COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Zeitreisen 10. 10. 2012 "Im Angesicht des Bösen" Erfahrungsberichte von Polizisten, Pathologen und Forensikern erobern den Buchmarkt von Vanja Budde Musik 1, darauf Atmo 1, vor der Lesung von Hans-Ludwig Kröber aus "Mord" in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung in Berlin Moabit, Kröber zum reichlich vorhandenen Publikum: "Das ist schon ein biografisch bedeutsamer Tag, weil ich eigentlich als Jugendlicher das schon ziemlich toll gefunden hätte ein Buch zu schreiben, dann aber immer gezwungen wurde, andere Sachen zu schreiben (Lachen im Publikum), Klassenarbeiten und dann später Gutachten und andere Dinge", ... er redet leise weiter unter Autorin Dorotheenstädtische Buchhandlung, in unmittelbarer Nachbarschaft der Justizvollzugsanstalt Berlin Moabit: Einer der bekanntesten Kriminalpsychiater Deutschlands sitzt hinter einem abgewetzten runden Holztisch und erzählt, wie es dazu kam, dass er sein gerade erst bei Rowohlt erschienenes Buch "Mord" über spektakuläre Gewaltverbrechen geschrieben hat. "Geschichten aus der Wirklichkeit" hat Hans-Ludwig Kröber sie genannt, seine Berichte aus einer brutalen Welt, die den meisten Menschen verborgen bleibt. Neun Fälle, denen der Psychiater begegnete, als er für Gerichte deuten musste, ob ein Täter seelisch krank ist - oder gesund. Atmo 2, Kröber beendet Vorrede, er beginne "nun endlich", liest, steht kurz frei, dann unter Autorin Der 61 Jahre alte Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin hat seinen großen, breiten Körper auf einem harten Holzstuhl zusammengefaltet. Mit seinen grauen Locken und den freundlichen Augen hinter schmalem Brillengestell sieht er aus wie einer, der Märchen vorliest. Doch das, was Kröber erzählt, ist - aus datenschutzrechtlichen Gründen leicht verfremdet - wirklich so passiert: Atmo 3, Kröber liest aus dieser Geschichte "Im Keller" "Als sie den Mann passiert hatte, fühlte sie sich mit zwei Händen von hinten umfasst und mit einem Griff zu Boden gezogen, dann war er obenauf. Sie versuchte zu schreien, schon hielt ihr der Mann den Mund zu. Er hatte ein Messer aus seiner Tasche geholt, drohte ihr damit, sagte, dass sie den Mund halten solle. Dann fragte er: "'Können wir?' Sie nickte, er zog sie hoch und zerrte sie von der Straße fort aufs finstere Feld." Autorin Der Mann wird die Frau im Keller anketten und Wochen lang als Sex-Sklavin missbrauchen. Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Die Männer und Frauen im Publikum erwarten Antworten auf diese Frage. Der Saal ist voll, die Frauen deutlich in der Überzahl. O-Ton 1, Leserin Kröber "Alles was irgendwie abseitig ist und gegen alle Wohlanständigkeit ausgelebt wird ist ja immer faszinierend. Man gruselt sich und gleichzeitig ist man angezogen und fasziniert. Das ganz Andere sich von jemand erzählen zu lassen, der da kompetent ist und seinerseits das Privileg hat, in diese Abgründe zu schauen, und vor allem noch die Fähigkeit, das so großartig zu formulieren." Autorin Doch Hans-Ludwig Kröber gibt in seinem Buch keine klaren Antworten auf die Frage nach dem Warum. Er schildert, wie die Dinge passiert sind. Erzählt sprachgewandt und mit feiner Beobachtungsgabe die Lebensgeschichten der Täter, meist sind es Männer. Ein Familienvater, der zwei Jahre an einem Mordinstrument für seine Frau bastelt, während sie im Zimmer nebenan schläft. Der Kleinkriminelle, der im Abstand von fast 20 Jahren scheinbar