COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft vom 1.7.2010 Va Banque Zur Theorie und Praxis des Glücksspiels Von Matthias Eckoldt Sprecher Sprecherin Zitator Im O-Ton: * Michal Kohtes, Essayist * Alexander Weiss, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weierstrass-Institut für angewandte Analysis und Stochastik, das zum Berliner Forschungsverbund Matheon gehört. Regie: Musikakzent Zitator: Als der junge Schiller im Gasthaus zum Goldenen Ochsen wieder einmal über jede Vernunft hinaus sein Spielglück versucht hatte, soll er der entsetzten Serviertochter, deren Anmut sich proportional zu seinem Übermut verhielt, die denkwürdigen Worte ins Öhrchen geflüstert haben: Der Mensch ist nur da ganz Spieler, wo er sich verschenkt! Sprecherin: Diese Anekdote erzählt der Essayist Michael Kohtes in seinem Buch über Glücksspieler und Spielerglück. Der Wirtshausflirt scheint Schiller zur Überbietung seines überlieferten Diktums über das Glücksspiel ermuntert zu haben. Dieses nämlich lautet: Zitator: Der Mensch ist nur dort wirklich Mensch, wo er spielt. Sprecher: Wenn der Mensch nur als Spieler wirklich Mensch ist, sich der Spieler aber gerade dadurch auszeichnet, dass er sich zu verschenken bereit ist, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Der Mensch bewegt sich erst auf der Höhe seiner Möglichkeiten, wenn er in der Lage ist, seine eigene Existenz zu riskieren. Sprecherin: Diese Interpretation des leidenschaftlich spielenden Schillers könnte auch als Leitspruch der Hasardeure taugen, jener Menschen, die das Pech im Leben weit weniger fürchten als sie das Glück im Spiel ersehnen, denen die Geordnetheit der bürgerlichen Existenz zu wenige Reize bieten kann und die sich eher in direkter Nähe zum Abgrund wohl fühlen. (1)O-Ton(Kohtes): Der Spieler überschreitet die Grenze zum Unvernünftigen, indem er sich selbst riskiert - und das tut der leidenschaftliche Spiele - er riskiert tatsächlich sich selbst am Roulettetisch, ist er natürlich ein Außenseiter, der vom Leben mehr erwartet als ein Butterbrot. Sprecherin: Michael Kohtes (2)O-Ton(Kohtes): Der Spieler unterwirft sich nicht so diesem Lebensvermeidungsdiktat. Der Spieler ist kein sparsamer, kein sich zurücknehmender, kein sich disziplinierender Mensch. Er scheut die Verantwortung, er übernimmt ungern Aufgaben, er bindet sich auch selten an Heim und Herd. Der Spieler ist ein an den Augenblick gebundener Mensch, der sich dem Auf und Ab des Daseins ausliefert. Der Spieler ist letztlich ein Abenteurer, ein Mensch, der das Leben schmecken will und weniger es meistern will. (1'/2,30') Sprecher: Dabei fängt alles so harmlos an. Kinder erkunden ihre Umwelt und sich selbst vorwiegend spielerisch. Bereits mit den ersten Bauklötzen beginnen sie ein Spiel, das Reaktionsvermögen und Körperbeherrschung schult. Die kleinen Hände greifen nach den Objekten, und das Gehirn begreift nach und nach die Welt. Sprecherin: Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget untersuchte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Gegenstandswahrnehmung beim Kleinkind und stellte dabei fest, dass die ersten anderthalb Jahre des Lebens mit der Erlangung einer sogenannten sensomotorischen Kompetenz verstreichen. Alles Greifbare wird in nimmermüdem Spiel betastet, fortgeschoben, umgestoßen, erneut gegriffen. Am Ende dieses Prozesses steht dann die Möglichkeit, in einer kompetenten