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Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen, 2.6.2012 Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Solidarität Die Genossenschaften kehren zurück 1.O-Ton-: Ich selber komme aus einer Genossenschaftsfamilie, mein Vater hat 40 Jahre ehrenamtlich in der Milchgenossenschaft gerechnet, meine Mutter hatte 20 Jahre einen kleinen Edeka-Laden, Edeka ist auch eine Genossenschaft, und zu guter Letzt habe ich auch eine Ausbildung bei der Raiffeisenbank gemacht, von daher ist es für mich als Südbadenerin keine Frage gewesen: selbstverständlich eine Genossenschaft Sprecher/in vom Dienst: Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Solidarität Die Genossenschaften kehren zurück Sprecherin: Etwa die Hälfte aller Menschen weltweit verdankt ihre Lebensgrundlage dem Engagement von Genossenschaften. Das schätzen die Vereinten Nationen, weshalb sie 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärten: Sie möchten damit ein Unternehmensmodell fördern, das die regionale Wirtschaft stärkt und Arbeitsplätze schafft. Auszug Rede Angela Merkel Genossenschaften spielen eine heraus gehobene ende Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge bei uns in Deutschland - aber nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt. Sprecherin: Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einem Empfang der genossenschaftlichen Spitzenverbände in Berlin. Wie viele Politiker wirbt sie für eine Unternehmensform, die sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise robust und krisensicher zeigt: Genossenschaften haben die geringste Insolvenzrate. Auch deshalb haben sie an Bedeutung gewonnen: 1000 Neugründungen gab es in den letzten fünf Jahren alleine in Deutschland: 2. O-Ton: Genossenschaften werden wieder attraktiv, weil sie ein solidarisches Wirtschaftsmodell sind und es gibt viele Menschen, die möchten nicht nur auf den Profit geguckt wissen, sondern auf den solidarischen Ertrag von Betroffenen. Und genau das ist das ursprüngliche Genossenschaftsprinzip: in der Gemeinschaft der gleichberechtigt Betroffenen, für die Gutes zu organisieren: gute Wohnungen, gute Versorgung, gute Lebensbedingung. Deshalb ist das etwas, was zunehmend an Attraktion gewinnt. Sprecherin: Ernst Dieter Rossmann, Sprecher der Parlamentarischen Linken der SPD- Bundestagsfraktion, möchte Neugründungen auch auf politischer Ebene fördern. Denn die Genossenschaft sei eine Unternehmensform, deren Prinzip am ehesten dem Ideal der sozialen Marktwirtschaft entspreche. Tatsächlich geht es den Genossenschaften, anders als etwa Aktiengesellschaften und GmbHs nicht darum Kapital zu vermehren oder möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Genossenschaften sollen ihren Mitgliedern konkreten Nutzen bringen: Handwerker erhalten preisgünstige Materialien, Mieter bezahlbaren Wohnraum, Windradbesitzer Energie und Winzer einen angemessenen Preis für ihren Wein. Eine Genossenschaft ist ihrem Selbstverständnis nach eine Selbsthilfeorganisation, die zwar auf dem Markt bestehen muss, sich aber selbst verwaltet und gegenüber ihren Mitgliedern solidarisch verhält. In Deutschland ist jeder Vierte Genossenschaftsmitglied: von der linke Tageszeitung "taz" über Imkerkooperativen bis hin zu Tante-Emma-Läden auf dem Land. Atmo 1: (Weinkeller) ... Hiermit begrüße ich Sie in der ältesten Winzergenossenschaft der Welt