spontan zwei Kinder tötet. Warum? Kröber weiß es bis heute nicht. Manche Fälle lassen auch den erfahrensten Psychiater ratlos zurück. Es sei eine Illusion, alles erklären zu können, sagt Kröber offen. Nicht allen im Publikum gefällt das. O-Ton 2, Leserinnen Kröber "Ich dachte, ich werde die Menschen, die morden, besser verstehen. Und das habe ich nicht geschafft, das ist nicht raus gekommen für mich. Ich dachte ich kann mehr in die Seele dieser Mörder blicken, dass ich einfach weiß, was geht in denen vor." (Freundin:) "Ich hätte auch mehr mir einen Einblick gewünscht zu erfahren, was bringt einen Menschen plötzlich in dieses jenseits der Grenze stehen. Warum macht er das? Denn normalerweise urteilt man ja erst mal sehr emotional und sagt ,so ein Schwein, so ein Verbrecher'. Und - man hat so ein bisschen heraus gefunden, wie sich das Leben dieser Leute zuspitzt, wie sie immer mehr in die Enge gentrieben werden. Aber mich hätten noch ein bisschen mehr von seinem Fachwissen her Information interessiert." Kreuzblende zu Musik 2 Autorin Viele Menschen begehren Informationen über das Innenleben von Mördern: Der Markt ist voll mit Sachbüchern von Anwälten, Forensikern, Profilern und Gefängnisärzten, nicht wenige haben es auf die Bestsellerlisten geschafft. Der wahre Hype begann 2009: Die ersten Kurzgeschichten des Berliner Rechtsanwalts Ferdinand von Schirach, die auf spektakulären Fällen seiner Kanzlei beruhen, erschienen im Piper-Verlag - und verkauften sich millionenfach. Der Buchmarkt griff die umsatzträchtige Idee gierig auf. Mittlerweile sind mehr als ein Dutzend "True Crime"-Bücher auf dem Markt, Geschichten, die auf wahren Verbrechen beruhen - und sie werden gekauft, bestätigt die Buchhändlerin Ute Bauer: O-Ton 3, Filialleiterin Ute Bauer, "Und gerade auch die Tatsachenberichte, also diese Bücher auch, die Forensiker geschrieben haben, oder so, die bieten ja jetzt den Abgleich zur Realität. Und das ist glaub ich was, was Leute einfach interessiert. Wir verkaufen halt auch diese Profilerbücher ganz viel. Ich glaube, dass eine Menge Leute, weil vielleicht unser Alltag einfach so friedlich hier ist, brauchen die vielleicht als Gegenpart irgendwie diesen Grusel, wenn sie lesen." Musik 3 Autorin Um den Lesehunger zu stillen, sind Verlage derzeit fleißig auf der Suche nach Schreibtalenten aus der blutigen Branche. Nach jemandem wie Axel Petermann zum Beispiel. Der langjährige Leiter der Mordkommission des Landeskriminalamtes Bremen ist heute dort Chef der Abteilung "Operative Fallanalyse", die er nach dem Vorbild des FBI in den USA aufgebaut hat. Petermann lehrt als Dozent für Kriminalistik und berät die Redaktion des "Tatort" des Hessischen Rundfunks. Er begann Bücher über seine Arbeit zu schreiben, nachdem ihn ein Verleger auf einer Fachtagung angesprochen hatte. Sein erstes, "Auf der Spur des Bösen" von 2010, verkaufte sich in Windeseile mehr als 50-tausend Mal. "Im Angesicht des Bösen" heißt sein neues Buch, das bei Rowohlt erschienen ist. Autorin Der Kriminalist nennt seine Fallbeispiele in "Im Angesicht des Bösen" einen "Blick hinter den Vorhang": Er weiß also um den Reiz, der darin liegt, quasi durchs Schlüsselloch in die Psyche der "Bestie" zu schauen. Im Vorwort seines Buches gesteht er ein, welch große Anziehungskraft das Böse auch auf ihn selber hat. Dass er die Grenzen zivilisatorischen Lebens erforschen möchte. Doch im "Angesicht des Bösen" schildert der Analytiker nüchtern, wie er seine Arbeit