Weise mit den greifbaren Dingen dieser Welt umzugehen. Sprecher: Kinder im Alter von etwa drei Jahren haben nach Piaget durch spielerische Aneignung eine Vorstellung von Gegenständen bekommen, als etwas, das der eigenen Bewegung ent-gegen-steht. Aus dem Zusammenwirken von Sensorik und Motorik - von Fühlen, Tasten und Bewegen - erzeugt das Hirn des Kindes die Gegen-standswelt. Sprecher: Das Leben beginnt als Spiel, deswegen sagen die Erziehungsberechtigten auch nur zu gern und meist zu oft, dass irgendwann der Ernst des Lebens beginnt. Die Beendigung der Schul- oder Berufsausbildung ist ein beliebter Zeitpunkt für derlei pathetische Aussprüche. Sprecherin: Doch die Faszination am Spiel begleitet den Menschen lebenslang. Noch den Beflissendsten, den Vernünftigsten, den Ehrgeizigsten. Die Begeisterungsfähigkeit für "König Fußball" spricht hier ebenso Bände wie die Absatzzahlen für Computerspiele oder das sprunghaft wachsende Interesse am Pokern. Regie: Roulettekugel rollt. Sprecher: Die Königin der Glücksspiele ist jedoch ganz sicher das Roulettespiel. (3)O-Ton(Kohtes): Das Roulette ist das klassische Glücksspiel, und ich finde das Roulette, das übrigens zu den großen Glücksspielen gehört - ähnlich wie Baccara oder Poker - ist das Spiel das den Zufall am reinsten abbildet. Es ist das Spiel, das am transparentesten ist. Die Entscheidungen des Zufalls sind jeden Augenblicks evident. Und man hat beim Roulette - anders al bei anderen Glücksspielen - nicht nur eine, sondern immer mehrere Gewinnchancen. Insofern hat mich das Roulette in besonderer Weise interessiert und fasziniert. Wenn Sie in ein Spielcasino gehen, gehen Sie dorthin, um Roulette zu spielen, nicht so sehr um die Automaten zu füttern oder eine Pokerrunde zu spielen. Regie: Roulettekugel rollt. (4)O-Ton(Kohtes):Das Casino ist immer beides: Es ist großes Theater, das aber auch die Kathedrale, in der eine ganz besondere Stimmung herrscht. Und das sucht der Spieler, der leidenschaftliche Spieler nicht zuletzt. Die Maus klicken, ins Internet gehen und Online-Poker spielen, das kann ja jeder. Aber zum klassischen Glücksspiel gehört doch auch immer ein wenig das Parkett und die große weite Welt der Schönen und meinetwegen auch der Schnöden. (1,25/6') Regie: Musikakzent Sprecherin: Das Roulette verkörpert das Glücksspiel in Reinkultur, denn wer sich auf den Kampf mit der Kugel, die der Croupier in den Zylinder wirft, einlässt, sieht sich tatsächlich dem blindwütigen Zufall gegenüber. Es gibt beim Roulette - anders als bei Fußball, Schach oder Golf - keine Fertigkeiten, die man ausbilden könnte, um den Ausgang des Spiels für sich günstiger zu gestalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zahl kommt, liegt bei den Zahlen 0 bis sechsunddreißig bei rechnerisch präzisen eins zu siebenunddreißig. Sprecher: Wesentlich höher sind die Gewinnaussichten bei den sogenannten einfachen Chancen. Zitator: Rouge et Noir. Sprecher: Rot und schwarz. Zitator: Pair et Impair . Sprecher: Gerade beziehungsweise ungerade. Sowie: Zitator: Manque et Passe. Sprecher: Hier wettet man auf die Zahlen eins bis 18 oder 19 bis sechsunddreißig. Sprecherin: Setzt man seine Jetons auf eins dieser Felder, bekommt man im Erfolgsfall noch einmal soviel ausgezahlt, wie man eingesetzt hatte. Anderenfalls schiebt der Croupier die Plastikmünzen zusammen und ordnet sie dem Gewinn der Bank zu. Sprecher: Für das Roulette