COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 9.9.2008, 19.30 Uhr Istrien, so traurig schön. Erkundungen in einer europäischen Landschaft Von Uwe Stolzmann 1. Musik: Folklore, instrumental. UNTERLEGEN. Autor: Man sollte sich langsam nähern, vielleicht in einem Schiff. Vielleicht von Venedig aus, Richtung Osten, ein paar Dutzend Seemeilen über die Adria. 1. O-Ton: Erica Fischer. Alle O-Töne Fischer: Deutsch. Was war mein stärkster Eindruck, als ich nach Istrien kam? Für mich war es die Offenheit der Menschen. Das hat mich schier umgehauen. 2. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Istrien ist ein stilles Land. Zumindest an der Oberfläche. Ein friedlicher Winkel der Welt. Aber: Im Untergrund gibt es wilde Wasser. 3. O-Ton: Alida Bremer. Alle O-Ton Bremer: Deutsch. Dieses Istrische war alles so mild. Es war anders als in Dalmatien. Da die Sprache ähnlich aber nicht gleich ist, Menschen ähnlich aber nicht gleich, Landschaft ähnlich aber nicht gleich ist, war das für mich sehr verstörend. Dieser Eindruck der totalen Fremde in einer solchen Nähe zu meiner Heimat. Autor: Istrien, in der nördlichen Adria zwischen dem Golf von Triest und der Kvarner Bucht gelegen, gut dreimal so groß wie die Insel Rügen. Eine bukolische Halbinsel von ebenmäßiger Gestalt, dreieckig, nein, eher in der Form eines Wappenschildes. Im Guten wie im Bösen eine sehr europäische Landschaft. Wer sie verstehen will, braucht gute Begleitung. Musik: HOCHZIEHEN, AUS. 4. O-Ton: Erica Fischer. Ich bin Erica Fischer, 65 Jahre alt, ich bin in England geboren, in Wien aufgewachsen und lebe seit längerer Zeit in Berlin. Seit Anfang 2000 war ich zweimal etwas länger in Istrien, um über mein Buch ?Aimée und Jaguar? zu sprechen und als Reise-Schriftstellerin meine Eindrücke festzuhalten. 5. O-Ton: Da?a Drndi?. Kroatisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Ich heiße Da?a Drndi? und bin Dozentin für englische Literatur. Geboren wurde ich 1946 in Zagreb. 38 Jahre lang lebte ich in Belgrad, doch bei Ausbruch des Jugoslawien-Krieges zog ich mit meiner Tochter nach Rijeka, an die kroatische Küste, später für einige Jahre nach Kanada. 6. O-Ton: Alida Bremer. Mein Name ist Alida Bremer, ich bin in Split in Dalmatien geboren, und ich lebe seit 22 Jahren in Münster in Westfalen - Autor: ?Literarisch reisen: Istrien. Gedanken, Phantasien, Erinnerungen.? Alida Bremer hat den Band herausgegeben, im Drava-Verlag, ein Buch mit den Stimmen von zwei Dutzend Schriftstellern aus aller Welt. Zu dritt begeben sie sich nun erneut in die Region, drei Kosmopolitinnen. Sie erkunden das traurig-schöne Land; behutsam dringen sie vor in seine Schichten, die sichtbaren und die unsichtbaren. Vielleicht sehen sie, was Touristen übersehen. In ihren Texten beschreiben sie, was die Reiseliteratur nicht vermerkt. ? Erica Fischer: 7. O-Ton: Erica Fischer. Io sogno in tutte le lingue. Das heißt: Ich träume in allen Sprachen. 1. Musik: Folklore, instrumental. Wie oben. UNTERLEGEN. Sprecherin: ?Auf dem Weg zum Auto nimmt Lili mich in den Arm. Ihr Körper ist wie ein Kissen. Wir haben dich adoptiert, sagt sie, du kannst kommen, wann du willst. Wahrscheinlich werde ich von diesem Angebot nie Gebrauch machen, aber die Idee ist tröstlich. Das Leben ist schön, sagt sie, man muß die Augenblicke nur suchen, sie sich schaffen. Ich liebe Istrien, sagt Magda. Ich liebe unsere Männer, sagt sie, groß, männlich und mit heftigen Gefühlen. Ich habe mich nie für Männer aus anderen Ländern