Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 30. August 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Schweiz auf Zeit: Die internationale Parallelwelt am Genfer See Mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank Moderation: Anne Raith Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Einstieg Opener Ton 1 Eleonora Cargi "Genf ist eine Durchgangsstadt. Viele Leute sind nur auf Zeit hier. Sie haben ihre Kollegen, sie haben ihre internationalen Zirkel und finden das gut. Mir reicht das nicht." Opener Ton 2 Ilona Stoelken (deutsch) "Das ist immer irgendwie ja auch ein geliehenes Leben. Man hat es für drei Jahre und weiß genau: Das, was man macht, das ist nach drei Jahren weg." Opener OT 3 Raymond "Genf hat sich verändert, ist seine eigenen Einwohner losgeworden. Die Leute, die hier geboren wurden, können sich nicht mehr leisten, hier zu wohnen. Die Wohnungsmieten entsprechen den internationalen Gehältern. So ist das." Schweiz auf Zeit - Die internationale Parallelwelt am Genfer See mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank Am Mikrophon ist: Anne Raith. Moderation Reportage 1 Genf ist ein globales Dorf. Ein schickes und sehr hochpreisiges Dorf, zugegebenermaßen. Gerne wird auch vom "Internationalen Genf" gesprochen, als gebe es das eine, das "normale" Genf und das andere, das "internationale". Was nicht ganz falsch ist. Denn in Genf haben mehr Botschaften ihren Sitz als in der Hauptstadt Bern. Die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz haben sich hier niedergelassen, ebenso wie über einhundert Nicht-Regierungs-Organisationen. Großkonzerne wie der Baumaschinenhersteller Caterpillar oder der Konsumgüter-Produzent Procter & Gamble haben in Genf ihre Europazentralen. Sie alle haben Mitarbeiter mitgebracht oder ziehen neue an, und zwar aus aller Welt. Mit der Zeit hat sich in der Stadt am Lac Léman eine eigene Subkultur gebildet - mit internationalen Schulen, Gemeinden für jede Konfession, einem eigenen UNO-Strand und vielsprachigen Hebammen. Doch kaum einer jener knapp 70.000 Diplomaten und "Expats" - kurz für "Expatriates", ist gekommen, um zu bleiben. Für die meisten ist Genf nicht mehr als eine Stufe auf der Karriereleiter. Eine Zwischenstation, bis sie wieder die Umzugskisten packen und weiterziehen. Für Diplomaten ist es normalerweise alle drei Jahre so weit.... Reportage 1: Ein geliehenes Leben- Als Diplomatenfamilie in Genf Die italienische Botschaft begeht den Nationalfeiertag und hat zum Empfang geladen. Wenn der Fahrer kommt, muss Ilona Stoelken bereit sein. Sie fönt sich noch schnell die kurzen Haare, läuft barfuß die Holzstufen runter und nimmt ein tailliertes Jackett vom Bügel. O-Ton 1 Ilona Stoelken "Jetzt ziehe ich auch keine hochhackigen Schuhe an, weil ich denke, dass es im Garten stattfinden wird. Das ist dann so einfacher." Ihr Mann ist stellvertretender Leiter der deutschen Vertretung bei den Vereinten Nationen - also quasi der "zweite Mann" in Genf. Hat der deutsche Botschafter keine Zeit, nimmt er den Termin wahr. Zum Empfang in der italienischen Residenz heute sind explizit auch die Ehepartner der Bediensteten - wie die Diplomaten im Jargon des Auswärtigen Amts heißen - willkommen. Was sich daran erkennen lässt, dass der italienische Botschafter und seine Frau einladen. O-Ton 2 Ilona Stoelken "Wenn beide drauf stehen - das sind so ungeschriebene Gesetze - dann kann auch der Partner/die Partnerin mitgebracht werden. Das ist aber keine Pflicht." Ilona Stoelken sucht nach der Einladungskarte, das Parkett federt leicht unter ihren Schritten. Die Stadtvilla im Genfer Diplomatenviertel gehört zu einem Ensemble von drei Häusern, das dem Bund gehört. Normalerweise bekomme nur der Botschafter eine Residenz gestellt, erzählt die 51-Jährige, alle anderen Mitarbeiter der Botschaft müssten sich auf dem freien Markt etwas suchen. Ilona Stoelken und ihr Mann aber mussten nicht. Oder durften nicht? O-Ton 3 Ilona Stoelken "Beides. Wir durften auch nicht, weil das war eine Anweisung. Wir hatten in dieses Haus einzuziehen. Empfinden das aber auch als ein grosses Glück, weil es halt noch recht innerstädtisch gelegen ist und weil vor allem für Tom natürlich der Weg zur Vertretung nur fünf Minuten und die Bushaltestelle für die Kinder zur Schule auch gleich vor der Haustür ist. Insofern sind wir dem auch gerne gefolgt." Zumindest ihre eigenen Möbel (und die paar tausend Bücher) durften sie mitbringen. Bei den Briten, erzählt die Diplomatengattin, sei sogar das Mobiliar vorgebeben. Vieles müsse man beim nächsten Umzug aber trotzdem wieder zurücklassen - einfach, weil es sich nicht in einem Überseecontainer verschiffen lässt. O-Ton 4 Ilona Stoelken "Das ist immer irgendwie ja auch ein geliehenes Leben. Man hat es für drei Jahre und weiß genau: Das, was man macht, ist nach drei Jahren weg. Mir geht es zum Beispiel so mit dem