Regie: Steht frei, dann unter Text Sprecher: Im Kellergewölbe der Winzergenossenschaft Mayschoß, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bonn. In großen Fässern lagert hier seit fast 150 Jahren der Wein: Mayschoß hat die älteste Winzergenossenschaft der Welt: 3. O-Ton: Die Zeit war eine Zeit großer wirtschaftlicher Not, der Dorfschreiber hat 1865 in seinem Buch schon davon berichtet, dass die Winzer Wein im Keller hatten, aber leider kein Brot zum Essen, und die Situation verschärfte sich zusehends im Jahre 66, 67. Sprecher: Schon 1869 schlossen sich hier die ersten Winzer zu einer Genossenschaft zusammen, sagt Rudolf Mies, Geschäftsführer der Winzergenossenschaft in Mayschoß: 4. O-Ton-: (Rudolf Mies) Die Situation wurde deutlich besser, und zwar nach wenigen Jahren schon, und die Weinhändler konnten nicht mehr die Preise diktieren. Denn es haben sich schon in der Folge sehr schnell in anderen Orten derartige Winzergenossenschaften gegründet. Die Winzer waren sehr selbstbewusst, die Genossenschaften habend dann den Weinländern Paroli geboten und die Situation der Winzer ist heute an der Ahr, 143 Jahre nach Gründung der ersten Genossenschaft, sehr, sehr gut. Atmo 2: Wir feiern eigentlich das ganze Jahr in Mayschoß, ... Sprecher: Die Genossenschaft hat heute 400 Mitglieder und produziert jährlich 1,6 Millionen Liter Wein. Die erwirtschafteten Überschüsse bekommt die Genossenschaft: Sie kauft damit neue Maschinen und Fässer, baut das Kellergewölbe aus, organisiert Marketing und Verkauf und bezahlt 30 Festangestellte, die auch den Wein produzieren: 5. O-Ton: Was geblieben ist bis auf den heutigen Tage ist die Tatsache, dass die Winzer sich ausschließlich um die Bewirtschaftung der Weinberge kümmern und das ist auch eine sehr gute Sache: Der Winzer kann in liebevoller Kleinarbeit seinen Weinberg bewirtschaften und seine ganze Kraft auf den Weinberg konzentrieren. Sprecher: Nur 12 der Genossenschaftler leben ausschließlich vom Weinbau, für die anderen ist es ein Nebenerwerb. An der Ahr gibt es kaum Winzer, die ihren Wein selbst produzieren. Hier verkauft man alle Flaschen unter dem Etikett der Genossenschaft: Atmo 3: (Weinprobe ) Der Prosecco ist süß ... . Sprecher: Wichtige Entscheidungen treffen die Winzer zweimal jährlich in einer Mitgliederversammlung: So beschlossen sie unlängst, sich mit einer anderen Genossenschaft zusammenzuschließen und neue Lagerhallen zu bauen. Bei den Abstimmungen hat jedes Mitglied eine Stimme, unabhängig davon, wie hoch seine Kapitaleinlagen sind. Ein regionaler Genossenschaftsverband prüft regelmäßig die wirtschaftliche Entwicklung und ob die Satzung eingehalten wird - alle Genossenschaften funktionieren nach diesem Prinzip. Musik Sprecherin: 1849 gründete Hermann Schulze-Delitzsch Selbsthilfeorganisation für Handwerker: Zu dieser "Rohstoffassoziation" gehörten Tischler und Schuhmacher. Diese konnten aufgrund der schnellen Industrialisierung nicht mehr mit den neuen Großunternehmen konkurrieren und verarmten zusehends. Gemeinsam kauften sie nun Produktionsmittel günstig ein und traten geschlossen gegenüber Abnehmern auf, um möglichst hohe Preise zu erzielen. Als zweiter Gründungsvater der Genossenschaftsbewegung in Deutschland gilt der Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Er organisierte vor allem Not leidende Bauern, die aufgrund von Missernten auf Wucherer angewiesen waren, da die Banken ihnen keine Kredite gaben. Die Bauern schlossen sich zusammen, um gemeinsam zu sparen, Saatgut zu kaufen und Kredite aufzunehmen. 