wie für die Börse gilt jener bestechende Apercu: Man kann tausend Prozent gewinnen, aber nur hundert Prozent verlieren. Sprecherin: Auf lange Sicht jedoch, kann nur eine gewinnen - die Bank. (5)O-Ton(Weiss): Beim Roulette ist es so, dass Sie auf verschiedene Dinge setzen können - auf eine bestimmte Zahl, auf eine bestimmte Farbe. Sprecher: Alexander Weiss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Weierstrass-Institut für angewandte Analysis und Stochastik, das zum Berliner Forschungsverbund Matheon gehört. (6)O-Ton(Weiss): Und falls dann diese Farbe oder diese Zahl kommt, dann kriegen Sie im Fall einer einzelnen Zahl das Sechsunddreißigfache zurück. Im Fall einer Farbe das Doppelte. Und Sie sehen schon, es gibt genauso viele rote wie schwarze Felder. Sprich, wenn wir jetzt mal die Null ausklammern, die keine Farbe hat, dann wäre Ihre Chance genau fünnfzig Prozent. In der Hälfte aller Fälle würden Sie gewinnen und das Doppelte zurückkriegen. Das heißt, im Mittel würden Sie bei Null rauskommen. Durch die Null stehen Ihre Chancen etwas schlechter als fünfzig Prozent. Und genau das ist auf lange Sicht der Gewinn der Bank. (45''/8,30') Sprecherin: Dieser auf den ersten Blick minimale Vorteil wächst sich zu enormen Summen aus, da die Bank gegenüber den Spielern einen weiteren großen Vorteil hat: Sie ist immer da, wenn die Spielbank geöffnet hat und kann somit auf lange Sicht ihre Gewinne sichern. Sprecher: In Deutschland sind das pro Jahr stolze 25 Milliarden Euro, die sich die Spieler ihr Laster kosten lassen. Nebenbei bemerkt gewinnt nicht nur die Bank, sondern auch der Finanzminister, bei dem rund viereinhalb Milliarden Euro hängen bleiben. Sprecherin: Die Zeichen beim Glücksspiel stehen also auf Verlust. Jeder weiß das und trotzdem müssen sich die Spielcasinos - Finanzkrise hin, Privatinsolvenzen her - nicht über Mangel an Zulauf beklagen. (7)O-Ton(Kohtes): Der leidenschaftliche Spieler weiß natürlich, dass seine Gewinne Pyrrhussiege sind. Er kann seiner Leidenschaft nicht widerstehen. Er spielt so lange, wie er finanziell spielen kann. Das heißt, solange er gewinnt, wird er immer wieder und weiter spielen. Und Gewinne, die schieben die Leidenschaft auf. Das heißt, für den Spieler, der wirklich um sein Glück spielt, gibt es eigentlich nur eine Art tatsächlich den ganz großen Coup zu landen. Und der heißt: Bakrottieren. Nur wer verliert, wer wirklich das totale Fiasko erlebt, der wird von seiner Leidenschaft, von diesem Dämon, spielen zu müssen, erlöst. Es gibt natürlich auch Va-Banque-Spieler, die ihre Einsätze so steigern, und mit solch schwindelerregenden Summen spielen, dass sie sich selbst entfremden und nur noch die Gier verkörpern. Für diese Spieler ist dann der Totalverlust auch ein kathartischer Augenblick. Das heißt, der Ruin, die Pleite, wird in dem Fall auch zu einem großen Befreiungsschlag. Und dieser Befreiungsschlag kann dann durchaus auch wieder eine sehr intensive und übrigens auch rauschhafte Erfahrung sein, wenn auch nur für Augenblicke. (1,30'/11') Regie: Musikakzent Sprecher: Für den Spieler gibt es eigentlich nur zwei Dinge im Leben: Das Schönste ist Spielen und Gewinnen, das Zweitschönste ist Spielen und Verlieren. Mehr noch als die Aussicht auf einen hohen Gewinn steht der Nervenkitzel, den das Spiel selbst auslöst, im Vordergrund. Sprecherin: Betrachtet man die Personage, die sich im Casino versammelt, fällt