interessiert, sagt sie. Ein Deutscher? Absurd. Ein Engländer? Nicht einmal ein Italiener könnte sie reizen. Nur unsere Jungs, mit ihren breiten Schultern, den kräftigen Stimmen, und wenn sie getrunken haben, singen sie Partisanenlieder und weinen. Unter diesen Menschen, die ihr Land lieben, fühle ich mich wie ein Fetzen Papier im Wind. Kurz berührt er den Boden und torkelt weiter. Eine Verlorene, die sich nach Istrien treiben läßt, um es für ein paar Tage warm zu haben.? Musik: AUS. KOMPONIST 8. O-Ton: Erica Fischer. Wenn ich eine Malerin wäre: Ich würde sehr viel Grün nehmen, und dann diese kleinen rötlich-braunen Flecken der kleinen Orte, die in Istrien verstreut sind. Und natürlich umgeben vom Blau des Meeres. 9. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Istrien duftet nach Akazien ? aus denen guter Honig gemacht wird. Dann nach Feigen, reifen Feigen, nach Klee, und es riecht nach Ziegen, Ziegenmilch. Istrien ist berühmt für seine Ziegen. 10. O-Ton: Alida Bremer. Ich würde Istrien immer von Landesinneren her darstellen. Immer mit Farben der Erde, wo dann diese Trüffelschweine nach Trüffeln wühlen in irgendwelchen Wäldern und wo alles so ein bißchen feucht und morsch ist ? Autor: Die Erde kann rot sein und grau und weiß. Man spricht vom roten, grauen und weißen Istrien. 11. O-Ton: Erica Fischer. Welche Musik würde zu Istrien passen? Es muß eine Verbindung von slawischen Klängen und italienischen Klängen sein. Das heißt, eine gewisse slawische Schwermut und dann das leichte Italienische. 12. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Die Musik ist atonal. Nicht sehr angenehm fürs Ohr. 13. O-Ton: Alida Bremer. Die haben auch eigene Instrumente, so ganz komische Flöten und Geigen, die Rhythmen haben etwas Schmerzhaftes, überhaupt nicht heiter, lustig, wie man sich denken könnte, weil es Mittelmeer ist, sondern mit ganz viel Sehnsucht und einer Verschiebung in den Harmonien, also es ist ganz vieles disharmonisch und schräg dabei. Autor: Diese Musik paßt zu Istrien, sagen die Reisenden: Musik von Tamara Obrovac, einer Ethno-Jazzmusikerin aus Istriens Süden. 2. Musik: Tamara Obrovac. EINE WEILE STEHENLASSEN! DANN MISCHEN MIT: 14. O-Ton: Atmo Wellen, Meer. UNTERLEGEN. Autor: Annäherung vom Meer. Zuerst ist da wenig: Ein Streifen nur, staubgrau, karges Land in flachen Wellen. Man ahnt Wiesen, kleine Wälder, Oliven, Lavendel, Zypressen. Mal ein Ziegendorf und mal ein Städtchen aus dem Mittelalter. Wer sich dem Südzipfel der Halbinsel nähert, bemerkt plötzlich eine Erscheinung, einen Fremdkörper in der Landschaft ? ein Bauwerk, so mächtig, daß es die nahe Stadt Pula verschwinden läßt. Dieser Rundbau: 130 mal 100 Meter groß, errichtet für einst 23.000 Menschen. 15. O-Ton: Erica Fischer. Es ist überwältigend, wenn man da steht und daran denkt, wie alt das ist. Es hat mich mehr beeindruckt als Rom. Weil man vielleicht auch in einer kleinen Hafenstadt wie Pula so etwas gar nicht erwartet! 16. O-Ton: Alida Bremer. Das ist wirklich sehr beeindruckend, und viele Schriftsteller haben es auch beschrieben, zum Beispiel Wolfgang Koeppen im Roman ?Die Mauer schwankt?. Autor: Koeppen ließ in den dreißiger Jahren eine Buchfigur die nämliche Strecke reisen, von Venedig nach Istrien. Johannes von Süde, ein Baumeister. Gegen Mittag ? so steht es im Roman - erblickte der Fahrende vom Schiff aus das Land. Und über der Küstenlinie: O-Ton: Atmo Wellen, Meer. UNTER SPRECHER AUSBLENDEN. Sprecher: ?... der gelbe, Verehrung gebietende Stein der Rundmauer eines riesigen Amphitheaters, eines Kolosseum, eines Circus Maximus, der über dem Land sich erhob und es beherrschte mit einer Pracht, die noch im Verfall Pracht war, noch Macht in der Ruine, noch stark genug den Sinn zurückzulenken in die vergangene Zeit, da im Kreis ihrer Legionen, die Banner hoch! die Rutenbündel hoch!, die römischen Eroberer, die großen Cäsaren das Zepter ihrer Herrschaft dort errichtet hatten.? 