7. O-Ton: (Nicole G.v.R) Konkret hatte er eben die Idee, dass es ein überschaubarer Kreis an Menschen sein muss, er hat auch, was wir heute als Kirchturm-Prinzip postulieren, geschaffen: Nur alle, die auf den gleichen Kirchturm gucken, dürfen zusammen sparen und dürfen zusammen einen Kredit aufnehmen. Und dieser Kredit wurde dann in kleinen Summen regelmäßig auch wieder zurückgezahlt und es gab immer jemanden, der verantwortlich war das genau zu notieren und der hat den Menschen beigebracht, wie man eine Satzung macht mit Regeln. Sprecherin: Nicole Göler von Ravensburg ist Professorin für Sozialökonomik an der Fachhochschule in Frankfurt und forscht seit über 25 Jahren über die Unternehmensform Genossenschaft. Sie betont, dass beide Gründungsväter die gleiche Idee verfolgten: Sie unterstützen Menschen dabei, sich selbst zu helfen. Aus den ersten Kreditvereinen gingen später die Volks- und Raiffeisenbanken hervor. Diese bilden heute die größte Branche im Genossenschafswesen, auf sie entfallen 80 Prozent aller Mitglieder: 17 Millionen Deutsche sind Mitinhaber von Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken, gleichzeitig sind sie ihre Kunden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, haben diese Kreditinstitute ihre Geschäfte auf Nicht- Mitglieder erweitert, sodass ihr genossenschaftlicher Charakter nach außen kaum sichtbar ist. Das Prinzip der Solidarität erkennt man höchstens noch daran, dass eine Raiffeisen- oder Volksbank auf dem Land die meisten ihrer Kunden persönlich kennt und mittelständischen und kleinen Unternehmern Kredite gewährt, die sie bei einer großen Bank nicht bekämen. Ansonsten sind Genossenschaftsbanken Kreditinstitute, die sich am internationalen Finanzmarkt mir all seinen Risiken beteiligen. Trotzdem gelten sie als relativ krisensicher. Nicole Göler von Ravensburg: 8. O-Ton: Genossenschaftsbanken haben in der Regel lokale und regionale Mitglieder und Kunden, das heißt, sie haben nie ihr Privatkundengeschäft aufgegeben. Manche große Privatbanken haben ja ihr Privatkundengeschäft zeitweise ganz aufgegeben, das ist der eine Punkt, und der andere Punkt ist, das Genossenschaftsbankenwesen hat eine gemeinsame Sicherungseinrichtung, sodass Banken, die Not leidend werden, aus dieser Sicherungseinrichtung gestützt werden. Und es gibt eine Prüfung, die sehr rigoros ist: Einmal in Hinsicht eines genossenschaftsinternen Ratings, sodass Banken, wo es sich andeutet, dass ihre Bonität sich verschlechtert, auch mehr in den Sicherungsfond einbezahlen müssen. Damit ist der Anreiz für risikoreiche Geschäfte etwas abgeschwächt. Musik Sprecherin: Die Gründung neuer Genossenschaften hat auch deshalb stark zugenommen, weil im Jahr 2006 das deutsche Genossenschaftsgesetz reformiert wurde: Man hat es EU-Normen angepasst, damit auch grenzübergreifende europäische Kooperativen möglich sind. In Deutschland wollte man vor allem die Gründung kleiner Genossenschaften vereinfachen und attraktiver machen: Heute reichen drei Gründungsmitglieder statt sieben, und die Organisation kann auch kulturelle und soziale Zwecke verfolgen. Atmo 5: (Kindergarten) Regie: Steht alleine, dann unter Text ziehen und unter O-Ton, eil unter dem O-Ton Kindergeräusche sind. Atmo 5B sind Kinder, leise Sprecher: Die