auf, dass hier Exzentriker a la couleur das Roulette umstehen. Michael Kohtes hat sie in seinem Buch "Va Banque" porträtiert: Zitator: Richten wir unser Augenmerk auf das rings um den Spieltisch sitzende oder stehende Publikum, so werden wir dort Typen entdecken, ohne deren Anwesenheit ein Casino kein Casino wäre. Neben den Angestellten gehören sie gewissermaßen zum festen Ensemble des Hauses, wobei uns nie so recht klar ist, ob sie in diesem Theater die tragischen oder die komischen Rollen besetzen, ob wir sie bemitleiden oder belächeln sollen: den mit kleiner Münze spielenden Pensionär, der scheinbar hier wohnt. Die hochkonzentrierte, zünftig am Glimmstengel ziehende Lady in den besten Jahren, den aufgeregten Anfänger und seine Begleiterin, die von dem, was da beim Roulette vor sich geht, so wenig versteht wie eine Fliege von Fensterscheiben. Nicht zu vergessen die heimlichen Hauptdarsteller: der schweigsam Zahl für Zahl notierende Systemspieler, die nadelgestreifte Kiezgröße, der abgebrühte Draufgänger, der Geheimnisvolle, den der Saalchef, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, mit Handschlag begrüßt. Regie: Roulettekugel rollt. Sprecher: Solcherart sind die Naturen, die eines verbindet: Sie opfern unablässig dem Zufall. Warum sie das tun, obwohl jeder von ihnen weiß, dass der Zufall namens Bank am Schluss die Nase vorn haben wird, beschäftigte unter anderem die Hirnforschung in den letzten Jahren. Sprecherin: Eine der wichtigsten Strukturen im Gehirn, die uns Menschen offensichtlich einen Großteil unsere Eigenarten gibt, ist das sogenannte Belohnungssystem. Diese Hirnstruktur kann die körpereigene Droge Dopamin ausschütten, die uns in einen Zustand höchsten Wohlempfindens versetzt. Unsere Existenz richtet sich danach aus, soviel wie möglich Dopamindosen zu erhalten. Sprecher: Wahrscheinlich war es genau dieser Umstand, den die alten Griechen über zweieinhalbtausend Jahre vor der Möglichkeit, das Hirn mit bildgebenden Verfahren zu durchleuchten, in dem Begriff der Eudaimonie zum Ausdruck brachten. Eudaimonie beschreibt in der griechischen Philosophie die Ausrichtung auf das Glück. Höchster Wert antiker Ethik war das Glück im Sinne des glückenden Lebens und der Glückseligkeit. Sprecherin: Dabei sollte man den grundsätzlichen Ansatz im Hinterkopf haben, den die Hellenen in ihrer Ethik verfolgten. Anders als in der neuzeitlichen Ethik war die griechische nicht moralisch verengt. Im Zentrum stand also nicht so sehr die eher moderne Frage, zu welchen Handlungen man verpflichtet ist und woher die Verpflichtung rührt. Für die Alten Griechen ging es vielmehr um die Frage, wie man denn leben solle! Es ging also um die Gesamtheit der Lebensführung, die auf das glückende Leben ausgerichtet war. Sprecher: So waren die Griechen offensichtlich schon nahe dran an dem, was in unseren Hirnstrukturen biologisch angelegt ist. Wir sind Glücksritter, immer auf der Suche nach einer neuen Dopamin-Ausschüttung des Belohnungssystems. Haben wir erfahren, wie wir das Belohnungssystem auslösen können, werden wir uns immer wieder so verhalten. Sprecherin: Das Belohnungssystem des passionierten Spielers springt an, wenn die Kugel ins richtige Loch springt. So wie der Croupier den Gewinn, schüttet der Nucleus accumbens dann Dopamin aus. (8)O-Ton(Kohtes): Der leidenschaftliche Spieler spielt nicht unbedingt, um das große Geld zu machen, er