrängnis. Nico Stroech bekommt davon nichts mit. Er führt vor dem Stadion viele Telefonate. Mit Gelassenheit, Eloquenz, Empathie. Sein Ziel: De- Eskalation. Er hat Erfolg. Am Ende wird es ein verhältnismäßig ruhiger Arbeitstag gewesen sein. Ohne große Schlagzeilen. Atmo Archiv Dresden-Auschreitungen 1991 (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Die Arbeit mit Fans ist vor allem eine Konsequenz aus den Katastrophen der achtziger und frühen neunziger Jahre. Fast wöchentlich war es in den Stadien zu Ausschreitungen gekommen. Im März 1991 randalierten hunderte Dresdner Fans beim Europapokalspiel gegen Roter Stern Belgrad. Wasserwerfer fuhren ins Rudolf-Harbig-Stadion, die Partie musste abgebrochen werden. (Atmo Archiv kurz hochziehen) Autor Daraufhin wurde unter der Führung Nordrhein-Westfalens eine Arbeitsgruppe gebildet. Das Ergebnis war im Dezember 1992 das Nationale Konzept Sport und Sicherheit: das NKSS. In diesem Papier wurden Richtlinien für präventive Fanprojekte festgeschrieben. Der Pädagoge Thomas Schneider hatte am Konzept mitgewirkt, er war einer der wichtigsten Aufbauhelfer für Sozialarbeit mit Fußballfans. Doch lange waren Schneider und seine Kollegen in der Branche nicht ernst genommen worden. Schneider ist inzwischen Fan-Beauftrager der Deutschen Fußball-Liga DFL. O-Ton Thomas Schneider "Also wir waren eigentlich zu gering, um feindselig wahrgenommen zu werden. Wir waren Exoten. Man hat uns für naive Weltverbesserer gehalten. Das trifft es, glaube ich, am besten. Als wir 1983 mal bei einer Manager-Tagung des DFB eingeladen waren, Rudi Assauer, Uli Hoeneß, Günter Netzer. Ich stand neben Günter Netzer am Urinal, ich kriegte keinen Ton mehr raus, also da war eine gewisse Befangenheit auch bei uns mit diesen Fußball-Heroen. Das interessante war, glaube ich, Uli Hoeneß brachte das damals auf den Kernsatz, wir seien alle arbeitlose Sportlehrer und arbeitslose Akademiker, die sich auf Kosten des Fußballs - er sagte nicht ,bereichern', sondern er sagte: ,einen Job verschaffen wollen'." Autor Der DFB und die Bundesligavereine hatten sich lange von den Fanprojekten distanziert. Durch die unsichere Finanzierung herrschte eine hohe Fluktuation unter den Sozialarbeitern. Die Kosten für einen Standort sollten laut dem Nationalen Konzept Sport und Sicherheit auf einer Drittellösung basieren. Die betreffende Kommune, das Bundesland und der DFB sollten sich beteiligen. Die Vereine wurden außen vor gelassen, um die Unabhängigkeit der Fanprojekte zu wahren und die Bedeutung der staatlichen Jugendhilfe zu betonen. Doch erst nach der Weltmeisterschaft 1998 wurde Sozialarbeit von der Branche akzeptiert. Grund war ein trauriges Erweckungserlebnis: Hooligans hatten den französischen Polizisten Daniel Nivel in Lens fast zu Tode geprügelt. Sozialarbeiter leisteten Aufklärungsarbeit, ohne in Hysterie zu verfallen. Atmo Archiv Nivel (Korrespondent und Helmut Kohl) (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Seit 1998 ist das Netzwerk der Fanprojekte in Deutschland schnell gewachsen. Inzwischen existieren 48 Anlaufstellen, vier weitere werden demnächst eröffnet. Kein Land der Welt leistet sich ein solches System. Michael Gabriel kennt die Rahmenbedingungen wie kein anderer. Seit 1996 ist er in der Koordinationsstelle der Fanprojekte in Frankfurt am Main tätig, seit 2006 ist er Leiter dieses Dachverbandes. O-Ton Michael Gabriel "Also trotzdem ist jedes Fanprojekt unterfinanziert. Ganz banal, wenn man schaut, wie viel Geld