Garten. Wir haben jetzt hier plötzlich einen Garten, und ich entwickle auch so ein bisschen Spaß an der Gartenarbeit, was mir sonst nie was bedeutet hat. Und dann fragt man sich natürlich immer, weil das ja nicht Eigentum ist, was man hier hat und nach drei Jahren gibt man es eh wieder auf: Wieviel investiere ich da eigentlich in so einen Garten? Man muss eigentlich immer sofort anfangen. Denn wenn man erst nach zwei Jahren entdeckt, dass es schön ist, ist man fast schon wieder weg." Ein Tablett mit Apfelschorle und Telefon in der Hand, geht die 51-Jährige die Terrassenstufen hinunter und setzt sich auf einen Liegestuhl im Garten. O-Ton 5 Ilona Stoelken Telefon deshalb, weil Tom mich anruft, wann er kommt mit dem Wagen, der uns zu dem italienischen Empfang bringt. Sonst verpasse ich den Anruf und weiß nicht, wann ich fertig sein soll. (514, 6.04 - im Garten) Ilona Stoelken ist promovierte Historikerin. Mit ihrem Mann und den beiden Töchtern - die jüngere besucht die deutsche Schule in Genf, die ältere studiert und lebt nicht mehr zuhause - war sie schon auf Posten in Manila und New York. Dort hat sie die drei Jahre genutzt, um ein Buch über deutsche Einwanderer in New York zu schreiben. In vielen Ländern dürfen mitausreisende Ehepartner von Diplomaten nicht arbeiten. Aber selbst wenn, wie in der Schweiz: Ohne gute Kenntnisse der Landessprache, ohne Erfahrungen auf dem jeweiligen Arbeitsmarkt, für eine begrenzte Zeit und dazu meist noch mit Kindern, müsse man sich schon sehr aufraffen, alle drei Jahre eine neue Stelle zu suchen. Ilona Stoelken zuckt etwas ernüchtert mit den Achseln. Sie hat sich damals gemeinsam mit ihrem Mann für diesen Weg entschieden, beide hatten am gleichen Institut promoviert. Selbst unter Diplomatenfrauen spreche man aber lieber nicht über dieses Thema. Und auf Empfängen frage einen erst recht niemand nach dem Beruf. O-Ton 6 Ilona Stoelken Ich glaube, es gibt auch viele Menschen, die nicht fragen, weil sie einen nicht verletzen wollen. Es ist auch eine gewisse Höflichkeit. Ich würde es nicht nur als Desinteresse abtun: Ach, da ist schon wieder so eine Partnerin, die macht sowieso bestimmt nichts, die frage ich nicht. Sondern vielleicht, weil man einem nicht zu nahe treten will und gar nicht erst diese peinliche Frage aufkommen lassen möchte: Was arbeiten Sie denn? Und machen Sie überhaupt etwas? Und man muss möglicherweise antworten: Nein, ich mache eigentlich nichts. (515, 16.20 - im Garten) Von Empfängen wie heute einmal abgesehen, hat Ilona Stoelken als Diplomatengattin offiziell keine Verpflichtungen. Es verstehe sich aber von selbst, sich ab und zu an Wohltätigkeitsveranstaltungen zu beteiligen, erzählt sie. Ansonsten aber unterscheide sich ihr Alltag nicht von dem anderer Expats in Genf. Mit Einheimischen hat sich in den letzten drei Jahren kein Kontakt ergeben. Ilona Stoelken bedauert das. Aber es sei eben nicht so einfach, auf der Straße oder im Supermarkt jemanden kennenzulernen, und das mit ihrem begrenzten Schulfranzösisch. Ilona Stoelken trinkt die Apfelschorle aus und bringt das Tablett zurück ins Haus. Ihr Mann kommt heute zu Fuß von der UNO nach Hause, der Fahrer wird in fünf Minuten da sein. Tom Fitchen trägt seinen UNO-Ausweis noch um den Hals, außerdem ein Geschenk für den italienischen Botschafter unter dem Arm. Er begrüßt seine Frau, dann geht es los. Der Zeitplan ist eng getaktet. Vor dem Fenster ziehen die Verwaltungsapparate vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und vom Rotem Kreuz vorbei, dann der imposante Völkerbundpalast. Ilona Stoelken dreht sich vom Beifahrersitz aus zu ihrem Mann um. O-Ton 8 Ilona Stoelken und Tom Fitchen "Vielleicht kannst Du noch etwas über die Repräsentationspflichten der spouses sagen? Über die ich schon ausgesagt habe, aber die nicht bestehen. - Na ja, die bestehen schon. Wenn wir eingeladen werden - Dann muss ich nicht mitkommen. - Nein. - Na also. Bestehen nicht wirklich. - Das ist keine Pflicht. - Sag ich ja. - Es kommt ja immer darauf an, wer eingeladen ist. Ob man weiss, dass mit Partner eingeladen wird wie heute zum Beispiel. Was man daran erkennt, dass die Madame miteinlädt. Aber das meiste ist eben in der Tat nur für den Bediensteten gedacht." Vor der Residenz des italienischen Botschafters stauen sich die schwarzen Diplomatenlimousinen. Ilona Stoelken und ihr Mann steigen schnell aus, nicken kurz dem Wachmann zu und passieren das Eingangstor. Journalisten sind beim Empfang nicht zugelassen. Ein Polizist gibt dem Fahrer ein Zeichen, weiterzufahren. Der parkt fünfzig Meter weiter, wo auch schon die anderen Fahrer am Bordstein stehen. Anmoderation Literatur Unstet würde man Lilis Leben wohl nennen, rastlos, vielleicht prekär, auf keinen Fall privilegiert. Kurz: "Lilis Leben hatte eine komplizierte Mitte und etwas zerfledderte Ränder", heißt es gleich zu Beginn. Ein "Hasenleben". So