spielt, um zu spielen. Gleichwohl, der Movens des Spielens ist natürlich der Geldgewinn. Immer nach dem Motto: Geld stört nie, will man natürlich den großen Coup landen. Und sei es, dass man soviel Geld gewinnt, dass man bis an sein Lebensende weiterspielen kann. Geld ist natürlich das A und O. Interessanterweise geht es ja in den Spielbanken tatsächlich zu wie in einer Bank. Es gibt eine seltsame Dezenz und Stille in diesen Häusern. Von allen anderen Volksbelustigungen unterscheidet sich das Glücksspiel in einem Casino dadurch, dass die Menschen erstaunlich diszipliniert, ruhig, geradezu andächtig an den Spieltischen sitzen. Sie werden dort ein Flüstern vernehmen, ein Raunen vielleicht. Aber niemals Geschrei, kein Jubel, keine spontanen Verbrüderungsszenen. Sondern es geht überaus gesittet und kultiviert zu in den Spielhäusern. Und ich behaupte, dass das klassische Glücksspiel im Grund das kultivierteste Vergnügen ist, das die zivilisierte Gesellschaft kennt. (1,15'/16') Sprecher: Die Glücksspieler beim Roulette haben offensichtlich gelernt, ihre Glücksgefühle leise zu genießen. Doch wie sehr gerade der Spieler eben jene euphorischen Hochs benötigt, fanden unlängst Hirnforscher von der Universität Magdeburg heraus. Sprecherin: Sie beschäftigten Probanden mit einem Lotteriespiel, während sie via funktioneller Magnetresonanztomografie ihre Hirnaktivitäten aufzeichneten. In einer der Sitzungen nun gaben sie der einen Hälfte Pramipexol, der anderen ein Placebo. Sprecher: Pramipexol ist ein sogenannter Dopaminagonist, der die Aktivität des Belohnungssystems dämpft. Die Probanden, die das Mittel bekamen, spielten bereits nach der ersten Dosis riskanter als jene, die das Placebo eingenommen hatten. Sprecherin: Die Probanden, deren Belohnungssystem durch Medikamenteneinfluss gedämpft wurde, versuchten sogleich durch größere Reize - sprich höheres Risiko - mehr Belohnung zu bekommen. Das Glücksspiel ist offensichtlich gut geeignet, den Hunger nach Belohung zu stillen. Sprecher: Wissenschaftler von der Universität Cambridge fanden heraus, dass nicht nur die Volltreffer ein Feuerwerk der Neuronen im Belohnungszentrum hervorrufen. Sie untersuchten, wie Probanden auf Beinahetreffer reagierten und kamen zu einem überraschenden Schluss. Sprecherin: Bei den Probanden, die an einem einarmigen Banditen spielten, gab es spezifische Erregungsmuster, wenn drei Jackpott-Kirschen nebeneinander zum Stehen kamen und sie einen Gewinn verbuchen konnten. Wenn sie nun einen Beinahetreffer landeten, also beispielsweise eines der Symbole um nur eine Stelle vor der entscheidenden Gewinn-Linie stehen blieb, zeigten sich dieselben Hirnaktivitäten wie bei einem Gewinn, obwohl das Resultat einen Verlust bedeutete. Sprecher: In den USA ist es den Automatenherstellern mittlerweile verboten, diese zum Weiterspielen motivierenden Frust-Funktion in ihren Geräten zu verwenden. Regie: Musik Sprecherin: Während beim einarmigen Banditen dem Zufall zugunsten des Betreibers auf die Sprünge geholfen werden kann, regiert er beim Roulette unangefochten. Trotzdem gibt es den Systemspieler, der hartnäckig behauptet, den Lauf der Kugel vorhersagen zu können. Zitator: Ein Spieler, der systematisch vorgeht, möchte die Spielräume des Zufalls so verengen, dass buchstäblich nichts dem Zufall überlassen bleibt. Der Glücksstratege, der den todsicheren Gewinn plant, liest nicht in den Sternen