für Sicherheit auf Seiten der Polizei ausgegeben wird und das ins Verhältnis setzt zu dem, was ausgegeben wird für soziale Arbeit, die langfristig wirkt, die nachhaltig wirkt und nicht nur punktuell an einem Spieltag wirkt, dann ist das natürlich eine riesige Diskrepanz, das ist eigentlich ein gesellschaftlicher Skandal, dass das so ist. Aber auf der anderen Seite kann man es Skandal nennen, aber es wird sich nichts ändern daran. Und auch die Fanprojekte sind ja nur eine Kompensation, weil andere Institutionen versagen, nur deswegen gibt es Fanprojekte." Atmo Jena Diskussion (schon unter vorigen Text, einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor Anfang September fand in Jena die Bundeskonferenz der Fanprojekte statt, mit 110 Teilnehmern. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Finanzierung. Bis heute konnte das Nationale Konzept Sport und Sicherheit nicht in die Tat umgesetzt werden. Lediglich vier der 48 Projekte sind wunschgemäß mit einem Jahresetat von mindestens 150000 Euro ausgestattet. Die große Mehrheit jedoch bewegt sich am Existenzminimum. Schuld daran ist nicht der Fußball: Der DFB und die DFL haben ihr Drittel immer bezahlt. Probleme bereitet die Politik. Die Bundesländer Baden- Württemberg, Schleswig-Holstein, Thüringen und Sachsen haben sich lange gegen die Drittelfinanzierung gestellt, oft scheiterte die Sozialarbeit auch an den Kommunen. Zum Beispiel in Rostock. O-Ton Gabriel "Wir haben ja in Rostock zum Beispiel das Phänomen, dass dort 15 Jahre lang gedacht wurde, man kann auf ein Fanprojekt verzichten. 15 Jahre war die Fanszene quasi sich selbst überlassen und hat sich da in Teilen auch sehr negativ entwickelt. Polizei hat immer mehr Polizisten eingesetzt, immer verschärftere Polizeimaßnahmen, immer sensiblere Polizei-taktiken eingesetzt, aber trotzdem hat sich an dem Phänomen nichts geändert, also sie sind gescheitert, wenn man so will. Und jetzt, wo einem das Wasser bis zum Hals steht, wird ein Fanprojekt eingerichtet, und man glaubt, dass man womöglich damit die Lösung hat, aber das stimmt so nicht. Das Fanprojekt kann Teil einer Lösung sein. Dass die Pädagogen Zugang zu den Jugendlichen finden, der zum Beispiel konterkariert, wie Vereine mit Jugendlichen umgehen in den Kurven: das ist sehr, sehr instrumentell. Da gibt es kein wirkliches Interesse, an dem, was Jugendliche in den Kurven machen, was das für Menschen sind, was sie für Emotionen mitbringen." Atmo Wismarsche Str. (kurz stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Das Fanprojekt Rostock liegt in der Wismarschen Straße, im erweiterten Stadtzentrum. Träger ist die Arbeiterwohlfahrt. Der Jahresetat liegt bei 180000 Euro, er wird jeweils zu einem Drittel getragen von der Stadt Rostock, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem DFB. Das Projekt ist gut erreichbar mit Bus und Bahn, auch zum Stadion ist es nicht weit. Die Entwicklung hinkt den meisten Standorten Deutschlands aber um ein Jahrzehnt hinterher. Mindestens. In Bremen, Hamburg oder Dortmund arbeiten Pädagogen seit mehr als 25 Jahren mit Fußballfans. In Rostock haben sich Kommune und Landesregierung lange um die Finanzierung gestritten. Atmo/Tastatur Autor Nico Stroech ist Gründer und Leiter des Rostocker Fanprojekts, er hat in drei Jahren beachtliche Strukturen geschaffen. Er konnte ein Netzwerk mit Politik und Polizei aufbauen, er hat eine Immobilie gefunden und, was das wichtigste für ihn ist: er knüpfte Kontakte in die Fanszene. Anfangs