17. O-Ton: Alida Bremer. Für viele Reisende, die so eine Begegnung z.B. mit einem römischen Kolosseum machen, ist sehr verstörend gewesen, daß man zwar antike Spuren wie in Rom wie im alten Griechenland in dieser Region vorfand, aber daß sie das in einer Mischung mit der slawischen Bevölkerung gar nicht erwartet haben. Diese slawische Sprache war ein verstörendes Element, das war ein Zeichen der Fremde. Man hat auch Slawen anderswo erwartet, aber nicht hier, zwischen antiken Ruinen. Autor: Der Reisende spürt Nähe und Ferne, Vertrautheit und Irritation. Wie seltsam! ?Italien, das nicht Italien ist?, sagte Pier Paolo Pasolini in den Sechzigern über die Gegend. Istrien ist ?anders?, sagt Alida Bremer heute. Man muß nicht von weither kommen, muß nicht Italiener oder Deutscher sein, um in dieser Landschaft zu fremdeln. Alida Bremer, die Germanistin und Romanistin, stammt aus einer Region in der Nähe. Split liegt nur ein Stück südlicher. 2. Musik: Tamara Obrovac. UNTERLEGEN. Sprecherin: ?Nichts fand ich in Istrien anziehend. Alles schien mir wie eine blasse und mißlungene Kopie meiner Heimat Dalmatien: Weder war der Himmel so tief blau, das Meer so kristallklar, die Steinmauern so weiß, noch die Sonne so heiß; sogar die Möwen schienen mir irgendwie rachitisch. Am meisten erstaunte mich das Grün ? Olivenbäume wachsen dort auf gepflegtem, beinahe englischem Rasen. Es fehlen nur noch die Kühe, nörgelte ich unzufrieden. So kritisierte ich nur und hörte meinen Freunden zu, die sich beinahe dafür entschuldigten, daß ihre Halbinsel weder groß noch mächtig, berühmt, steinig, blau, weiß oder sonnig ist wie Dalmatien, und daß auf ihrem Wappen eine Ziege ist (und auf unserem Löwen!).? Musik: HOCHZIEHEN, AUS. Übersetzung aus dem Kroatischen: Bla?ena Rada? Autor: Istrien, ein fremd-verlorenes, ein vergessenes Land? Der Eindruck täuscht. Istrien ist kein weißes Kartenblatt. Die Adriastrände lockten zu allen Zeiten. Große Dichter sind hier gewesen, sie haben das Land verwandelt: in einen Topos, ein formelhaftes Bild. Mit Dante und Jules Verne, Tschechow, Nabokov und James Joyce wird Istrien Teil der literarischen Landkarte. 18. O-Ton: Alida Bremer. Es ist bekannt, daß die Benennung eines Raumes in literarischen Werken dazu führen kann, daß diese eine magische Aura bekommen. Meist ist es aber auch so, daß so ein literarischer Topos mit der Realität, mit der die Menschen in dieser Stadt leben, nicht viel zu tun hat. Topos ist eher so ein ausgedachtes Markenzeichen des Ortes. O-Ton: Atmo Wellen, Meer. Wie oben. BEI BEDARF UNTERLEGEN. Autor: 1904 kam James Joyce auf die Halbinsel, nach Pula, damals der größte Militärhafen der k.u.k.-Monarchie. Er blieb ein Jahr. 19. O-Ton: Alida Bremer. Joyce fühlte sich in Pula eingeödet, er wollte eigentlich lieber nach Triest, sobald er eine Benennung als Englischlehrer in Triest bekam, war er auch weg. Einmal hat er an seine Tante geschrieben und gesagt, Pula sei ein Sibirien am Meer. Sprecher: ?Istrien ist ein lang gezogenes, langweiliges Gebiet, eingetaucht in die Adria, bewohnt von ungebildeten Slawen, die kleine rote Mützen und riesige Hosen tragen.? 20. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Er haßte diese Stadt! Er konnte sie nicht ertragen. Er schrieb nur das Schlimmste darüber. Und sie, sie hat ihm ein Denkmal errichtet. 21. O-Ton: Alida Bremer. Und doch kann man nachlesen, daß Joyce die Ruinenlandschaft benutzt hat für sein Werk. Und auch die sprachliche Kakophonie, die er verwendet, hat viel mit seinem Aufenthalt in Pula zu tun, denn in Pula sprach man in merkwürdigen, eigentümlichen Sprachmischungen damals. Man hörte Fetzen aus dem Deutschen, Italienischen, Slowenischen, Kroatischen, Serbische, es mischte sich alles, und das hat ihn durchaus beeinflußt. O-Ton: Atmo Wellen, Meer. AUSBLENDEN. Autor: 1913 erschien im S. Fischer Verlag eine Novelle, die rasch berühmt wurde: ?Der Tod in Venedig? von Thomas Mann. Ihr Protagonist, der Dichter Gustav von Aschenbach, reist von München nach Süden, in diese als elegant gepriesene Region des Habsburger-Reiches. Sprecher: ?Was er suchte, war das Fremdartige und das Bezuglose, welches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er Aufenthalt auf einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten redendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien, dort, wo das Meer offen war.? Autor: Doch von der Insel, Brijuni, ist Herr von Aschenbach rasch enttäuscht ?Was sollte er hier??, notierte Thomas Mann. ?Er säumte nicht, den irrigen Aufenthalt zu kündigen.? Von Aschenbach fährt weiter, nach Venedig, direkt in sein Verderben. Slawen erweisen sich im Nachhinein als Boten des Todes, Slawen verkünden das Ende. 22. O-Ton: Alida Bremer. Die Berührung mit den slawischen Europäern hat etwas Verhängnisvolles, Gefährliches. Also dieser Topos als ein verstörender Ort, als ein Ort, an dem sich dieses Slawische, Mediterrane und Germanische berühren, das hat sich bei Thomas Mann gespiegelt. Autor: Und so, sagt Alida Bremer, bleibe der ?Topos Istrien? auch wegen Thomas Mann bis heute belastet durch slawisch-balkanische Stereotype. 2. Musik: Tamara Obrovac. UNTERLEGEN. Autor: Hinaus ins Weite, ins Land: Da?a Drndi? zeigt uns ihr Istrien, in Bildern von großer Leuchtkraft. 23. O-Ton: Da?a Drndi?. (Lesung) Kroatisch. UNTERLEGEN, NACH EINER WEILE WEGBLENDEN. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: ?Über Istrien kann ich nicht kurz schreiben, weil mein Leben nicht mehr kurz ist. Durch alles, was ich geschrieben habe, zieht sich auf die eine oder andere Weise Istrien ? versteckt, direkt, metaphorisch, symbolisch und real-ereignisvoll, zieht sich Istrien mit seinen Städtchen, Dörfern und Gehöften, ziehen sich istrische Bienenstöcke und istrische Haselnüsse, istrische Felder, weiße istrische Straßen, istrische Bo?karinrinder, Maulbeerbäume und Akazien, die istrischen Erdbeeren meines Großvaters, seine schwarzen und weißen Feigen, ziehen sich Kriege und Vertreibungen, meine eigenen Vertreibungen und die der Familie meines Vaters, lebenslange Lieben ? manche bereits abgelegt im getrübten Gedächtnis, dem ich mich nun vorsichtig nähere, denn aus diesen wenigen, hier niedergeschriebenen Seiten über Istrien könnte sich ein Buch auftun, das nicht vom Reisen, sondern vom Sein, nicht vom Betrachten, sondern vom Finden handelt.? Übersetzung aus dem Kroatischen: Silvija Hinzmann. 24. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Mein Vater stammt aus Istrien. Als Kinder sind mein Bruder und ich in den Ferien hier gewesen - im Inland, nicht an der Küste. 25. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Später besaß ich ein Haus in Istrien, in dem Städtchen Rovinj. Italiener haben es gekauft; die sitzen jetzt auf meinem Balkon. Aber ich habe noch das Untergeschoß dieses Hauses, in der Altstadt, gleich bei der Kirche. Wenn ich hinaufgehe, kann ich das Meer sehen. Ein altes Haus, tausend Jahre alt. In der warmen Zeit verbringe ich zwei/drei Monate dort. Musik: HOCHZIEHEN. AUS. Autor: Man muß tiefer gehen, um die Region zu begreifen. Hinein in das Unsichtbare und das Unbewußte. In die Brüche, die Verwerfungen. Istrien - bewohnt von Kroaten, Slowenen, Italienern, Deutschen, Österreichern ? ist immer wieder Spielball gewesen, Beute fremder Herren. Nach den Weltkriegen kam das Gebiet unter wechselnde Herrschaft, Hunderttausende wurden vertrieben. 1991 hat man die Halbinsel noch einmal verschoben, hat sie zwischen zwei neuen Staaten geteilt: Kroatien und Slowenien. ?Jeder weiß hier von Kriegen zu erzählen?, sagt Erica Fischer. 26. O-Ton: Erica Fischer. Was mich an Istrien interessiert hat, war, daß es ein Landstrich ist, der im Lauf der Geschichte immer wieder von anderen stärkeren Völkern dominiert war. Sprecherin: ?Magdas Großvater kam in Österreich-Ungarn zur Welt, später wurde er Italiener, dann Jugoslawe. Sterben wird er als Kroate. Und hat sich doch nie vom Fleck gerührt. Die Staatszugehörigkeit ist unwichtig, wir, die Halbinsel, die Stadt, die Menschen, das Meer, wir verändern uns nicht, sagt er. Magda hingegen ist froh, daß sie jetzt Kroatin ist. Die Serben kamen als Polizisten nach Istrien und wollten immer, daß alle so waren wie sie. So wie es gekommen ist, ist es gut, sagt Magda. Wer Istrien bereist, kann sich der Geschichte nicht entziehen. In dicht übereinandergelagerten Schichten heftet sie sich an meine Fersen.? 27. O-Ton: Erica Fischer. Nach ein paar Gläsern Wein und Schnaps fangen die Leute gemeinsam zu singen an, oft sind es wirklich Partisanenlieder, Lieder aus der Tito-Zeit, und ich, die niemals im Leben gesungen hat, ich bin dann immer da voller Neid danebengesessen und dachte mir, diese Menschen sind doch glücklicher als unsereins. 3. Musik: Partisanenlied. UNTERLEGEN. Autor: Was singen die Leute? ?Durch die Wälder und Berge, voran mit Marschall Tito, unserem heldenhaften Sohn?. Und: ?Genosse Tito, du bist ein weißes Veilchen?. Sind Menschen, die vom Krieg singen, wirklich glücklich? Die düsterste Zeit für diese Region begann 1943, nach der Kapitulation Italiens im Weltkrieg und dem Einmarsch der Wehrmacht. Die deutsche Besatzung prägte das Land, sie prägte auch die Familiengeschichte der Da?a Drndi?. 28. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Mein Vater war hier während des Krieges ein Führer der Partisanenbewegung. Er hat uns mit Geschichten über die Vergangenheit bombardiert. Wir hatten seine Vergangenheit noch einmal zu durchleben. 29. O-Ton: Da?a Drndi?. (Lesung) Kroatisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: ?Als ich in die Pubertät kam, ging ich oft frühmorgens in den Garten, wenn die Feigen noch kühl waren, und schrieb, so im Nachthemd, wie die verrückte Ophelia, einen Liebesroman; ich habe keine Ahnung, wie er war und worum es ging, aber ich weiß, daß alles in ihm dramatisch und traurig war. Mein Vater sagte, laß diesen Quatsch und schreib lieber was über Ro?a Petrovi?. So also schrieb ich, als ich die Pubertät hinter mir hatte, mit siebzehn, über Ro?a Petrovi?, dann schickte ich den Text an die Zagreber Zeitung Telegram, und so wurde im Telegram veröffentlicht, wie die Faschisten Ro?a Petrovi? die Augen ausgestochen hatten und sie dann blind für die Partisanen Strümpfe strickte. Ein paar davon schenkte sie meinem Vater...? Übersetzung aus dem Kroatischen: Silvija Hinzmann. 