oder aus der Hand, sondern die Klassiker der höheren Mathematik. Die Gauß'sche Glockenkurve oder die Progression nach d'Alembert sind ihm ebenso geläufig wie die Poisson-Gleichung und das Zweidrittelgesetz, demzufolge bei sechsunddreißig Würfeln ungefähr zwölf Zahlen gar nicht und vierundzwanzig Zahlen einmal oder mehrmals erscheinen. Indes, auch der Systemspieler der Rechenkünstler am Roulettetisch, wird seinem Schicksal nicht entgehen. Denn obwohl wir wissen, dass der Zufall bestimmten Gesetzen der Wiederkehr unterworfen ist, kann uns kein Wahrscheinlichkeitstheoretiker erklären, wie diese Gesetze den Zufall bestimmen. Sprecher: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann immer nur sagen, dass der Zufall regiert und wie hoch die Chancen für den Eintritt eines Ereignisses sind. Aber die W- Fragen nach dem Wann, Wie und Warum bleiben unbeantwortet. Sprecherin: Stellt man das in Rechnung, kann man sich vom Mathematiker ein todsicheres System für den Gewinn beim Roulettespiel entwickeln lassen: (9)O-Ton(Weiss): Es gibt durchaus Strategien, mit denen Sie sicher gewinnen können. Eine ist: Sie setzen sich das Ziel, einen Euro zu gewinnen. Und Sie setzen einen Euro, den Sie haben, auf Rot. Wenn Rot kommt, dann haben Sie zwei Euro mit Ihrem Einsatz - also sprich einen Euro haben Sie dazugewonnen. Falls dem nicht so ist, haben Sie jetzt zwei Euro Verlust. Was Sie tun ist: Sie setzen zwei Euro auf Rot. Wenn Sie gewinnen, bekommen Sie vier Euro. Sie haben in dieser Runde zwei Euro gesetzt, in der davor einen - sprich, Sie hatten bisher drei Euro gesetzt, Sie gewinnen vier. Sie hätten wieder einen gewonnen. Falls Sie verlieren, setzen Sie wieder das Doppelte. Vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter. Irgendwann wird Rot kommen, ansonsten stimmt irgendwas mit dem Roulette nicht. Also die Wahrscheinlichkeit, dass unendlich lange kein Rot kommt, ist Null. So werden Sie auf jeden Fall irgendwann einen Euro gewinnen. Allerdings klappt das nur solange wie Sie unbeschränkt Geld haben, das Sie setzen können. (1'/21') Regie: Roulettekugel rollt. Sprecher: Diese Gewinnstrategie für das Roulette geht aus der mathematischen Theorie der Martingale hervor, die sich damit beschäftigt, im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie einen Korridor für Erwartungswerte von Ereignissen zu errechnen. Sprecherin: Irgendwann wird man mit der von Alexander Weiss vorgeschlagenen Strategie tatsächlich einen Euro gewinnen. Hundertprozentig. Das Problem dabei ist jedoch genau dieses Irgendwann. Denn damit die Gewinnstrategie eingehalten werden kann, muss man, wenn man verliert, immer nachlegen. Und zwar das Doppelte des vorigen Einsatzes. Sprecher: Somit steht man rasch vor dem Problem des Kaisers von China. Der wollte sich bei dem Erfinder des Schachspiels bedanken und stellte ihm einen Wunsch frei. Der mathematisch versierte Mann wünschte sich daraufhin, dass man auf das erste Feld des Schachbretts ein einziges Reiskorn legen sollte und die Menge auf jedem weiteren Feld jeweils verdoppeln sollte. Sprecherin: Der Herrscher gewährte dem Erfinder fröhlich diesen scheinbar bescheidenen Wunsch, konnte ihn jedoch nicht erfüllen, denn auf dem letzten Feld hätten zwei hoch dreiundsechzig Reiskörner liegen müssen. Eine Zahl mit vierundzwanzig Nullen. Soviel Reis jedenfalls, dass man damit einen Güterzug füllen könnte, der von der Erde bis zum