Deutschlandradio Kultur Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung: Im Zeichen des Umbruchs Brasilianische Litaratur heute Autor : : Margrit Klingler-Clavijo Redaktion: : Barbara Wahlster Sendetermin : 29.09.2013 Besetzung : Zitator : Sprecherin : Sprecher synchr. : Sprecherin synchr. O-Ton/ Musik/ Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Im Zeichen des Umbruchs Brasilianische Literatur heute Redaktion Barbara Wahlster Manuskript Margrit Klingler - Clavijo Tel:069/435901 MUSIKAKZENT GILBERTO GIL I (1) - SIE WOLLTE EINFACH ALLES WISSEN MACHADO DE ASSIS ZITAT ZITATSPRECHER "Capitu war Capitu, sprich eine ganz besonderes Wesen, und sie war schon weit mehr Frau, als ich Mann war. (...) Sie war auch neugieriger als ich. Capitus Neugierde reicht für ein ganzes Kapitel aus. Es war eine vielseitige Neugierde, mal erklärlich, mal unerklär-lich, nützlich wie unnütz, ernsthaft wie oberflächlich: sie wollte einfach alles wissen." SPRECHERIN Capitu, die Kindfrau mit den "Augen einer listigen, hinterhältigen Zigeunerin - so porträtiert Joaquim Machado de Assis die weibliche Hauptfigur seines Romans DOM CASMURRO. Sie tritt nie selbst in Erscheinung, ist jedoch allgegenwärtig in den Erinnerungen ihres früheren Ehemannes. Der griesgrämige Bento ist Mitte fünfzig, vereinsamt und von Zweifeln geplagt. Hat ihn die unwiderstehliche Capitu, in die er sich mit siebzehn verliebte und die er später heiratete, mit seinem besten Freund Escobar betrogen oder nicht? Jahrzehntelang kannte die Literaturkritik nur eine Interpretation: Capitu war die Ehebrecherin, die Betrügerin, die den armen Bento ins Unglück stürzte. Die Schriftstellerin Ana Maria Machado hat sich jedoch eingehender mit den ausgeklügelten Erzähltechniken befasst, mit der Vorliebe des Autors für das Uneindeutige, für Bentos suggestive Art des Erzählens. OW 1) O - Ton: Ana Maria Machado ca. 382 PAR / B "Capitu ist eine der großen weiblichen Hauptfiguren der brasilianischen Literatur.Es wird viel über Capitus Rätsel geredet. Hat sie den Ehemann betrogen oder nicht. Der Erzähler ist der Ehemann, der die Geschichte seines Zweifels erzählt. Und in diesem Zweifel wird vieles nur angedeutet. Er hält sie für schuldig und versucht, den Leser zu überzeugen. Wenn er erzählt, dann klingt das so, als ob Jago von Othello erzählen würde." 1. MUSIK: Naná Vasconcelos: O canto do cisne negro CD CHEGADA Nr.3 SPRECHERIN Joaquim Machado de Assis wurde 1839 in Rio de Janeiro geboren. Seine Mutter war Portugiesin, sein Vater ein Mulatte aus einfachen Verhältnissen. Machado de Assis fing als Korrekturleser in einer Druckerei an, schrieb für diverse Zeitungen und Zeitschriften, war Staatssekretär im Ministerium für Landwirtschaft und Handel. 1896 gehörte er zu den Mitbegründern der ACADEMIA BRASILEIRA DE LETRAS, der brasilianischen Literaturakademie, die nach französischem Vorbild im Stadtzentrum von Rio errichtet wurde. Die intellektuelle Elite Brasiliens orientierte sich an Europa, den literarischen Zirkeln von Paris und Lissabon. In der Literaturakademie gewährt ein kleines Museum Einblick in die Lebenswelt des Gründungsvaters der modernen brasilianischen Literatur. Räume von nüchterner Eleganz, im Schreibzimmer das Wesentliche: Ein Bücherschrank, ein Schreibtisch aus dunklem Holz, Federkiele und Tintenfässer, ein Pince - Nez. Machado de Assis war ein disziplinierter Vielschreiber, der Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, Chroniken und Romane veröffentlichte. Carlos Fuentes, Susan Sonntag, Alberto Manguel und andere Schriftsteller von Weltrang interessierten sich vor allem für seine Romane und Erzählungen. Der nordamerikanische Literaturkritiker Harold Bloom zählt Machado de Assis zu den Einhundert genialen Schriftstellern der Weltliteratur, hält ihn gar " für den größten schwarzen Schriftsteller." Dabei ist Machado de Assis Mulatte und kein Schwarzer. Schwarze warfen ihm vor, er hätte der Karriere zuliebe soziale Themen ausgeklammert und die Sklaverei ignoriert. Das hat der Literaturwissenschaftler Edouardo Assis de Duarte in einer detaillierten Untersuchung von Machados Chroniken und Erzählungen widerlegt. OW - OTON SPRECHERIN 2) O - Ton: Ana Maria Machado/ B 295 "1908 strömten die Massen nach seinem Tod in Rio auf die Straßen und begleiteten seinen Trauerzug. Das Volk schätzte ihn, da er einen Teil seiner Romane in Heften, Frauen- zeitschriften und in einzelnen Kapiteln in Zeitungen herausbrachte. Er wurde gelesen und geliebt und das in einem Land, in dem wenig gelesen wird (...) Er war ein armer Mulatte, Epileptiker und Stotterer." 2. MUSIK: Naná Vasconcelos: Batuque nas águas, CD SINFONIA&BATUQUES SPRECHERIN Es vergingen hundert Jahre, bis mit der Schriftstellerin Nelida Pinon erstmals eine Frau an die Spitze der Literaturakademie kam. Ihre Amtsnachfolgerin Ana María Machado, eine der couragiertesten und erfolgreichsten Roman- und Kinderbuchautorin Brasiliens wurde 2001 mit dem Machado de Assis Literaturpreis ausgezeichnet. In dem Roman A AUDACIA DESSA MULHER/ DER WAGEMUT DIESER FRAU hat sie an Capitus Wissbegier angeknüpft und eine neue Capitu geschaffen, die nach der Trennung von Bento aufblüht und in der Schweiz ein neues Leben anfängt. OW - OTON WEIBLICH 3) O - Ton: Ana Maria Machado/ 392 "Meine Capitu ist eine Frau, die studieren will. Das ist bei Machado angelegt, kommt jedoch nicht zum Tragen. Sie hat ein großes Unabhängigkeitsstreben, bekommt mit wie der Ehemann mit anderen Frauen flirtet und sie links liegen lässt. Ich wollte jedoch keinen historischen, sondern mit DER WAGEMUT DIESER FRAU einen zeitgenössischen Roman schreiben. Der handelt von einer Gruppe, die das XIX. Jahrhundert erforscht, um im Team eine Soap Opera zu schreiben, eine TELENOVELA über Eifersucht, die im XIX. Jahrhundert spielt. Zu dieser Gruppe gehören ein Mann und eine Frau, die Berufe ausüben, die es im XIX. Jahrhundert nicht gab. Sie ist Reisejournalistin und reist immer allein, was im XIX. Jahrhundert für eine Frau nicht üblich war. Er ist Chefkoch in einem großen Restaurant und steht die meiste Zeit in der Küche. Das erlaubt mir, mit Rollenklischees zu spielen. Sie entdecken bei ihren Recherchen das Rezeptbuch eines Mädchens aus dem XIX. Jahrhundert. Es hat viele Randnotizen und erst am Ende wird klar, dass dieses Mädchen Capitu ist (...) 