COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendereihe: Zeitreisen Datum: 15. Mai 2013 Zeit: 19:30 Uhr Titel: Schnörkel oder Kulturgut? Die Geschichte der Schreibschrift Autor: Matthias Eckoldt Regie: Musikakzent minimal-music geht über in Schulatmo (1)O-Ton(Schule1) Schulatmo. Regie: Unterlegen. Sprecherin: In der Hamburger Grundschule Rothe-Straße erlernen die Zweitklässler heute die Schreibschrift. Emsig zeichnen die Mädchen und Jungen Buchstaben in ihre Hefte. Die Finger sind blau von Tinte, die Bewegungen sind noch ungewohnt. (2)O-Ton(Schule2 2:49): In dem Schreibschriftheft lernen wir Schreibschrift. Eigentlich quäle ich mich da ein bisschen durch, weil ich das nicht so gern mag. (3)O-Ton(Schule2 7:30): Ich finde Schreibschrift nicht so gut, weil ich damit langsamer schreiben kann. (4)O-Ton(Schule2. 10:30): Ich finde Schreibschrift bisschen schwer, weil wenn man das erste Mal Schreibschrift schreibt, ist das so ein anderes Gefühl. Bei Druckschrift setzt man immer ab, und bei Schreibschrift macht man die Buchstaben meistens zusammen. Regie: Noch einmal Schulatmo Sprecherin: Die Mühen hätte man den jungen Hamburgern ersparen können, da es die Hansestadt ihren Grundschulen bereits seit 2011 freistellt, die Schreibschrift zu unterrichten. Im Lehrplan liest sich das so: Zitator: Die Schülerinnen und Schüler entwickeln im Laufe der Grundschulzeit eine individuelle, flüssige und lesbare Handschrift. Das Konzept der Grundschrift sieht das Erlernen formklarer Buchstaben vor, orientiert an der Druckschrift, die dann individuell verbunden werden können. Bei großen Schwierigkeiten können einzelne Schülerinnen und Schüler eine unverbundene Schrift über den Anfangsunterricht hinaus benutzen. Sprecherin: Die Lehrerin Julia Schildge und ihre Kollegen hätten also auch darauf verzichten können, die Kinder Schnörkel, Bogen, Schlaufen und Häkchen in ihre Hefte schreiben zu lassen. (5)O-Ton(Julia 7:15): Das haben wir diskutiert in der Fachkonferenz, und einige Kolleginnen ... haben gesagt: Nein, wir brauchen weiterhin die Schreibschrift. Das ist einfach schön, und das sieht gut aus, und die Kinder müssen eine verbundene Schrift lernen. Das geht ja nicht, dass man Druckschrift schreibt. Die Kolleginnen, die ... anders darüber denken, haben gesagt: Wieso denn? Wir brauchen sie nicht quälen damit. Und vor allen Dingen können wir die Zeit für andere Lerninhalte viel besser nutzen. ... Und dann haben wir beschlossen, wir lehren weiter die Schulausgangsschrift, aber wir bestehen nicht darauf, dass die Kinder sie nachher auch anwenden. (40’’/3’) Sprecherin: Unter der Schulausgangsschrift versteht man die flüssige Schreibschrift, die frühere Generationen noch im Schönschriftunterricht erlernen mussten. Die Grundschrift dagegen sieht aus wie eine Druckschrift. An einzelnen Buchstaben, wie beispielsweise beim kleinen „l“, dem „h“ und dem „i“, gibt es kleine Häkchen. Diese bieten den Kindern die Möglichkeit , die Buchstaben zu verbinden. Ob sie das letztlich tun, bleibt ihnen selbst überlassen. (6)O-Ton(Bartnitzky 4:45): Also wie wir es bisher haben ist, dass die erste Ausgangsschrift der Kinder die handgeschriebene Druckschrift ist. Meistens während der ganzen ersten Klasse. Sprecherin: Horst Bartnitzky vom bundesweit organisierten Grundschulverband propagierte die Forderung nach Abschaffung der Schreibschrift in den letzten Jahren beharrlich. (7)O-Ton(dito): Und dass als zweite Ausgangsschrift dann eine verbundene Schrift – das, was Sie bisher als Schreibschrift bezeichnet haben – eine Schreibschrift dann eben noch beibringen. Ende Klasse eins und