Kindertagespflegestelle der John Deere-Werke in Mannheim, einem internationalen Landmaschinenhersteller mit fast 4000 Mitarbeitern. Acht Kinder werden hier betreut - von Mitarbeiterinnen einer Familiengenossenschaft. Das Modell ist einzigartig in Deutschland: Unternehmen und Betreuerinnen haben sich vor sechs Jahren als Genossenschaft zusammengeschlossen. Entstanden ist das Projekt, weil viele gut ausgebildete Frauen vergeblich nach Krippen- und Kitaplätzen für ihre Kinder suchten - wie Claire Nusselt. Sie ist Rechtsanwältin und Vorsitzende von "Women Reach": einem Netzwerk von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Firma John Deere, das für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kämpft: 9. O-Ton: Da haben wir uns mit Unternehmen, die auch hier ansässig sind, zusammengesetzt und haben überlegt, wie kann man denn eine möglichst unbürokratische Lösung finden für die Kinderbetreuung, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und haben dann die Idee gehabt, dass man die Familiengenossenschaft ins Leben ruft, die dann wiederum Tagesmütter oder Pflegepersonal vermittelt. Die Familiengenossenschaft fing dann an, eigene Einrichtungen, die sogenannten Kindertagespflegestellen zu eröffnen, die so eine Art Mischform darstellen zwischen der familiären Betreuung von Kindern bei Tagesmüttern zu Hause und einer Krippe, das sind nämlich Tagesmütter, die eigene Räumlichkeiten extra dafür schaffen für die Betreuung von Kindern. Und wir fanden das einfach und unbürokratisch und haben uns eben entschlossen, auf dem eigenen Gelände eine ähnliche Lösung anzubieten, nur dass alle Plätze uns gehören. Sprecher: Die Kindertagespflegestellen der Familiengenossenschaft haben einen familiären Charakter, da sie maximal acht Kinder gleichzeitig betreuen: in Privatwohnungen ganz in der Nähe der Firmen, in denen die Eltern arbeiten. Die Familiengenossenschaft mietet die Räume und baut sie um: Sowohl die Firmen als auch das Land Baden Württemberg beteiligen sich an den Investitions- und Betriebskosten. Die betreuten Kinder sind zwischen einigen Monaten und drei Jahren alt - für Kinder dieses Alters gibt es in der Region besonders wenige Betreuungsplätze. Atmo 6: Familiengenossenschaft, ich grüße Sie ... Sprecher: Pro Vermittlung zahlen die Unternehmen 500 Euro an die Familiengenossenschaft. Die kümmert sich nicht nur in Mannheim, sondern im gesamten Rhein-Neckar-Gebiet um Kinderbetreuung. Die Unternehmen sind bereit, diese Kosten zu tragen. Aufgrund des Fachkräftemangels sind sie auf gut ausgebildete Frauen und internationale Mitarbeiter dringend angewiesen: 10. O-Ton: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Unternehmen wirklich diese Unterstützung brauchen, meine Aufsichtsvorsitzende sagt immer, das ist das wichtigste Rekrutierungsargument, wenn wir neue Fachkräfte einstellen. Nicht so sehr die Höhe des Gehaltes entscheidend, sondern dass junge Familien hier auch Beruf und Familie vereinbaren können. Und immer mehr gibt es wirklich die Situation, dass junge Fach- und Führungskräfte nur hier die Arbeitsplätze in der Metropolregion Rhein Neckar annehmen, wenn ihnen auch ein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt werden kann. Sprecher: Dorothea Frey ist Geschäftsführerin der Familiengenossenschaft, die sie 2006 ins Leben gerufen hat: Das Konzept: Jeweils eine Erzieherin und eine Tagesmutter kümmern sich gemeinsam um eine Kinder-Gruppe. Als Genossenschaftsmitglieder haben die freiberuflichen Betreuerinnen den Vorteil, sich nicht selbst um Aufträge kümmern zu müssen. 