3 MUSIK. Naná Vasconcelos Batuque nas aguas CD SINFONIA&BATUQUES II WEISSE ELEFANTEN SPRECHERIN Im Juni 2013 kam es in ganz Brasilien zu Massenprotesten, die an die 90er Jahre erinnerten, als Millionen Brasilianer auf die Straße gingen und die Amtsenthebung des Präsidenten Fernando Collor de Mello forderten. Angefangen hatten die Proteste in Sao Paulo wegen einer Fahrpreiserhöhung der städtischen Busse. Doch bald ist klar, es geht um mehr, hauptsächlich um ein gut funktionierendes Gesundheits - und Bildungssystem. In vielen Gesprächen taucht eine neue Spezies auf: weiße Elefanten. Damit umschreibt man all die gigantischen Projekte, die Unsummen verschlingen wie der aufwendige Neubau von Fußballstadien. In Rio wurde für das neue Maracana -Stadion trotz monatelanger Proteste das MUSEU DO INDIO, das Indiomuseum geräumt, die Indios wurden gewaltsam vertrieben. Für den indigenen Schriftsteller Daniel Munduruku artikuliert sich in all diesen Protesten OM - OTONSPRECHER 4) O - Ton: Daniel Munduruku/404 A "Der Schrei, der in der Kehle der brasilianischen Jugend steckt. Die hat die Korruption satt, will nicht immer nur Steuern und noch mehr Steuern zahlen, um die Gier der Politiker und Unternehmer zu befriedigen, die Brasilien das nehmen, was allen zustehen sollte." SPRECHERIN Der Romancier Milton Hatoum wurde 1952 in Manaus geboren. Er studierte Architektur und Literatur und beschrieb in Romanen wie ZWEI BRÜDER das Manaus seiner Kindheit und die arabische Einwanderung in Amazonien. Seine Art zu schreiben wurde beeinflusst von den Erzählungen seines aus dem Libanon stammenden Großvaters. Nach Jahren in Spanien, Frankreich und den USA lebt Milton Hatoum in Sao Paulo. In seinen Chroniken für die Tageszeitung O ESTADO DE SAO PAULO erweist er sich als scharfsinniger Kritiker Brasiliens. In seiner im Nachhinein geradezu prophetischen Chronik NEUE STADIEN, ALTES ELEND kommentierte er im Juni 2012 den Abriss des Fußballstadions von Manaus. ZITATSPRECHER Es ist äußerst grausam und zeugt von größter Ignoranz, wenn man das architektonische Erbe Amazoniens zerstört. Was hinter einer solchen Grausamkeit und Unkultur steckt? Gewinnstreben, Geld in Haufen, Gold ohne Förderung, ohne Anstrengung. (...) Der Rechnungshof der Union entdeckte die überhöhten Preise schon beim Abriss des Vivaldo Lima Stadions und in allen Bauphasen des neuen Stadions. (...) Dabei gehört Manaus zu den Städten Brasiliens, deren Infrastruktur schlecht ist. Das gilt besonders für die öffentlichen Dienstleistungen. Im Ostteil der Stadt überwiegen prekäre Wohngegenden, so der Euphemismus für Favelas, und die Gewalt nimmt alarmierende Ausmaße an. Nach der Fußballweltmeisterschaft wird das neue Stadion ein leer stehendes Monument oder eine monumentale Verschwendung sein. Die Rechnung, das heißt. die überzogenen Rechnungen zahlen die Ärmsten. Und die brauchen gut funktionierende öffentliche Dienstleistungen und keine grandiosen Bauten." SPRECHERIN Milton Hatoum, der schon viele literarische Veranstaltungen mit dem charismatischen Sänger Chico Buarque de Holanda bestritt, erinnert sich noch gut, wie sie beide 2009 in Paraty ihre neuesten Romane vorstellten. OM O- TONSPRECHER 5) O -Ton: Milton Hatoum/416 PAR "Unsere Literatur - sein Roman VERGOSSENE MILCH, mein Roman DIE WAISEN DES EL DORADO ähneln sich in bestimmten Punkten. Die Erzähler sind alt und dekadent, es geht um die Liebe und die Unverschämtheit der Eliten. (...) 429 Chico ist ein wunderbarer Mensch. Während der Diktatur verkörperte er die Stimme der Freiheit, er war im Exil (...) Ich war ganz beeindruckt von seinen vielen Fans. Er sagte zu mir, jetzt bin ich fast siebzig, und die Mädchen springen immer noch von den Bäumen (....) Chico Buarque, Musiker aus Bahia wie Caetano Veloso, Gilberto Gil und andere sind politisch Handelnde (...) Chico unterstützte den ehemaligen Präsidenten Lula. Es ist genial, wie diese Musiker Lyrik und Musik miteinander verbinden." 