Klasse zwei. ... Mit diesem Reservoir – handgeschriebene Druckschrift, anschließend noch die Schreibschriften in Liniaturen eingepresst – daraus sollten die Kinder dann im Laufe der weiteren Entwicklung ihre persönliche Handschrift entwickeln. Und wir meinen, diesen Zwischenschritt, den brauchen wir nicht. Sondern wir können Kinder dabei unterstützen, aus der handgeschriebenen Druckschrift, wie sie sie anfangs schreiben als erste Schrift ... eine eigene, gut leserliche und flott geschriebene Schrift zu entwickeln. (55’’) Regie: Musik Sprecherin: Wenn die Schreibschrift abgeschafft wird, geht eine zentrale Kulturleistung verloren, so argumentieren die Gegner der Initiative des Grundschulverbands. Die Menschheit beraube sich selbst einer authentischen Ausdrucksmöglichkeit. Die moderne Medientheorie stellt diese Behauptung jedoch in Frage (8)O-Ton(Ernst 9:20): Es wird gerne so getan, als sei es ein anthropologisches Grundbedürfnis der Menschen, intuitiv, analog zu agieren. Ob das wirklich so stimmt, weiß ich nicht. Sprecherin: Wolfgang Ernst, Professor für Medientheorien von der Berliner Humboldt-Universität. (9)O-Ton(Ernst 20:05): Es ist ja nicht so, dass das Natürliche die Handschrift ist und die wird dann technifiziert, wird dann Druckschrift. Sondern die frühesten Schriften ... die Keilschriften etwa. Es werden Strichkombinationen eingeprägt. Das ist quasi schon ein mit der Hand betriebener Druck. ... Deswegen heißt es ja auch Keilschrift. Das hat gar nicht den handschriftlichen Gestus. Man kann damit auch nicht flüssig schreiben. Die Idee des flüssigen Schreibens, auch die Idee, idealerweise fast stenografisch so schnell wie das gesprochene Wort schreiben zu können, lässt sich nicht vereinbaren mit dem Ursprung von Schrift. Da gibt es Ursprünge, die liegen eher im Kalkulieren mit Rechensteinen. Also das ist eher eine mathematische Operation. Das ist nun ganz und gar unhandschriftlich. Dann gibt es diese frühesten Keilschriften. Sehr mühevolle, eher druckartige, langsame Schriftformen. ..... Woran ich noch einmal in diesem Zusammenhang erinnere ist, dass es keine anthropologische Frage ist, dass wir natürlicherweise zur Handschrift tendieren. Sondern Menschen sind dadurch Menschen, dass sie sich in symbolischen Systemen ausdrücken können. (1,20’/6,30’) Zitator: Die älteste Schrift der Menschheit ist die Schrift der Sumerer. Sprecherin: Schreibt Karoly Földes-Papp in seinem Standardwerk „Vom Felsbild zum Alphabet“. Zitator: Dieses hochbegabte Volk hat um dreitausend vor Christus, oder wenig früher, eine teilweise phonetisierte Hieroglyphenschrift geschaffen und aus ihr nach einigen Jahrhunderten eine hervorragende Keilschrift entwickelt. Im zweiten Jahrtausend vor Christus bildete diese Keilschrift ein allgemeines Mittel der internationalen Verständigung für Kaufleute und Diplomaten. Bei der Gestaltung der Keilschrift hat das Schreibmaterial, der Ton, mitgewirkt. Wenn sich die Griffelspitze nämlich bei der nötigen Druckanwendung in das weiche Schreibmaterial eingrub, so führte das zu einer keilförmigen Umgestaltung der Bildzeichen. Sprecherin: Bei der Keilschrift handelt es sich um eine Art Bilderschrift. Sie bestand aus Piktogrammen, wie wir sie vom Armaturenbrett des Autos kennen, die nach und nach immer mehr reduziert und abstrahiert wurden. Bis ein kompliziertes Zeichensystem entstand, das nur eine kleine Gruppe Eingeweihter beherrschte. Jene Schriftgelehrten, die sich bis zu tausend Zeichen merken konnten. (10)O-Ton(Licht 1:28): Alphabetisierung sagen wir heute dazu – lange bevor es Alphabete gab, hat es andere Schreibtechniken