11. O-Ton: (Tagesmutter) Die Angst ist als einzelne Tagesmutter, dass man keinen zum Nachkommen hat, also man muss sich rechtzeitig darum kümmern, dass man Kinder bekommt. Hier ist es so, dass die Eltern sich vorher schon anmelden und die Liste ist sehr lang, die Sicherheit ist da, 499 Die Familiengenossenschaft kümmert sich darum, dass wir Kinder bekommen, sie macht die Abrechnungen für uns, sie kümmert sich um die ganze Organisation. Sprecherin: Die Tagesmütter haben die Möglichkeiten zu Gesprächen und Supervision, die Familiengenossenschaft berät sie in Steuerfragen und organisiert Fortbildungen. Aber sie erleben auch ganz praktische Hilfe und Solidarität: 12. O-Ton: (Frey) Wir haben auch die Möglichkeit für Frauen die nach einer Ehe eben allein erziehend sind, können wir auch ein Darlehen für Mitglieder geben, um auch die Frauen so erst einmal ein gutes Stück finanziell zu unterstützen, dass sie auch die Möglichkeiten haben, beruflich und finanziell wieder auf sichere Beine zu kommen Sprecher: Mittlerweile bildet die Familiengenossenschaft auch Pflegeassistentinnen aus, um Berufstätige bei der Betreuung von alten Eltern zu unterstützen - ein Projekt, das noch in den Kinderschuhen steckt. Sprecherin: Neue Genossenschaften entstehen oft dort, wo Menschen schlecht oder gar nicht mit bestimmten Dienstleistungen versorgt werden: Sie greifen zur Selbsthilfe und renovieren Schwimmbäder und Bibliotheken, eröffnen Theater und Tante-Emma- Läden, in ländlichen Gegenden vernetzen sich Ärzte. Die meisten Neugründungen jedoch gibt es im Bereich erneuerbarer Energien: Verbraucher, die sich beim Plan aus dem Atomausstieg nicht auf staatliche Konzepte verlassen, sondern selbst aktiv werden. Allein im Jahr 2011 entstanden 150 Energiegenossenschaften: 14. O-Ton: (Nicole Göler von Ravensburg) Konsumenten, die sagen wir möchten eben die Energiewende, aber wir möchten sie dezentral haben, wir können Ressourcen vor Ort nutzen, oder wir können uns auch vorstellen, eigene Grundstücke zur Verfügung zu stellen für Windräder, aber wir möchten nicht, dass irgendeine große Unternehmung das macht sondern wir möchten selbst darüber befinden, wo diese Windräder stehen. Das war vielleicht nicht konkurrenzfähig in einer Zeit, in der Strom sehr günstig war, aber jetzt wird es konkurrenzfähig. Traktorengeräusch (Muss noch aus dem Archiv besorgt werden) Sprecherin: Die flächenmäßig größten Genossenschaften gibt es in der Landwirtschaft, vor allem in den neuen Bundesländern. Das hat historische Gründe: Die DDR förderte den Zusammenschluss von Bauern, später wurden sie gezwungen, einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft - kurz LPG- beizutreten. Trotzdem entschieden nach der Wende drei Viertel der LPG, gemeinschaftlich weiterzuarbeiten: Die Hälfte davon als GmbH, die andere als Agrar-Genossenschaft. Nicole Göler von Ravensburg: 15. O-Ton: (Nicole Göler von Ravensburg) Da gab es verschiedene Gründe: Dass Einzelbauern, die es ja durchaus in der DDR- Zeit schon gab, häufig die Erfahrung gemacht hatten, wenn sie zum Beispiel Maschinen brauchten aus dem Maschinenpool, sie immer an letzter Stelle kamen, erstmal alle LPG-Felder bearbeitet wurden. Das bedeutete unter anderem, die ganze Ernte zu riskieren und nicht rechtzeitig