durch Vier-Augen-Gespräche, so genannte Einzelfallhilfe. O-Ton Stroech "Es ist eben nicht so einfach, eine Einrichtung zu installieren, offene Angebotsformen, wie auch zum Beispiel Öffnungszeiten zur Verfügung zu stellen und dann anzunehmen, dass einem die Bude eingerannt wird, das passiert nicht. Das passiert natürlich nur, wenn man ein konkretes Beziehungsverhältnis zu diesen Leuten hat. Und da gab es jemand, der dann halt den Kontakt zu mir gesucht hat, mich mal so ein bisschen abgecheckt hat. Bin auch im Vorfeld damit konfrontiert worden, wie da so der Hintergrund von demjenigen gewesen ist. Und dann zeichnet sich ein Bild im Kopf, wo man denkt: Oh mein Gott, was kommt denn da jetzt für einer an. Zwei Meter groß, zwei Meter breit, das muss ja ein ordentlicher Packer sein. Und dann kommt da wirklich ein ganz netter, freundlicher, höflicher, junger Mann rein, der sich mit einem ganz nett, freundlich, höflich unterhält. Das war ein ziemliches Aha-Erlebnis. Das war so der erste Fall, der uns als Person und auch gerade als Teilnehmer der Fanszene bis heute treu geblieben ist." Atmo Kickern im Fanprojekt (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Nico Stroech wird im Fanprojekt von zwei pädagogischen Kräften unterstützt, Susanne Binsch und Martin Brochier. Gemeinsam betreuen sie einen großen Stamm an Jugendlichen, ihre Altersspanne: zwischen 13 und Mitte zwanzig. Auf 250 Quadratmetern können sich die Fans in der Wismarschen Straße entfalten. Sie haben die Einrichtung gestaltet, Wände gestrichen oder Möbel bereitgestellt. In den Regalen stapeln sich Fußballbücher, an der Fensterfront stehen zwei Kickertische, daneben eine kleine Bar. Beliebt sind Großbildfernseher und Spielkonsole. Atmo Spielkonsole (kurz hochziehen, dann unter Autor) Autor Das Büro von Nico Stroech liegt im Untergeschoss. Er setzt den Jugendlichen klare Grenzen im Projekt - ohne autoritär zu wirken. Alkohol und Zigaretten sind verboten. Hinter seinem Schreibtisch hängen Pläne und Zeitungsartikel, im Schrank liegen Ordner und Fachliteratur. Über Psychologie, Gruppenverhalten, Justiz. Atmo Seitenrascheln (schon unter vorigen Text, dann kurz allein stehen lassen und unter Autor) Autor Manche Fans leisten im Projekt ihre Sozialstunden ab. Andere haben kaum mehr Kontakt zu ihren Eltern. Einige leiden unter ihren Arbeitgebern. Immer wieder klopfen Fans an die Bürotür von Nico Stroech und wollen über ihre Sorgen sprechen. Stroech will Verständnis schaffen. Weniger Sorgen führen zu weniger Frust. Und ohne Frust entstehen weniger Konflikte. Gewaltprävention im weiteren Sinne. Atmo Hassgesänge Fans (fünf Sekunden stehen lassen, dann unter Text) Autor In keiner deutschen Stadt ist Fußball politisch so aufgeladen wie in Leipzig. Über Jahre haben Rechtsextreme die Fanszene des 1. FC Lokomotive unterwandert. Eine der treibenden Kräfte war der NPD-Mitarbeiter Enrico Böhm. Er hatte beim 1. FC Lok 2005 als ehrenamtlicher Helfer begonnen. Der Verein war nach einer Pleite neu gegründet worden, er benötigte jede Hilfe. O-Ton Enrico Böhm "Ich glaube, ich habe, wenn ich das so sehe, elf Strafsachen, zu denen ich verurteilt worden bin. Hatte Hausdurchsuchungen, wo dann die Polizei halt 5.30 Uhr auf der Matte steht, einen dann leider ohne Kaffee weckt und dann sagt, okay, alles klar, wir räumen jetzt einfach mal deine Schrankwand auseinander. Und demzufolge wuchs das Bundeszentralregister dann relativ schnell." Atmo Stadion (schon unter vorigen Text legen, dann kurz stehen