gegeben – Alphabetisierung war nicht verbreitet. Sprecherin: Der Philologe und Schriftforscher Tino Licht von der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. (11)O-Ton(dito): Das Schreibhandwerk musste erlernt werden und jemand, der das erlernte, war dann durchaus für eine höhere Verwaltungskarriere geeignet. Also mit Schreiben konnte man seinen Lebensunterhalt bestreiten. Und das, was wir heute so kennen, dass jeder eine Schreibfertigkeit erwirbt, das ist etwas, was es eigentlich erst in der Neuzeit gibt. (30’’/8,30’) Regie: Atmo kurz unter O-Ton legen, dann wegblenden. (12)O-Ton(Schule2 7:50): Ich mag Schreibschrift nicht so gerne, weil mir bei längerem Sitzen immer die Hand davon weh tut. (13)O-Ton(Schule2 15:00): Bei mir ist es ganz unterschiedlich. Bei einem längeren Satz, den ich schreiben soll, schreibe ich eigentlich in Druckschrift, außer wenn ich Schreibschrift schreiben soll. Und wenn’s etwas kürzer ist, schreibe ich eigentlich meistens Schreibschrift. Regie: Musikakzent. Sprecherin: Als die Schrift auf die in der Menschheitsgeschichte reich gefüllte Bühne der Medientechniken tritt, gibt es einen dramatischen Wechsel der Kommunikationsgepflogenheiten. Denn in den oralen Kulturen galten völlig andere Bedingungen für Informationstransfer und –aufbewahrung. Zitator: Ihre Mitglieder müssen memorierbare Gedanken denken, die von schablonierten und gemeinschaftlich fixierten Formeln geprägt sind. Durch die ständige Wiederholung wichtigen Wissens sind orale Kulturen konservativ, ihre Kommunikation hochgradig redundant, weitschweifig und primär rhetorisch organisiert. Sprecherin: ...schreibt der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt in seinem Buch „Die Zähmung des Blicks“. Regie: Musik kurz hoch Sprecherin: Mit dem Aufkommen der Schrift aber verändert sich die Situation völlig: Denn Wissen wird nun außerhalb des Einzel-Bewusstseins speicherbar. Archive können angelegt werden, und es kommt zur Trennung von Wissendem und Gewussten. An diesem Punkt der Menschheitsgeschichte entsteht wohl auch die Idee einer vom Einzelwesen unabhängigen Wahrheit, die Philosophen bis heute unter dem Stich- und Reizwort der Objektivität beschäftigt. Zitator: Schreiben ist kein bloßes Anhängsel des Sprechens, sondern eine vollkommen künstliche Technologie, die das menschliche Bewusstsein radikal verändert hat. Schreiben zwingt das Denken zu extremer Verlangsamung, wodurch völlig neuartige Verstehens- und Widerspruchsmöglichkeiten und damit ganz neue Semantiken und Wahrheitsansprüche entstehen. Schrift erlaubt die Erzeugung einer Linie von Denk-Kontinuitäten, die unabhängig vom Bewusstsein und der Kommunikation in Texten existiert, auf die jederzeit zurückgegriffen werden kann. (11,20’) Sprecherin: Der entscheidende Schritt in der Evolution der Schrift besteht in der Erfindung des Alphabets. Seither muss der Schriftmächtige nur noch abstrakte Zeichen beherrschen, mit denen er alle Wörter seiner Sprache bilden kann. (14)O-Ton(Ernst 25:40): Kinder lernen das Alphabet. Das haben wir alle erfahren. Dadurch wird das öffentliches Wissen. Es steht nicht in der Macht einer Priester- oder Schreiberkaste wie etwa in Ägypten. Also die Macht über die Schrift wird dadurch, dass die Schrift extrem dumm gemacht wird – die alphabetische Schrift ist die dümmste aller denkbaren, weil die kleinsten Zeichen für sich gar keine Bedeutung haben und man aus wenigen Zeichen alles wieder kombinieren kann. ... Durch diese radikale Technisierung und Atomisierung und Simplifizierung des Alphabets hat natürlich Griechenland eine enorme Demokratisierung der Schrift hergestellt, von der wir bis heute zehren. Und das ist die Schrift, die sich auch im abendländischen Kulturkreis erhalten hat. (45’’/12,50’) Regie: Atmo schon unter O-Ton 13 und kurz unterlegen. (15)O-Ton(Schule1): Atmo (16)O-Ton(Julia 4:00): Zum Beispiel beim kleinen a ... müssen Sie erst nach rechts die Hand bewegen und dann wieder auf der Linie nach links hinunterfahren und dann noch mal rechts hoch und dann nach unten und nach oben. ... Das ist kompliziert für einige Kinder. (17)O-Ton(Schule 2. 