pflügen zu können. Dass sie oft nicht an Produktionsmittel wie Dünger oder Spritzmitte rankamen, alsodass sie Beschaffungsengpässe hatten. Und sie haben dann teilweise nach der Wende nicht gewusst und nicht geglaubt, dass sie vielleicht aus dem Landhandel oder kommerziell organisierten Maschinenringen gut versorgt werden würden. Atmo 7: Spreewald Sprecher: In der DDR gab es auch kleinere Genossenschaften, die nicht verstaatlicht waren: Zum Beispiel die der Kahnfährmänner in Lübbenau im brandenburgischen Spreewald: Sie wurde 1954 gegründet, überlebte die Wende und besteht bis heute. In ihren Kähnen schippern die Fährleute Touristen über die Kanäle einer einzigartigen Naturlandschaft: 16. O-Ton: Was die Genossenschaft ja auch zu DDR-Zeiten schon ausgemacht hat, war natürlich dass in dieser Genossenschaft viele Privatunternehmer vereinigt waren, die eigentlich alles auf eigene Rechnung gemacht haben. Das war in der DDR auch selten gewesen, weil Privatunternehmertum ja nicht so gewünscht war, aber unter dem Namen der Genossenschaft war es geduldet. Man hat es ganz einfach in Ruhe gelassen, weil eben ne gute Qualität vorhanden war, weil die Gäste bedient wurden und so war es dann auch ein gleitender Übergang in die neue Zeit mit dem Ende, dass die Genossenschaft das geblieben ist, was sie war, nämlich eine Vereinigung von Privatunternehmern, Sprecher: Steffen Franke ist fest angestellter Geschäftsführer der Kahnfährgenossenschaft. Er hat erlebt, dass viele Fährleute sich nach der Wende selbständig machten: Vor allem, wenn sie ein Wassergrundstück besaßen, gründeten sie ihr eigenes Unternehmen unabhängig von der Genossenschaft und eröffneten ein Café oder ein Restaurant. Atmo 8: Die Gruppe ist da. Dann kann es losgehen, da ist einer der beiden Fährleute. Alles Weitere macht er dann mit ihnen, er kassiert dann und macht auch die Quittung mit ihnen. Aha alles klar! Sprecher: Die meisten Kähne jedoch starten weiterhin am Großen Hafen, wo die Genossenschaft das Sagen hat. Er ist zentraler Anlaufpunkt für die Touristen - ein Grund, warum die meisten Fährleute Genossenschaftsmitglieder geblieben sind wie der 60-jährige Gerhard Fink: 17. O-Ton: (Privater Fährmann) Wir sind zu DDR-Zeiten hier abgefahren, und es war für mich keine Frage, hier zu bleiben beim Großen Hafen, weil man immer gut gefahren ist, und da habe ich gesagt, ich bleibe hier. Atmo 9 Sprecherin: 160 Fährleute gehören heute zur Genossenschaft in Lübbenau. Mit ihrem einmalig gekauften Anteil werden sie Eigentümer, und von ihren Einnahmen zahlen sie 20 Prozent an die Genossenschaft. Kundenbetreuung, Werbung und Organisation erledigen die drei Festangestellten: 18. O-Ton: Ansonsten wird in der Kahnfährgenossenschaft jeder gleich behandelt, das ist auch das Gesetz einer Genossenschaft, und die auflaufenden Aufträge, die eingehen in das Büro, werden gerecht aufgeteilt. Es sind keine wahnsinnigen Umsätze, aber jeder Euro zählt auch bei unseren Mitgliedern und die Genossenschaft nimmt sich eben nur, das was sie zum Überleben braucht: Also ein großer Gewinn wird nicht angehäuft. Sprecher: Vom gemeinsamen Geld baute man vor 13 Jahren auch das moderne Haus am Großen Hafen: Hier befinden sich das Genossenschafts-Büro und ein Restaurant, weitere Räume werden verpachtet. Bleiben Gewinne, verteilt man die am Jahresende unter den Mitgliedern. Doch nicht alle sind gut zu sprechen auf die