macht. Petermann urteilt nicht. Weder über den Studenten, der eine junge Frau mit Dutzenden Messerstichen tötet, weil er mit dem Blutbad in einer Tiefgarage seine bizarren sexuellen Fantasien umsetzen will. Noch über die psychisch kranke Frau, die eine Mutter ermordet, um deren Baby an sich zu bringen. Ein schier "unfassbarer Fall", auch für Petermann. Zitat: Ausschnitt 1 aus "Im Angesicht des Bösen." "Kaltblütig", Sprecher: "Der starke Wille, die Frau zu töten, zeigt sich auch an den Hautabschürfungen, die ich an beiden Schulter entdeckt habe, der Täter hat den Oberkörper der Frau offensichtlich über längere Zeit mit dem Knie auf den Boden gedrückt. Jemanden mit den Händen zu erwürgen, erfordert vom Täter ein hohes Maß an Entschlossenheit. Denn im Todeskampf entwickelt jeder Mensch ungeahnte Kräfte. Er windet sich, versucht sich weg zu drehen, bäumt sich auf, schreit und schlägt um sich, ehe nach zwölf bis 15 Sekunden die Bewusstlosigkeit eintritt. So lange muss der Täter die Kraft besitzen, den Würgegriff zu halten. Es ist eine körperliche, vor allem aber psychische Herausforderung. Der Tod tritt erst nach Minuten ein, Minuten, die dem Täter wie eine Ewigkeit vorkommen müssen." Autorin Der Schreibstil ist es nicht, der an Petermanns Buch fasziniert. Der Autor malt auch nicht, wie mancher seiner schreibenden Kollegen, das Grauen der Taten in fiktiven Szenen aus. Er schildert lediglich detailliert seine Beobachtungen und Gedanken, zitiert aus wissenschaftlichen Studien und Statistiken. Mit dieser Sachlichkeit schützt er seine Leser und auch sich selbst vor dem Abgrund, in den er blickt. Aus dem Wissen, dass es die Wirklichkeit ist, die Petermann hier so emotionslos beschreibt, entwickelt sich dennoch eine Spannung, die Alpträume verursacht. O-Ton 4, Axel Petermann/11'10-12'20 "Ich glaube, dass ich Bilder beim Leser entstehen lasse. Der guckt über meine Schulter und wird Teil der Ermittlung oder von der Tatortarbeit. Da wollte ich auch sehr genau sein, aber gleichzeitig, und das war mir ganz wichtig, wollte ich nicht werten. Und das ist glaub ich der Vorteil, den ich habe beim Schreiben: Dass ich einfach den Leser entscheiden lasse, wie er das denn empfindet, wie grausam, wie brutal, wie hinterhältig er manche Taten sieht." Autorin Vom Umschlag seines Buches blickt der Autor, die Hände in den Jeans-Taschen, halblanges, weißes Haar, Schnurrbart, die Augen etwas müde und traurig, als könne er trotz aller Berufserfahrung nicht wirklich glauben, was Menschen einander antun. O-Ton 5, Axel Petermann/11'10-12'20 "Auf der anderen Seite war das Schreiben für mich, das habe ich nachhinein erlebt, auch eine Form der Bearbeitung, der Bewältigung. Ich bin da eigentlich relativ locker ran gegangen, aber mir war auch nie bewusst, dass ich doch die ganzen Verbrechen noch einmal wieder durchlebe, weil ich ja doch in die Akten wieder schaue, dass ich mir die Tatortbilder ansehe. Zwar hat sich vieles in meinem Kopf abgespeichert, aber doch nicht in der Plastizität, in der ich versuche, es wiederzugeben." Autorin Liest man "Im Angesicht des Bösen" wird klar, wie nahe der Profiler dem Gesuchten innerlich kommt. Um den Menschen hinter der Tat zu erkennen, muss er "den Vorhang des Schreckens durchschreiten". Aber diese Nähe lässt Axel Petermann nicht schaudern, sondern ist genau das, was er gesucht hat, als er sich der neuen Methode aus den USA zuwandte, dem so genannten Profiling, entwickelt von der amerikanischen Bundespolizei