4. MUSIK: CHICO BUARQUE DE HOLANDA O VELHO SAO FRANCISCO SPRECHERIN Für Millionen Fans ist Chico Buarque de Holanda der "Chico" eine Ikone, der Sänger mit den grünen Augen, der Komponist, der mit Liedern wie CALICE/KELCH die Zensur der Militärdiktatur unterlief. Seit Anfang der 1990er Jahre hat Chico Buarque de Holanda mehrere Romane veröffentlicht, darunter das 2003 mit dem Jabuti - Literaturpreis ausgezeichnete Buch BUDAPEST. Sein berühmter Vater, der Soziologe und Literaturwissenschaftler Sérgio Buarque de Holanda, der 1936 mit DIE WURZELN BRASILIENS ein viel zitiertes Standardwerk zu Brasilien vorlegte, unterstützte ihn beim Schreiben. Er las seine ersten Erzählungen und kommentierte sie. Doch dann begeisterte sich der Sohn für Joao Gilberto und Tom Jobim und wurde Musiker. MUSIK hochziehen SPRECHERIN In dem Lied O VELHO FRANCISCO, einer Komposition aus dem Jahr 1987, singt Chico Buarque de Holanda von einem alten Mann namens Francisco. Er liegt im Krankenhaus, sehnt den Sonntagsbesuch seiner Liebsten herbei, hängt Erinnerungen nach, bis es im letzten Vers heißt "Ich erinnere mich an nichts mehr, das Leben kam und nahm mich mit." MUSIK hochziehen und ausklingen lassen. ZITATSPRECHER III WENN ICH HIER RAUSKOMME, HEIRATEN WIR AUF DER FAZENDA, DEM ORT MEINER GLÜCKLICHEN KINDHEIT, DA DRAUSSEN AM FUSS DER BERGE - CHICO BUARQUE DE HOLANDA SPRECHERIN Als Chico Buarque de Holanda sein Lied in der Neuinterpretation von Monica Salmaso hörte, war das für ihn die Initialzündung zu dem Roman VERGOSSENE MILCH. Die Hauptfigur - Eulálio d´Assumpcao - liegt in einem herunter gekommenen Krankenhaus von Rio de Janeiro. Der hundertjährige Aristokrat erzählt seiner Tochter und einer Krankenschwester aus seinem Leben. Dabei überlässt er sich dem chaotischen Fluss seiner Erinnerungen. Was in DOM CASMURRO Capitu für Bento ist, ist Matilde für den greisen Eulálio. Er beschwört immer wieder die leidenschaftliche Liebe zu seiner dunkelhäutigen Ehefrau, die ihn ein paar Monate nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Maria verließ. Wegen eines französischen Waffenexporteurs? Eines schwarzen Tänzers? Einer unheilbaren Krankheit? Der Autor belässt es bei Andeutungen. Eulálio d´Assumpcao tritt stets als Vertreter der weißen Elite Brasiliens in Erscheinung. Die orientiert sich an Frankreich, ist stolz auf Besitz, Stammbaum und einen Namen, der automatisch die Pforten der Macht öffnet. Sklavenhandel, Rassismus, Vetternwirtschaft und Militärdiktatur tangieren sein aristokratisches Bewusstsein nicht. Eulálio d´Assumpcao gehört nicht zu den Menschen, die sich und ihre Weltsicht hinterfragen. Er ist der geborene Schönredner, der ewige Verführer, der nach der Entlassung aus dem Krankenhaus mit der Krankenschwester zusammenleben will. ZITATSPRECHER Aber das Geld der Assumpcaos war immer sauber, das war Geld von Leuten, die Geld nicht nötig haben. Wissen Sie, als mein Vater vom Präsidenten Campos Sales die Konzession für den Hafen von Manaus erhielt, war er ein hoch angesehener Politiker mit altem Familien- vermögen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon erzählt habe, dass mein Urgroßvater von Kaiser Dom Pedro I.. zum Baron gemacht wurde, er zahlte für den Handel mit Arbeitskräften aus Mozambik hohe Abgaben an die Krone. Wenn ich heute Entbehrungen leide, lebe ich bald schon auf großem Fuß, das sind die Wechselfälle im Leben von Menschen, die gewohnt sind, mit großen Summen zu jonglieren. Gestern erst habe ich mit meinen Anwälten gesprochen, endlich soll nun die Entschädigung für die Enteignung meiner Fazenda am Fuß der Berge ausgezahlt werden (...) Ich gestehe, mich hat es etwas melancholisch gestimmt, das alles zu sehen, das verfallene Herrenhaus im Kolonialstil, die Kapelle nur noch ein Gerippe, den verkohlten Stall, den verdorrten Rasen und das unbebaute Ackerland der Fazenda meiner Kindheit. Industriebetriebe hatten sich auf dem ländlichen Gebiet angesiedelt, und ein paar Favelas verschandelten bereits die Umgebung. ZITATSPRECHER IV DIE LIEBESGESCHICHTE FÄNGT MIT GEWALT AN, DER EINE VERSUCHT DEN ANDEREN ZU ÜBERFALLEN BERNARDO CARVALHO SPRECHERIN Die kleine Stadt Paraty - hier steht das Geburtshaus von Julia Mann - hat sich in den letzten zwanzig Jahren vom kleinen Fischerdorf zum viel besuchten Ferienort entwickelt, der mit Meer und weiten Sandstränden lockt, üppig grünen Regen- wäldern und einem alten Stadtkern mit ansprechend restaurierten Kolonialbauten. Seit 2002 findet dort alljährlich Anfang Juli die FLIP statt, das größte internationale Literaturfestival Brasiliens. Paraty wird dann für ein paar Tage zum bunten Jahrmarkt der Musiker, Poeten und Straßenverkäufer. 5. MUSIK: ATMO FLIP/ EIGENE AUFNAHME/ 12/ 13 SPRECHERIN In der TENDA DOS AUTORES, einem Riesenzelt am Ufer des Pereque - Acu- Flusses, das eigens für die FLIP aufgeschlagen wurde, stellen die Autoren ihre neuesten Werke vor. Renommierte Schriftsteller von Weltrang und junge, ambitionierte Brasilianer, die über die FLIP Zugang zum internationalen Buchmarkt finden wollen. ZITATSPRECHER "Im Juli war ich bei der Flip. Schon mal gehört. Das ist so eine Art Buchmesse, in Paraty. Für die Kinderbücher findet gleichzeitig die Miniflip statt. Ich hatte tierisch viel zu tun, aber es hat großen Spaß gemacht. Dante ist mitgekommen, vielleicht wird er nächstes Jahr eingeladen, falls er bis Ende des Jahres sein Buch fertig hat. Noll war da, ein Autor, den ich sehr mag. Und wir haben uns stundenlang mit Verissimo unterhalten. Der hörte gar nicht mehr auf zu reden. Ich dachte immer, er sei so schüchtern, dass er keinen Ton raus bringt." SPRECHERIN schreibt der Romancier Daniel Galera in seinem Roman FLUT über das FLIP. Nach diesem Modell sind mittlerweile über zweihundert Literaturfestivals in ganz Brasilien entstanden. Daniel Galera wurde 1979 in Porto - Alegre geboren und lebt nach Jahren in Sao Paulo wieder in Südbrasilien. Sein Roman FLUT wird derzeit in zwölf Sprachen übersetzt. Er handelt vom Rückzug eines jungen Mannes in eine Kleinstadt am Meer, der Suche nach seinem Großvater und dem Versuch, völlig unambitioniert im Hier und Jetzt zu leben. OM -OTONSPRECHER 6) O - Ton: Daniel Galera/ 14 "Ich wollte in diesem Roman herausfinden, wie eine namenlose Person, ein einfacher Mensch durch einen Unfall oder andere Ereignisse zu einer mythischen Figur wird, zu einer lokalen Legende, wie