Kahnfährgenossenschaft: Kleine Vereine oder Einzelunternehmer werfen ihr vor, ein Monopol zu bilden und fürchten ihre Konkurrenz - ins Mikrofon sagen möchte es niemand. Sprecherin: Ein wirkliches Comeback erleben derzeit vor allem Wohnungsbaugenossenschaften: Ihre Zahl ist in den letzten Jahren um 40 Prozent gestiegen Hier schließen sich Menschen zusammen, um gemeinsam zu bauen oder bezahlbaren Wohnraum zu mieten. Das ist auch eine Reaktion darauf, dass Kommunen aufgrund klammer Kassen Wohnungen veräußern, die Privatinvestoren dann teuer vermieten oder in Eigentumswohnungen verwandeln. 19. O-Ton: Da komme ich ja selbst aus einem Kreis, wo es durch Initiative von Beteiligten gelungen ist, statt des Verkaufs von Wohnungen an solche Wohnungshaie eine Genossenschaft daraus zu machen. Die Genossenschaft gibt ihnen Sicherheit, auch angemessene Modernisierung dieser Wohnungen mitmacht, dort ne große Zufriedenheit ist und gleichzeitig auch neue Wohnungen mit gebaut werden können. Und das ist für mich aus diesem Teils Pinnebergs eine Erfahrung, wo ich glaube, das Image von Genossenschaften ist sehr, sehr gut Im Übrigen hat der Kreis Pinneberg dadurch kein Geld verloren, sondern er hat Geld gewonnen. Sprecherin: Der Bundestagsabgeordnete Ernst-Dieter Rossmann wünscht sich, dass mehr Menschen nach diesem solidarischen Prinzip handeln. 20. O-Ton: Bei aller Freude darüber, dass die Genossenschaften aus dem Dornröschenschlaf herausgeküsst werden durch mehr öffentliches Interesse, muss man dennoch auf dem Teppich bleiben: Es hat ja noch nicht den großen Boom an Neugründungen gegeben, wenn man das im Verhältnis sieht zu anderen Neugründungen, von daher ist auf einem niedrigen Niveau die Steigerungsrate sehr gut, aber die Gesamtzahl der neu gegründeten Genossenschaften ist noch steigerungsfähig. Sprecherin: Zum Vergleich: 2009 gab es 914 neu gegründete Stiftungen, aber nur 241 Genossenschaften. Damit sich dies ändert, sei auch die Politik gefragt, so Ernst Dieter Rossmann - und die müsse mehr liefern als Appelle und lobende Worte. Die SPD plant deshalb einen Antrag dazu im Bundestag einzureichen: Man will die Gesetze dahingehend ändern, dass Genossenschaften Vorteile bekommen, die GmbHs zum Beispiel längst haben: 21. O-Ton: Wie gibt es Gründungshilfe für Genossenschaften, wie gibt es Entbürokratisierung, weil dort teilweise Auflagen sind, die es sehr schwer machen, wenn dort nicht so viel Kapital zusammengekommen ist, dieses dann auch für den Zweck und nicht für die ständige Prüfung mit einzusetzen, ist das mit der Qualifizierung auch von ausreichendem Sachverstand bis hin zu den Lehrstühlen in den Hochschulen. O-Ton: (Rede Angela Merkel) Es ist auch wichtig, dass, egal, an welcher Stelle welche Genossenschaft tätig ist, von Generation zu Generation dieser Gedanke weitergetragen wird, dass er immer wieder aufs Neue begründet, erlebbar gemacht wird. Sprecherin: In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen macht man schon ganz junge Menschen mit dem Genossenschaftsprinzip vertraut. Die Initiative ging von Lehrern aus, die bereits Schüler bei der Erprobung anderer Unternehmensformen begleiteten. Die Idee ist, dass Jugendliche eine Geschäftsidee wie erwachsene Existenzgründer umsetzen, sie kümmern sich um Finanzen, Werbung und Personal. Alles wir im richtigen Leben, außer, dass die Projekte bei Schule angesiedelt sind, da die Schüler juristisch noch nicht geschäftsfähig sind. Die Geschäftsideen kommen von den Schülern und orientieren sich ganz im Sinne des Genossenschaftsgedankens an ihren eigenen Bedürfnissen. So gründen sie Getränke- und Lebensmittelkioske in Schulen, Reparaturwerkstätten oder Puppentheater. 