FBI, um Serienkiller zu fangen. O-Ton 6, Axel Petermann/06'30-07'20 "Das Neue und Ungewöhnliche an dem Profiling war der Ansatz, dass ich die Verbrechen besser verstehe. Seit Jahrzehnten haben wir in Deutschland eine ganz hohe Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag: 85, 90 Prozent, manchmal sogar darüber. Aber nicht immer haben wir auch verstanden, warum der Täter so gehandelt hat. Und das hat mich interessiert. Mir hat es nicht mehr gereicht, nur eine Tat aufzuklären, ich wollte einfach mehr darüber erfahren." Autorin Axel Petermann will den Dingen auf den Grund gehen, Zusammenhänge erkennen, die verborgen geblieben sind, will verstehen, warum Menschen Böses tun. Dass er als Profiler dieses Bedürfnis hat, ist nachvollziehbar. Doch was glaubt er, warum Bücher zum Thema so gerne gelesen werden? O-Ton 7, Axel Petermann/15'35-16'20-17'00 "Also, erstmal denk ich, ist das Böse den Menschen schon sehr nah. Es hat kein Gesicht oder ganz, ganz viele Gesichter. Das Kainsmal des Bösen bei den Tätern, das gibt es nicht. Jeder kann Böses tun, ohne dass er ein böser Mensch sein muss. Ich glaube, wir wollen uns dem wirklich nähern. Viele möchten erfahren, wie sehr kann ich mich auf das Böse einlassen. Also es muss einen Reiz haben und ich denke mal, jeder von uns hat doch wirklich das Bedürfnis, auch so Grenzen zu erfahren." Musik , steht kurz frei, dann unter Autorin Der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber ist Experte für solche Grenzerfahrungen. Er wundert sich nicht, dass die Leser in die Psyche von Schwerverbrechern hinein kriechen wollen. Wissen wollen, was sind das für Menschen? Wie wird man so? Lauern diese Abgründe vielleicht auch in mir selbst? Tiefenpsychologen bezeichnen die Lust am Entsetzen schließlich als etwas Urmenschliches. O-Ton 8, Hans-Ludwig Kröber "Ich glaube, dass untergründig sich die Menschen bewusst sind, dass wir in Friedenszeiten leben, das Töten aber in Wirklichkeit gar nicht so weit weg ist und die Gefahr nicht gebannt ist. Und dass uns das noch in den Knochen steckt. Das interessante ist, dass in der normalen Lebenswelt des Einzelnen in der Bundesrepublik Töten nicht vorkommt, und trotzdem ist ein Bewusstsein da, dass das eine virulente Gefahr ist. Die Tatsache, dass sich die gesamte Gemeinde nicht mehr sonntags vormittags in der Kirche, sondern sonntags abends zum ,Tatort' versammelt, das ist schon erklärungsbedürftig und zeigt, dass die Leute immer wieder neu dieses Spiel von Tod und Strafe durchspielen. Es ist in gewisser Weise eine rituelle Übung, die gemacht wird und die uns zeigt, dass uns dieses Thema umtreibt, weil es das Schlimmste ist, was uns passieren kann." Autorin Kröber hört von den Männern und wenigen Frauen, die ihm zur Begutachtung gegenüber sitzen, Details über ihre Taten, die anderen das Blut in den Adern gefrieren lassen würde. Und doch nennt Hans-Ludwig Kröber die neun Fälle, die er in seinem Buch "Mord" beschreibt, "Geschichten aus der Verwandtschaft." O-Ton 9, Hans-Ludwig Kröber "Es ist schon ein verstecktes Anliegen dahinter, zu verdeutlichen, dass dieser große Kontrast, der immer wieder her gestellt wird, insbesondere nach spektakulären Verbrechen, wir die guten, die braven Bürger einerseits und dort drüben, ganz weit entfernt, die Monster und die Bestien, die brutalen, grausamen Menschen, dass diese Gegenüberstellung natürlich, wie jeder weiß eigentlich, ne ziemlich Künstliche ist." Musik Autorin Wie aus unschuldigen