4:05): Ich fand das „l“ schwierig, weil es so schief nach unten ging und dann dabei ein paar Wellen hatte. (18)O-Ton(Schule 2 10:55): Ich finde in Schreibschrift das X ein bisschen schwieriger. Weil das Kreuz nach unten geht und das andere dann so nach oben. (19)O-Ton(Julia 9:06): Meine Beobachtung ist, dass es zwar den Kindern am Anfang schwer fällt, aber dass es tatsächlich die Feinmotorik schult, und dass selbst die Kinder, die am Anfang große Schwierigkeiten haben, nachher das richtig schön machen und auch stolz darauf sind. (1’/14’) Regie: Musik Sprecherin: Mit der Demokratisierung des Schriftwesens entstehen zwei Arten des Schreibens: Ein öffentlicher und ein privater Gebrauch der Schrift. (20)O-Ton(Licht 4:35): Grundsätzlich ist es so, dass unsere Zweiteilung – nämlich eine Alltagsschrift und eine Buchschrift – schon in antiker Zeit bekannt und verbreitet war. ... Wir sagen heute Druckschrift und Schreibschrift. Sie ahnen, dass das vor dem Buchdruck natürlich schwierig ist von Druckschrift zu sprechen. Wir sprechen deswegen ganz gerne von kaligrafischer Schrift oder auch Buchschrift. Das ist also die Schrift, die verwendet wird, um Bücher zu kopieren. Und daneben gab es eine Alltagsschrift – wir sprechen gern von Kursive – und diese Kursive wurde verwendet für Urkunden, Briefe für Notizen und so weiter. Bei der Kursive ist es so, dass die sehr früh schon die Merkmale hatte, die Schreibschrift heute hat. Nämlich das Laufen der Feder. Dass nämlich die Buchstaben miteinander verbunden werden. ... Und es war – Spätantike etwa – so, dass zwischen den Wörtern die Verbindungen nicht abgesetzt wurden. Das heißt, wenn ein Urkundenschreiber schrieb, dann schrieb er eine ganze Zeile lang, ohne die Feder abzusetzen. Es gab also keine Wortabstände. Nun kann man sich vorstellen, dass das doch ein erheblicher Gewinn an Schreibgeschwindigkeit gewesen ist. (1,15’/15,30’) Sprecherin: Die Schreibschrift wird auch als Laufschrift, als Kursive oder als Kurrentschrift bezeichnet, was sich von dem lateinischen Wort currere – zu deutsch laufen – ableitet. Weil die Laufschrift auf Abstände zwischen den Worten verzichtet, ist es noch bis ins Mittelalter angesagt, laut zu lesen. Der Klang der Stimme löste so die einzelnen Wörter wieder aus dem Kontinuum der Kurrentschrift heraus und erschloss den Sinn des Geschriebenen. Zitator: Die Eile des Schreibens vereinfacht allmählich die Buchstaben durch Weglassen mancher Züge. So wird aus einem großen B schließlich ein kleines b, aus einem großen H entsteht die Form eines kleinen h. Dabei hat neben der Tendenz zur Eile auch das Schreibmaterial, Papyrus und Pergament mit Feder eine beträchtliche Rolle gespielt. (21)O-Ton(Ernst 5:45): Wer auf Pergament schreibt – die mittelalterlichen Autoren sagen das auch – schreibt auf organisches Material. Das ist ja Haut. Daher kommen ja viele Begriffe wie Fußnote. Als wenn das ein Körper wäre. Unten hat er Füße. Kopfzeile. Das sind alles Begriffe aus der Zeit der Handschriften, als man auch noch auf organisches Material, auf Körpermaterial, geschrieben hat. Also der ganze Bezug