der Großvater des Protagonisten. Der sucht seinen Großvater, möchte herausfinden, wie er in Garopaba, dieser Kleinstadt am Meer ermordet wurde. (...) Die politischen Umstände interessierten mich herzlich wenig. Ich zeige, wie der Junge, der seinen Großvater sucht, fast den gleichen Prozess durchmacht wie der Großvater, als ob er in der kleinen Stadt die mythische Seite des Großvaters erben würde." SPRECHERIN Auf der Suche nach neuen Formen, die Literatur und Film zusammen zu bringen, entwickelten der Schriftsteller Paulo Cuenca und der Filmproduzent Ricardo Teixeira 2007 das Projekt AMORES EXPRESSOS - AUSDRUCKSFORMEN DER LIEBE. Sechzehn brasilianische Schriftsteller sollten sich vier Wochen lang in sechzehn verschiedenen Städten der Welt aufhalten und über die Liebe schreiben. Die dabei entstandenen Werke sollten allesamt verfilmt werden. Daniel Galera, Luiz Ruffato, Paulo Scott und andere Autoren haben mittlerweile ihre Reise - und Liebesgeschichten herausgebracht, die Filme stehen noch aus. Auf Deutsch sind Paulo Cuencas DAS GLÜCKLICHE ENDE EINER LIEBE IST EIN UNFALL erschienen und Bernardo Carvalhos Roman DREIHUNDERT BRÜCKEN. Der spielt im Sankt Petersburg der Dreihundertjahrfeier, handelt von Müttern, Männerliebe und dem Tschetschenienkrieg und irgendwie auch von Brasilien. OM OTONSPRECHER 7) O - Ton: Bernardo Carvalho/ 195 -200 "Ich wurde kurz nach meiner Ankunft in Sankt Petersburg überfallen. Drei Diebe hatten es auf meinen Computer abgesehen. Es war mein dritter Tag in der Stadt. Ich war ganz allein - ich spreche kein russisch - und ich geriet in Panik. Das prägte meinen Aufenthalt in Sankt Petersburg, diese Panik erschloss mir Russland, machte mich empfänglich für die Verletzlichkeit des Einzelnen. (...) Es gibt zwei Romanfiguren. Einen Deserteur und einen Tschetschenen, der sich illegal in Sankt Petersburg aufhält und seine Mutter sucht. Sie ist Russin und hat ihn als Kind verlassen. Die Liebesgeschichte fängt mit Gewalt an, der eine versucht, den anderen zu überfallen. (...) Was mir in Russland im Vergleich zu Brasilien auffiel, Brasilien ist ja auch ein sehr gewalttätiges Land: (...) In Brasilien verhalten sich die Leute wie unschuldige Kinder, man lebt in der Hoffnung, dass es besser wird. (...) In Brasilien gibt es eine Art Glaube, eine Illusion, dadurch wird das Leben zwar nicht besser, jedoch leichter. (...) Dagegen scheint man in Russland zu wissen, dass es keine Hoffnung gibt. Es gibt keine Unschuld." SPRECHERIN Bernardo Carvalho ist Anfang fünfzig und war in den 90er Jahren Auslandskorrespondent der Tagezeitung FOLHA DE SAO PAULO in Paris und New York. Für Romane wie MONGOLIA, NEUN NÄCHTE oder IN SAO PAULO GEHT DIE SONNE NICHT UNTER wurde er mehrfach ausgezeichnet. Carvalhos Romane sind als rätselhafte Irrfahrten angelegt, die den Leser an den Amazonas, in die Mongolei, nach Sankt Petersburg oder nach Berlin entführen, wo er 2011 DAAD - Stipendiat war. ZITATSPRECHER V ALLES WAS UNS ZU NICHTS FÜHRT UND WAS DU NICHT AUF DEM MARKT VERKAUFEN KANNST, BEISPIELSWEISE DAS GRÜNE HERZ DER VÖGEL DIENT DER DICHTUNG MANOEL DE BARROS 6. MUSIK: EGBERTO GISMONTI: OS CORACOES FUTURISTAS Eigene Aufnahme 056 - 123 ZITATSPRECHER Ich komme aus einem Cuiabá der Goldminen und verwinkelten Gässchen. Mein Vater hatte ein Bananengeschäft in Beco da Marinha. Dort wurde ich geboren. Aufgewachsen bin ich im Pantanal von Corumbá, unter den Tieren der Fazenda, einfachen Leuten, Vögeln, Bäumen und Flüssen. Ich lebe gern an heruntergekommenen Orten, freue mich unter Steinen und Eidechsen zu sein. Ich mache gern aus dem Verachteten etwas Geachtetes. SPRECHERIN So beschreibt sich der Dichter Manoel de Barros, der 1916 in Beco da Marinha geboren wurde, in einem lyrischen Selbstporträt. Sein Geburtsort liegt im Pantanal, einem Feuchtgebiet im Mato Grosso, das zu den großen Wasserspeichern der Welt gehört. Für den Komponisten und Instrumentalmusiker Egberto Gismonti symbolisiert das Pantanal die Verbindung der Gegensätze, wie er sie in seiner Musik anstrebt. OM OTONSPRECHER 9) O - Ton: Egberto Gismonti/249 "Das Pantanal ist ein unterirdischer Wald. Ich habe überall nachgeforscht, doch nirgends entdeckt, was das heißt. Dort, wo unter der Erde die Wurzelspitzen der Bäume auf die von anderen Bäumen treffen, entsteht ein Regenwald, in dem eine Bananenstaude mit einem Rosenstrauch auskommt, einem Mangobaum, einer Ananasstaude. Im Pantanal und am Amazonas treffen all diese Gegensätze in einer unendlichen Weite aufeinander." SPRECHERIN Manoel de Barros kehrte nach über vierzig Jahren in Rio de Janeiro ins Pantanal zurück, nachdem er eine große Fazenda geerbt hatte. Er zählt mit über dreißig Gedichtbänden zu den großen Dichtern der portugiesischen Sprache, beschäftigt sich in seinen Versen mit philosophischen Themen, einfachen Gebrauchsgegen- ständen sowie den vielfältigen Erscheinungsformen der Natur. Dabei gebärdet er sich wie ein ewig staunender Junge, der mit der Sprache spielt, den Worten neue Bedeutungen verleiht und die Natur als Lehrmeister akzeptiert. ZITATOR "Auf der Straße setze ich meinen Körper dem Wind aus. Vögel erkennen mich am Gang." OM OTONSPRECHER 10) O - Ton: Egberto Gismonti/202 "Als ich Manoel traf, begegnete ich etwas viel Größerem als der Literatur. Ich traf einen Mann, der mit jedem einzelnen Wort vertraut ist, jeder einzelnen Silbe, die er benutzt. Der ganz genau weiß, dass der, der dazu beiträgt, dass die Silbe einen Wert hat, nicht er, sondern der Andere ist. Manoel zeigte mir nicht, wie man Musik macht, sondern, dass