Kindern monströse Mörder werden können, beschreibt der Psychiater auch in seinem Buch. Er berichtet davon, wie ein Leben auf die schiefe Bahn geraten kann, unmerklich, wegen einer einzigen Fehlentscheidung, oder von Anbeginn an vorgezeichnet. Ohne aber zu behaupten, dass alles so kommen musste, wie es dann kam. Wissenschaftlichen Erklärungsmustern verweigert er sich. O-Ton 10, Hans-Ludwig Kröber "Weil ich ein Gegner bin dieser schnellen Deutungen, die eigentlich darauf hinaus laufen, dass das, was einen erschreckt, was einen irritiert, möglichst schnell wieder eingedeckelt wird. Wenn es erklärt wird, denkt man, dann hat man es unter Kontrolle. Und ich wollte gerade deutlich machen, dass in vielen dieser Fälle sehr vieles unerklärbar bleibt, sehr vieles unberechenbar bleibt und dass die Vielfalt von menschlichen Handlungsmöglichkeiten sich eben auch in den Verbrechen verdeutlicht." Autorin In "Mord" versetzt Körber sich vor allem im ersten Fall, "Reise in die Zukunft", so intensiv in den Täter und dessen Empfindungen hinein, dass man beim Lesen das Gefühl hat, in der Haut des Mannes zu stecken, der zwei Menschen getötet hat. In diesem Fall auf Grund einer akuten psychotischen Störung. Die Geschichte beginnt mit einer fatalen Busfahrt von Kasachstan nach Deutschland, in deren Verlauf sich die Krankheit schrittweise verschlimmert. Das liest sich so suggestiv und spannend wie ein Krimi. Zitat Ausschnitt 2, "Mord", "Reise in die Zukunft" Sprecher: "Jetzt waren es noch 200 Kilometer bis Warschau, sie waren so gut wie am Ziel, von da nur noch 500 Kilometer bis Berlin. Dort wollte Gregor ihn abholen. Sie fuhren durch Warschau, und Alexander ging es gar nicht gut. Sie fuhren durch die Dunkelheit, aber immer wieder zuckten Lichter auf, und die Schatten wie die Lichter durchzogen den Bus. Alexander fing an zu zucken und rief laut, dass man ihn nicht anfassen solle. Niemand wollte ihn anfassen, alle schauten ratlos zu ihm hin. Alexander saß da mit ängstlichem Gesicht. Er rief ,Mama, Mama!' und auch nach seinem Vater, und er hörte nicht mehr auf zu rufen. Wenn er doch mal für einige Minuten eine Pause machte, sanken die anderen erleichtert zurück in ihre Sitze." Autorin Es sei eine Art "ethnologisches Interesse", das ihn antreibe, sagt Kröber: Alle Täter, wie abstoßend ihre Verbrechen auch sind, bleiben für ihn Menschen. Hans-Ludwig Kröber hat Fachbücher geschrieben und ist Herausgeber eines Standardwerkes für viele Kriminalgutachter. "Mord" ist sein erstes erzählerisches Buch. Er hat sich damit einen Jugendtraum erfüllt. O-Ton 11, Hans-Ludwig Kröber "Befreit zu sein von den Konventionen und Festlegungen in Gutachten, sich ganz auf die Geschichte konzentrieren zu dürfen, sie ausschmücken zu dürfen, sie lebendiger machen zu dürfen. Abgesehen davon, dass es Ruhm, Ehre und Geld bringt, ist es diese Mitteilungsfreudigkeit, die da eine Rolle spielt. Für mich zum Beispiel ist diese Beschäftigung mit den konkreten Fällen und den Personen natürlich auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Angst und der Möglichkeit, jetzt aus einer völlig geschützten Position heraus ganz nahe heran zu kommen an Sachen, die eigentlich hochgradig ängstigend sind." Musik, Atmo Stahltür, steht kurz frei, dann unter Autorin Wie Kröber und Petermann ist auch Joe Bausch ganz nah dran am Bösen: Als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth beugt er sich im Kölner "Tatort" im grünem Kittel mürrisch über Leichen, im wirklichen