zwischen Schrift und Mensch und Speichermedium war ein viel organischerer. (30’’/17’) Sprecherin: Unter die Majuskel, die Großbuchstaben, mischten sich immer mehr Minuskel, also Kleinbuchstaben. Aktenkundig für die Schriftforscher wurde diese Entwicklung zu Zeiten Karls des Großen, der ab 768 nach Christus herrschte. Da der fränkische König und römische Kaiser vom Geschlecht der Karolinger abstammte, nannte man die in seinem Einflussbereich praktizierte lateinische Kleinbuchstabenschrift den karolingischen Minuskel. Diese Schrift lieferte dann die Vorlage für den Buchdruck und wurde als „Antiqua“ zur gebräuchlichen Weltschrift, die heute in über sechzig Ländern der Erde verwendet wird. Regie: Musikakzent. Sprecherin: Durch einen Fund in der Berliner Staatsbibliothek erregte der Philologe Tino Licht in Fachkreisen große Aufmerksamkeit. (22)O-Ton(Licht 15:18): Der Hof Karls des Großen als Entstehungsort der karolingischen Minuskel, das war natürlich attraktiv. ... Jetzt gibt es aber in Berlin eine Handschrift, die bekannt ist, aber deren schriftgeschichtlicher Wert so nicht erkannt worden ist. Anhand dieser Handschrift kann man sagen, die karolingische Minuskel ist schon um 765 in Corbie geschrieben worden. Damit ist diese Handschrift in Berlin die älteste erhaltene karolingische Minuskel, und der Hof Karls des Großen scheidet damit als Entstehungsort der karolingischen Minuskel aus. ... Es ist eben ein ganz anderes Bild, das wir uns jetzt von der Kulturgeschichte machen dürfen. Also nicht mehr der Hof ist der Entstehungsort, sondern es ist ein Skriptorium, ... und der Hof hat sie von dort übernommen. Und der Hof war dann wahrscheinlich auch entscheidend beteiligt bei der Verbreitung dieser Schrift. (45’’) Regie: Musikakzent + Druckmaschine unterlegen. Sprecherin: Entscheidend für die Alphabetisierung in Europa war die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Bücher wurden zur Massenware für jedermann. Auf Grundlage der enorm effizienten Verbreitungstechnologie konnten sich die Ideen der Aufklärung verbreiten. Den Höfen und dem Klerus wurde das Bildungsmonopol entrissen. Die Alphabetisierungsrate stieg kontinuierlich an. Wenn man in Rechnung stellt, dass sie im Mittelalter noch im einstelligen Prozentbereich lag, beeindrucken die Zahlen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sehr: Zitator: Spanien. Sprecherin: 50 Prozent. Zitator: Italien. Sprecherin: 62 Prozent. Zitator: Frankreich und Belgien. Sprecherin: 85 Prozent. Zitator: Großbritannien, Niederlande und Deutschland. Sprecherin: Knapp 100 Prozent. Regie: Musikakzent aus. Sprecherin: In Preußen wird bereits 1714 die Schulschrift genormt und verbindlich gelehrt. Als der Federkiel die Stahlfeder ersetzt, kommt die deutsche Kurrentschrift jedoch in die Krise, da ihre feinen Auf- und dicken Abstriche nur mit der Geschmeidigkeit der weichen Vogelfeder zu bewältigen sind. So beauftragt das Preußische Kultur- und Schulministerium 1911 den Grafiker Ludwig Sütterlin damit, eine auf die neue Schreibtechnologie angepasste Schrift zu entwickeln. (24)O-Ton(Licht 29:35): Eigentlich ist, und das gilt jetzt nicht nur für die Sütterlin-Schrift, sondern insgesamt für die Schreibschrift, bei der Vermittlung dieser Schreibschriften möglichst gute und für alle Buchstaben passende Verbindungen und dann eben auch einen Schriftwinkel zu entwickeln, der der Hand des Lernenden und dann eben auch der Hand des Schreibenden entgegen kommt. Das kann man über viele Jahrhunderte hinweg beobachten, die Schrift so zu verändern, dass einem das leichter fällt. ... Und auch die Veränderungen unter