ich, wenn ich die Noten aufschreibe, dies so gut wie möglich zu tun habe, damit es jemand spielt oder liest. Manoel zeigte mir, wie die Kunst funktioniert, die wir in Brasilien machen. (...) Sie erzwingt nichts über die Form, ist weder deskriptiv noch literarisch oder musikalisch bestimmend. (...) Wir gehen nicht methodisch vor, wir haben keine Phasen ABC oder D in der Lyrik oder der Literatur. Wir dürfen experimentieren und Manoel de Barros ist eine der Lokomotiven, der diese existentielle Freiheit mit trägt, wie vor ihm schon Jorge Amado, Tom Jobim." SPRECHERIN Für Egberto Gismonti ist Manoel de Barros viel mehr als ein langjähriger Freund, von dem er begeistert erzählt. OM OTONSPRECHER 11) O - Ton: Egberto Gismonti/ 375 "Er ist ein Wegweiser, etwas, was mich täglich bewegt. Es geht hier nicht um einen Dichter, den ich mag wie Borges, Rimbaud, Fernando Pessoa. (...) Manoel ist lebensnotwendig. Wenn ich Manoel nicht überall mit mir herumtragen würde, wäre ich innerlich zerrissen." SPRECHERIN Egberto Gismonti hat viele namhafte brasilianische Schriftsteller des XX. Jahrhunderts vertont, auch DIE GRAMMATIK DER ERDE von Manoel de Barros. FEST IM LANDESINNERN nannte Gismonti die rhapsodische Symphonie, die Teil der 1993 erschienenen CD MUSIK DES ÜBERLEBENS ist. Zur Einstimmung rät Egberto Gismonti, das folgende Gedicht von Manoel de Barros zu hören. ZITATSPRECHER AM VORABEND DES REGENS Kein Blatt regt sich am Baum. Windstille. Zu dieser Stunde sucht sogar der Tapir den Schatten. Der Truthahn ließ den Kamm hängen. Ein paar Rinder sind am Waldrand am Wiederkäuen. Ein Hund machte sich seinen Platz in der Nähe der Hütte und legte sich hin. Arichiguana ging zum Schlafen in die Berge. Frösche versammeln sich hinter dem Tontopf. Hühner sperren den Schnabel auf. Ein Wasserhuhn wird auf der Steininsel Siesta halten. Eine Schlange reduzierte das Gift. Küchenschaben verbergen Albinojunge. Und die Stimme gewisser Fische wird blau. Tagsüber ist es glühend heiß. Gegen Abend das schrille Zirpen der Zikaden. Nachts kann keine aufhören. Regen bahnt sich in bauchigen Wolken an. Das hat das Vögelchen, das ruhig auf dem Ast sitzt, schon kapiert. Leuchtkäfer wurden wütend. Falter bedecken die Lampen. Dringen in die Kleidung ein. Prallen benommen gegen Möbelstücke. Schweiß rinnt über das Gesicht. Alle spüren kaum merklich die Präludien des Regens auf der Haut. Ein Mann nahm das Fleisch von der Leine, das dort zum Trocknen hing und sagte auf dem Rückweg: " Auf der bolivianischen Seite ist eine dunkle Wolke. Es wird heute regnen!" Aus der hohlen Acuri Palme dringt fortwährend fetter Froschgesang. Seit gestern tauchen überall Krebsspinnen auf. Sie sehen aus wie aus dem Boden hervor gekrochene Ameisen. Sie schlafen nackt auf den Rosensträuchern. In der Seele der Bäume bereitet sich der Zinnober- schwamm auf die Geburt vor. Alles Lebende schäumt vor Wut. Sogar der Mistkäfer dreht sich um. Ganz in der Nähe hört man das Pfeifen der Affen am Rand der Umfriedung. Termiten ziehen Gerüste hoch. Das Chamäleon trägt Uniform. Der Mann sah nach, ob die Fenster geschlossen waren. Frauen decken Spiegel ab. Unter dem Apfelbaum spürt man die Wut der Säue. Am Vorabend des Regens sind die Säue nicht so brünstig. Ich esse Sand. Ein Wölfchen näherte sich nachts dem Hühnerstall und floh. Blitze deuten auf die Pferde, die im Stehen auf den Ingazeiro - Bäumen schlafen. Sie zeigten auch die kleinen Wölfe. Alles ist auf das kommende Wasser eingestellt. Es gibt ein geheimes Fest in der Seele der Lebewesen. In seinem tiefsten Innern ahnt der Mensch das Aufbrechen. 7. MUSIK: EGBERTO GISMONTI GROUP CD MÚSICA DE SOBREVIVENCIA Nr. 6, Länge: 3.06 MIN ZITATSPRECHER VI EINE RÜCKKEHR AUF DAS LAND IST NUR NOCH IN DER ERINNERUNG MÖGLICH. DAS KLEINE LANDGUT MEINER GROSSMUTTER IN MINAS GERAIS IST BEREITS EINE LEGENDE - ANDREA DEL FUEGO SPRECHERIN Andrea Fátima dos Santos wurde 1975 in Sao Paulo geboren. Als sie anfing, für den Hörfunk zu arbeiten und nebenbei Erzählungen und Kinderbücher zu schreiben, legte sie sich den Künstlernamen Andréa del Fuego zu. In diesem Namen sollte die Erinnerung an die Tänzerin Luz del Fuego mitschwingen, die in den 50er Jahren die brasilianische Tanzkunst revolutionierte. Andréa del Fuego wurde für ihren ersten Roman GESCHWISTER DES WASSERS 2011 mit dem José Saramago - Literaturpreis ausgezeichnet. Der Tod der Großmutter war für die in Sao Paulo lebende Autorin der Anlass, sich intensiv mit ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen. OW OTONSPRECHERIN 12) O - Ton: Andréa del Fuego/ 310 "Meine Großmutter konnte kaum lesen und schreiben. In meiner Familie wurde nicht gelesen. (...) Meine Großmutter war keine Geschichtenerzählerin, hatte aber etwas sehr Mütterliches. Bei Shakespeare heißt es, wenn der König stirbt, stöhnt das ganze Reich. Nach ihrem Tod ging ein großes Raunen durch das Dorf und ihr Reich zerbrach." SPRECHERIN Das klingt nach ländlicher Familiensaga. Andréa del Fuego hat sich jedoch in die Werkstatt der Sprachmagier und Alchemisten begeben und eine Bildwelt geschaffen, in der sie reale Ereignisse ihrer Familiengeschichte aufgreift und zu poetischen Visionen verdichtet. Ihre Großeltern wurden tatsächlich vom Blitz erschlagen. Im Roman sind es die Eltern von Antonio, Julía und Nico. Letzter wird von Geraldo Passos, dem Besitzer der Fazenda Rio Claro adoptiert. Nico ist der Bodenständige, der im Dorf bleibt und eine Familie gründet. Júlia und der zwergwüchsige Antonio landen in einem Waisenhaus, das von französischen Nonnen geleitet wird. Antonio bleibt dort, während Júlia zuerst als Toilettenfrau in einem Busbahnhof arbeitet und hernach als Schneiderin reüssiert. Doch dann gerät die kleine Dorfwelt der Serra Morena aus den Fugen. ZITATSPRECHER Die Kapelle war voll, ein Mann mit klarer Stimme überbrachte die Nachricht. für die Entwicklung der Region würde ein Wasserkraftwerk gebaut werden. Dafür musste Wasser gestaut werden. Der geeigneteste Standort umfasste einen Großteil der Fazendas einschließlich des Tals der Serra Morena. Das Unternehmen würde ihnen die Ländereien abkaufen und den Bau neuer Häuser in der Stadt ermöglichen. Die Zukunft war gekommen. "Wo kommt das Wasser her?" "Wie viel Wasser hat in dem Tal Platz?" "Wird es unsere Häuser überfluten? "Mein Haus verlass ich nicht mal als Toter." 