Leben ist Joe Bausch Arzt in der Justizvollzuganstalt Werl in der Nähe von Dortmund. Sein Buch über ein Vierteljahrhundert hinter Gittern heißt schlicht "Knast". Es ist auch als von Joe Bausch selbst eingesprochenes Hörbuch erschienen. Zitat Ausschnitt 3, "Knast", Hörbuch, gelesen von Joe Bausch "Heute bin ich der Hausarzt von Sicherungsverwahrten, von Mördern, Kinderschändern, Totschlägern, Vergewaltigern, Erpressern, Räubern, Drogendealern, Betrügern und Dieben, Ich bin RAF-Terroristen begegnet, ehemaligen KZ-Wärtern, hochkarätigen Wirtschaftskriminellen, Heiratsschwindlern, Brandstiftern und Frauen, die ihr Baby umgebracht haben. Aber auch vielen Eierdieben. " Autorin Im Unterschied zu Kröber und Petermann befasst Joe Bausch sich nicht mit individuellen Biografien, sondern mit dem Alltag im Gefängnis. Er beschreibt aus seiner individuellen Perspektive als Mediziner das Gefängnis als einen Ort, an dem ganz eigene Regeln gelten. Hier regiert das Recht des Stärkeren und wer Schwäche zeigt, wird Opfer von Unterdrückung, Demütigung, Erpressung und Gewalt durch die anderen Häftlinge. O-Ton 12, Joe Bausch "Natürlich lässt sich Gewalt fast naturgemäß auch im Gefängnis nicht verhindern, weil wir haben sehr viele gewalttätige Menschen dort, Menschen, die halt nicht gewohnt sind, sich am Riemen zu reißen, die mit ihren Affekten nicht haushalten können, so wie doch die meisten von uns." Autorin Bausch beschreibt die drangvolle Enge in Gemeinschaftszellen, den typischen Knastgestank nach Bohnerwachs und Eintopf, kaltem Zigarettenrauch, ungelüfteten Betten und Männerschweiß. Erzählt von Krankheiten und den Preisen für eingeschmuggelte Drogen genauso wie von der Atmosphäre des Misstrauens und der Denunziation. Als Arzt hat er eine Ausnahmestellung inne, gehört nicht zur Fraktion der "Schließer", denen sich kein hartgesottener Häftling anvertraut. Wie seine schreibenden Kollegen geht auch Joe Bausch so manchen Abend mit dem Kopf voller grausiger Geschichten nach Hause. Andererseits muss er Mörder und Vergewaltiger als ganz normale Patienten sehen und das, was sie getan haben, aus seinen Gedanken verbannen. O-Ton 13, Joe Bausch "Ich muss es ausblenden. Ich will es auch ausblenden, ehrlich gesagt. In dem Moment, wo ich den weißen Kittel anziehe, kümmere ich mich in erster Linie um die Gebrechen meiner Patienten, um Krankheiten, stelle Diagnosen und behandle. Das ist auch der Grund, weshalb ich im Knast nichts andere sein möchte als Arzt." Autorin Auch "Knast" ist zum Bestseller avanciert. Was insofern erstaunlich ist, als das Interesse der Öffentlichkeit oft mit dem Urteil gegen den Verbrecher schlagartig erlischt. Erst durch die öffentliche Diskussion über die sogenannte Sicherheitsverwahrung von Schwerverbrechern habe sich das geändert, so Joe Bausch. Zumal das viel Angst und Unsicherheit ausgelöst habe. O-Ton 14, Joe Bausch "Jetzt interessieren sich Zuhörer, Zuschauer und Leser auch differenzierter. Diese einfach Denke, Klappe auf und dann weg und Klappe zu, das funktioniert nicht mehr. Die Leute wollen schon wissen, was macht ihr dort mit den Insassen, was passiert mit denen. Was bedeutet Resozialisierung im Konkreten eigentlich? Was tut Gefängnis, die Institution Strafvollzug dafür, dass die Menschen gebessert entlassen werden können? Was tut ihr für unsere Sicherheit?" Autorin Die Bilanz nach 25 Jahren als Gefängnisarzt fällt kritisch aus: Zwar sei der Strafvollzug modernisiert worden, doch nach wie vor