Mars reicht. Sprecher: Das Limit der Bank bei dem Versuch, mit einem Martingalspiel einen Euro zu gewinnen, wäre bereits bei zwölf bis dreizehn Spielen erreicht. Andererseits liegt die Wahrscheinlichkeit, dass bei zwölf Spielen kein einziges Mal Rot kommt, bei gerade einmal 1 zu 2974, also 0,0336 Prozent. Dementsprechend hat man bei zwölf Spielen die Gewinnwahrscheinlichkeit von 99,9664 Prozent. Regie: Roulettekugel rollt. Sprecherin: Ein im Prinzip todsicheres System, das jedoch einen entscheidenden Haken hat: Wer geht schon mit einem fünfstelligen Betrag - diesen müsste man im Zweifelsfalle ja setzen - ins Casino, um einen einzigen Euro zu gewinnen? Sprecher: Zuviel Einsatz, um den Zufall zu überlisten, der sich im übrigen selbst nicht recht treu zu sein scheint. (10)O-Ton(Kohtes): Das ist interessant: Der Zufall ist auf widersinnige Weise zuverlässig. Und das zeigt sich gerade beim Roulette. Wenn fünfzehn Mal Rot gewonnen hat, steht die Chance, dass Schwarz gewinnt, immer noch fifty-fifty. Aber auf lange Sicht verteilen sich die Einzelwürfe immer so, dass jede Zahl ein Mal drankommt. Wenn die Menge der einzelnen Würfe groß genug ist, gleichen sich die zufälligen Abweichungen aus. Das heißt, auf Dauer läuft der Zufall dem reinen Zufallsprinzip zuwider. Das ist die Theorie der Wahrscheinlichkeit und das ist das Faszinosum. (45''/24') Sprecherin: Der Legende nach soll Blaise Pascal das Roulette erfunden haben. Ein Freund des Naturforschers und Philosophen hatte bei ihm um Rat nachgesucht, wie er seine Chancen beim Würfelspiel erhöhen könne. Pascal soll daraufhin einen Apparat mit einem sich drehenden Zylinder und festgelegter Ziffernfolge konstruiert haben. Dann begann er den derart mechanisierten Zufall zu untersuchen. Sprecher: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung war in der Welt - aber eben auch das Roulette: Zitator: Sage also niemand, der liebe Gott haben keinen Sinn für Ironie - ausgerechnet Blaise Pascal, seinen eifrigsten Apologeten, schickt er in die Welt, um uns armen Frevlern das Roulette zu schenken. Regie: Roulettekugel rollt. Sprecherin: Das Problem mit dem sich einstellenden Glück beim positiv verlaufenden Glücksspiel ist folgendes: Da die Ausschüttungen des Belohnungszentrums im Hirn nur von kurzer Dauer sind, verfliegt auch das Glücksgefühl rasch wieder. Zurück lässt es jedoch die Sehnsucht nach diesem wohligen Zustand. Sprecher: Unser Gehirn ist also nicht für dauerhafte Glücksgefühle gebaut, strebt aber immer nach ihnen. Da das Glück flüchtig ist, müssen wir ihm ständig hinterherjagen. Sprecherin: Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann fand gemeinsam mit Amos Tversky heraus, dass die stärksten Schlüsselreize für das Belohnungssystem Sex, Kokain und die Erwartung einer größeren Geldsumme sind. So leuchtet es unmittelbar ein, dass Menschen mit der Aussicht auf Gewinn ihre Rationalität - ähnlich wie beim Drogenkonsum oder geschlechtlicher Liebe - gern beiseite schieben. Sprecher: Nur so ist es zu erklären, dass so viele Millionen von Euro wöchentlich in den Lottojackpott geworfen werden, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Sechsers mit Zusatzzahl in etwa so hoch beziehungsweise gering ist, wie auf einer Nachtfahrt von Berlin nach Hamburg mit einem einzigen Schuss einen irgendwo auf der Strecke aufgestellten Holzpfahl zu treffen. Sprecherin: Kahnemann und Tversky