8. MUSIK: NANA VASCONCELOS: BATUQUE NAS AGUAS CD SINFONIA&BATUQUES ZITATSPRECHER VII ES HEISST DIE NEUE BIBLIOTHEK VON BRASILIA SEI OHNE BÜCHER EINGEWEIHT WORDEN - MILTON HATOUM RÄTSELHAFTES BRASILIA Brasilía, es sind genau noch 3232 Tage bis zu unserer Abrechnung du schuldest mir ein Gedicht ich schulde dir einen zärtlichen Blick Am Ufer des Paranoá finde ich ein Stück Holz zwischen einem alten Reifen und einem toten Fisch (ein Reiher ist Zeuge) du erkennst mich nicht ich erkenne dich nicht. SPRECHERIN der Dichter Nicolas Behr über die von Oscar Niemeyer am Reißbrett entworfene Hauptstadt Brasiliens, die Lúcio Costa erbaute. Joao Almino ist über sechzig, Diplomat, Essayist und Romancier. Die neue brasilianische Hauptstadt faszinierte ihn derart, dass er fünf Romane über Brasilía schrieb, ein BRASIIA QUINTETT, wie er lächelnd gesteht. Für den fünften Band CIDADE LIVRE/FREIE STADT wurde er 2011 mit dem Literaturpreis "Passo Fundo Zaffari& Bourbon de Literatura" ausgezeichnet. OM OTONSPRECHER 14) O - Ton: Joao Almino/ FM 456 A "Ich habe ein fiktives Universum geschaffen, dessen Schauplatz Brasilía ist. In jedem Roman gibt es einen Dialog zwischen der Literatur und anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Im ersten Roman kehrt ein Gespenst auf die Erde zurück, um das Drehbuch seines unvollendeten Films fertig zu stellen. Im zweiten Roman geht es um die Beziehung zwischen Literatur, Internet und neuen Medien. Der vierte Roman steht im Zeichen der Fotografie. Die Erzählung geht von den 62 Fotos eines erblindeten Fotografen aus. Im fünften Roman erkunde ich die Beziehung zwischen Literatur und Blog. Ich wollte bei all diesen Experimenten die Bedeutung der Literatur hervorheben und aufzeigen, dass sie sich andere Ausdrucksformen aneignen kann. Brasilía dient mir als Metapher der heutigen Welt, der Krisen der heutigen Welt, der Krisen der Moderne." SPRECHERIN In Alminos Romanwelt wird Brasilía zum Symbol des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts, zur Metropole der Migranten, die weder Alteingesessene noch etablierte Traditionen kennt. ZITAT "Die Gräfin war nur eine von den vielen Ausländern, deren Namen ich vergaß, arabische, jüdische, portugiesische, spanische, italienische, deutsche, belgische, französische, russische, griechische und polnische Namen. Wie Papa früher sagte, wenn er eine ausländische Zeitung las: egal, woher sie kommen, ob Brasilianer oder Ausländer. Wer immer auch kommt, wird an der Begeisterung teilhaben, mit der man in dieser Stadt lebt und sich plötzlich bewusst werden, dass hier etwas Grandioses geschieht." SPRECHERIN Anlässlich des 5O. Jahrestages der Stadtgründung von Brasilía führte der Berimbau - Virtuose und Perkussionist Naná Vasconcelos am 21. April 2010 in Brasilía die von ihm komponierte Symphonie LINGUA MAE/ MUTTERSPRACHE auf. Kinder aus Brasilien, Portugal und Angola bildeten einen Chor und verbanden über den Gesang drei Kontinente miteinander. 9. MUSIK: NANÁ VASCONCELOS: LINGUA MAE DVD LINGUA MAE ZITATOR VIII ES PASSIERT ETWAS SEHR FALSCHES UND HÄSSLICHES, ABER ICH KANN NICHT DEFINIEREN, WAS ES IST BERNARDO KUCINSKI SPRECHERIN 1964 übernahmen die Militärs für die nächsten 21 Jahre die Macht. Der Architekt Oscar Niemeyer, Gilberto Gil, Caetano Veloso und andere Ikonen der brasilianischen Volksmusik, sowie Schriftsteller und Intellektuelle gingen daraufhin ins Exil nach Lateinamerika und Europa. Als 1968 per Dekret die Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden, studierte Milton Hatoum Architektur in Brasilía. Über die bewegten Studienjahre in Brasilía schreibt er seit längerer Zeit an einem Roman.Arbeitstitel: DER FINSTERSTE ORT DER WELT. 15) O - Ton: Milton Hatoum/ FM 2012 /70 "Es ist ein Roman der Desillusionierung im Geiste Flauberts. Das heutige Brasilien ist ganz anders, als das jener Jahre. Unser Traum wurde 1964 durch den Putsch jäh und brutal unterbrochen. In den 50er Jahren gab es einen kurzen Demokratisierungsprozess. Wir waren euphorisch angesichts des Wirtschaftswachstums, den Plänen des damaligen Präsidenten Jucelino Kubitschek, dem Bau von Brasilía, der die Verwirklichung der Utopie verhieß und unseren Traum vorwegzunehmen schien. (...) SPRECHERIN Regimegegner wurden willkürlich verhaftet, gefoltert, viele verschwanden spurlos. Die Täter wurden nie vor Gericht gestellt, sondern 1979 per Gesetz amnestiert. 