fehle es an Therapieplätzen, obwohl eine psychotherapeutische Behandlung von Gewalt- und Sexualstraftätern deren Rückfallrisiko stark senken kann. "Knast" erschien im März dieses Jahres und hält sich seit April auf der Spiegel- Bestsellerliste, wo es zwischenzeitlich auf Rang sechs stand. Das Buch hat sich bislang rund 50-tausend Mal verkauft, mittlerweile ist die fünfte Auflage gedruckt. Atmo 4, vor einer Lesung in der Buchhandlung Hugendubel in Berlin Steglitz, Gemurmel, Espressomaschine ect., unter Autorin Wer beim Internethändler Amazon "Knast" bestellt, kauft laut dessen interner Statistik oft auch "110 - ein Bulle hört zu", ebenfalls beim Ullstein Verlag erschienen und ähnlich erfolgreich auf der Spiegel-Bestsellerliste und bei den Verkaufszahlen. Verfasser ist Cid Jonas Gutenrath, der Jahre lang unter der Titel gebenden Notrufnummer der Berliner Polizei erreichbar war. Gutenrath hat aufgeschrieben, was er erlebt hat in den Gesprächen mit Menschen in Todesangst, mit Verzweifelten, Entnervten, Aggressiven und Einsamen. An diesem Abend liest Gutenrath in einer großen Buchhandlung im bürgerlichen Südwesten Berlins. Im Publikum wieder viele Frauen. Cid Jonas Gutenrath: Breites Kreuz, raspelkurze Haare, Bart, tätowierte Arme, Kodderschnauze. Das Publikum mag ihn. Er liest aus seinem Buch die Geschichte "Die Axt" und weil er nicht will, dass sein Auftritt mitgeschnitten wird, hier der entsprechende Auszug aus dem Buch "110 Ein Bulle hört zu": Zitat Ausschnitt 4, "110. Ein Bulle hört zu", "Die Axt" Sprecher "Gut gelaunt und lässig tippe ich mit dem kleinen Finger auf eines der blinkenden Felder, in Erwartung eines Ladendiebes oder Falschparkers. Im allerbesten Johnny- Walker-Sound sagt da ruhig und gefasst eine Männerstimme zu mir: ,Ich hab die Schlampe kalt gemacht.' Um Zeit zu gewinnen frage ich: ,Wie bitte?', Du hast schon richtig gehört. Das war's', höre ich im gleichen ruhigen Tonfall wie zuvor. Kein Irrer, kein Wichtigtuer, dafür ist er zu wortkarg. Scheiße! Ruhig, ja fast zufrieden, erzählt er: ,Das Miststück hat mir in den Knast geschrieben, dass sie ,nen neuen Stecher hat. Fotze! Aber ab heute bin ich im Freigang. Wegen guter Führung', sagt er gedehnt. ,Also bin ich hergefahren, hab den Kellerverschlag eingetreten, mir die Axt geholt und ihr in den Schädel gedroschen." Autorin Nach fast zehn Jahren beim Notruf arbeitet Gutenrath jetzt bei der Hundestaffel der Polizei. Der Schichtdienst beim Notruf war tödlich fürs Familienleben. Aber gut für Ullstein: Weil die innere Uhr kaputt ist und er nicht mehr durchschlafen kann, hat Gutenrath zu nächtlicher Stunde die Geschichten der Männer, Frauen und Kinder aufgeschrieben, die die 110 gewählt hatten. O-Ton 15, Cid Jonas Gutenrath "Maßgeblich drei verschiedene Gründe: Ich hab das Gefühl, dass da so viele Geschichten und so viele Schicksale und so viele Menschen durch meinen Kopf gegangen sind, wo man sich ein bisschen was mitnehmen kann. Das zweite ist, dass ich Spaß daran hab, das Polizistenbild ein bisschen durcheinander zu wirbeln. Und das dritte ist, ich will nicht von Therapie reden, aber es sind Sachen, die man auf die Jahre hinweg nicht einfach so weg steckt. So ein bisschen abgearbeitet habe ich mich daran auch." Autorin "110" erschien in dem neuen Verlagsableger Ullstein extra. Dort sollen populäre, erzählende Sachbuch-Paperbacks vom wahren Leben berichten. Deutsche Sachbücher würden nach den Vorbildern USA und Großbritannien zusehends