hat Jens Steiner seinen Debütroman genannt. Losrennen, Haken schlagen, ankommen, und weiterziehen. Immer mit im Gepäck: Lilis Kinder Emma und Werner. Die mit müssen und dann sich selbst überlassen werden. Die durch die Hausflure und Straßen stromern, während ihre Mutter kellnert, tanzt und träumt. Bis es weiter geht, in die nächste Stadt. Sie blickte auf den grünen Brief in ihrer Hand. Der Briefkopf: République et Canton de Genève. In der anderen Hand ein Zettel. Dann wieder die Glocke und die Stimme: "Soixante-neuf". Sie trat in die Box. "Bonjour Madame. Bitte setzen Sie sich." "Danke." "Sie haben sich nicht gemeldet." "Ich habe es vergessen." "Aber jetzt sind Sie ja da, schön." "Ja, schön." Bleistiftkritzeln. Blätterrascheln. Räuspern. Schweigen. Sie betrachtete den Beamten, musterte sein Gesicht, während er stoisch weiterkritzelte, dann und wann die Hand an die Lippen hob, diese ein wenig knetete, dann wieder mit Papier raschelte. (...) Formulare zum Mitnehmen, Infoblätter, Stempel, Unterschrift, nochmals Unterschrift, noch mehr Formulare, das ganze Prozedere. Lili Lili. Lili bin ich. Ich bin Lili. So einfach geht das, dachte sie. Und trotzdem, ich gehe und komme, wann ich will, vielleicht bald nach Grenoble oder Genua oder Göteborg, ja, das G gefällt mir, Gorizia, Giubiasco, Gibraltar. Immer weiter, immer weiter. Das kommt euch einfach vor, ist es aber nicht, doch ich kann es, ich werde es immer können, und dann, ganz unvorhergesehen, hüpfe ich vom G aufs O, Ovronnanz, Oberbuchsiten, Oberhausen, ich reise durchs ganze Alphabet Europas, von Aachen bis nach Zwolle, nichts hält mich auf. Moderation Reportage 2 In den Straßen von Genf gehören Autokennzeichen mit dem CD-Schild für "Corps Diplomatique" zum Straßenbild. Diese Plakette gewährt den Diplomaten, ihren Fahrern und Familien politische Immunität. So dürfen sie zum Beispiel bei Straßensperren nicht aufgehalten werden. Entgegen der landläufigen Meinung gelten die Verkehrsregeln und Parkverbote des Gastgeberlandes für Diplomaten jedoch genauso wie für alle anderen. Zumindest die Schweiz verteilt auch an Diplomaten Knöllchen. Im Gegensatz zum öffentlichen Straßenverkehr hat das Gastgeberland auf den privaten Haushalt von Diplomaten keine Einflussmöglichkeiten. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Abgesandte ihre Putzfrauen, Kindermädchen oder Chauffeure nicht angemessen behandeln. Seit Juli 2011 ist zwar eine neue Verordnung des Bundesrates in Kraft, die die Arbeitsbedingungen regelt. Diese Verordnung schützt aber nur die angemeldeten Arbeitskräfte - und nicht jene, die illegal in Diplomatenhaushalten arbeiten. Was auch nicht selten vorkommt... Reportage 2: Arbeitsbewilligung auf Zeit - "Expats" zweiter Klasse Atmo 12 Springbrunnen und Atmo 13 Verkehr Um ins Herz der UNO zu gelangen, muss man mehrere Sicherheitsschleusen passieren. Viele Touristen begnügen sich daher damit, den Springbrunnen vor dem Völkerbundpalast und die Flaggen hinter den Gitterstäben zu fotografieren. Atmo 14 Parkplatz an der Porte 40 Für die Wagen mit Diplomatenkennzeichen öffnet sich die Schranke ohne Verzögerung. Sie fahren am Eingang vor, die Diplomaten in Nadelstreifen steigen aus und verschwinden zügig durch eine automatische Schiebtür. Dann parken die Fahrer, um zu telefonieren, eine Zigarette zu rauchen oder sich mit Kollegen die Wartezeit zu vertreiben. Atmo 15 Stimmen an der Porte 40 Auch Artoud steht an der Porte quarante, am Tor Nummer 40, und unterhält sich mit einem Kollegen. Der 44-Jährige arbeitet als Fahrer für den Botschafter von Gabun. Seit 14 Jahren ist er in Genf, ursprünglich stammt er von den Komoren. Eigentlich hat er mal Koch gelernt, dann aber erzählte ihm ein Kollege von der Schweiz, von Reichtum und Sauberkeit. Heute lebt er in Frankreich, hat vier Kinder und pendelt jeden Tag über die Grenze zur Arbeit. Seine Arbeitszeiten variieren - je nach Sitzungsplan der UNO. O-Ton 10 Artoud "Wenn die Delegationen kommen, gibt es viel zu tun. Wenn nicht, kann man auch schon mal gegen vier, fünf Uhr Schluss machen. Aber immer wartet man viel. Dieser Job verlangt viel Geduld. Man wartet, zusammen mit den Kollegen. Man unterhält sich, trinkt einen Kaffee, geht ins Internet - und sobald das Treffen beendet ist, fährt man." Fast jeder Erdteil ist hier vertreten - die meisten Chauffeure stammen aus Indien und Pakistan sowie aus Afrika. Von den Sitzungen im Inneren des Gebäudes, berichtet Artoud, bekämen er und seine Kollegen nur das mit, was ihre Chefs davon im Auto erzählten. Alles natürlich streng geheim. Nur so viel: Ab und zu wundere er sich dann doch. O-Ton 11 Artoud "Manchmal fragt man sich schon, ist das alles eine gute Idee? Wozu? Ist es das, was man braucht? Wir stellen uns schon all diese Fragen, aber zu einer Antwort kommen wir nie. Aber man kann das alles ja auch schlecht seinen Boss immer wieder fragen. Also