22. O-Ton Wir könnten zum Beispiel mal über eine Schülergenossenschaft sprechen, die Bienen hält, also eine Imkerei. Ein ganz ausgeklügeltes System, bei dem der Schüler, der jetzt ganz neu dazukommt, erstmal nur Schutzkleidung bekommt und Lehrling ist, einer, der schon im zweiten Jahr dabei ist, der ist dann Geselle, er hat dann außer der Schutzkleidung noch ein eigenes Bienenvolk zu betreuen, für das er verantwortlich ist und seine Unterlinge müssen ihm dabei helfen. Und im dritten Jahr wird man zum Meister und ist verantwortlich für das Schleudern, das Verpacken, das Vermarkten des Honigs. Sprecherin: Die Sozialökonomin Nicole Göler von Ravensburg begleitet die Schülergenossenschaften wissenschaftlich: Sie ist vom wirtschaftlichen und pädagogischen Erfolg des Genossenschaftsmodels überzeugt. 23. O-Ton: Und da haben wir herausgefunden, dass die Begeisterung für diese demokratische Wirtschaftsweise besonders hoch war, einerseits, weil sie sie selbst organisiert hatten und damit die Freiheit der Schüler fördert und die Schüler dadurch auch mehr Motivation bekommen als in anderen Schülerfirmen. Die Lehrer sich entlastet fühlen, weil sie nicht das Know-how selbst einbringen müssen, weil sie das Gefühl haben, durch diese Genossenschaftsprüfung auch das Risiko zu minimieren, dass doch die Firma pleite geht und wir gemerkt haben, dass doch diese Demokratie auch hilft, das Entwickeln eines Kranzes von Kompetenzen zu fördern. So Sachen wie vorausschauendes Denken zu üben oder Perspektivwechsel, also Kunde denkt anders als Produzent, denkt anders als Öffentlichkeit, denkt anders als Geldgeber: Das in eins zu packen, dass das sehr gut funktioniert. Sprecherin: Derzeit gibt es 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in 100 Ländern, sie sichern weltweit 100 Millionen Arbeitsplätze, schätzen die Vereinten Nationen. Vor 20 Jahren erklärten sie den ersten Samstag im Juli zum Internationalen Genossenschaftstag. Auch in Deutschland wird man nächsten Samstag den Genossenschaftstag feiern: Mit Sommerfesten, Spendenläufen und Ausflügen zu Kooperativen in der Region. Genossenschaften sind wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit, manche sehen in ihnen gar ein Bollwerk gegen die Wirtschaftskrise. 24. O-Ton: (Rossmann) Da muss man nun sehen, wer ist aktuell Goliath und wer ist David. Die Genossenschaften sind an der Stelle David, aber diesem Davis fehlt die Schleuder. Auf der anderen Seite ist es ein David, der durch die ganzen Spekulationskrisen, die uns die großen Hedgefonds, die großen Banken, eingebracht haben, unbeschadet hindurchgekommen ist. Insofern sind Genossenschaften etwas sozial Konservatives, Konservierendes, genauso wie sie etwas hoch Ideenreiches, Neues darstellen. Sprecher vom Dienst: Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Solidarität Die Genossenschaften kehren zurück Sprecher vom Dienst: Es sprachen: Technik: Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Im Namen der Sicherheit Wie der Zeitgeist die deutsche Rechts- und Innenpolitik verändert Unseren Zeitfragen-Sendungen können Sie im Internet nachhören und nachlesen unter deutschlandradio.de. 1