initiierten einen neuen Wissenschaftszweig, den sie Neuroökonomie nannten. Sie zollt dem Umstand des nichtrationalen Handelns in Geldfragen Tribut und geht davon aus, dass sich der Mensch zwischen den Zuständen der Gier und der Angst bewegt, sobald die klingende Münze ins Spiel kommt. Sprecher: Besonders gut lässt sich dieses Verhalten an der Börse studieren. Bei Aktien- Bankrotteuren ist fast immer zu beobachten, dass sie von dem Hochgefühl steigender Kurse nicht ablassen wollten. Wenn die Aktienwerte fielen, hielten sie an ihren Aktien, die einstmals Höchststände hatten, fest. Oft bis zum Totalverlust. Doch auch wenn die Kurse der Nulllinie bedrohlich nahe kamen, setzte noch kein Lerneffekt ein. Im Gegenteil. Nun wurde versucht, die Verluste zu egalisieren, indem in fallende Kurse hinein gekauft wurde. Sprecherin: Der geradezu zwanghaft zu nennende Antrieb, sich das verlorene Kapital wiederzuholen, verbindet Börsianer und Roulettespieler. Börse und Roulette haben aus mathematischer Sicht jedoch noch mehr miteinander zu tun: (11)O-Ton(Weiss): In der klassischen Finanzmathematik - wenn man sich den Verlauf des Aktienpreises über die Zeit ansieht, dann wird er im mathematischen Sinn einfach als zufällige Bewegung betrachtet. Das mag zuerst mal kontraintuitiv sein, weil man sich denkt, aber man liest doch jeden Tag in der Zeitung, dass bestimmte Unternehmen wirtschaftlich gut dastehen und andere nicht. Und daraus kann man doch ableiten. Aber dass das nicht so sicher alles sein kann, sieht man daran, dass es doch relativ wenige Aktienmillionäre gibt. Also wenn das alles so eindeutig zu interpolieren wäre von den Zeitungsmeldungen, dann wäre das sicher alles kein Problem und viele Leute würden damit sehr reich werden, weshalb die Mathematik einfach grundsätzlich sagt, diese ganze Meldungen gehen in das mathematische Modell nur als zufällige Bewegung ein. Weil das nicht vorhersehbar ist, ist das halt zufällig. (1'/29') Sprecher: So hat das in Zeiten der Finanzkrise oft gebrauchte Wort vom Casinokapitalismus auch aus mathematischer Sicht seine Berechtigung. Sowohl die Aktienwerte wie auch die Gewinnzahlen beim Roulette sind vergangenheitsunabhängig, also zufällig. Regie: Musik Sprecherin: Am passionierten Spieler, der seine Existenz riskiert, um sein Belohnungssystem anzuregen, können wir im Extrem unsere eigene Glücksversessenheit erkennen. Lernen können wir vom Spieler in jedem Fall, wie man mit Verlusten umgehen sollte. So wie die Stoiker. Epiktet lehrte, man solle niemals denken, dass man etwas verloren, sondern dass man etwas zurückgegeben habe. Sprecher: Noch einmal Michael Kohtes. (12)O-Ton(Kohtes): Das ist das Erstaunliche, dass Spieler in den Casinos, die viel Geld verdienen - und ich habe Spieler gesehen, die an einem Abend 10, 15, 20 Tauend Euro verloren haben, erstaunlich gefasst damit umgehen. Es ist so, dass sich der Spieler auf ein Spiel einlässt, dessen Regeln er kennt. Er weiß, der Zufall entscheidet hier und das impliziert, sich entsprechend zu verhalten, nämlich die Entscheodung des Zufalls auch zu respektieren und nicht zu lamentieren. Es ist oft erstaunlich zu sehen, wie Verlustspieler ihre Niederlage hinnehmen, mit wie viel Würde, Anstand und Haltung. Davon kann man lernen. Das ist ein stoisches Verhalten, das finde ich bewundernswert. Das hat schon fast wieder etwas Aristokratisches. (45''/30') Regie: Musik hoch und aus. 5