arbeitet man, das Gehalt kommt pünktlich und gut." Wie hoch sein Gehalt ist? Artoud lacht herzlich - und schweigt. Er könne sich nicht beklagen. Das ist alles, was der 44-Jährige verrät. Von der Botschaft bekommt er auch die Arbeitsbewilligung, die sogenannte "carte de légitimation". Ihm ist bewusst, dass die nur solange gilt, wie er bei der Botschaft beschäftigt ist. Der Chauffeur weiß auch, dass er nach der Pensionierung keinen Anspruch auf eine Rente in der Schweiz hat. Das sei eben so üblich, meint er. Viel schlimmer wäre es für ihn, wenn die Botschaften ihr Personal aus der Heimat mitbringen würden. Aber zum Glück komme das nicht mehr so oft vor. O-Ton 12 Artoud "Die meisten Botschafter suchen sich ihren Chauffeur hier vor Ort. Die kennen die Stadt besser - und meist auch schon die anderen Botschafter. Das hilft enorm." Atmo 16 Computertippen Auch Jorge Sanchez würde gerne als Fahrer für eine der Botschaften arbeiten. Nur reicht sein Französisch dafür noch nicht. O-Ton 13 Jorge Sanchez "Yo m'appelle Jorge et viens d'Espana et busca de trabajo...de travail." Der 47-Jährige wechselt ins Spanische. O-Ton 14 Jorge Sanchez "Ich bin Jorge. Ich stamme aus Ecuador und habe 14 Jahre in Spanien gelebt. Wegen der Krise bin ich in die Schweiz gekommen. Ich hoffe, dass ich hier Arbeit finde, um meine Familie ernähren zu können. Die ist noch in Spanien, ich bin alleine hierhergekommen." Jorge Sanchez sitzt vor einem Computer im Keller des "Centre de la Roseraie" - einem gemeinnützigen Ausbildungszentrum für Migranten. Ein Mitarbeiter hilft ihm, seinen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben zu verfassen. O-Ton 15 Jorge Sanchez "Ich suche Arbeit als Chauffeur oder als Personenschützer. Ich habe immer als Fahrer gearbeitet, in meiner Heimat beim Militär. Deshalb suche ich Arbeit in einem von diesen beiden Bereichen." An drei Vormittagen die Woche bietet das Zentrum Migranten administrative Hilfe an. Außerdem gibt es Kurse in Alltagsfranzösisch, Mal- und Tanzklassen und jeden Freitag einen Ausflug in die Stadt. Das gesamte Angebot ist kostenlos und unbürokratisch. Niemand muss irgendwelche Papiere oder eine Aufenthaltsgenehmigung vorlegen. Atmo 17 Stimmengewirr Das ist Fabrice Roman, dem Leiter, besonders wichtig. Schließlich müssten sich die Migranten schon sonst überall rechtfertigen, warum sie überhaupt in der Schweiz seien. Im Gegensatz übrigens zu den Expats, die man als Arbeitskräfte und Steuerzahler willkommen heiße. O-Ton 16 Fabrice Roman "Es ist doch interessant, dass wir die Leute schon sprachlich als "Expats" oder "Migranten" bezeichnen und so unterscheiden. Alle, die hierher kommen, sind ja Ausländer. Aber man hat zwei unterschiedliche Begriffe geschaffen, um für die einen Wertschätzung auszudrücken - und die anderen abzuwerten. Man schafft also einen Graben zwischen denen, die man willkommen heißt und denen, die man nicht haben will." Der 31-Jährige findet das heuchlerisch. Denn damit es all jenen gut geht, die man sehr wohl haben will, brauche man die vielen Fahrer, Köche, Hausmädchen, meint Fabrice Roman. Aber diese gesamte Parallelwirtschaft halte man absichtlich im Verborgenen, um den weniger privilegierten Arbeitsmigranten kein Aufenthaltsrecht in der Schweiz zusprechen zu müssen. O-Ton 17 Fabrice Roman "Alle, die bei Diplomaten beschäftigt sind, haben nur eine Arbeitserlaubnis, solange sie arbeiten. Wenn sie entlassen werden oder ihren Job wechseln wollen, erlischt ihre Erlaubnis. Man hat also einen großen Teil der Migranten, die hier in Genf arbeiten, der Ausbeutung ausgesetzt. Man will sie nicht sehen. Man entmutigt sie so sehr, dass sie letztlich wieder gehen." Tatsächlich trägt die Schweiz zur prekären Lage der Migranten bei. Denn die können ihre Arbeitserlaubnis nicht selbst beantragen, sondern sind dafür auf einen potentiellen Arbeitgeber angewiesen. Der habe aber oft gar kein Interesse daran, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, erklärt Fabrice Roman. O-Ton 18 Fabrice Roman "Es gibt auf jeden Fall viele Diplomaten, die das nicht legal machen, die Angestellte haben, die nicht angemeldet sind. Und sie haben nichts zu befürchten wegen ihrer Immunität. Sie nutzen ihre Immunität aus, um andere auszubeuten, die keinerlei Schutz genießen. Und damit ist man einverstanden. Auch das ist das internationale Genf." Literatur 2 Ein Anfang ist zu Ende, wenn man an den nächsten Anfang denkt. Genf wurde ein Gefühl, und das Gefühl entpuppte sich als ein altbekanntes. (...) Auch hier gab es die Nachbarn, mit denen man einst geplaudert hatte und die man jetzt nur noch freundlich grüßte. Die Elternsprechstunde mit den sanft belehrenden Ratschlägen, den Tanzkurs, für den man sich immer anmelden wollte, es dann aber doch nicht getan hatte, auch das Bett, das geduldig war und schwieg, wenn man ab und zu ein bisschen ins Kissen heulte. Und es gab einen