erzählerischer, begründet Programmleiter Daniel Oertel im "Börsenblatt" die Neugründung. Wissen und Fakten ja, aber lebendig und bewegend erzählt und in gute Geschichten verpackt. "110 Ein Bulle hört zu" landete schnell auf der Spiegel- Bestseller-Liste, der Polizist wird seitdem in Talkshows eingeladen und bekommt tausende Leserbriefe. O-Ton 16, Lesungs-Besucherin "Es ist einfach sehr bemerkenswert und beeindruckend, diese Arbeit mal mit zu erleben oder auch davon zu hören. Dass ist für viele Menschen ja unzugänglich und was spielt sich dort ab, welche Tragödien, Dramen oder schöne Sachen spielen sich dort ab. Das kann man sich so eigentlich gar nicht vorstellen und da bekommt man so einen kleinen Einblick. Und die Faszination besteht darin, dass diese Sachen unter die Haut gehen, dass sie berühren." Musik 5, steht kurz frei, dann unter Autorin Der Schauder der "True Crime" ist intensiver als der beim fiktiven Kriminalroman. Hier kann man sich nicht mit dem Gedanken beruhigen, dass ja alles ausgedacht ist. Echtes Blut ist geflossen und echte Menschen sind gestorben. Diese Sachbücher bieten einen realen Einblick in die mitunter schrecklichen Abgründe des Mensch- Seins. Das macht gleichzeitig ihren Reiz aus und füllt die Kassen. Dass mancher schreibende Beamte oder Anwalt etwas angestaubt und spannungsarm daher kommt, tut dem keinen Abbruch, sagen Lektoren: Die Authentizität wiege das auf. "Die Wirklichkeit ist packender als jeder Krimi", warb denn auch der Heyne Verlag im vergangenen Jahr für "Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden", vom Chef der Münchner Mordkommission Josef Wilfing. "True Crime" kann derzeit mit dichterischer Fiktion durchaus konkurrieren, bestätigt Buchhändlerin Ute Bauer. O-Ton 17, Filialleiterin Ute Bauer "Ich kann nur sagen, dass die zunehmend gerne gekauft werden und genau so eine Erfolgsstory haben, wie die Krimis an sich." Autorin Hans-Ludwig Kröbers "Mord" hat sich binnen einer Woche nach dem Erscheinen Ende September dieses Jahres schon 10.000 Mal verkauft. Von Petermanns "Im Angesicht des Bösen" gingen bislang 15.000 Exemplare weg. Beide sind bei Rowohlt heraus gekommen. Dort werden auch der forensische Psychiater Reinhard Haller und der Ermittler Axel Pütter verlegt. Vom Erfolg beflügelt wirft der Verlag im kommenden Februar "Dr. Elisabeth Türk - Die Gerichtsmedizinerin" auf den Markt. Ullstein plant eine ganze True-Crime Serie und wartet im Herbstprogramm mit Soko im Einsatz" auf: Autor ist Hauptkommissar Ingo Thiel aus Mönchengladbach, der unter anderem den Fall Mirco gelöst hat. Bald - so scheint es - gibt es keinen Kriminalisten mehr, der in Sachen Fakt versus Fiktion nicht zur Feder greift. Und es ist ein erstaunlich nachhaltiger Trend: Selbst mit zwei Dutzend ähnlich gelagerter Bücher scheint der Markt noch nicht gesättigt. Doch nicht nur die Leser müssen vorsichtig sein, dass ihr Menschenbild nach der Lektüre solcher Bücher nicht Schaden nimmt. O-Ton 18, Axel Petermann/30'40-31'25 "Manchmal denk ich, dass ich sehr misstrauisch geworden bin." Autorin Sagt der Profiler Axel Petermann nach mehr als drei Jahrzehnten "Im Angesicht des Bösen". O-Ton 19, Axel Petermann/30'40-31'25 "Ich guck mir die Menschen kritischer an. Vielleicht bin ich auch nicht mehr so unbeschwert. Das Lachen, das Spontane, das ich früher doch sehr in mir hatte, das ist ein bisschen zurück gegangen. Aber letztendlich mag ich Menschen immer noch." Musik 5, kommt hoch, sanft weg blenden 1