lassen, wieder unter Text) Autorentext Enrico Böhm und seine Mitstreiter der rechten Fangruppe Blue Caps standen im Stadion unter Beobachtung. Sie suchten sich Schlupflöcher. Zum Beispiel im Leipziger Fanprojekt im Stadtteil Stötteritz. In einer ehemaligen Firmenkantine mit vergitterten Fenstern. Am 19. November 2007 rief Böhm im Internetforum des 1. FC Lok zu einem Arbeitseinsatz und einer Spendenaktion auf. Dreißig Fans halfen bei der Sanierung, auch die Blue Caps. Böhm arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Wahlkämpfer für die NPD oder als Ordner auf Demonstrationen von Neonazis. Atmo Nazi-Demo (kurz stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Am 1. Februar 2008 organisierte Böhm im Fanprojekt ein Treffen von 20 Rechtsextremen. Darunter Funktionäre des Leipziger Kreisverbandes der NPD. O-Ton Böhm "Die NPD hatte dazumal einen Raum gesucht gehabt, wo man sich treffen konnte, um über diverse zukünftige Aktionen zu reden und da hatte sich das Fanprojekt angeboten. Es wurde nachgefragt, ob es möglich ist, eventuell den Raum von den Blue Caps zu nutzen für dieses Treffen. Und da stand nichts im Weg, so lange halt die Öffentlichkeit davon keinen Wind bekommt." Autor Noch immer prahlt Böhm auf der Internetseite der Blue Caps ausführlich mit dieser Aktion. Ebenso wie mit dem Verkauf von rechter Literatur im Fanprojekt. Die Stadt Leipzig zahlte für das präventive Projekt im betreffenden Jahr 2008 rund 83000 Euro. Den Rest übernahm der DFB: fast 42000 Euro. Seither wird in Leipzig über das Fanprojekt gestritten. In den Verbänden, in der Politik, im Jugendamt. Der aktuelle Leiter des Projektes wollte sich dazu nicht äußern. Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekt in Frankfurt, kommentiert grundsätzlich. O-Ton Gabriel "Ist ganz klar, dass in der Jugendarbeit insgesamt mit Menschen mit einem verfestigten rechtsextremistischen, neonazistischen Ideologie, dass mit denen nicht mehr pädagogisch gearbeitet wird. Das ist eine politische Frage, die auch politisch zu lösen ist, und die nicht pädagogisch gelöst werden kann. Deswegen müssen auch die Leute in den Fanprojekten die Kompetenz haben zu entscheiden, wo ist es sinnvoll dran zu bleiben und wo ist es sinnvoll Ressourcen zu investieren." Autor 48 Fanprojekte existieren in Deutschland, einige betreiben, wie sie es nennen, Akzeptierende Sozialarbeit. Also Integration statt Ausgrenzung - auch von Jugendlichen mit einem diffusen rechten Weltbild. Die Pädagogen müssen Nähe suchen und zugleich Distanz wahren. Thomas Schneider war Ende der achtziger Jahre Aufbauhelfer der Fanprojekte, in Hamburg hatte er vor 20 Jahren selbst mit Neonazis zusammengearbeitet. Schneider hat in den vergangenen Jahren viele Fortbildungen für junge Pädagogen geleitet, auch in den neuen Bundesländern. O-Ton Schneider "Und dafür ist keiner an der Hochschule ausgebildet worden. Keiner hat von denen eine Nahkampfausbildung. Das sind teilweise extrem gewaltbereite Milieus. Also man darf da nicht naiv sein. Man muss auch immer genau überprüfen, ab wann muss sich Sozialarbeit zurückhalten oder ganz zurückziehen, weil es sozusagen nicht mehr nur ums persönliche Überleben gehen kann. Sozialarbeit sollte sich da niemals in eine Allmachtsfantasie hineinflüchten. Das kann sie schlichtweg nicht." Atmo Gesänge (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor In Leipzig wurden die Grenzen überschritten. Ab dem 1. Juli 2011 wird ein neuer Träger das Projekt verantworten. Vielleicht mit