Schatten, der mitten im heiterhellen Tag seine böse Bresche in die Scharen von guten Gedanken schlagen konnte. Der Schatten, der jede Bewegung voraussah und dem man nicht mit Hakenschlagen beikam. Lili dachte: Mal schauen, was mir noch einfällt. Mir wird doch noch was einfallen! Wird mir sehr wohl! Anmoderation Reportage 3 Auch wenn die meisten Expats der Arbeit wegen nach Genf kommen: Für die Länder, Organisationen und Unternehmen, die hier residieren oder sich niederlasen, zählt auch, wie schnell ihre Mitarbeiter privat Fuß fassen, eine Wohnung finden, sich einleben. Und so bemüht sich das offizielle Genf, Zugezogenen aus aller Welt das Eingewöhnen in der Schweiz zu erleichtern. Bund und Kanton haben dafür ein eigenes Willkommenszentrum eingerichtet: das Centre d'Accueil Genève Internationale (CAGI). Es gibt kaum ein Problem, dessen Lösung hier nicht offeriert wird, kaum eine Frage, die unbeantwortet bleibt: Wo suche ich am besten eine Wohnung, wie funktioniert der öffentliche Nahverkehr, was benötige ich, um ein Bankkonto zu eröffnen? Das Willkommenszentrum hilft in jedem Lebensbereich - und in jedem Lebensabschnitt: Denn viele Expats kommen nicht allein, sie bringen Partner und Kinder mit - oder sie verlieben sich und gründen gleich vor Ort eine Familie. Auch darauf ist Genf vorbereitet - zumindest der hiesige Hebammenverband, der seine Geburtsvorbereitungskurse auch auf Englisch anbietet. Keine Selbstverständlichkeit... Reportage 3: Doppelter Ausnahmezustand - Geburtsvorbereitung auf Englisch Atmo 18 auf Straße (mit Kirchenläuten im Hintergrund) In den Altstadtvierteln von Genf, fernab der Nobelhotels und Luxusboutiquen, geht es oft noch beschaulich zu. Kurz vor Feierabend herrscht reger Betrieb auf den Bürgersteigen, die Menschen schlängeln sich an Gemüseständen und Bistrotischen vorbei. Eine ältere Frau mit zwei schweren Einkaufstüten macht an jedem Tabakladen halt, stellt die Tüten ab und grüßt Richtung Ladeninneres. Auch der portugiesische Friseur hat die Ladentür weit geöffnet, während er seinem letzten Kunden von heute die Haare schneidet. Atmo 19 beim Friseur Eine Tür weiter stehen mehrere schwangere Frauen auf dem Bürgersteig und unterhalten sich auf Englisch. Nach und nach stoßen auch die Männer dazu - oft etwas außer Atem, noch in Anzug und Krawatte. Insgesamt acht Paare sind es, die sich zum Geburtsvorbereitungskurs vom Hebammenverband angemeldet haben. Heute soll geübt werden, wie man ein Tragetuch bindet. Atmo 20 jeder Baby dabei? Valérie Poffet erkundigt sich, ob alle daran gedacht haben, eine Puppe mitzubringen. Die Hebamme leitet den Geburtsvorbereitungskurs heute Abend. Eine der Frauen schüttelt den Kopf und lacht: O-Ton 19 Marina "Sie meinte, wir sollen ein Baby mitbringen. Also haben wir einen Teddybär mitgebracht, aber die anderen haben Puppen dabei." Marina stammt ursprünglich aus Kenia, ihr Mann Este aus Madagaskar. Beide arbeiten für die UNO, kennengelernt haben sie sich hier in Genf. Als Marina schwanger wurde, haben sie kurz überlegt, für die Geburt nach Hause zu ihrer Familie zurückzukehren. Aber Marina will schnell wieder in den Job zurück. Also hat sich das Paar entschieden, sein erstes Kind in Genf zu bekommen. Trotz allem. O-Ton 20 Marina und Este "Na ja, der Unterschied ist: Zuhause bekommst Du viel Hilfe. Das ist die afrikanische Kultur. Hier musst du dich umschauen nach jemandem, der dir hilft. Eine Nanny anstellen, eine Hebamme. Und es ist auch schwierig, jemanden zu finden." "Wir haben dort viele Familienmitglieder. Hier müssen wir jemanden suchen, der auf das Baby aufpasst, sobald sie in den Job zurückkehrt." Atmo 21 auf Straße (vor Hebammenverband) Vieles, was sich in ihrer Heimat von selbst regle, müsse hier extra organisiert werden, sagt sie: O-Ton 21 Marina "Am schwersten ist es, eine größere Wohnung zu finden. Gerade jetzt, wo die Familie größer wird. In Genf ist das sehr, sehr schwierig. Man braucht sehr lange, um was zu finden. Und das ist dann extrem teuer. Und dann jemanden zu finden, der auf das Baby aufpasst. Bis man sich für einen Krippenplatz anmelden kann, das dauert ewig. Und das heißt nicht, dass man dann auch einen Platz bekommt." Allen Expats, erzählt Marina, stellten sich ähnlich banale Fragen. Fragen, die in der Fremde aber kompliziert werden können: Wie finde ich hier eine Hebamme? Melde ich mich für die Geburt an? Wie verständige ich mich mit den Ärzten? Wo kann ich einen Kinderwagen finden, der nicht gleich ein Vermögen kostet? Und die Kenianerin hat noch eine ganz andere Sorge: O-Ton 22 Marina "Ich persönlich habe zu kämpfen mit Gelüsten nach Speisen, die ich hier nicht finden kann." Atmo 21b auf Straße (vor Hebammenverband) Valérie Poffet nickt verständnisvoll. Von der plötzlichen Sehnsucht nach einem bestimmten Gericht aus der Heimat höre sie öfters von schwangeren Frauen, erzählt die Hebamme. Da könne sie meist nicht