2012 berief die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff eine COMISSAO DA VERDADE, eine Wahrheitskommission ein, um die systematischen Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Dilma Rousseff war Anfang der 70er Jahre ins Gefängnis gesteckt und gefoltert worden, weil sie einer Untergrundorganisation angehörte. Die Filmemacherin Lúcia Murat, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, erklärte am 28. Mai 2013 vor der Wahrheitskommission in Rio: ZITAT "Es ging nicht nur darum, die zu vernichten, die sich mit der Waffe in der Hand verteidigten, sondern alles zu vernichten, alles, was von ihrer Sicht abwich." SPRECHERIN Bernardo Kucinski, ein geistig hellwacher Mitsiebziger, ist in einer polnischen Einwanderer - familie in Sao Paulo aufgewachsen. Er studierte Physik, war danach als Journalist für verschiedene Printmedien tätig, unter anderem für den englischen GUARDIAN und die brasilianische VEJA. In der ersten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio da Silva war er einer seiner Kommunikationsberater, distanzierte sich jedoch zunehmend von der PT, der Arbeiterpartei, in der er sich seit ihrer Gründung engagiert hatte. Er war bis 2012 Professor für Journalismus an der Universität von Sao Paulo. In dem Roman K. ODER DIE VERSCHWUNDENE TOCHTER erzählt Bernardo Kucinski nüchtern und präzis die Geschichte seiner Familie, die vom Holocaust und der Militärdiktatur geprägt wurde. K. ist ein bekannter jiddischer Schriftsteller, der seine Tochter Ana Rosa Kucinski Silva sucht. Sie war Assistenzprofessorin an der Universität von Sao Paulo, bis sie 1974 spurlos verschwand. Bernardo Kucinski war nach England ins Exil gegangen, nachdem er 1970 für die Wochenzeitschrift VEJA eine Titelgeschichte über die Folter verfasst hatte. 16) O - Ton: Kucinski: A 440 " Als meine Schwester verschwand, kehrte ich nach Brasilien zurück und suchte sie überall. Auch in den USA, wo ich das AMERICAN JEWISH COMMITTEE aufsuchte. Meine Schwester gehörte zur ALN, zur Nationalen Befreiungsaktion, das war seinerzeit die wichtigste Gruppe, die die Diktatur bekämpfte. Sie und ihr Mann." SPRECHERIN Im Roman sucht der verzweifelte Vater nach seiner verschwundenen Tochter. Dabei erinnert er sich an seine eigene Jugend als Widerstandskämpfer im Polen der 1930er Jahre und fragt sich, warum er von den politischen Aktivitäten seiner Tochter nichts mitbekommen hatte. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie in der Familie nie über den Holocaust sprachen, über die Angehörigen der Mutter, die allesamt im KZ umgekommen waren. Die Suche nach der Tochter gleicht einem Abstieg ins Schattenreich der brasilianischen Gesellschaft K. erfährt im Gefängnis von politischen Gefangenen, dass seine Tochter tot ist. 10. MUSIK: Gilberto Gil: Cerebro eletronico CD GILUMINOSO ZITATOR IX ICH WEISS, DAS GEHEIMNIS LEBT JENSEITS DES WASSERS WEITER CONCEICAO EVARISTO ZITAT "Doch du warst nicht banal; du warst Gott, der mir eines sonntags nachmittags beibrachte, wie man glücklich ist. Schwarz, schlacksig und hoch gewachsen schienst du die Welt nicht wahrzunehmen, die dich anhimmelte. Du schautest nicht einmal zum Tor, nähertest dich ihm einfach mit großen und gleichmäßigen, kraft sparenden Schritten. Ein Gepard, der die kurze Entfernung abschätzt, die ihn von seinem Opfer trennt. Im Jubel über deine beiden Tore sprang ich auf, ohne mich darum zu kümmern, was geschähe, wenn ich hinfiele. Du ranntest mit offenen Armen in meine Richtung." SPRECHERIN So begeistert sich ein Junge für sein Fußballidol in Rogério Pereiras Erzählung DER SCHWARZE SOHN GOTTES. Sie ist eine der sechzehn Erzählungen, die der Romancier Luiz Ruffato für eine gleichnamige Anthologie mit Fußballgeschichten auswählte. Sie bestechen durch die Vielfalt der Perspektiven, die auch das soziale Umfeld des Fußballs mit einbezieht, die Vater - Sohn - Beziehungen, die im Fußballstadion und vor dem Fernsehbildschirm aufblühen. Nur Tatiana Salem Levy schildert eine tragische Fehlbegegnung zwischen Vater und Sohn 11. MUSIK: Mitschnitt Brasilien kurz nach dem Sieg beim Confederations Cup 17) O-Ton: Luis Ruffato/ A 173 "Beim Endspiel des CONFEDERATION CUP Brasilien- Spanien im Maracana- Fußballstadion sah man im Fernsehen, dass die brasilianischen Fans alle reich und weiß waren, keiner war arm und schwarz. Die Spieler waren allesamt Mulatten und Schwarze. Für mich ist das die perfekte Metapher Brasiliens: Schwarze und Mulatten schwitzen sich das Trikot durch, um den weißen Zuschauern, die auf den Tribünen sitzen, ein Spektakel zu bieten. Das ist für mich die Kurzfassung der brasilianischen Geschichte. (...) ZITATOR CONCEICAO EVARISTO - MAN MUSS SICH ERINNERN Das Meer treibt wellenförmig über meinen Gedanken. Die ungestüme Erinnerung übernimmt das Ruder: Man muss sich erinnern. Das Hin und Her in den Wasser - Erinnerungen meiner tränenerfüllten Augen ergießt mir das Leben, versalzt mir Gesicht und Geschmack. Ich bin eine ewige Schiffsbrüchige. Aber die tiefen Meere erschrecken mich weder noch lähmen sie mich. Eine tief empfundene Leidenschaft ist die Boje die mich hochzieht. Ich weiß, das Geheimnis lebt jenseits der Wasser weiter. SPRECHERIN Conceicao Evaristo zählt neben Cuti, Miriam Alves und anderen zu den schwarzen Autoren Brasiliens, die den Kanon westlicher Erzähltraditionen sprengen. Sie berufen sich auf Afrika und die Geschichte der Sklaverei und denunzieren die Ausgrenzung von Schwarzen. SPRECHERIN Die Mehrheit wohnt in Favelas, ist schlecht ausgebildet, wird bei der Arbeitssuche wegen der Hautfarbe oder Haartracht diskriminiert. In den Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft und Kultur sind Schwarze die rühmliche Ausnahme: Joaquim Barbosa, der Präsident des Obersten Gerichthofs von Brasilia; der Schriftsteller Paulo Lins, dessen Roman DIE STADT GOTTES in der Verfilmung von Fernando Mereilles ein Internationaler Kinohit wurde. Gilberto Gil, der