anderen Pädagogen. Doch auch sie werden es nicht leichter haben mit der Frage: Wer sind die Verführten der rechten Szene? Und wer ist ihr Verführer? Atmo Aufbauarbeit (fünf Sekunden stehen, dann unter Autorentext) Autor Die BayArena in Leverkusen, Anfang September. In der Vip-Lounge des Stadions werden letzte Vorbereitungen getroffen. Techniker justieren Scheinwerfer und bauen Stuhl-Reihen auf. Langsam füllt sich der Saal mit Zuschauern. Stefan Thomé steht mit verschränkten Armen am Rand und beobachtet die Kulisse. Seit 14 Jahren leitet er das Fanprojekt in Leverkusen. Thomé ist ein sportlicher Typ mit markanten Gesichtszügen. Vor seinem Studium zum Sozialpädagogen hatte er als Maschinenschlosser gearbeitet. Seit seiner Kindheit ist er Fußballfan, er durfte sein Hobby zum Beruf machen. Doch das Fanprojekt ist für ihn weit mehr als Fußball. Atmo Theater Schreie (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Die Veranstaltung an diesem Abend hat mit Fußball nichts zu tun. Fanprojektarbeit erfordert Flexibilität - so wird Stefan Thomé vorübergehend zum Kulturmanager. O-Ton Thome "Wir haben bei unseren regelmäßigen Angeboten eine Mädchen- und eine Jungenfußballgruppe, die sich regelmäßig zum Kicken in der Halle treffen. Und mit den Mädels wie auch mit den Jungs mache ich schon einmal Sachen, die gar nichts mit Fußball zu tun haben. Und da gehört der Besuch eines Theaterstücks dazu, oder wir gehen mal schwimmen, oder irgendwelche Sachen, die gar nichts mit Fußball zu tun haben. Auf jeden Fall war ich mit den Mädels letztes Jahr im Horizonttheater in Köln und wir haben uns das Stück ,Eiskind' dort angeguckt, Thema: Fresssucht, Bulimie. Ich denke, bei dreißig Prozent Frauen zirka in den Fußballstadien, junge Mädchen kommen immer mehr ins Stadion und himmeln die Spieler an, ist das, glaube ich, ein Problem, das man auch anpacken kann als Fanprojekt. Und da habe ich gedacht: Warum nicht einfach mal ins Stadion holen?" Autor Rund 50 Zuschauer verfolgen die Inszenierung in der BayArena. Es ist die vierte und letzte Veranstaltung, die ersten drei Vorführungen waren ausverkauft. Im Mittelpunkt des Monologstückes steht die junge Schauspielerin Ivana Langmaijer. Sie verkörpert die 18 Jahre alte Kathrin, die vor dem Abitur geplagt wird von Angst und Panikattacken. Kathrin rutscht immer tiefer - bis an den Abgrund zur Magersucht. Atmo Theater (schon unter vorigen Text, einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autor) Autor In den ersten Reihen sitzen vor allem junge Mädchen, Fans von Bayer Leverkusen, sie sind zwischen 13 und 16 Jahre alt. Einige werden von ihren Eltern begleitet, einige von ihren Großeltern. Vielleicht werden die Mädchen öfter auch im Fanprojekt vorbeischauen. Sowie 150 andere Jugendliche aus Leverkusen und Umgebung. Stefan Thomé bemüht sich ständig um eine Erweiterung seiner Zielgruppe. Er ist regelmäßig in Schulen. Er ist ausgebildeter Anti-Gewalt-Trainer, hat Diskussionen zu Rassismus organisiert. Fußball ist für ihn ein Fundament, auf dem sich viele Themen diskutieren lassen. Auch über Bulimie. O-Ton Thome "Erstmal ist die Bereitschaft natürlich auch gerade auch bei den Jungs, wenn die hier ins Stadion kommen für ein Theaterstück, ich glaube, dann ist erstmal das Stadion Thema, super, und so was, dann gucken sie auch schon. Gestern sind welche zum Trainingsplatz gelaufen, weil die Profis da trainiert haben. Und die Mädels natürlich nicht weniger, sind interessiert: Ist der Ballack hier, ist der Rolfes