helfen. Alle anderen organisatorischen Fragen versuche sie geduldig zu klären O-Ton 23 Valérie Poffet "Wenn ich in dieser Situation in einem anderen Land wäre, hätte ich gerne, dass man meine Sprache spricht und mich verstehen kann. Denn während der Schwangerschaft hast du nicht noch Kapazitäten, eine fremde Sprache zu lernen. Du brauchst jemanden, der dich wirklich versteht. Darüber streite ich mich manchmal auch ein wenig mit meinen Kolleginnen, die finden, wenn man in Genf lebt, dann muss man auch Französisch sprechen können. Die übersehen, dass wir in einer internationalen Stadt leben." Die 39-Jährige stammt aus Fribourg in der französischsprachigen Schweiz und lebt seit ihrer Ausbildung zur Hebamme in Genf. Beim Verband ist sie die einzige, die Geburtsvorbereitungskurse auf Englisch anbietet - obwohl die Nachfrage sehr groß sei. Auch die Internetseite ist erst seit kurzem auf Englisch verfügbar. O-Ton 24 Valérie Poffet "Ich finde das interessant, denn gleichzeitig bieten wir für Migrantinnen auch Kurse mit Übersetzern an. Für Frauen aus Pakistan, Afghanistan, dem Iran - von überall her. Das ist okay. Aber wenn es um die Englischsprachigen geht, sagt man: Die müssen doch Französisch sprechen." Atmo 22 reingehen und Räume zeigen Valérie Poffet führt durch die Räumlichkeiten des Hebammenverbands. Außer sonntags können Mütter hier jeden Tag unangemeldet mit ihrem Neugeborenen zur Sprechstunde kommen, wenn sie Fragen haben zum Stillen oder sonst nicht weiter wissen. Die Telefon-Hotline ist sogar sonntags besetzt - eine große Ausnahme in Genf. Die Hebamme fasst sich energisch in die langen Haare, die ihr offen auf die Schultern fallen. Sie hat selbst ein Jahr in London gelebt und wünscht sich oft, dass Genf urbaner wäre und die Einheimischen etwas flexibler - gerade im Umgang mit den Expats. O-Ton 25 Valérie Poffet "Ich denke, dass die mangelnde Größe der Stadt verhindert, dass sie sich entwickelt. Dass man die Geschäfte nicht länger öffnet zum Beispiel ist sehr schwierig für viele Expats: Sie arbeiten unter der Woche lang und müssen am Samstag wie verrückt alle Einkäufe machen, weil Sonntag die Geschäfte zu haben. Und auch sonst alles. Genf ist eine internationale Stadt, aber zur gleichen Zeit weigert man sich, Englisch zu sprechen." Anmoderation Reportage 4 Seit Jahrzehnten zieht es Menschen nach Genf, um zu arbeiten. Nach dem Krieg kamen zuerst die Italiener, dann viele Portugiesen. Gastarbeiter, die sich in Vierteln mit Nachbarn aus der Heimat niederließen und hier Familien gründeten. Ihre Kinder und Enkel sind heute meist gut integriert, sprechen Französisch und haben einen Schweizer Pass. Vielleicht ist das der Unterschied zu jenen, die heute nach Genf kommen - ob Expats oder Migranten: Die einen wollen gar nicht bleiben, die anderen dürfen nicht. Für beide bleibt die Schweiz also nur eine Station auf Zeit. Eine Zeit, die sich manchmal am leichtesten mit Gleichgesinnten verbringen lässt. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass viele von einer gespaltenen Stadt sprechen: Für jede Nationalität, jede Glaubensrichtung, jedes Hobby gibt es eigene Zirkel und Kreise. Die jungen Expats von internationalen Organisationen oder multinationalen Unternehmen zum Beispiel organisieren sich im Internet. Genf ist für sie vor allem ein Karrieresprungbrett. Dass das Privatleben darunter leidet, wird oft in Kauf genommen. Reportage 4: Kommen und gehen - Auf Karrieredurchreise in Genf Atmo 23 Regen Die global operierende Unternehmensberatung, für die Eleonora Cargi arbeitet, hat ihren Sitz in einem schmucklosen Bürokomplex an einer Ausfallstraße. Diese Art Architektur könnte so auch in Paris oder Zürich, in Stuttgart oder Mailand stehen. Allein, dass die Rezeption um 18 Uhr schon nicht mehr besetzt ist, gibt einen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Bürokomplex um die Genfer Niederlassung handelt. Atmo 24 am Ticketautomat Eleonora Cargi kämpft sich mit hohen Absätzen, Handtasche und schwarzem Schirm durch die Drehtür. Den Regen nimmt sie mit Humor - ebenso wie die Tücken des Ticketautomats. Nur, dass mal wieder keiner ihrer Kollegen auf einen Apéritif mitkommen wollte, verdirbt ihr kurz die Laune. Atmo 25 in Tram Seit einem halben Jahr lebt die Steuerberaterin jetzt in Genf, der Posten hier hatte sie gereizt. Aber Einheimische hat sie noch nicht kennengelernt. Obwohl sie in ihrem Büro mit lauter Genfern zusammenarbeitet. O-Ton 28 Eleonora Cargi "Es ist nicht so leicht, Genfer kennenzulernen. Die meisten sind eher zurückhaltend. (550, 3.45) Vielleicht ist es ein Klischee, aber die Schweizer sind nicht gerade bekannt dafür, besonders lustig oder gastfreundlich zu sein. Besonders gegenüber Italienern.." Eleonora Cargi redet laut und gestikuliert dabei mit Tasche und Schirm, die Menschen in der Tram schauen ein wenig befremdet. Die 29-Jährige kümmert das nicht. Bei