weltberühmte Sänger und Komponist, der von 2003 bis 2008 Brasiliens erster schwarzer Kultusminister war. Ana Maria Goncalves, deren Roman UM DEFEITO DE COR/DER MAKEL DER FARBE zu den zehn besten Romanen der letzten Dekade zählt. Ana Maria Goncalves wurde 1970 in Sao Paulo geboren und hatte dort bis zur Jahrtausendwende ihre eine eigene Werbeagentur. Bei Recherchen zur Musik der Karibik fielen ihr Jorge Amados Chroniken über die Straßen und Geheimnisse von Salvador da Bahia in einer Buchhandlung von Sao Paulo buchstäblich vor die Füße. 18) O - Ton: Ana Maria Goncalves /52/58/ 1.30 Min. "Im Vorwort dieses Buches hieß es: "Mädchen, komm nach Bahia, ich werde Dein Reiseführer sein, ich werde Dir die schönen und hässlichen Seiten der Stadt zeigen." Ich las weiter und da hieß es, ich suche einen Historiker, der die Geschichte der Malé erforscht, die in Bahia ein Kalifat errichten wollten. Muslimische Sklaven, die von der haitianischen Revolution inspiriert wurden. Sie kämpften für einen unabhängigen muslimischen Staat in Bahia. Alle Weißen würden getötet oder ausgewiesen und Schwarze kämen an die Macht. Davon hatte ich noch nie gehört. In den Schulen erfährt man mehr über die Kriege auf dem Peloponnes und andere Ereignisse, die wenig mit uns zu tun haben. Ich wollte mehr darüber wissen, bin nach Bahia gefahren, kam am 1. Februar an. Am 2. Februar ist das Fest von Jemanjá, der Göttin des Meeres. Ich war den ganzen Tag am Strand und spürte, dass ich hier richtig war." 12. MUSIK: Virginia Rodrigues: Canto de Iemanjá CD Virginia Rodrigues: Mares Profundos 19) O - Ton: Ana Maria Goncalves/ 3.51 "Ich kehrte nach Sao Paulo zurück, verabschiedete mich von meinem früheren Leben und fuhr wieder nach Bahia, weil ich über die Malé schreiben wollte." SPRECHERIN Im Lauf ihrer Recherchen stieß Ana Maria Goncalves auf viele Dokumente aus der Zeit der Sklaverei. Sie war beeindruckt von einer Materialfülle, die ihr eine völlig andere Sicht auf die brasilianische Geschichte eröffnete. So entstand allmählich ein ca. 950 Seiten umfassender Roman über die Geschichte der Sklaverei im transatlantischen Hin und Her zwischen Westafrika und Brasilien. Die Hauptfigur ist Kehindé. Sie kommt aus Westafrika und wurde im XIX. Jahrhundert als Sklavin nach Brasilien verkauft. Sie kann sich in Brasilien freikaufen und wird auf den Namen Luisa getauft. 20) O - Ton: Ana Maria Goncalves 10.10 Min. Kehindé geht eigentlich auf Luiza Mahin zurück, der Anführerin des Malé Aufstands. Ich war baff, als ich bei meinen Recherchen auf eine Frau stieß, die im XIX. Jahrhundert in einer muslimischen Gemeinde die Anführerin der aufständischen Malé war. (...) SPRECHERIN Seit den 1980er Jahren melden sich gut ausgebildete Vertreter der indigenen Völker mit Gedichten, Romanen und Kinderbüchern zu Wort. Einer der erfolgreichsten Autoren ist Daniel Munduruku vom Volk der Munduruku, das am Rio Tapajós, einem Seitenarm des Amazonas beheimatet ist. 2014 soll dort ein Wasserkraftwerk errichtet werden. Das missfällt den Munduruku und wahrscheinlich wird es wie jetzt schon in Belo Monte zu massivem Protest kommen. Daniel Munduruku wurde 1961 in Belém do Pará geboren. Er studierte in Sao Paulo Anthropologie und promovierte in Erziehungswissenschaften. Ein Drittel der brasilianischen Indios lebt mittlerweile in der Stadt. Allein im Bundesstaat Sao Paulo und der gleichnamigen Hauptstadt leben 35.000 Indios. 21) O - Ton: Daniel Munduruku/ 674 A "Ich mag Sao Paulo, obwohl ich nicht dort wohne. Als ich vor ca. fünfundzwanzig Jahren nach Sao Paulo kam, wusste ich nicht, wo mein Platz war. Sao Paulo ist riesengroß und unpersönlich, ich kam mir völlig verloren vor. Ich geriet in eine fürchterliche Krise, überlegte, ob ich zurückgehen sollte. Doch ein Munduruku gibt nicht so schnell auf, er ist ein Krieger. Ich suchte also tapfer nach meinem Platz in Sao Paulo und wurde fündig. Ich verhielt mich wie ein Entdecker und fand Stadtviertel mit indigenen Namen. Ich habe darüber auch ein paar Chroniken geschrieben. Jabaquara war früher ein großes Quilombo, eine Fluchtburg entlaufener Sklaven. Heute befinden sich dort viele Kultstätten des Candomblé und der Umbanda, wahrscheinlich wegen des afrikanischen Einflusses. Ich fühlte mich fast schon heimisch in diesem Viertel. Ich bin oft in dieser Gegend herumgestreift, habe das Weinen und die Wehklagen der afrikanischen Brüder gespürt; mir ihr Leid vorgestellt. (...) SPRECHERIN Daniel Munduruku wurde für seine 43 Kinderbücher mehrfach ausgezeichnet, auch mit dem Preis der ACADEMIA BRASILEIRA DE LETRAS, die unter der Präsidentschaft von Nelida Pinon und Ana Maria Machado die kulturelle Vielfalt Brasiliens ins Blickfeld rückte, die Vielzahl der "Brasis", die man nicht wahrnahm, als man noch wie zu Machados Zeiten hauptsächlich nach Europa blickte. Ana Maria Machado hat in ihrem letzten Roman INFAMIA/VERLEUMDUNG die Machtfrage gestellt und die tödlichen Folgen von Missachtung und Verleumdung aufgezeigt. 23) O-Ton: Ana Maria Machado/58 Paris "Ich versuche in dem Roman, die Fragilität der Wahrheit zu erkunden, die Presse, die nicht mehr gründlich recherchiert, das ist die öffentliche Seite. (...) Und auf der persönlichen Ebene, das Machtverhältnis in einer Beziehung, der Ehemann, der seine Frau für verrückt erklärt, damit er bei der Scheidung an ihr Geld kommt (...) Verleumdung, Niedertracht und Lüge können das Leben eines Menschen zerstören. (...) Nach einer öffentlichen Verleumdung ist man nicht mehr dieselbe Person, selbst wenn die Wahrheit ans Licht kommt." (...) 1