Sütterlin, die Neuformierung dieser Kurrentschrift, die zielte darauf ab, dass das schneller, genauer und leichter zu schreiben war. (45’’) Sprecherin: Die Sütterlin-Schrift mit ihren senkrecht auf der Grundlinie stehenden Buchstaben im exakt gleichen Größenverhältnis für Ober-, Mittel- und Unterlängen wurde als so genannte Schulausgangsschrift gelehrt. Damit bildete sie die Grundlage für die spätere individuelle Erwachsenenhandschrift. (/21,45’) Regie: Atmo kurz unter Sprecherin legen (25)O-Ton(Schule1): Atmo (26)O-Ton(Schule2 20:05): Meine Eltern schreiben, glaube ich, lieber Schreibschrift, weil das schneller geht, aber das sieht dann trotzdem total komisch aus. (27)O-Ton(Schule2 18:25): Mein Papa schreibt lieber Druckschrift, weil er ganz viele Buchstaben verlernt hat. Regie: Musikakzent. Sprecherin: Seitdem Freud dem Menschen das Unbewusste entdeckte, geriet auch die Handschrift als eine Ausdrucksform seelischer Zustände in den Fokus der Psychologen. Ludwig Klages entwickelte in Deutschland Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Graphologie unter folgender Maßgabe: (28/1)O-Ton(Klages 6:40): ): In Wahrheit ist der Zusammenhang ... weitaus inniger. Derart, dass nichts auf der Seite des Leibes geschehen kann, dem nicht ein Geschehen auf der Seite der Seele entspräche. Und ebenso umgekehrt ... Die kürzeste Formel dafür lautet: Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele ist der Sinn des Leibes. (30’’) Sprecherin: Mithilfe der graphologischen Methode soll es also möglich sein, das Schriftbild als Erscheinung der Seele zu sehen und tief hinab in die Psyche des Schreibers zu schauen. Der Graphologe Olivier Netter in Berlin analysiert auf diese Weise individuelle Handschriften: (29/4)O-Ton(Netter 8:35): Womit haben Sie geschrieben? Mit einem Füller. Schreiben Sie immer mit einem Füller? Das haben Sie nur dafür so gemacht. Gut. Also: ... (9:50): Wenn wir jetzt mal mit der Begrifflichkeit von Klages da rangehen, kann man schon mal zwei Dinge, die für ihn am Anfang jeder Analyse stehen, feststellen. Und zwar fragt er immer: Ist die Schrift regelmäßig und ist die Schrift ebenmäßig. ... Die Schrift ist unregelmäßig, das erkennt man daran, dass die Buchstaben unterschiedliche Größen haben – mal ist das E groß, mal ist es klein. ... Er sagt also, wenn eine Schrift unregelmäßig ist, dass das darauf hin deutet, dass der Mensch stark reagiert auf das, was in ihm passiert und was in seiner Umgebung passiert. ... Das nächste Kriterium ist die Ebenmäßigkeit. ... Also die Frage, ist es ein harmonisches Bild. Und da muss man sagen: Nein, nicht ganz. ... Das sieht man vor allem, wenn man die Fläche anschaut. Hier gibt es ein bisschen zu große „D“s. ... (35:05): Sie verschleifen viele Buchstaben, deswegen hatte ich auch Schwierigkeiten beim Lesen. Sie machen das aber sehr elegant. ... Aber es ist natürlich auch Ausdruck von Ihrer Haltung zur Autorität. ... An der Entfernung zur ursprünglichen Ausgangsschrift kann man sehen, wie weit sich der Mensch von seinen ursprünglichen Vorbildern entfernt hat. ... Sie bestätigen Ihre Individualität, indem Sie individuell schreiben – Eigenart nennt man das dann. (1,15’/24,30’) Regie: Musikakzent. Sprecherin: Wenn sich der Grundschulverband mit seiner Forderung durchsetzt und die deutschen Schulen bald nur noch jene stark an den Druckbuchstaben orientierte neue Grundschrift lehren, werden die Graphologen wohl bald Mühe haben, in die Seele ihrer Klienten zu schauen. Das aber ist natürlich weder Ziel noch Ausgangspunkt von Horst Bartnitzky und seinen Mitstreitern in ihrem Kampf um die Abschaffung