ihrer vorherigen Station in Amsterdam, erzählt sie, sei es ganz leicht gewesen, mit den Menschen vor Ort in Kontakt zu kommen. Auch wenn sie kein Niederländisch konnte. O-Ton 29 Eleonora Cargi "Ich habe dort das gemacht, was man eben macht, wenn man irgendwo neu hinzieht: Du fängst an mit deinen Kollegen. Du wirst eingeladen, lädst andere ein, so wie das normalerweise läuft. Vielleicht ist das nur meine Erfahrung, aber hier in Genf funktioniert das nicht." Ihre Genfer Kollegen fahren nach der Arbeit lieber direkt nach Hause, erzählt sie, viele von ihnen pendeln jeden Tag über die Grenze nach Frankreich, weil dort die Mieten wesentlich günstiger sind als in der Schweiz. Also hat sich die junge Italienerin bei einem sozialen Netzwerk für Expats angemeldet. Eigentlich, sagt Eleonora Cargi, ziehe sie es vor, jemandem zuerst persönlich in die Augen zu schauen. Es sei ein wenig unnatürlich, sich mit Leuten zum Apéritif oder zu einem Ausflug in die Weinberge zu verabreden, die man nicht mal kenne. Aber immer noch besser, als ständig alleine zuhause zu sitzen. O-Ton 30 Eleonora Cargi "Was ich festgestellt habe, ist: Durch diese Netzwerke lernt man schnell Leute kennen, aber es bleibt ziemlich oberflächlich. Die Leute kommen und gehen und man baut keine längeren Beziehungen auf. Was okay ist, solange du anderswo Freunde und ein Leben hast." Eleonora Cargi stammt aus Mailand, ihre Familie und Freunde leben dort - und so fährt auch sie übers Wochenende oft nach Hause. Eines Tages will sie selbst eine Familie gründen, noch aber gehe die Karriere vor, sagt sie. Atmo 26 Durchsage Tram Es ist kurz vor sieben, Eleonora Cargi muss noch einkaufen. Sie hat heute Abend einen anderen Expat zu Gast, einen IT-Experten aus England. O-Ton 31 Eleonora Cargi "Soweit ich weiß, ist er hier auf Zeit. So wie fast jeder hier in Genf, so wie ich auch. Aber eigentlich ist das doch eine Schande: Dass du immer nur zu tun hast mit Leuten, die alle in dieser Situation sind. Also lernst du schnell Leute kennen - und vergisst sie schnell wieder." Atmo 27 Regen/ Straßenverkehr laut Die junge Frau hastet mit zwei Einkaufstachen zurück zur Tram, den Schirm trotz starken Regens unter den Arm geklemmt. Ihr Appartement, ein Studio mit Küchenzeile, liegt in einem Vorort von Genf, trotzdem zahlt sie fast 2.000 Franken (also 1.800 Euro) für gerade mal 45 Quadratmeter. Lieber würde sie irgendwo zentral wohnen, aber lange wird sie vermutlich nicht mehr bleiben. Nächstes Jahr könnte ein Posten in New York frei werden. Literatur 3 Genf hörte so blitzschnell auf, wie es angefangen hatte. Ein Stolpern hinein und ein Stolpern hinaus. Dazwischen Stromern im Park, Abtauchen in fremden Straßen, ein Tod und neue Einsamkeit. Die Einsamkeit ist ein unfreiwilliges Spiel, man wartet ab, weicht aus, man wünscht sich pausenlos andere Mitspieler, oder gar keine, oder überhaupt Mitspieler. Es ist ein Ringen um Oberhand, und man kann ihm nicht entrinnen. Und so flieht man von den eigenen vier Wänden in die Straßenfluchten, lässt sich treiben, glücklich über die gelungene kleine Flucht, über die gewonnene Autonomie. Und gerät an Mitspieler, die man sich nicht gewünscht hat, oder an die alten Mitspieler, deren man sich entledigen wollte. Genf, diese Stadt wie eine merkwürdige, lautlose Sommerfrische, sie verschwand, fast spurlos. Anmoderation Reportage 5 In den vergangenen Jahren hat die Schweiz einen regelrechten Bauboom erlebt - viele Unternehmen haben ihren europäischen Hauptsitz in die Schweiz verlegt - angelockt unter anderem durch die vergleichsweise geringen Unternehmenssteuern. Besonders auffällig ist das rund um den Genfer See: Weinberge wurden für viel Geld verkauft und in Bauland verwandelt, die Liegenschaftspreise steigen und steigen. Regelmäßig schafft es Genf unter die zehn teuersten Städte der Welt. In der Stadt sind die Mieten mittlerweile so hoch, dass viele Einheimische ins benachbarte Frankreich ziehen. Denn mit dem "Lebenshaltungs-kostenausgleich", den die Mitarbeiter internationaler Unternehmen und Organisationen für ihr teures Leben am Lac Léman erhalten, können viele Genfer nicht mithalten. Berührungspunkte gibt es nicht viele... Reportage 5: In der öffentlichen Badeanstalt - Genfer (fast) unter sich Atmo 28 am See (Kinder spielen am Wasser) und Atmo 29 Möwen Wer es sich leisten kann, wohnt in Genf mit Blick auf den See und die schneebedeckten Berge. Entlang der Promenade reiht sich Nobelhotel an Nobelhotel, Yacht an Yacht, der Seezugang ist fast durchgängig privatisiert. Mit einer Ausnahme: Der öffentlichen Badeanstalt "Bains de Paquis." Möwen kreisen über den weißen Umkleidekabinen aus Holz, die Badegäste lassen ihre Füße ins Seewasser baumeln, in der Ferne leuchtet die schneebedeckte Bergspitze des Mont Blanc. Atmo 29 Karten spielen Fünf Männer um die sechzig sitzen rund um einen Bistrotisch und spielen Karten, mit