hier, ist der Adler hier? Und dann ist das Theaterstück erstmal zweitrangig. Aber ich merke dann, wenn sie dann hier oben sitzen und wenn sie die Thematik während des Stücks verfolgen, es gibt ja nach jedem Stück eine Diskussionsrunde zu dem Thema, wir haben auch Fachleute eingeladen nach jedem Stück, die dann Rede und Antwort stehen können. Wenn ich sehe, wie gebannt die da zuschauen und auch aufmerksam sind, und auch nachher auch neugierig sind und fragen: dann weiß ich, das hat auf jeden Fall was gebracht." Atmo Hallenfußball (einige Sekunden stehen lassen, dann unter Autorentext) Autor Zurück in Rostock. Eine Sporthalle im Stadtteil Reutershagen. Fans des FC Hansa spielen hier jeden Mittwoch Fußball. Mit dabei ist Nico Stroech, der Leiter des Rostocker Fanprojekts. Er nutzt die Hallenzeiten, um die Jugendlichen besser kennenzulernen und um später besser auf sie eingehen zu können. Sozialarbeit kann mühsam und langwierig sein. Das verkennen Politik und Polizei. Oft sind nach Ausschreitungen von Fans auch die Fanprojekte in der Kritik. Nico Stroech hat dafür wenig Verständnis. O-Ton Stroech "Der Druck ist definitiv da. Der tendiert immer so in die Richtung: ,Na, jetzt haben wir hier ein Fanprojekt und jetzt knallt es ja doch überall, was macht Ihr da eigentlich den ganzen Tag?' Wir sind eine Jugendeinrichtung, die ein präventives Konzept verfolgt, hier geht es nicht um Intervention oder dergleichen, und insofern so gibt es hier oft ein falsches Verständnis von der Arbeit, die wir hier eigentlich leisten. Das schwingt immer so ein bisschen im Unterton mit: ,Na ja, geht doch mal zu euren Fans hin und sagt den doch mal, dass sie das nicht machen sollen.' Ja und so einfach funktioniert das nun mal eben nicht." Atmo Tastaturklappern (schon unter vorigen Autorentext, kurz stehen lassen, dann wieder unter Text) Autor Viele Stunden seines Arbeitsalltages verbringt Nico Stroech vor seinem Computer. Er muss Förderanträge stellen und Konzepte schreiben, er muss Briefe an Institutionen verfassen und Sicherheitsberatungen vereinbaren. Oft ist er unterwegs, auf Fortbildungen, Konferenzen, Symposien. Das klingt nach Routine, doch noch immer befindet er sich in der Anfangsphase. Denn die Szene ist sehr sensibel. O-Ton Stroech "Da gibt es so vieles noch an Vertrauen und an Beziehungen herzustellen und an Verlässlichkeit herzustellen. Das kann man nicht einfach so in drei Jahren mit einem Fingerschnippen. Um auch Missstände auch einfach benennen zu können, öffentlich benennen zu können, da musst du so tief verwurzelt sein, um den Gegenwind, den du dann erfährst, dann einfach auch mal in die Tasche stecken zu können. Bei uns ist es halt immer noch ein zartes Pfänzchen: wenn da Gegenwind kommt, dann kann es ganz schnell einmal passieren, dass man aus seinem Anker gerissen wird. So und wenn man denn mal außen vor ist, dann wird es halt wieder schwer Fuß zu fassen." Atmo Fans im Stadion (schon unter vorigen Autorentext, kurz stehen lassen, dann unter Autor) Autor Der Erfolg des Fußballs wird an Toren gemessen, an einer Meisterschaft oder an einem Aufstieg. Es sind Ereignisse, die mit Bildern verbunden sind. Es sind Ereignisse, über die alle sprechen. Aber wie misst man den Erfolg von Sozialarbeit? Vermutlich daran, dass die breite Masse eben nicht über sie spricht. Weil Sozialarbeit im Hintergrund wirkt, aber trotzdem großen Einfluss hat. Auf die Fankurve - und damit auch auf das Spiel. Atmo Fans im Stadion (unter Abmoderation, bis zum Ende) 1