der verbunden Schreibschrift. (30)O-Ton(Bartnitzky 13:20): Das eigentliche Kulturgut ist die alte lateinische Schrift in den Großbuchstaben und die Kleinbuchstaben, die dann im Mittelalter hinzugekommen sind. Das, was wir in der Druckwirtschaft als Antiqua bezeichnen. Das ist ja die Grundlage auch aller verbundenen Schriften bei uns. Und von dieser Schrift gehen wir aus. Das ist die Schrift, die sich auf den Tastaturen der Computer und der Handys und moderner Geräte befindet, die sich in der Regel auf allen Plakaten befindet, in den Kinderbüchern, in den Vorlesebüchern. Von der Schrift gehen wir aus, weil das die Schrift ist, die die Kinder auch sehen, betrachten und sich zu eigen machen und damit schreiben. Unsere Frage ist jetzt aber, wie können wir aus diesen ersten Schreibungen eine gut leserliche und flüssig geschriebene Schrift weiter entwickeln.(1’/26’) Regie: Atmo bereits unter vorigen O-Ton, dann wegblenden. (31)O-Ton(Schule1): Atmo (32)O-Ton(Julia 4:50): Ich finde, dass das Schreibschriftschreiben relativ altmodisch geworden ist. Es gibt ja auch nicht mehr diese Kopfnoten. Eine der Kopfnoten war „Schreiben“. Und die sind ja schon lange abgeschafft. ... Die Lehrpläne sind ja so voll gestopft, dass man eigentlich gar keine Zeit mehr hat, die Schreibschrift zu lehren. Und meine Erfahrung ist, dass die Kinder ohnehin, wenn sie den Schreibschriftlehrgang fertig gestellt haben, dass sie dann eine individuelle Schrift entwickeln und oftmals kehren sie zu der Druckschrift zurück. Das durften sie früher nicht, jetzt darf man das. (33)O-Ton(Schule 2 13:35): Ich schreib lieber Druckschrift, weil bei Druckschrift schreibt man die Buchstaben einzeln und man muss nicht immer verbinden. (34)O-Ton(Schule 2 21:50): Ich finde Druckschrift besser, weil ich damit schneller schreiben kann. (/27’) Regie: Musik Sprecherin: In der modernen durchcomputerisierten Welt der PCs und iPads und Smartphones scheint die Schreibschrift rasant an Bedeutung zu verlieren. Überall in unserer Lebenswelt haben wir es mit Tastaturen zu tun, seit neuestem laden auch Spracherkennungsprogramme dazu ein, direkt mit den Maschinen zu kommunizieren. Werden wir uns also in absehbarer Zeit von der Schreibschrift und vielleicht sogar von der Handschrift überhaupt verabschieden müssen? (35)O-Ton(Ernst 16:10): Spontan würde ich so eine alte Kulturtechnik wie die Handschrift nicht so schnell preisgeben wollen. Es ist natürlich im Sinne einer effizienten Ausbildung nicht unangebracht zu sagen, trainieren wir doch die jungen Menschen gleich in dieses diskrete, symbolverarbeitende Denken. Die Frage wäre, ob nicht es interessant ist zu sehen, welche Gegenwelten es gilt aufzubewahren und auch welche Kritik an der Computerschrift wir brauchen. Und die liegt in der Handschrift. Es ist ja kein Zufall, das analoge, intuitive Schnittstellen wieder zurückkehren. Das ist wie die Wiederkehr des Verdrängten. So ähnlich wie sich die große Epoche der Kybernetik 60er, 70er Jahre sich nicht realisiert hat, dass die Menschen immer computerähnlicher wurden. Nur in Grenzen lassen wir uns auf dieses diskrete, analytische Denken ein. Wir bleiben aber widerständige, biologisch auch analoge Lebewesen, deren Ausdrucksmedien streben nach analogen Ausdrucksformen. Dazu gehört die Handschrift, dazu gehört die malerische Geste. ... Das sind so Gesten, die sich auch immer wieder neue Medien des Ausdrucks suchen und die ... wenn sie verdrängt werden, dann auf eine unerwartete Weise wieder einkehren. Entweder als Scherz oder als Ironie oder als Insistenz oder als Trotz. (1,20’/29’) Regie: Musik und aus. 17