3. Musik: Partisanenlied. AUS. Autor: Kriegsende. Neubeginn. Der größte Teil des Landes fiel an das zweite Jugoslawien. Titos Männer machten reinen Tisch, auf ihre Weise. Zu Tausenden erschossen sie inhaftierte Widersacher und italienische Zivilisten. Die Leichen verschwanden in den ?Foibe? genannten istrischen Karsthöhlen. Und Marschall Tito? Lobte zynisch ?die Hand der Gerechtigkeit, die Rächerhand unseres Volkes?. Es folgte ? das sagt Erica Fischer - die größte demographische Katastrophe seit der Entvölkerung der Halbinsel durch die Pest im 14. Jahrhundert. 30. O-Ton: Erica Fischer. Daß es einen gigantischen Exodus der italienischsprachigen Bevölkerung aus der Region gab. Das hat mich geschockt, weil in meiner Jugend Tito für mich ein großes Vorbild war. Sprecherin: ?In der Hochzeit des Genossen Tito habe auch ich häufig in Jugoslawien Urlaub gemacht. Ivica von einer karstigen Insel in der Adria war meine erste Teenagerliebe. Ich trug weite Röcke mit gestärkten Petticoats darunter, und der Wind blies mir den Pferdeschwanz ins Gesicht. Die alten Männer in ihren abgetragenen schwarzen Anzügen auf den Sitzbänken an der Hausmauer zeigten mit ihren Gehstöcken auf mich. Bei unserer Abreise bei Sonnenaufgang wartete Ivica an der Mole und schenkte mir eine Muschel mit dem Rauschen des Meeres. Später schickte er mir Heine-Gedichte und getrocknete Blumen nach Wien. Im Winter lud er mich für einige Wochen in sein Dorf ein. Es gab dreimal täglich Sardinen. Seine Mutter trug immer schwarz, ein schwarzes Kleid, eine schwarze Schürze, ein schwarzes Kopftuch.? Autor: Die Vergangenheit, meint Erica Fischer, will nicht vergehen. Ein Schiff bringt Jugo-Nostalgiker vom Festland hinüber zu den Brijuni-Inseln mit der Sommerresidenz von Staatsgründer Josip Broz. 3. Musik: Partisanenlied. UNTERLEGEN. Sprecherin: ?Von einem verblichenen Plakat schaut Tito in weißer Marschallsuniform ernst und gewichtig auf mich herunter. Dru?e Tito, i orlovi te brane!, steht daneben in ungelenker Schrift. Genosse Tito, die Adler verteidigen dich! Das Schiff nach Brijuni ist voll. Ein ganzes Bataillon Weißhaariger mit gepanzerten Körpern und steinernen Gesichtern starrt mir entgegen.? 31. O-Ton: Erica Fischer. ?Zwei Studenten haben das Nostalgiepotential des Josip Broz Tito erkannt und ihm eine Homepage eingerichtet. Eine Fundgrube an Fotos, Gemälden, Denkmälern, Briefmarken, Witzen, Filmen, Reden, Gedichten und Liedern aus dem verblichenen Jugoslawien. Manchmal meldet sich Tito persönlich: ?An mein geliebtes Volk und an alle, die mich wieder zurückhaben wollen: Ich bin doch nicht verrückt. Tito.?? 3. Musik: Partisanenlied. AUS. Autor: Jugoslawien. Da?a Drndi?, aus Zagreb und Belgrad, war weit näher dran als die Wienerin, die Wahl-Berlinerin Erica Fischer. 32. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Jugoslawien bestand aus sechs Republiken mit sechs Nationalitäten und vielen Minderheiten. Da wäre es absurd gewesen zu behaupten, man sei ?Jugoslawe?. Jeder war, was immer er sein wollte ? mit jugoslawischem Paß. Sprecherin: Man sollte über das Gestern ohne Leidenschaft reden, verlangt Da?a Drndi?. Und die Geister der letzten Jahrzehnte, nein, die machen ihr keine Angst. 33. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: Wenn ich daran denken will, fühle ich die blutige Vergangenheit natürlich. Aber ich denke nicht daran. Wenn ich nach Istrien gehe, denke ich an die Freunde, die ich treffen werde, an den Wein, den ich trinken werde, an die Essen, die ich bereiten werde, daran, draußen auf der Terrasse zu sitzen oder am Strand. Ich persönlich sehe keine Geister. Autor: Die Freunde in Kroatien ? das erzählt Alida Bremer - würden viel über die Geschichte reden, auch über das Elend, die Kriege, über Exodus und Schrecken, doch tun sie dies, während sie ruhig ihre Trüffelchen auf ihre mehr österreichisch-ungarischen als italienischen Nudeln schaben und dazu einen Schnaps trinken, der die bösen Geister bannt. 34. O-Ton: Atmo Café. Autor: Jede Reise endet in der Gegenwart. Die drei Reisenden kommen zusammen, um ihre Bilder zu vergleichen, die istrischen Erfahrungen, vielleicht in Pula, wo die Fahrt begann. Treffpunkt: das Kolosseum oder ein Straßencafé. Alida Bremer gesteht, sie habe auf der Halbinsel ein Stück verlorener Heimat gesucht; sie trug Dalmatien im Herzen, während sie Istrien bereiste. Bis sie erkannte, daß der Zwang zum Vergleich den Blick trübte. 35. O-Ton: Alida Bremer. (Lesung) ?Es ist schwer, zu große Ähnlichkeiten anzunehmen, denn sie zwingen einen dazu, jeden kleinen Unterschied zu entdecken, was wir, die wir in historisch belasteten Gebieten leben und an ständige Angliederungen und Abtrennungen gewöhnt sind, nur zu gut kennen. Nirgendwo hat mich mein Eingetauchtsein in Erinnerungen an Dalmatien, das ich vor so langer Zeit verlassen habe, so berührt wie in Istrien.? 36. O-Ton: Erica Fischer. Wem gehört Istrien? Für mich gehört Istrien eindeutig den Istriern. Also nicht den Kroaten. Man hat nicht das Gefühl, in Kroatien zu sein. Dort ist eine ganz andere Stimmung. Istrien ist sanfter, weicher, weltoffener. 37. O-Ton: Alida Bremer. Ach Istrien gehört sich selbst! 38. O-Ton: Erica Fischer. Die Istrier haben eine eigene Identität und sind sehr stolz darauf. Sie sind stolz auf die Vielfalt der Kulturen, auf die verschiedenen Sprachen, und sie sind nicht anfällig für z.B. kroatischen Nationalismus. 39. O-Ton: Da?a Drndi?. Englisch. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: In den vergangenen sechzig Jahren haben die Menschen hier gelernt, mit anderen zu leben. Sie halten fest an der Idee der Brüderlichkeit. O-Ton: Café. AUSBLENDEN. Autor: Istrien: Glückliches Land. Das Idealbild einer europäischen Region. Sofern man den drei Dichterinnen glauben will. Für Da?a Drndi? ist die Halbinsel ein Leben lang Zuflucht gewesen, Refugium in unruhigen Zeiten. Und Refugium, sagt sie, werde das Land auch bleiben. Sie trage es bei sich, wo immer sie sei. 1. Musik: Folklore, instrumental. UNTERLEGEN. 40. O-Ton: Da?a Drndi?. (Lesung) Kroatisch. UNTERLEGEN, UNTER SPRECHERIN WEGBLENDEN. ÜBERSETZUNG: Sprecherin: ?Istrien und ich, das ist weder eine Begegnung noch eine Durchreise, Istrien ist mein Stützpfeiler, ein Teil meines Fundaments. Istrien ist ganz und gar aus Kieselsteinen gebaut, die sich wie magische Bilder der Gegenwart und Vergangenheit in mir zusammensetzen. Istrien ist die Tätowierung auf meiner Haut und in meiner Erinnerung, unauslöschlich. Istrien ist mein Fortbestehen. Istrien kann also für mich keine Reisebeschreibung sein, denn eine Reisebeschreibung hat ein Ende ? und ich bin noch hier.? Übersetzung aus dem Kroatischen: Silvija Hinzmann. O-Ton: Da?a Drndi? und Musik. HOCHZIEHEN. 16