freiem Oberkörper und einem Stück Teppich auf dem Tisch, um die Spielkarten zu schonen. Wenn es schön ist, sind sie eigentlich immer hier. Wie auf dem Dorf. O-Ton 32 Jeannis und Gidé "Man kennt sich, man ist an der frischen Luft. Wir spielen Karten hier draußen und sind nicht zuhause eingesperrt. Das ist ideal." Atmo 29 b Kartenspielen (auslachen) Gespielt wird "Molotow" - eine Variante des Schweizer Kartenspiels "Jass". Das ist etwas leichter. Und geselliger, denn jeder spielt gegen jeden und eigentlich geht es hauptsächlich darum, seine Mitspieler zu ärgern. Dementsprechend viel wird gelacht und gestänkert am Tisch. Ab und zu verlässt einer der Männer die Runde. O-Ton 33 Gidé "Im Sommer, wenn es zu heiß wird, taucht man einfach mal schnell in den See. Man badet kurz oder hält ein Schläfchen und lässt die anderen weiterspielen." Eine ältere Dame kommt an den Tisch, die Männer begrüßen sie herzlich, holen ihr einen Stuhl und spielen weiter. Sie schaut zu und redet dabei hauptsächlich mit sich selbst. O-Ton 34 Margot "Auch wenn das Wetter nicht gut ist, komme ich und trinke meinen Kaffee. So komme ich raus und mache einen kleinen Spaziergang." Atmo 30 Strand dazu In der Badeanstalt am See verbringen viele Genfer Familien ihre Sommertage - auch viele Arbeitslose und Rentner. Denn der Eintritt kostet gerade mal zwei Franken, also nicht mal zwei Euro. Selbst im Winter ist das "Bains des Paquis" offen, dann gehen viele Gäste nach dem Schwimmen in die Sauna. Auch die Kartenspieler kommen das ganze Jahr hindurch: O-Ton 35 Gidé und Jeanne "Im Winter gibt es eine Hütte mit zwei Holzöfen, dann spielen wir am Feuer. Und im Sommer spielen wir direkt vor der Fontäne. Wir sind nicht am See, sondern auf dem See. Unglaublich. Die Japaner arbeiten zehn Jahre, um sich drei Tage in Genf leisten zu können. Wir sind hier das ganze Jahr über. Und da vorne ist der Mont Blanc, schauen Sie!" Jeannis hat dem Bad sogar ein eigenes Lied gewidmet, so sehr liegt es ihm am Herzen. Atmo 31 Lied übers "Bains de Paquis" In den Achtzigern, erzählt Raymond, hatte die Stadt eigentlich entschieden, das Bad abzureißen und die Liegenschaft an ein Hotelkonsortium zu verkaufen. Der 61-Jährige ist Wirt im "Bains des Paquis", ab und zu spielt auch er gerne mal eine Runde Karten mit. Die Entscheidung aber wollten die Anwohner nicht hinnehmen. Sie gründeten einen Verein und forderten ein Referendum. Das Ergebnis: Mit 80 Prozent stimmten die Genfer für den Erhalt des Bades. Seitdem wird es von einer gemeinnützigen Gesellschaft geführt. Atmo 32 in Küche Und muss - trotz seiner exklusiven Lage - keinen Gewinn erwirtschaften. O-Ton 36 Raymond "Normalerweise sind so besondere Orte wie dieser reserviert für die Reichen. Und sie sind privatisiert. Hier ist jeder willkommen. Die Milliardäre kommen genauso wie die Arbeitslosen, die Jungen, die Alten, Schwarze, Weiße, Chinesen, Russen, sogar Mafiosi. Es gibt nur noch wenige Orte, die so durchmischt sind. Und zum Essen wir haben lange Tische. Man kommt also gezwungenermaßen in Kontakt mit den anderen Gästen." Auch viele Expats kommen zum Essen ins "Bains des Paquis" - sofort zu erkennen an ihrer Businesskleidung und dem selbstbewussten Auftreten. O-Ton 37 Raymond "Im Winter, wenn wir Fondue anbieten, machen sie 90 Prozent unserer Gäste aus. Sie fragen nicht: Sprechen Sie Englisch? Sie sprechen einfach Englisch. Denn sie sind in der Mehrzahl. Tja, das Leben verändert sich. Alles verändert sich. Also passt man sich an." Der Wirt nimmt es entspannt. Schließlich sind die Expats auch seine Kunden. Er selbst wohnt in einer günstigen Genossenschaftswohnung, keine fünf Minuten vom See entfernt. Er muss nicht wie so viele andere über die Grenze pendeln - und nachmittags kann er an seinem Arbeitsplatz auch mal nebenbei seine Enkel hüten. Aber das sei eine große Ausnahme in Genf, sagt Raymond. So wie das "Bains de Paquis". O-Ton 38 Raymond "Seit fünf Jahren werden wir eingenommen von den Englischsprechenden. Sie haben alles gekauft, sie sind in den Banken, in den NGOs - und die Mieten sind explodiert. Für ein winziges Appartment in Genf muss man mittlerweile 2.000 Schweizer Franken zahlen - wenn man überhaupt das Glück hat, eins zu finden. Vollkommen irre. Genf hat sich dadurch verändert, es ist seine eigenen Einwohner losgeworden. Die Leute, die hier geboren wurden, können sich nicht mehr leisten, hier zu wohnen. Die Wohnungsmieten entsprechen den internationalen Gehältern. So ist das." Schlussmoderation "Schweiz auf Zeit - Die internationale Parallelwelt am Genfer See" Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Stefanie Müller-Frank. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Roman "Hasenleben" von Jens Steiner, gelesen wurden die Passagen von Claudia Mischke. Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Anna D'Hein und Daniel Dietmann. Am Mikrofon war Anne Raith. 27